WarstatBakuninDunkmannVolkeltSchmalenbach | ||||
Der Begriff der Individualität als fiktive Konstruktion [1/2]
Einleitung Das Problem Als "rational" bezeichnen wir dabei einen Begriff, der sich scharf umgrenzen läßt und mit sich selbst identisch bleibt, kurz, der den Anforderungen der traditionellen Logik entspricht. "Irrational" dagegen heißt uns ein Tatbestand, der sich jenen Anforderungen entzieht. Fußend auf der Selbstanalyse und dem Nachweis der objektiven Widersprüche, in die man sich überall beim Versuch, die Individualität als rationalen Begriff zu fassen, verwickelt, stellen wir zunächst die Irrationalität des gemeinten Tatsachenkomplexes fest, um dann zu untersuchen, wie man trotzdem dazu gelangt, eine aus mannigfachen Gründen geforderte Rationalisierung vorzunehmen. Hinter dem so erörterten Einzelfall wird sich uns dabei das allgemeinere, erkenntnistheoretische Problem erheben, ob und wie weit es überhaupt möglich ist, das irrationale Sein, innerhalb dessen die als "individuell" bezeichneten Tatsachen nur einen Ausschnitt darstellen, in rationale Begriffe einzufangen. Insofern wird sich unsere Lösung des Einzelproblems zu prinzipieller Bedeutung ausweiten. Das Irrationale der Individualität 1. Versuchen wir es, diejenigen Tatbestände, die man gemeinhin, ohne die Berechtigung dazu nachzuprüfen, als "individuell", ansieht, gegen diejenigen abzugrenzen, die keinen Anspruch darauf haben, in den Kreis des Individualitätsbegriffs einbezogen zu werden, so stoßen wir auf unüberwindliche Schwierigkeiten. Selbst wenn wir, was zuweilen geschieht, unsere Individualität gleichsetzen mit unserer leiblichen Individualität und eine geistige Individualität nur soweit gelten lassen, als sie von der leiblichen getragen wird, selbst dann ist die Grenze (in diesem Fall die Haut unseres Körpers) bedeutend abstrakter, als es auf den ersten Blick scheint. Denn der so umgrenzte Sachbestand kann zwar von bestimmten Umgebungen isoliert werden, keineswegs aber von einer Umgebung überhaupt. Nur abstrakt kann er als Absolutum gelten, realiter bildet er stets einen Teilbestand größerer Zusammenhänge, letzten Endes der Welt, mit denen er in beständiger und notwendiger Wechselbeziehung steht. Das Bestehen unserer leiblichen Persönlichkeit ist daran geknüpft, daß unablässig Atem, Speise und Trank durch sie hindurchgehen, daß sie einen Boden hat, auf dem sie fußt, daß beständige Reize ihre Sinnesorgane wachhalten und daß hundert andere Beziehungen zur Außenwelt vorhanden sind. Die Ausschaltung nur eines Teils derselben würde die Vernichtung des Leibes bedeuten. Mit unserer geistigen Persönlichkeit ist's aber nicht anders. Verstehen wir darunter zunächst nur den an unseren Leib gebundenen Bewußtseinskomplex, so ergibt sich, daß sich auch um ihn höchstens eine abstrakte und in jedem Augenblick wechselnde Grenze ziehen läßt. Die Körperhaut kann hier noch weniger als beim Leib als Scheidewand dienen. Denn sind nicht bereits unsere Sinnesempfindungen jenseits der Haut lokalisiert, zugleich als unser Erleben und als etwas außer uns Liegendes charakterisiert? Nehme ich einen Stock zur Hand und taste ich mit seiner Spitze einen Gegenstand ab, so ist mein Empfinden in der Spitze des Stocks lokalisiert. Nehme ich ein Fernrohr zur Hand und erschaue ich damit einen Stern in der Tiefe des Himmelsraums, so beziehe ich diesen Stern gleichsam ein in meine Individualität, sein Licht wird meine Empfindung, meine Individualität reicht sozusagen bis zu jenem Stern. Man hat daher geistreich die Werkzeuge als Verlängerungen unserer Sinnesorgane bezeichnet; man könnte sie auch als Ausdehnungsmöglichkeiten unserer Individualität ansehen. Denn sie erweitern die Möglichkeit, das hypothetische Zentrum unserer Persönlichkeit mit der Außenwelt in Beziehung zu setzen, und in der Wirklichkeit besteht ja unsere Persönlichkeit fast ausschließlich aus solchen Beziehungen. Auch unsere Gedanken, unsere Gefühle, unsere Willenshandlungen sind zum größten Teil solche Beziehungen zur Außenwelt, die diese gleichsam aufnehmen in den Kreis des Persönlichen. Die Kleider, die wir tragen, das Haus, das wir bewohnen, die Frau, die wir lieben, empfinden wir als verbunden mit unserer Persönlichkeit. Ich spreche von "meinem" Freund, wie ich von "meinem" Herzen spreche. Die Vorstellung des Malers ist ein Teil seines Selbst, sie bleibt es auch, wenn er sie zum Bild gestaltet. Wir sagen, "seine Persönlichkeit steckt in seinem Werk". Stirbt uns ein lieber Mensch, so haben wir das Gefühl, ein Teil unserer eigenen Persönlichkeit führe mit ihm in die Grube, und das ist mehr als eine bloße Metapher. Denn noch weniger als unsere leibliche ist unsere geistige Persönlichkeit von der äußeren Körperhaut umschlossen, sie hat überhaupt keine bestimmte Grenze. Sie steht in beständigem Zusammenhang mit wechselnden Teilen der Welt, die ebenso gut oder ebenso schlecht isolierbar sind wie sie selbst. Kurz, höchstens durch Abstraktion, niemals realiter, läßt sich unsere Persönlichkeit, die geistige so wenig wie die leibliche, umgrenzen. Nur ganz kurz sei hier das Problem des Verhältnisses der leiblichen zur geistigen Persönlichkeit gestreift, ohne daß wir uns an die schwierigen metaphysischen Fragen, die sich an dieses Problem knüpfen, zu verwickeln gedenken. Einerlei, ob man sich für den Parallelismus oder die Wechselwirkung entscheidet, zugeben muß man, daß enge Beziehungen zwischen leiblicher und seelischer Persönlichkeit bestehen, zugleich aber, daß die geistige Persönlichkeit viel weiter reicht als die leibliche. Das zeigt sich vor allem daran, daß die geistige Persönlichkeit den leiblichen Tod zu überdauern vermag. Wir meinen das hier nicht im Sinne einer transzendenten Unsterblichkeitslehre, sondern bleiben ganz im Diesseits, wenn wir konstatieren, daß die Persönlichkeiten CHRISTI, LUTHERs, GOETHEs noch heute lebendig sind und wirken, obwohl die körperlichen Träger schon lange dahin sind, ja zum Teil - wie bei CHRISTUS - in ihrer Existenz überhaupt bezweifelt werden. Dabei ist diese weiterlebende geistige Persönlichkeit nun keineswegs fest in sich begrenzt, sondern auch sie wächst noch weiter, ändert sich und breitet sich aus. Man denke nur, wie die Persönlichkeit CHRISTI nach seinem Tod an Größe, Würde und Universalität noch immer gewonnen hat und sich auch heute noch weiter wandelt. Oder welche Wandlungen auch jetzt noch die Persönlichkeit GOETHEs durchmacht! Denn die Wirkungen der Individualität gehören zu ihr selber wie die Strahlen der Sonne zur Sonne gehören. Eine feste Grenze zu ziehen, ist da nirgends. Die Peripherie der Persönlichkeit ist nirgends festzustellen. Man wende nicht ein, daß es sich um eine bloße Metapher handelt, wenn wir von einer Fortdauer der Persönlichkeit im eben ausgeführten Sinn reden. Wir handeln hier über den "Begriff" der Persönlichkeit und dieser ist nicht an die reale Existenz gebunden. Indessen wollen wir im weiteren Verlauf unserer Untersuchungen das Thema nicht so weit ausdehnen und sprechen auch von geistiger Persönlichkeit nur in dem Sinne, daß wir damit die Bewußtseinssphäre des noch lebenden Menschen meinen, und unser Hauptproblem ist die Möglichkeit, diese begrifflich zu fassen. 2. Noch in anderer Hinsicht ist es unmöglich, eine feste Grenze unserer Individualität zu ziehen. Nicht nur gegen das Außerindividuelle, auch innerhalb des Überindividuellen, also dessen, was zu gleicher Zeit vielen Individualitäten gemeinsam ist, gibt es keine feste Grenze. Vieles, was wir als Element unserer Individualität ansehen, haben wir nichtsdestoweniger gemein mit anderen Individualitäten. Auch das gilt vom Leiblichen wie vom Geistigen. Unsere äußere Gestalt, unser ganzer Körper, ist nur ein Teilglie einer Kette, die aus grauester Vorzeit in eine dunkle Zukunft hinübergleitet. Vieles, was wir als Allerpersönlichstes in unserer physischen Konstitution ansehen, ist Erbe von unseren Ahnen und geht weiterhin über auf unsere Nachfahren. Durch die Zeugung sind wir physisch Teile eines überindividuellen Zusammenhangs. - Und geistig sind wir das nicht minder. Wir sind Träger von Gedanken und Willensströmungen, die keineswegs nur uns angehören, sondern die wir gemeinsam mit Tausenden von anderen Indviduen haben. Und selbst unsere Gefühle, die scheinbar ganz aus dem Innern unserer Persönlichkeit stammen, können in einen seltsamen Konnex mit denen anderer Menschen treten. Bei sogenannten Massensuggestionen hört die Individualität plötzlich auf, Individualität zu sein, sie ist nur Teil der Masse, fühlt und handelt durchaus als Glied eines überindividuellen Komplexes. Was in solchen Fällen besonders grellt heraustritt, ist aber auch sonst allenthalben der Fall. Auch wo wir uns dessen nicht bewußt werden, fühlen, wollen, handeln wir durchaus als Teile eines überindividuellen Ganzen, mögen diese nun die Familie oder die Berufskaste oder der Staat oder die Menschheit sein. Unser Bewußtsein täuscht uns da oft über den wahren Sachverhalt. Mancher Mensch, der glaubt, nur für seine individuellen Interessen zu handeln, besorgt gerade damit die Geschäfte der Allgemeinheit. Auch die stärksten Individualitäten der Geistesgeschichte erscheinen, aus größerer Entfernung betrachtet, durchaus als Angehörige ihres Zeit- und Nationaltypus. Ja, ihre scheinbar individuelle Leistung stellt sich, historisch gesehen, oft als die notwendige Konsequenz zeitlich gegebener Vorbedingungen dar. MICHELANGELO oder CORREGGIO führen den Renaissancestil, indem sie als Vollender von gewissen immanenten Tendenzen desselben erscheinen, kraft ihrer Individualität in das Barock hinüber. Daher erscheint für manche Geschichtsphilosophen das Individuum nur als Träger allgemeiner Ideen. Die Berechtigung einer solchen Betrachtungsweise werden wir später beleuchten. Vorläufig stellen wir nur fest, daß jede Indidivualität zumindest zum Teil in überindividuelle Zusammenhänge hineingehört, ja, daß es schier unmöglich ist, Individuelles und Überindividuelles einander entgegenzusetzen. Die von GOETHE halb scherzhaft aufgeworfene Frage: "Was ist denn an dem ganzen Kerl original zu nennen?" birgt sehr weitschichtige psychologische und philosophische Probleme. 3. Aber selbst wenn wir von diesen Schwierigkeiten absehen und unsere Individualität, wie es in der Praxis des Lebens vielfach geschieht, als isolierbares Etwas ansehen, so sind damit nicht alle Fragen gelöst. Wir stehen dann vor dem Zwiespalt, daß die Individualität einerseits als etwas Konstantes, mit sich selbst Identisches angesehen wird, daß aber andererseits mannigfache Tatsachen diese Konstanz und Identität in Frage stellen. - Betrachten wir zunächst die eine Seite dieses Widerspruchs! Keine Individualität ist konstant mit sich selbst identisch, jede ist eine sich beständig wandelnde Variable! Da sind zunächst die "typischen" Abwandlungen: aus dem unmündigen Kind wird der Jüngling (oder die Jungfrau), es folgt das Alter der Reife und die Zeit des Hinsinkens im Greisenalter. Wir bezeichnen diese Wandlungen als die Stufen der Reifung. Zum Teil mit ihnen eng verknüpft und doch nicht identisch damit ist die Erscheinung der geschlechtlichen Differenzierung; das allmähliche Hervortreten (und spätere Zurücktreten) der sexuellen Funktionen kann als selbständiges Sondermoment innerhalb des Gesamtphänomens der Reifung angesehen werden. Derartiger Sondererscheinungen können wir indessen noch andere unterscheiden. Denn fast alle seelischen Funktionen sind nach ihrem Hervortreten und Zurücktreten Teilfaktoren der Reifung. Nur einige typische Fälle können hier genannt werden: der Überschwang des Gefühls und der Phantasie im Jünglings- (bzw. Jungfrauen-) Alter, das Überwiegen der ruhigen Überlegung im Mannesalter, das allmähliche Erlöschen der Leidenschaften im Greisenalter sind solche Teilerscheinungen der Reifung. Zu diesen Änderungen der seelischen Funktionen kommen die Einflüsse der von außen in die Seele eintretenden Inhalte. So ist das allmähliche Anwachsen des Erfahrungsschatzes (zunächst bloß nach seiner quantitativen Seite) ebenfalls ein Wandlungsphänomen; denn die Erfahrungen, die wir machen, sind nicht bloß äußerlich aufgenommene Materialien, die wir mitführen wie ein Wagen seine Ladung. Sie bilden unsere Persönlichkeit um, indem sie auf die erlebende Individualität zurückwirken. Ferner kommen mannigfache Anpassungserscheinungen hinzu: man lernt Leidenschaften beherrschen, man bildet spezifische Organe aus, man stellt sich ein auf bestimmte Lebensverhältnisse. Die Berufswahl z. B. ist eine typische derartige Einstellung. Neben diesen typischen, d. h. in jedem Menschenleben aufzeigbaren Wandlungen steht die unübersehbare Fülle der individuellen. Hat doch im einzelnen Fall schon jede der typischen Wandlungen ihr individuelles Gesicht, insofern als die Phänomene der Reifung oder der sozialen Anpassung sich bei jedem Menschen in verschiedener Weise vollziehen. Erwägt man nicht nur die Menge der Erfahrungen, sondern ihre unendlichen qualitativen Variationsmöglichkeiten, so steigt die Wandelbarkeit der Individualität ins Ungeheure. Bestimmte Erlebnisse, eine Liebe, eine Freundschaft, eine Willensreizung, können tiefgreifend den ganzen Charakter beeinflusen. Krankheiten, besonders solche des Nervensystems, können den Menschen umwandeln, einen SAULUS zu einem PAULUS machen. Wechsel der klimatischen, landschaftlichen, sozialen Umgebung können abfärben auf die Individualität. Das HORAZische: "Coelum non animum mutant qui trans mare currunt" [Den Himmel, nicht ihr Bewußtsein, ändern diejenigen, die übers Meer fahren. - wp] Sehr oft finden wir, daß ein Wechsel der Umgebung (und sie es nur ein zeitweiser) auch einen Wechsel in der Individualität mit sich zieht: Wievielen Deutschen ist Italien zum "Erlebnis", also zum charakterumbildenden Faktor, geworden, d. h. sie kamen als ganz andere wieder, denn als sie hinabgezogen waren. Und zwar ist ein solcher Einfluß nicht immer ein einfaches Übernehmen fremder Einwirkungen, oft handelt es sich auch um eine Reaktion des bisherigen Ich gegen die neue Umwelt, so daß das Resultat des Zusammentreffens gerade der Richtung des Einflusses entgegengesetzt ausfällt. Oft hat sich der Deutsche in der Fremde erst selber gefunden, gerade durch den Widerspruch!
Solche pathologischen Fälle offenbaren nur in besonderer Zuspitzung Erscheinungen, die auch der Normalmensch in sich erlebt. Die meisten ethischen und religiösen Schriftsteller kennen solche Spaltungserscheinungen, wenn sie von inneren Konflikten reden, in denen sich zwei Persönlichkeiten im gleichen Menschen um die Oberherrschaft streiten. Jedenfalls wird man sich nach der Erkenntnis dieser Tatbestände sehr ernsthaft fragen müssen, ob der Begriff der Individualität, wenn man seinen Grundsinn der "Ungeteiltheit" dabei mitdenkt, noch zu Recht bestehen kann. 5. Neben die dauernden "Wandlungen" der Persönlichkeit und die ebenfalls eine gewisse Dauer zeigenden "Spaltungen" der Persönlichkeit stellen wir als dritte Erscheinungsgruppe die "Schwankungen", die sich deutlich als bloß vorübergehend kennzeichnen. Auch bei diesen Schwankungen kann man typische, allen oder wenigstens sehr vielen Menschen gemeinsame aufzeigen, und individuelle, die sich aus der besonderen Konstellation des Einzelmenschen ergeben, davon unterscheiden. Zu den typischen rechne ich z. B. alle jene Schwankungen, die durch den Wechsel der Tages- oder der Jahreszeit bedingt sind. Fast alle Menschen sind des Morgens anders gestimmt als des Abends, im Frühling anders als im Herbst. Ausgeschlafenheit oder Müdigkeit, Ärger oder Verliebtheit und tausend andere vorübergehende Stimmungen bringen auch Schwankungen des gesamten persönlichen Verhaltens mit sich, Schwankungen, die doch gewisse typische Gleichmäßigkeiten aufweisen. Indessen selbsti innerhalb dieser typischen Schwankungen zeigen sich individuelle Besonderheiten. Jeder Mensch hat seine besondere Art, verliebt oder geärgert zu sein. Der Alkohol- oder Nikotingenuß erzeugen zwar gewisse typische Wirkungen, daneben aber auch durchaus individuelle. Dasselbe Musikstück kann den einen Menschen erheitern, den anderen aufregen; ja, es kann auch in demselben Menschen ganz verschiedene Stimmungsschwankungen, je nach der zufälligen Disposition, hervorrufen. Auch hier kommt die oben gekennzeichnete Dreiheit der Wirkungsmöglichkeiten in Betracht: die in gleicher Richtung bewegende, die in andere Richtung treibende und die eine direkte Reaktion hervorlockende.
Die Gründe, aus denen jeder Mensch eine fremde Individualität nicht getreu "spiegelt", sind teils intellektueller, teils emotionaler Natur. Da nur ganz geringe feste Anhaltspunkte gegeben sind, in der Hauptsache sich unsere Vorstellung von anderen Individualitäten auf Schlüssen mancherlei Art aufbaut, so ist ganz klar, daß schon ein starker Intellekt dazu gehört, um hier eine richtige Schlußkette zu bilden. Dazu urteilen wir in den meisten Fällen sehr aus der Ferne, sehen nur gröbste Umrisse. Kein Wunder also, daß die meisten Vorstellungen, die wir von anderen haben, grobe, ganz allgemeine Schemata sind, die voll von Irrtümern stecken. Da zudem jede Vorstellung und jeder Begriff danach strebt, etwas Dauerndes, Konstantes zu sein, das Objekt der Vorstellung und des Begriffs in unserem Fall aber ein beständig sich wandelndes Etwas ist, so ergibt sich, daß selbst das, was vor einem Jahr annähernd richtig war, heuer ganz falsch sein kann. Es ist z. B. bekannt, daß Eltern selten richtige Bilder von ihren Kindern haben, weil die einmal geprägten Vorstellungen aus früheren Zeiten sich immer wieder vordrängen, so daß sie die unbefangene Erkenntnis versperren. Handelt es sich um eine hervorragende, außerordentliche Persönlichkeit, so wird die Sache vollends schlimm. "Comprendre c'est égaler!" [Verstehen heißt gleichmachen. - wp] Wir nehmen letzten Endes alle Maßstäbe für andere aus uns selber. Reichen diese nicht aus, so werden die Dimensionen falsch. Bedenken wir nur, was harmlose Pedanten und enge Köpfe für Bilder von großen Genies entworfen haben! Wie ist da alles banalisiert und ins Kleine herabgezogen! Mit vollem Recht erwidert HEGEL auf den bekannten Satz, daß niemand von seinem Kammerdiener ein Held sei, - das sei nicht deshalb so, weil der Held kein Held, sondern weil der Kammerdiener ein Kammerdiener ist! Zu diesen intellektuellen Schwierigkeiten treten die emotionalen! Nichts färbt, entstellt und verzerrt unsere Vorstellungen von anderen Menschen so sehr als unsere Gefühle. Die Liebe verklärt, der Haß verhäßlicht. Nicht nur von WALLENSTEIN gilt, was SCHILLER von ihm sagt, daß sein Charakterbild von der Parteien Gunst und Haß entstellt in der Geschichte schwanke. Die Nachwelt urteilt ebenso subjektiv wie die Mitwelt, nur aufgrund anderer Gefühle. Wenn schon die Weltgeschichte das Weltgericht ist, so gilt doch auch von ihr, daß keines ihrer Urteile endgültig ist. Wie hat sich z. B. gerade SCHILLERs Bild, der jenen Satz geprägt hat, im Urteil der Nachwelt gewandelt, und welche Wandlungen wird es noch weiter erfahren! Wie sehr hat sich unser Begriff von BOECKLIN z. B. im Laufe des letzten Menschenalters gewandelt. Erst war er ein seltsamer Sonderling, dann ein überragendes Genie, dann ein mittelmäßiger Maler, der das Wesen seiner Kunst gar nicht erfaßte! Bei alledem handelt es sich nicht um bloße gefühlsmäßige Werturteile, nein, um ganz greifbare Sachurteile! Denn nicht nur die Werturteile werden durch die sachlichen Urteile bedingt, sondern mindestens ebensosehr hängen die Sachurteile von den Werturteilen ab. Die meisten Menschen sind blind für die Vorzüge ihrer Feinde und die Fehler ihrer Freunde. So kommt es denn, daß es genau soviel Vorstellungen von einer Persönlichkeit gibt, als es vorstellende Personen gibt! Aber nicht allein die anderen Menschen haben keine adäquaten Begriffe von unserer Individualität - wir selber haben sie in der Regel nicht. Eine völlige Erkenntnis vom eigenen Ich ist unmöglich! Gewiß, unsere einzelnen Seelenerregungen erleben wir unmittelbar, sobald wir aber über das Momentanerlebnis hinaus eine Vorstellung oder einen Begriff unseres Selbst zu bilden versuchen, verarbeiten wir das unmittelbar Erlebte unter Zuhilfenahme mannigfacher Kategorien und heben so jene Unmittelbarkeit vollkommen auf. Dazu treten emotionale Färbungen. Jeder Mensch spielt mehr oder weniger vor sich selbst Theater, unbewußt, aber auch zuweilen bewußt. Man sieht sich so, wie man sich sehen möchte! Jeder Mensch trägt ein Idealbild von sich selbst im Herzen und modifiziert danach seine Realvorstellung von sich. Vor allem handelt es sich dabei um Wertverhältnisse, die aber auch die rein tatsächlichen Gegebenheiten verschieben! Die Geschichte erzählt, welch seltsame Vorstellungen manche Menschen von sich selber hatten! Selbst ein so glänzender Selbstbeobachter wie GOETHE hat sich - so urteilt die Nachwelt aufgrund von Tatsachen - über sich selber in vielen Punkten getäuscht. Wie unendlich viel mehr muß das bei schlechten Selbstbeobachtern der Fall sein! 7. Wir haben, ohne Vollständigkeit auch nur anzustreben, an bezeichnenden Beispielen aufzuzeigen versucht, wie außerordentlich schwer faßbar die "Individualität" ist. Sie erscheint als ein Komplex, der kein festes Zentrum und noch weniger eine feste Peripherie hat, der sich mit anderen verwandten Komplexen kreuzt und schneidet, der seine Art beständig wandelt, der sich zu spalten scheint, und von dem zwar zahlreiche Erscheinungsformen existieren, von dem aber außerordentlich schwer festzustellen ist, was er denn wirklich und "ansich" ist. Man muß sich angesichts dieser Tatsachen wundern, daß dennoch im Leben überall stillschweigend eine Faßbarkeit und konstante Identität der Persönlichkeit angenommen wird. Man redet von jenem Knaben, JOHANN WOLFGANG GOETHE, der seines Vaters Geschirr zum Fenster hinauswarf, und jenem Greis, der den "Chorus mysticus" schrieb, als "demselben" Menschen. Und jener andere, der für deutsche Gotik schwärmend das Straßburger Münster erklomm, und jener andere, der sich in Rom als Römer fühlte und jener, der Frau von STEIN liebte und bald darauf CHRISTIANE VULPIUS heiratete, was das immer "dieselbe" Individualität? Ist es nicht eine noch größere Willkür, wenn wir hier von "Identität" sprechen, als wenn wir ein paar Gletscherbäche am St. Gotthart und den breiten, trüben Strom, der durch Hollands Deiche flutet, mit demselben Namen als "Rhein" bezeichnen? Nein, täuschen wir uns nicht darüber! Die Individualität, wie sie sich einer genaueren Analyse darstellt, ist etwas durchaus Irrationales. Sie entzieht sich der logischen Fassung, weil sie weder scharf umgrenzt werden kann, noch eine konstante Identität aufzuweisen hat. Und dabei haben wir uns in unseren Betrachtungen nur auf dem Boden der Erfahrung bewegt! Alles Transzendente und Metaphysische schieden wir streng aus, obwohl unter diesen Gesichtspunkten das Irrationale der Persönlichkeit noch stärker hervortreten würde. Indessen wollen wir auch weiterhin im wesentlichen allein uns an die psychologische Analyse halten und allein unter diesen Gesichtspunkten das Problem erörtern.
1) RIBOT, Les Maladies de la personalité. KRISHABER, De la néuropathie cérébrocardiaque, 1873. P. JANET, Les Obsessions et la Psychasthénie, 1903. OESTERREICH, Die Entfremdung der Wahrnehmungswelt, Journal für Psychologie und Neurologie VII, derselbe, Phänomenologie des Ich, 1911, besonders Seite 379f. 2) Vgl. meine Psychologie der Kunst, Bd. 1, Kap. IV, 1912 |