cr-2W. TatarkiewiczM. NemoSchuppeR. SeydelG. F. Lippsvon Hartmann     
 
VITALIS NORSTRÖM
Naives und
wissenschaftliches Weltbild


"Phantasie und Verstand liefern höchst wesentliche Beiträge zum fertigen unmittelbaren Wirklichkeitsbild. Nicht genug damit, daß die vielfältigen Elemente, die man in der Erfahrung unterscheiden kann, durch ein vereinigendes Bewußtsein zu wirklichen Dingen assimiliert werden, - kein einziges Wirklichkeitsbild deckt sich mit den zu einem Ding zusammengeschmolzenen Eindrücken und noch weniger mit einer bloßen Zusammenfassung von Dingen zu einem aktuellen Wahrnehmungsfeld. Sondern jedes derartige Bild wird immer durch innere Bilder, die auf dem Zusammenwirken zwischen Gedächtnis und Reflexion beruhen, vervollständigt oder steht mit ihnen in einer unlöslichen Verbindung."

"Das Bild von der Wirklichkeit ist nicht durch die Beziehung auf eine vom Subjekt unabhängige Wirklichkeit wahr, sondern durch eine Beziehung auf das Subjekt, das die Wirklichkeit empfindet, wahrnimmt, denkt und in ihr lebt. Es ist  seine  Natur - die wir hier zunächst mit dem  Gedanken  übersetzen -, die sich in der Wahrheit der intellektuellen Welt, aber nicht in der Welt der Wirklichkeit offenbart. Unser eigener Gedanke ist es also, den wir schließlich in der Naturwissenschaft kennen lernen. Diese Wissenschaft sagt uns nie, was die Wirklichkeit oder die Natur  ist,  sondern einzig und allein, was man aus ihr  machen kann." 

Stellen wir uns auf einen Hügel, der sich in einer Ebene erhebt und werfen wir von dort einen Blick auf die Umgebung! Rings umher sehen wir die Erde als unbewegliche Platte, die der Horizont begrenzt und über welcher sich der Dom des Himmels wölbt. Scheint die Sonne, so können wir am Himmelsgewölbe immer und immer wieder ihre Bewegung beobachten, die am Morgen mit dem Aufgehen beginnt, am Abend mit dem Untergehen endet und am Jahresschluß einen wiederum vollendeten Umlauf durch den Tierkreis bildet. Ist es Nacht, so funkeln uns die Sterne wie kleine, leuchtende, dicht nebeneinander liegende Punkte entgegen, doch sie erscheinen so klein und ihr Licht so schwach, daß unser künstliches Licht sie sowohl an Umfang wie an Intensität weit übertrifft. Vielleicht sendet auch die Mondscheibe ihren matten Schein aus verhältnismäßig geringer Entfernung hernieder. Verbleiben wir auf unserem erhöhten Platz mit seinem unbeweglichen Untergrund, dann werden wir die Himmelszeichen in ständiger Bewegung um uns kreisen sehen. Unsere Erde und wir selbst sind groß und wichtig, während jene Himmelszeichen nur dazu bestimmt scheinen, uns als Fackeln zu leuchten.

So nimmt der Mensch die Welt überall unmittelbar geozentrisch und anthropozentrisch wahr. In seinem Kopf liegt der Mittelpunkt der Welt, und daraus gehen die Radien der Welt nach ihrer Peripherie.

Nun erfahren wir aber durch die Wissenschaft, daß die Erde in Kugelgestalt ungestützt und ungetragen im Weltenraum schwebt, was doch allen Analogien der Erfahrung widerspricht. Die Astronomen belehren uns über die pfeilschnelle Drehung der Erde um ihre Achse, über die  Scheinbarkeit  der Sonnenbewegung, über die ungeheure Größe der Sterne und ihre gewaltige Entfernung von uns, über die Unermeßlichkeit des Weltenraums und vieles andere, was unsere unmittelbar Anschauungsweise vollständig auf den Kopf stellt.

Noch mehr verändert und erweitert sich der intellektuelle Horizont, wenn wir neben diesen Reflexionen über die quantitativ-geometrische Beschaffenheit der Natur zu ihrer qualitativen übergehen. Seit CARTESIUS und LOCKE hat die neuere Wissenschaft - übrigens der Spur antiker Denker folgend, - alle Farbe, jeden Laut und alle Wärme vom eigenen Konto der Sinnenwelt auf das des Subjekts übertragen und sie in ihrer Wahrheit von allem bis auf das, was wir sozusagen mit der Hand greifen können, entblößt dastehen lassen. Und die moderne Physiologie mit ihrer Lehre von den spezifischen Sinnesenergien, sowie die moderne Psychologie mit ihrem sensualistischen Charakter sind in derselben Richtung - nur noch viel weiter - gegangen. Ferner können wir hinzufügen, daß die folgerichtig ausgebildete Abstammungstheorie jetzt danach strebt, alle Formen der unendlich reichen organischen Welt, an deren Unveränderlichkeit im Großen und Ganzen und ursprüngliche Vielheit keine unmittelbare Erfahrung uns zweifeln läßt, in eine Reihe von Gestaltungen zu bringen, welche durch die Umgebung und die von ihr gewährten Lebensbedingungen möglichst aus  einem einzigen  Grundstoff differenziert sein sollen.

In diesem Kapitel wäre freilich reichlich viel hinzuzusetzen, aber noch mehr Akte scheinen für unsere Sache nicht nötig zu sein.

Wer kann also leugnen, daß die Zeichnung, welche die Wissenschaft von der Welt liefert, scharf gegen das Bild absticht, das uns die Natur, ungebeten und ohne unsere geistigen Kräfte merkbar in Anspruch zu nehmen, schenkt, das Bild, dem wir im Großen und Ganzen nie entwachsen und dem wir unsere täglichen und stündlichen Vorstellungen entlehnen, nach welchem sich unsere Sprachen gebildet haben und auf das sich unsere Instinkte bei allen unbewußten Lebensäußerungen stets verlassen. Ja,  so  scharf sticht die wissenschaftliche Zeichnung gegen dieses Bild ab, daß es den Anschein hat, als könnten beide Weltbilder von ein und demselben Wahrheits- und Wirklichkeitsgesichtspunkt aus gar nicht als gleichwertig nebeneinander bestehen. Und da nunmehr das wissenschaftliche Bild sich auf die denkende Vernunft und den  Consensus gentium  [Übereinstimmung der Völker - wp] stützt, so scheint das unmittelbare Bild unmöglich in demselben Sinn wahr sein zu können, sondern in dem, worin es jenem widerspricht, auf  Schein wenn auch einen natürlichen und wohlbegründeten, reduziert werden müssen. Wir wollen jedoch - so vermesse, ja so abnorm für moderne Menschen es vielleich erscheint - einen Augenblick bei den Wirklichkeitsansprüchen des wissenschaftlichen Bildes verweilen, ohne von ihnen vorauszusetzen, sie könnten gar nicht in Abrede gestellt werden. Es kann zumindest nicht ungereimter sein, diese Ansprüche in Frage zu stellen, als z. B. das Dasein des eigenen  Ich,  was doch tatsächlich nicht mit Ehrenverlust bestraft worden ist. Wir erdreisten uns also, im Ernst zu fragen:
    "Ist man berechtigt, von der Verstandes- oder Intellektualwelt, dem von der Wissenschaft gezeichneten Weltbild zu behaupten, daß dies die wirkliche Welt und die Welt, die in unsere unmittelbare Erfahrung tritt, soweit sie von jener abweicht, ein Schein ist?" 
Wir wären jedoch mehr als  naiv  (um einen Euphemismus [Doppelmoppel - wp] zu gebrauchen), wenn wir auf diese Frage, die so viele Verbindungsfäden des Denkens in Bewegung setzt, hier eine erschöpfende Antwort geben wollten. Wir können nur an einige kritische Gesichtspunkte und an eine Antwort denken, die den Knoten auf die alte bequeme Weise - durch einen Schwerthieb - löst.

Um die Darstellung zu vereinfachen, wollen wir das populäre Weltbild mit dem Buchstaben  A  und das wissenschaftliche mit  B  bezeichnen.

Um größere Sicherheit für die Richtigkeit des Resultats zu gewinnen, wollen wir noch das besonders prüfen, was wir eben als ausgemacht annahmen, nämlich das wirkliche Bestehen eines konträren Gegensatzes zwischen  A  und  B. 

Von  A  und  B  kann man nun entweder behaupten, daß zwischen ihnen ein konträrer Gegensatz, ein  bestimmtes  Ausschließungsverhältnis in Bezug auf Objektivität oder Wirklichkeit stattfindet, oder auch, daß dies nicht der Fall ist. Im ersteren Fall ist entweder  A  wirklich,  B  aber nicht, oder  B  wirklich,  A  hingegen nicht. Im letzteren Fall verschmelzen beide Bilder in ein und dieselbe Wirklichkeit.

Wenn man nun sowohl die Behauptung, daß  B  wirklich ist,  A  aber nicht, wie die, daß beide den Wirklichkeitscharakter teilen, widerlegen könnte, so wäre damit bewiesen, daß  A  wirklich ist,  B  jedoch nicht - natürlich vorausgesetzt, daß wir alle Möglichkeiten berücksichtigt haben.

Wenn die Bilder einander in der Weise ausschließen, daß  B  wirklich,  A  aber nicht, dann muß dies darauf beruhen, daß der Verstand die unmittelbare Anschauung berichtigt, indem er seine Vorstellungen und Gedanken auf den Wirklichkeitsplatz setzt und die Wahrnehmungen von ihm verdrängt. Zugunsten einer solchen Rangordnung - oder um ihre Bedeutung begreiflich zu machen - kann man sich sowohl auf normale wie auf abnorme Erfahrungsfälle berufen, in denen der Verstand, wie man zu sagen pflegt, die Wahrnehmung oder die unmittelbare Anschauung berichtigt. So bei völlig normalen sogenannten Sinnestäuschungen, wenn z. B. aus der Entfernung gesehene Gegenstände mir kleiner erscheinen, als sie, wie ich weiß, wirklich sind. Dies ist ein vollkommen gesetzmäßig optisches Phänomen gewöhnlichster Art, und der Fehler in der Wahrnehmung, wenn man ihn so nennen will, läßt sich mit dem Gesichtswinkel messen. Ich weiß, daß die Bäume hinten am Horizont ungefähr genauso groß sind, wie die Bäume des bewaldeten Hügels, auf dem ich stehe, obgleich mein Auge sie als viel kleiner auffaßt. Berichtigt hier nicht der Verstand den Gesichtssinn?

Noch deutlich scheint die Verstandesberichtigung in einem so abnormen Fall zu sein, wenn z. B. eine an Halluzinationen leidende Person einen Verstorbenen ins Zimmer treten und sich auf einen ihr gegenüberstehenden Stuhl setzen sieht, dabei aber so verständig ist, "ihren eigenen Augen nicht zu trauen", sondern das Ereignis auf das Konto schiebt, wohin es gehört - auf das der Gehirnkrankheit. kann man nun nicht behaupten, daß solche Beispele für denjenigen, welcher einen klaren Sinn sucht, in welchem die Wissenschaft das unmittelbar Erfahrungsbild kontrolliert und berichtigt, einen bestimmten, gar nicht anzuzweifelnden Ausgangspunkt bilden? Hebt hier die  Verstandeswirklichkeit  nicht die  Sinneswirklichkeit  ungefähr ebenso auf, wie Wahrheit und Irrtum einander aufheben?

Ohne Zweifel wäre es so,  falls  man in den als Beispielen gewählten Erfahrungsfällen dem  Verstand  den Sinnen gegenüber eine eigenartige berichtigende Funktion zuschreiben müßte, steht sich durchaus nicht von selbst, sondern die Rolle, die der "Verstand" in dieser Beziehung spielt, kann sehr gut so ausgelegt werden, daß er hier nur eine Summe schon in der Erinnerung gesammelter und aufbewahrter hergehöriger Erfahrung bedeutet, die infolge der eben eingetretenen unmittelbaren Sinnesanschauung zum Bewußtsein wiedergelangt, hemmend auf die Urteilbildung wirkt und dazu treibt, die aktuelle Sinnesanschauung mit den vorigen zu vergleichen, ehe das Urteil gefällt wird. Mit anderen Worten: ich habe bereits das Gesetz von der scheinbaren Verkleinerung der Gegenstände durch die Entfernung "ad oculos" [durch den Augenschein - wp] demonstriert, ich habe es auf vielen einzelnen eigenen Erfahrungen und denen anderer Leute aufgebaut. Nicht die Perspektivlehre ist es, auf der meine Kenntnis von der wirklichen Größe der am Horizont stehenden Bäume ruht, sondern sowohl die Perspektivlehre wie mein Wissen in diesem Einzelfall verdanken ihr Dasein mir und anderen, die wir unsere Augen benutzt haben, während wir uns von einem Platz nach dem andern bemüht haben. Der "Verstand" hindert mich nur daran, aus der einzelnen Sinnesanschauung Schlüsse zu ziehen oder sie für sich allein zu stellen, indem er meine Aufmerksamkeit auf andere Anschauungen derselben Art lenkt und so mein geistiges Gesichtsfeld erweitert. Aber er kann nur meine Aufmerksamkeit auf andere Sinnesanschauungen lenken, - hier auf die Bäume des Waldes, die in anderen, verschieden großen Entfernungen sichtbar sind. Ausschließlich in diesen liegt die berichtigende Kraft, nicht im Verstand, der mich nicht im geringsten über die wirkliche Größe der Bäume belehrt, sondern nur meine Beobachtung und Aufmerksamkeit nach einer gewissen Seite richtet, d. h. der soweit eine rein psychologische, keineswegs aber eine objektiv gestaltende Rolle spielt. Die Anwendung auf die Halluzination ergibt sich von selbst. Es ist die normale Erfahrung, sowohl die eigene, wie die anderer, welche die wirkliche Natur der abnormen offenbart.

Wir wagen also zu behaupten, daß die Sinne, genau genommen, nicht durch den Verstand, sondern  nur durch die Sinne  berichtigt werden. Nun wissen wir aber, daß das wissenschaftliche Weltbild in einigen seiner konstitutiven Züge unseren Sinnen direkt gar nicht zugänglich ist. Die nur gedachten kleinsten Bestandteile der Körper sind ebensowenig wahrnehmbar wie der grenzenlose Weltraum und die sogenannten wirklichen Bewegungs- bzw. Ruhezustände der Sonne und der Erde.

Doch das Bild  B  erhält ja fast auf allen verschiedenen Gebieten der sinnlichen Erfahrung die glänzendste Bestätigung. Die Natur predigt ja selbst jedem, der Ohren zum Hören hat, das Evangelium der Wissenschaft. Die Voraussagungen der Wissenschaft werden, wie wir es zur Genüge wissen, fast aufs Haar von der eintretenden Erfahrung bestätigt, sie fordert die Bedingtheit gewisser sinnlicher Erscheinungen durch andere, die man vorher nicht wahrgenommen hat, die aber gerade infolge der Richtung, in welcher die Wissenschaft die Aufmerksamkeit gelenkt hat, beachtet werden, und die Technik verfehlt nicht, die abstrakten wissenschaftlichen Gesetze in wirkliche Bewegungen, Zustände und Gegenstände "umzusetzen". Dies leugnet auch kein vernünftiger Mensch, ebensowenig wie er die  Wahrheit  des Bildes  B,  zumindest im Großen betrachtet, bestreiten würde. Erstens aber war die  Wahrheit  nicht ohne weiteres der Gesichtspunkt, von welchem aus die Bilder hier verglichen werden sollten, sondern dieser Gesichtspunkt war die  Wirklichkeit.  Und es kann ja sehr wohl der Fall sein, daß man unter einer gewissen Voraussetzung sagen muß,  B  sei das  wahre  Bild, d. h. die Wahrheit von  A  muß nach der von  B  gemessen und beurteilt werden, während  A  trotzdem im Besitz der  Wirklichkeit  verbleibt.

Zweitens liegt in dieser Bestätigung der Wissenschaft durch die Erfahrung nichts anderes oder weiters als eine gewisse Übereinstimmung zwischen dem Bild  A  und dem Bild  B,  aber nicht im entferntesten eine Berichtigung des ersteren durch das letztere. Es wäre ja auch ungereimt, wenn eine Wissenschaft, die so eifrig nach Bestätigungen durch die unmittelbar gefaßte Wirklichkeit greift, da, wo sie ihre Wahrheit auf jene Wirklichkeit stützt, diese gleichzeitig nach dem Muster ihrer Wahrheit korrigieren wollte. Es verträgt sich nicht gut miteinander, wenn man gleichzeitig von einer Bestätigung durch eine unmittelbare Anschauung redet und diese unmittelbare Anschauung unter ein Totalbild bringt, das man als Schein bezeichnet. Die Bestätigung der Wissenschaft durch die unmittelbare Erfahrung könnte dann nur bedeuten, daß die Wissenschaft  den Schein für sich hätte,  damit aber kann sie sich gewiß nicht zufrieden geben.

Wir gehen jetzt zur Prüfung der eigentlichen Grundvoraussetzung dieser ganzen Untersuchung über. Vielleicht liegt gar kein konträrer Gegensatz zwischen der Intellektualwelt und der Sinnenwelt vor? Haben wir es vielleicht nur mit zwei ineinander verschmelzenden Seiten von ein und demselben Ganzen zu tun, keineswegs aber mit einem Gegensatz, der, vom Bewußtsein hinlänglich beleuchtet, als bestimmter Widerspruch hervortritt?

Für eine solche Ansicht spricht vielleicht die psychologische Wahrheit, daß unsere Erfahrungswelt durch das Zusammenfließen von Sinneseindrücken allein ohne Hilfe der Faktoren des höheren Bewußtseins in keinem einzigen Punkt zu einem abgeschlossenen Wirklichkeitscharakter gelangt. Phantasie und Verstand liefern höchst wesentliche Beiträge zum fertigen unmittelbaren Wirklichkeitsbild. Nicht genug damit, daß die vielfältigen Elemente, die man in der Erfahrung unterscheiden kann, durch ein vereinigendes Bewußtsein zu wirklichen Dingen assimiliert werden, - kein einziges Wirklichkeitsbild deckt sich mit den zu einem Ding zusammengeschmolzenen Eindrücken und noch weniger mit einer bloßen Zusammenfassung von Dingen zu einem aktuellen Wahrnehmungsfeld. Sondern jedes derartige Bild wird immer durch innere Bilder, die auf dem Zusammenwirken zwischen Gedächtnis und Reflexion beruhen, vervollständigt oder steht mit ihnen in einer unlöslichen Verbindung. Ich blicke über eine Landschaft hin und sehe hinter dem Wald eine sich vorwärtsbewegende dicke Rauchlinie. Sofort führt mein Bewußtsein aus guten Gründen eine Lokomotive als Ursache des Rauches in das Bild ein, obwohl meine Augen von der Maschine selbst noch gar nichts erblickt haben. Ebenso: keine Wasserrose ohne Stengel. Ich sehe die Blumenkrone der Wassernpflanze auf dem Wasser schwimmen und setze das unter dem Wasser Vorhandene in der Vorstellung hinzu. Der Mond tritt hinter Wolken und wird unsichtbar, aber dennoch halte ich ihn als in der Wirklichkeit an einem bestimmten Platz befindlich fest.

Verhält sich nun das Verstandesbild der Welt vielleicht so zu ihrem unmittelbaren Bild, wie in diesem letzteren das verbindende und ergänzende Bewußtsein zu den elementaren Daten der Anschauung?

Hierauf antworten wir, daß die Bilder  A  und  B,  da sie in ein und demselben anschauenden Wesen zusammen bestehen, natürlich bis zu einem gewissen Grad immer miteinander übereinstimmen müßten und daß der Zuwachs an Übereinstimmung und positive Wechselwirkung zwischen ihnen eine der ebenso tatsächlichen wie wünschenswerten Bewegungslinien der Kultur ist, daß aber dieses unbestreitbare Einheits- und Zusammenhangsverhältnis im großen Ganzen subjekti, nicht objektiv ist. Das astronomische Weltbild ist mit der volkstümlichen ebensowenig objektiv vereinbar, wie das physikalisch-chemische es ist. Das Bild  A  kann mit mit dem Bild  B  in demselben Bewußtsein zusammen bestehen und tut es auch, aber nur in einem anderen Kreis dieses Bewußtseins. Was man als unbeweglich, klein, platt, bunt, klangvoll, begrenzt usw. auffaßt, das faßt man nicht zugleich in derselben Beziehung und in demselben Sinn als beweglich, groß, rund, farb- und klanglos und unbegrenzt auf. Zwischen den Gliedern eines konträren Gegensatzes besteht eine Kluft, die durch keine nur formalen Manipulationen zu überbrücken ist. Nur in der Einhzeit, die über den Gegensätzen liegt, und sie alle umfaßt, das heißt in unserem Fall dem Subjekt selbst und seinem totalen Leben, liegt das Mittel zur Überwindung des Gegensatzes, der sich ohne dasselbe gar nicht beseitigen ließe. Ich vervollständige ein Bild nicht dadurch, daß ich seine eigenen Züge verwische und durch ganz entgegengesetzte ersetze.

Das Bild  B  ist - daran müssen wir festhalten, - in gewissen Grundzügen so wenig mit dem Bild  A  vereinbar, daß es dazu neigt, das letztere ganz zu sprengen, und man kann ganz einfach und genau den allgemeinen Gesichtspunkt angeben, von welchem aus dies der Fall ist. Die Grenzenlosigkeit der intellektuellen Welt ist der eigentliche Sprengstoff.

Die Berufsastronomen haben die Frage, ob der Weltraum in  Wirklichkeit  grenzenlos ist oder nicht, in vollem Ernst erörtert. Für den, welcher sich in eine völlig durchgeführte empirische Betrachtungsweise der wissenschaftlichen Probleme hineinversetzen kann, hat die Frage, wie es in dieser Hinsicht mit dem Weltraum steht, ganz denselben Wert, wie die alte theologische, wo Himmel und Hölle zu finden sind. Ebensowenig nämlich wie für den Theologen im letzteren, liegt hier für den Astronomen im ersteren Fall ein Problem vor. Begnüge ich mich mit der Anschauung, so ist der Raum vollständig begrenzt, setze ich aber die Verstandesbrille auf, so erweitere ich nach und nach meine äußere Anschauung zu einer inneren, bis ich die Grenz  aller  Anschaulichkeit erreiche. Die Frage, ob der Weltraum grenzenlos ist oder nicht, hat in erster Linie psychologische, nicht astronomische Bedeutung und bedeutet in der Psychologie durchaus kein Problem, sondern bildet in bloßes Korollarium [Ableitung - wp] ihrer grundlegenden Auffassung bezüglich der Begriffe der Anschauung und des Denkens.

Jede durchgeführte wissenschaftliche Entwicklung entfernt sich in demselben Maß von der immer begrenzten Anschaulichkeit, wie sie sich dem reinen Einheits- und Kontinuitätstrieb des Bewußtseins hingibt. Dies gilt natürlich auch von der Astronomie, von deren streng abstraktem Denken, d. h. rein mechanisch-mathematischem Gesichtspunkt, die Grenzenlosigkeit des Weltraums nur das objektive Zeichen ist. Zu dieser makrokosmischen Grenzenlosigkeit bildet die mikrokosmische oder atomistische der Chemie und der Physik das reine Gegenstück.

Es dürfte kein sehr großes Maß an Scharfsinn zu der Einsicht erforderlich sein, daß die Grenzenlosigkeit von einem Denken, dessen Augenmerk darauf gerichtet ist, sein Objekt vollständig zu umfassen, in das Weltbild hineingetragen wird. So bildet ja der Fortgang der Reflexion zur Unermeßlichkeit des Raums eine sehr primitive Denkoperation, eine Art Schülermetaphysik, deren Bedeutung als Ausgangspunkt für wirkliche Philosophie jedoch ebenso unermeßlich wie der Raum selbst sein dürfte, da diese Abstraktion ohne Zweifel etwas mehr ist, als das bloße Losreißen von jeder bestimmten anschaulichen Konfiguration im Raum, nämlich das Signal dazu, daß die  positive  Unendlichkeit vom Innern des Subjekts aus zum Bewußtsein vorzudringen sucht und sich als die eigentliche Triebkraft des ganzen Abstraktionsprozesses kundgibt. Es gibt keine negative Bestimmtheit, die ihren Grund nicht in etwas Positivem hätte. Das Gefühl des in allen Erkenntnis- und Denkprozessen arbeitenden Subjekts - dies können wir hier lediglich den  Gedanken  nennen, - enthält die positive Unendlichkeit, von welcher die Grenzenlosigkeit der bloße Widerschein in der Anschauung ist, ein Bild auf dem Rand der Bildlosigkeit. Die Grenzenlosigkeit ist ganz einfach eine Überleitungsfunktion von einer psychologischen Sphäre in eine andere. Aber in letztere Sphäre, die des Gedankens, gelangt man nur, wenn man sich durch die erste, die der Anschauung, hindurchgearbeitet hat. Und das Mittel zu diesem Durcharbeiten ist natürlich ein immerfort kräftigeres Losmachen vom Anschaulichen und Äußeren und eine gesteigerte Aufmerksamkeit auf das Innere, d. h. ein Vordringen in der Richtung der Einheit, des Zusammenhangs und der Universalität. Die Grenzenlosigkeit bedeutet einerseits einen Rest von Anschaulichkeit, den der Gedanke noch nicht weggeschafft hat, und andererseits die Verneinung aller bestimmten Anschaulichkeit.

Das Bild, in welchem die Mechanik des Weltraums und der Atomwelt den vorherrschenden Zug bildet, balanziert offenbar auf der unendlich schmalen Linie zwischen Anschaulichkeit und reinem Denken. Es ist immer nahe daran, eine reine Gedankenschöpfung zu werden, denn die Grenzenlosigkeit droht überall einzubrechen und die der bestimmten Erkenntnis zur Stüze dienende Anschaulichkeit aufzulösen. Die Anschaulichkeit lebt dort in jedem Fall nur von der Gnade des Denkens, das sich zu irgendeinem besonderen Zweck nicht seiner ganzen Macht bedient. Das Weltbild  B  ist im Großen betrachtet eine Hypostase [einem Gedanken gegenständliche Realität unterschieben - wp] des Grenzenlosen, eine Versinnlichung des Nichtanschaulichen. Dieser Grundwiderspruch liegt von Anfang an bis zu Ende in allem naturwissenschaftlichen Denken, also in aller Naturwissenschaft und schneidet ihr alle Aussicht ab, eine logisch befriedigende Weltanschauung hervorzubringen.

Dieser Widerspruch zieht sich durch die ganze Geschichte des naturwissenschaftlichen Denkens, hat aber vielleicht nie einen schärferen Ausdruck gefunden, als in KANTs berühmten kosmologischen Antinomien.

Wir wollen ihn jedoch an unseren erkenntnistheoretischen Gesichtspunkt anknüpfen. Wir erhalten dann noch eine klarere Formulierung des Gegensatzes.

Wir wissen, daß das Verstandesbild der Welt aus der Vereinigung von richtigen, genügenden Sinneswahrnehmungen und logischen Operationen hervorgegangen ist. Falls man will, kann man noch die Bestätigungen durch die Erfahrungen hinzufügen, die dieses Bild im Nachhinein erhalten hat, obgleich diese Bestätigungen, genau genommen, bereits in den Sinnesbeobachtungen, aus denen das Bild entsteht, einbegriffen sind. Tatsächlich leistet keine Bestätigung mehr, als daß sie die induktive Basis für die allgemeinen Gesetze erweitert. Stets liegen den Gesetzen Tatsachen zugrunde, während man, streng genommen, niemals wirkliche Tatsachen aus Gesetzen ableiten kann. Das wirkliche Eintreten einer Tatsache in die Erfahrung bezeichnet stets einen reinen Zuschuß zur Gültigkeit des Gesetzes und damit auch immer einen Überschuß über das Gesetz selbst, wie es vor der Tatsache lag. Nur imaginäre oder nur gedachte Fakta lassen sich ohne Rest aus dem Gesetz ableiten. Als der  Neptun  infolge von Störungen in der berechneten Bahn des  Uranus  um die Sonne entdeckt wurde, ergab sich die Existenz des  Neptun  nicht auf dieselbe Weise aus den astronomischen Prämissen, wie sich  12  aus  5 + 7  ergibt,  wenn  wir nämlich letztere Konsequenz rein aprioristisch fassen. Sondern was geschah, war eigentlich nur dies, daß die Grundlage gewisser wissenschaftlicher Sätze durch das Eintreten einer Tatsache, die Entdeckung des Planeten  Neptun  am Himmelsgewölbe mittels des Fernrohrs - die objektiv etwas Zufälliges, obgleich freilich etwas subjektiv Vorbereitetes war - eine beträchtliche Erweiterung gewann. Genau dasselbe war auch der Fall, als man einige dem Aluminium mehr oder weniger verwandte Metalle ankündigte, bevor sie noch entdeckt waren. Was für den Dichter die Inspiration, das ist für den Naturforscher die Observation und die Entdeckung. Beide verhalten sich dabei als Empfänger, nicht als Erzwinger.

Genug - das intellektuale Bild der Welt ist auf eine Weise gestaltet, die uns zwingt, seine Wahrheit anzunehmen. Täten wir es nicht, so läge hierin eine Misologie [Haß der Vernunft - wp], die unserem eigenen Wahrheitsbegriff den Boden entzöge. In den Sätzen, welche die reichsten Ausgangspunkte in der Erfahrung mit solchen Methoden vereinigen, die der eigenen Natur des forschenden, denkenden Menschen entspringen,  muß  ganz einfach Wahrheit liegen. Die wissenschaftliche Wahrheit überhaupt leugnen heißt der eigenen Vernunft ins Gesicht schlagen und der Wahrheit selbst, sowie ihrer Verneinung, allen Sinn rauben.

Wahr  ist also das Bild  B.  Ist es nun auch  wirklich?  Dies war es ja gerade, was wir von Anfang an wissen wollten.

In einer unbekannten Gegend hinten am Horizont erblicke ich eine Reihe heller Spitzen und Zacken, die von einem gemeinsamen dunkleren Hintergrund aufsteigen, und glaube eine sich gegen den Himmel abhebende Gebirgskette zu sehen. Der nächste Sonnenstrahl oder ein Blick durch das Fernglas klärt mich über meinen Irrtum auf. Was ich sehe, sind keine Berge, sondern Wolken. Eine lebende Pflanze scheint eine Mittagstafel zu zieren. Wenn ich ihre Blätter mit meinen Fingern berühre, überzeuge ich mich davon, daß sie nur ein künstlicher sogenannter Tafelschmuck ist. Dem Grünblinden erscheint das Gras nicht in einem normalen Grün, sondern anders gefärbt, aber er weiß durch die Aussage anderer, daß das Gras eine Farbe hat, die er nicht erfassen kann. In all diesen Fällen, die sich ganz nach Belieben vervielfältigen lassen, liegt dem, was wir wirklich ansehen, eine normale Sinneserfahrung zugrunde. Bei dieser normalen Sinneserfahrung handelt es sich selten nur um einen Sinn, sondern gewöhnlich um das Zusammenwirken mehrerer zwecks gegenseitiger Berichtigung und Ergänzung, ja, selbstverständlich auch um ein sehr ausgedehntes Mitwirken des Gedächtnisses, der Phantasie und anderer höherer Bewußtseinsfaktoren. Aber wie nun auch diese höheren Faktoren an der Gestaltung der Sinnenwelt arbeiten, so wölbt sich diese Welt doch immer um einfache Sinnesdaten, in welchen die wirklichkeitsbildende Kraft schließlich liegt. Das Bewußtsein hilft hier den Sinnen nur beim Aufbau einer Welt in ihrer eigenen Richtung und sozusagen ihrer eigenen Absicht, aber es zersetzt und zerstört diese Welt noch in keiner Weise, um einem entgegengesetzten Bild den Weg zu bahnen. Und diese Richtung ist überall die der deutlichen, ausgeprägten Anschaulichkeit, der vollständigen Begrenzung. An eine solche deutliche Anschaulichkeit, eine solche vollständige Begrenzung müssen wir den Begriff der Wirklichkeit anknüpfen, wenn er nicht ganz und gar in der Luft schweben soll. Der Begriff einer normalen Sinnesanschauung in der eben ausgesprochenen Bedeutung, oder einer Welt, welche die Sinne unter unterstützender Vermittlung des Bewußtseins vor aller Zergliederung und Umbildung durch die Reflexion geschaffen haben, ist gerade das, was wir unter Wirklichkeit verstehen. Es würde sowohl im Leben, wie in der Wissenschaft zu einer heillosen Verwirrung führen, wenn die Wirklichkeit nicht an diese Grundbedeutung, die ja auch der unentbehrliche Ausgangspunkt für jede Untersuchung des Wahrheitsbegriffs ist, gebunden werden dürfte. So wichtig und grundlegend ist tatsächlich diese Bedeutung der Wirklichkeit, daß man den alten EPIKUR wahrhaftig nicht verlachen darf, wenn er in seinem Eifer das Zeugnis der Sinne als Kriterium der Wahrheit zu verteidigen, sogar in Frage stellt, daß die Sonne und die Sterne durch die Entfernung an Größe und Glanz verlieren würden, weshalb sie, seiner Ansicht nach, an und für sich nur unerheblich oder auch gar nicht größer, wenn nicht geradezu kleiner, als sie uns erscheinen, sein dürften. Ist dies eine Ungereimtheit, so hat sie doch ihre vernünftige Veranlassung.

Daraus folgt dann unbedingt, daß das Bild  B,  obgleich wahr, dennoch nicht wirklich sein kann, wenn und insofern als es zu  A  in einem konträren Gegensatz steht, d. h. seinen Schwerpunkt in reine Vorstellungselemente im Medium der Grenzenlosigkeit verlegt. Da es nun aber allzu paradox und seltsam erscheinen würde, wenn man auf diese Weise Wahrheit und Wirklichkeit einander entgegenstellt, - wir erhielten ja dann nicht nur eine Wahrheit außerhalb der Wirklichkeit, sondern was schlimmer wäre, eine Wirklichkeit ohne Wahrheit, - werden wir gleich einen anderen Ausdruck für den Gegensatz wählen. Wir werden zugeben, daß der Gegensatz nur bedeutet, daß der Wahrheitsbegriff sich verschieden nach verschiedenen Horizonten präsentiert. Wir lassen diesen Begriff auch gern die Wirklichkeit umfassen, müssen dann aber dem Bild  B  nur eine solche Wahrheit zugestehen, die über die Wirklichkeit hinausgeht. Dieses Bild ist nicht durch seine Wirklichkeit oder Wirklichkeitstreue wahr, sondern aus einen anderen Grund. Das  Criterium veri  liegt anderswo. Das Bild besitzt seine Wahrheit nur in einer anderen Relation und in einem anderen Sinn. Nicht durch die Beziehung auf eine vom Subjekt unabhängige Wirklichkeit ist es wahr, sondern durch eine Beziehung auf das Subjekt, das die Wirklichkeit empfindet, wahrnimmt, denkt und in ihr lebt. Es ist  seine  Natur - die wir hier zunächst mit dem  Gedanken  übersetzen -, die sich in der Wahrheit der intellektuellen Welt, aber nicht in der Welt der Wirklichkeit offenbart. Unser eigener Gedanke ist es also, den wir schließlich in der Naturwissenschaft kennen lernen. Diese Wissenschaft sagt uns nie, was die Wirklichkeit oder die Natur  ist sondern einzig und allein, was man aus ihr  machen kann. 

Wenn wir im Vorhergehenden die Grenzenlosigkeit als das in immer bestimmter hervortretende Medium der naturwissenschaftlichen Betrachtung betont haben, das in dem Maß ersichtlich wird, wie jene alle Spezialität überschreitet und dem unwiderstehlichen Zug der Reflexion, die ganze Erfahrung zu überblicken, folgt, könnte es den Anschein haben, als hätten wir nur die Grenzenlosigkeit im Raum gemeint. Eine Grenzenlosigkeit gibt es aber natürlich auch in der Zeit und in der Bewegung, eine Unbestimmtheit im Hinblick auf zuerst und zuletzt, Ursprung und Resultat, die ebensosehr wie die Grenzenlosigkeit jener ersten Form einen naturwissenschaftlichen Weltüberblick unmöglich macht. Die heutige Entwicklung der Naturforschung hat die Form und die Aufgabe letzterer immer deutlicher ausgeprägt. Soweit sich zwischen ihren Zweigen ein gemeinsamer Verwandtschaftszug nachweisen läßt, besteht dieser, physikalisch betrachtet, in einer immer vollständiger und korrekter werdenden Messung der Energiemenge bei tatsächlich feststellbaren Veränderungen, deren Ursache und Qualität gar nicht berührt werden von der Messung, d. h. von der wissenschaftlichen Erklärung, oder, psychologisch ausgedrückt, in einem Vergleichen zwischen verschiedenen Empfindungsreihen mittels anderer, die der Vergleichung zum Maßstab dienen, wobei die Empfindungen wie rein ebenbürtige Tatsachen, unter Abweisung aller tieferen Substantialitäts- und Kausalitätsprobleme als sinnlos, betrachtet und behandelt werden. Hierbei kann jedoch keiner, der den Gehalt des Wortes kennt, von einer Welterklärung reden, höchstens von einem gemeinsamen Blick auf die Grenzen und die Form aller legitimen wissenschaftlichen Erklärung. Der Forscher, der sich der Natur seiner eigenen Wissenschaft bewußt ist, gesteht dies auch ein. Er gesteht ein, daß er die philosophischen Probleme nicht löst, sondern eliminiert.

Der in der modernen zielbewußten Naturforschung stark hervortretende Protest gegen den Dogmatismus und die Tendenz, in den allgemeinen wissenschaftlichen Theorien nur Hilfsvorstellungen oder Arbeitshypothesen, aber keine objektive Erkenntnis zu sehen, ist natürlich ein sprechendes Zeugnis dafür, daß eines sehr lobenswerte Selbstbegrenzung in Bezug auf die Anwendung der naturwissenschaftlichen Prinzipien anfängt, sich von einer Stimmung zur Ansicht und Einsicht zu klären. In dem Grad, wie die Naturforschung ihre Form schärft und ihre Aufgabe begrenzt,  muß  sie ganz einfach darauf verzichten, Philosophie sein zu wollen. Dazu führt wirklich auch sehr oft die Beschäftigung mit den abstrakten Naturwissenschaften, bei denen man sowohl seine Ausgangspunkte zu präzisieren, wie nach strengen Methoden fortzuschreiten versteht und überhaupt lernt, was wissenschaftliches Beweisen bedeutet. Die Wissenschaften dagegen, die vorwiegend Tatsachen sammeln und das Äußere der Erscheinungen beschreiben und systematisieren, eignen sich am besten zum Ausbrüten dogmatischer Welterklärer.

Aus den Reihen letztere rekrutiert sic hauch hauptsächlich die Stammtruppe der modernen Naturalisten, welche die Welt mit den "Resultaten der empirischen Forschung" umspannen wollen. Sie gehen davon aus, daß die Natur ganz einfach die Wahrheit ist, und deswegen nur das wahr ist, was sich als Natur erklären und behandeln läßt. Demzufolge nehmen sie eine der Wissenschaft zugängliche, durch objektives Studium der gegebenen Natur gewonnene Wwahrheit für sich in Anspruch, während sie die Wünsche, Hoffnungen und Phantasien des Ich den Philosophen überlassen. Etwas weiteres oder anderes sieht der Naturalismus nicht in den Anschauungen, die ihre Quelle in der inneren Welt der menschlichen Persönlichkeit haben.

Dies ist jedoch der Grundirrtum des Naturalismus, der sich freilich gerade durch die empirische Forschung selbst aufdecken läßt. Schon  die  Aufgabe, zu erklären, wie die Natur, die Quelle der Wahrheit, das Entstehen all jener illusorischen, gefährlichen, transzendenten oder transzendentalen und stark mit einem Gefühlston versetzten Vorstellungen, die bisher die Menschheit irregeleitet haben, hat zulassen können, dürfte den Naturalismus in verhängnisvolle Schwierigkeiten bringen. Es ist, mit anderen Worten, keine leichte Aufgabe, die allgemein verbreiteten, mächtigen "metaphysischen" Vorstellungen unter den Menschen aus der reinen Natur abzuleiten. Wie hat das "Unnatürliche" dem "Natürlichen" so oft die Führung in der Geschichte nehmen und sich zu einem Herrscher aufwerfen können, wenn die Natur selbst die Geschichte durchgängig bestimmt und - ausmacht. Diesen Gesichtspunkt verlassen wir doch sofort.

Jede einigermaßen gründliche Erfahrungsuntersuchung zeigt, daß der Naturalismus mit seinen objektiven Erklärungen vollständig auf einer vorausgehenden, wenn auch unbewußten Abstraktion ruht, welche die Erfahrung zerteilt, um sich das eine Stück nicht nach seiner eigenen Beschaffenheit, sondern nach der des andern zurechtzulegen. Ich will jedoch gar nicht behaupten, daß der Naturalismus das Subjekt absichtlich übersieht und nur das Objektive oder "Transsubjektive" in der Erfahrung berücksichtigt. Dies würde auch wahrhaftig ein so schweres Kunststück sein, daß man ihm nicht einmal den Mut zu einem derartigen Versuch zutrauen kann. Nein, er berücksichtigt allerdings auch das Subjekt und zieht es ebenfalls in den Kreis seiner Untersuchungen hinein, ja, er tut dies mit Vorliebe, merkt aber dabei nicht die Voraussetzung, die er seiner Untersuchung unbewußt zugrunde legt. Diese Voraussetzung - von welcher der Naturalismus mit seinem Ursprung aus den Naturwissenschaften nicht loskommen kann - besteht darin, daß das Subjekt sich ohne Rest unter denselben Gesichtswinkel der Erkenntnis bringen läßt wie die Gegenstände in der Natur. Es ist kein Wunder, daß die einzige Untersuchung des Subjekts, die man als wissenschaftlich anerkennt, nämlich die in der empirischen Psychologie ausgeführte, sich in der Richtung des Naturalismus bewegt, da diese Psychologie das Subjektive durch die Voraussetzung, es könne in der Erfahrung nur die Stellung einnehmen, die mit seiner Einfügung in die erkenntnismäßig zurechtgelegte Natur vereinbar ist, von Anfang an zum Objektiven gemacht hat. In einem roten Glas erscheint auch das Wasser rot. Der Naturalismus geht nur von einer durch Abstraktion von vornherein verstümmelten Erfahrung aus, während er einen gewaltigen Überschuß an Erfahrung unbeachtet läßt, der aller Erkenntnis der Natur als ihre unerläßliche  Voraussetzung  zugrunde liegt. Dieses Verhältnis wird dadurch verhüllt, daß der Naturalismus auch das Subjekt vollständig zu berücksichtigen scheint. Welches Subjekt aber? Nun, ein solches, das er sich in derselben Stellung wie die Gegenstände in der Natur vorlegt, wobei er im voraus als selbstverständlich annimmt, daß die Natur das Ganze ist, worin das Gegebene ohne Rest aufgeht. Gerade durch seine Fragestellung und seinen damit verknüpften scharf abstrakten Gesichtspunkt legt er die Erfahrung in ein Prokrustesbett. Es ist keine Hexerei, daß die Rechnung auf diese Weise stimmen muß und die Natur die ganze Wahrheit ausmacht, wenn man die Wahrheit von Anfang an auf  Natur  reduziert hat. Dies nennt man sonst: sich im Kreis drehen.

Wer der Ansicht ist, die Natur enthält die ganze Wahrheit, vergißt auch, daß die Naturwissenschaft selbst in einem solchen Fall der Wahrheit entbehren müßte, denn der Wissenschaft kommt, wie wir gesehen haben, durchaus nicht in demselben Sinn wie der Natur, sondern in einem ganz anderen Wahrheit zu. Außerordentlich wenig versteht der Naturforscher vom allgemeinen Ergebnis seiner eigenen Wissenschaft, wenn er glaubt, daß dieses Ergebnis sich zur Natur verhält wie die Kopie zum Original. Die Natur und die Wissenschaft liefern ja stattdessen zwei Bilder, die in großer Ausdehnung ja prinzipiell voneinander verschieden sind, und die unbestreitbare Übereinstimmung, die zwischen ihnen besteht, liegt keineswegs auf der Seite des Bildes oder der Anschauung, denn gerade da zeigt sich der Gegensatz. Es existiert keine Möglichkeit, das Verhältnis zwischen Natur und Wissenschaft noch länger an diesen alten, engen, überlebten Vergleich zwischen Original und Kopie, Urbild und Abbild zu knüpfen. Die Wissenschaft abbildet ganz gewiß keine Wirklichkeit, aber sie hat aller Wirklichkeit gegenüber selbstverständliche Gültigkeit. Wie soll man nun ihr allgemeines Verhältnis zur Wirklichkeit näher bezeichnen? Nun so, daß man in der Wissenschaft eine Art und Weise sieht, wie das Subjekt vom Standpunkt seiner eigenen Interessen aus auf die Wirklichkeit reagiert. Eine Reaktionsart ist sie zwar, aber trotzdem kein Abbild. Die Wissenschaft liefert ein neues Bild  auf Veranlassung  der Wirklichkeit - so wie die Kunst eine neue Schönheit hervorbringt und sie derjenigen der Natur hinzufügt -, würde sich selbst aber vollständig lähmen, wenn sie ihren Zweck in der Ungereimtheit sucht, ein möglichst getreues Bild der Natur oder der Wirklichkeit zu liefern. Die Erkenntnis von der Natur geht über die Natur hinaus. Die Wirklichkeit und die Erkenntnis sind zwei verschiedene Bilder  für  dasselbe Subjekt. Deshalb stoßen wir auch an der Grenze aller Naturforschung auf das erkenntnistheoretische Problem vom gegenseitigen Verhältnis dieser Bilder innerhalb des Subjekts, welches das wahre Ganze ist, das sowohl die Wirklichkeit wie die Erkenntnis umfaßt. Wo die Naturwissenschaft aufhören muß, tritt uns die Philosophie - in der Gestalt der Erkenntnislehre - entgegen. Und die heutige denkende Naturforschung anerkennt diesen Satz unbewußt in reichem Maß durch ihr Erwachen aus dem "dogmatischen Schlummer" und ihre neue Auffassung der Wahrheitsbedeutung der allgemeinen Theorien. Das Herabsetzen der Theorien auf bloße  Arbeitshypothesen,  wie es heißt, ist die Art der modernen Naturwissenschaft, sich auf eine Spezialwissenschaft zu beschränken und auf das Liefern von Weltanschauung zu verzichten. Daß der Ausdruck der Halbfertigkeit leidet, ist offenbar. Dies erklärt sich aber daraus, daß der Naturforscher keinen einzigen Schritt weiter gehen will, als die unabweisbaren Bedürfnisse seiner eigenen Wissenschaft ihn gerade nötigen. In diesem Ausdruck liegt ein gelegener Kompromiß zwischen den Tendenzen, die ihn nach verschiedenen Seiten ziehen. Wie andere Kompromisse, kann dieser ganz gewiß nicht auf ein besonders langes Leben rechnen. Er ist sicherlich recht provisorischer Natur. Die Gegensätze werden ohne Zweifel an neuen Punkten und vielleicht mit erneuter Kraft hervortreten. Und jedesmal, wenn dies geschieht, wird sich bei der Naturwissenschaft das Bedürfnis einstellen, der Philosophie näher zu rücken. Ich bin überzeugt, daß diese Annäherung nicht zur Verunreinigung und Trübung der Aufgaben und Methoden einer von ihnen, sondern stattdessen zu jener "reinlichen Scheidung" führen wird, die tatsächlich eine Hauptbedingung ehrlicher, fruchtbringender Zusammenarbeit ist.

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Diese kleine, auf Vereinfachung der Fragestellung besonders hinzielende Erörterung, die ihre Beispiele und sonstige Anknüpfungen aus der nächsten Nähe greift, hat zu ihrem einzigen Augenmerk: die Aufmerksamkeit auf die gegensätzliche Beziehung zwischen den Begriffen der wissenschaftlichen Wahrheit und der Wirklichkeit zu lenken. Ohne eine "reinliche Scheidung" gerade in diesem Punkt werden Naturwissenschaft und Philosophie sich miteinander nie verständigen können.

Mit diesen paar Zeilen hat ja der Gegensatz nur gestreift werden können. Auf eine eingehende Beweisführung habe ich es ja selbstverständlich noch nicht abgesehen, nur auf eine große Linie.
LITERATUR - Vitalis Norström, Naives und wissenschaftliches Weltbild, Archiv für systematische Philosophie, Neue Folge der "Philosophischen Monatshefte", Bd. 13, Berlin 1907