p-3cr-2tb-4ra-3Trendelenburgvon KirchmannW. DiltheyO. Liebmann     
 
MAX FRISCHEISEN-KÖHLER
Die historische Anarchie
der philosophischen Systeme

[und das Ideal einer wissenschaftlichen Philosophie]

"Die Geschichte des philosophischen Denkens zeigt keinen Zusammenhang, keine Kontinuität, keinen Fortschritt. Ein Chaos von Meinungen, eine Anarchie von Anschauungen und von Theorien herrscht, von denen keine erweisbar ist, und doch tritt jede mit gleichem Anspruch auf Allgemeingültigkeit auf. Welch eine Fülle voneinander abweichender Standpunkte! Das ist nicht der Anblick gemeinsamer Arbeit, gemeinschaftlichen Wirkens zu einem Ziel; das ist ein Kampfgewühl wildester Art, eine Verworrenheit, eine Zwiespältigkeit des Denkens, die dem nüchternen, ruhigen Beobachter wenig Respekt vor der Philosophie zu erwecken mag. Denn auf diesem Gebiet herrscht der Kampf aller gegen alle und es bleibt, so scheint es, nur der Skeptizismus, der aus diesem Mißklang von Stimmen, aus diesem Widerstreit und Gegensatz der Behauptungen nur einen Schluß zu ziehen vermag: es gibt keine Philosophie als Wissenschaft."

"Die Wissenschaft hebt aus dem ganzen Verhältnis unseres Selbst zur Wirklichkeit nur  eine  Seite hervor. Sie verzichtet auf eine Generalerkenntnis; sie zerlegt die Welt wie eine Maschine in ihre einzelnen Bestandteile und untersucht dieselben, die Bewegungen, das Licht, die Stoffe, das organische Leben, die Entwicklung, den Staat, die Wirtschaft, die Religion, für sich und ohne Rücksicht darauf, wie alles zu einem Ganzen paßt."

"Der Eintritt des Christentum in die Geschichte ist entscheidend. Die neue Form des inneren Lebens, sein Reichtum, seine Tiefen und Geheimnisse führten mit Notwendigkeit zu einem Standpunkt, auf welchem die Probleme des Kosmos gegenüber den Fragen, was der Mensch sei und was er auf Erden soll, ganz gleichgültig wurden."

Was noch vor etlichen Jahrzehnten in Deutschland unmöglich schien, was kein Prophet zu künden, kaum jemand zu hoffen wagte, ist nunmehr zu einer geschichtlichen Tatsache geworden, die allen Augen sichtbar, bereits ihren gewaltigen Einfluß zu üben beginnt: die Philosophie, die totgesagte und längst begrabene, ist wieder zu neuem Leben auferstanden. Die ältere Generation unter uns entsinnt sich noch deutlich der Zeit, da man Philosophie als abgetan und etwa für eine Art Alchemie oder Astrologie hielt, welche für immer zu ersetzen die Naturwissenschaft berufen sei. Aber mit Erstaunen mußte eben dieselbe Generation noch den vollständigen Umschwung ihrer öffentlichen Schätzung erleben. Blicken wir auf die Gegenwart, so ist die Teilnahme und das Interesse, das man in den weitesten Kreisen der Philosophie entgegenbringt, noch immer im Wachsen. Ist es vielleicht zu kühn, schon jetzt von einem neuen philosophischen Zeitalter zu sprechen, so deuten doch alle Zeichen darauf hin, daß wir einem solchen entgegengehen. Von allen Seiten und zumal auch aus dem Lager der positiven Forscher erschallt der Ruf nach Auffassungen und Anschauungen, welche uns über die Sezierarbeit der Naturwissenschaft hinaus zu den großen Zusammenhängen des Daseins und der Welt führen. In den fundamentalen Einsichten der Erhaltung der Energie und der Entwicklungslehre sind neue Grundlagen für umfassendste Synthesen gegeben. Der Historismus ist bis zu dem Punkt gelangt, da ihm das Bewußtsein der zerstörenden Kraft einer Betrachtung erwacht ist, die alles als geschichtlich geworden und gleichmäßig notwendig und berechtigt anerkennt. Die mächtige soziale Bewegung erschüttert nicht nur unsere politische Ordnung, sondern auch unser gesamtes sittliches Empfinden. Eine neue Kunst stellt uns im Bild dar und spricht es aus, was die Gesellschaft im tiefsten bewegt. Und stark klingt auch die religiöse Sehnsucht durch die Zeit. All diese Kräfte wirken in der Richtung einer Renaissance der Philosophie.

Gleichwohl, trotz dieses lebhaften Verlangens nach einer Weltanschauung, hat sich eine gewisse Gegnerschaft erhalten, welche abseits von der allgemeinen Bewegung steht und sich durch keinen Enthusiasmus aus der vorsichtig reservierten Haltung herauslocken läßt. Die Tage sind freilich vorbei, wo man ungestraft jeden, der sich zu den Philosophen rechnete, mit Spott überschütten konnte. Doch die Bedenken wollen nicht verstummen, welche sich gegen hochgespannte Hoffnungen richten. Und zwar ist gerade der Kenner der Geschichte der Philosophie mit Besorgnissen erfüllt. Sofern die Philosophie Wissenschaft sein will, sofern sie nicht nur ein persönliches Räsonnement, sondern erweisbare Sätze ergeben, ein geschlossenes und einheitliches System erstreben will: scheint nicht alle Geschichte gegen die Erreichbarkeit dieses Zieles zu sprechen? Man schränke den Kreis philosophischer Aufgaben so weit ein, als es angeht, um die Philosophie noch als ein eigenes Gebiet des Nachdenkens gegenüber den Sonderwissenschaften bestimmen zu können; man scheide alles aus, was irgendwie dem Verdacht der Spekulation und der phantastischen Dichtung ausgesetzt ist. Läßt sich selbst innerhalb eines so abgegrenzten Feldes irgendeine philosophische Ansicht mit demselben Maß an Wahrscheinlichkeit wie etwa die Erkenntnisse der Mathematik oder Physik oder Zoologie behaupten? Herrscht nicht zwischen den verschiedenen Lagern, soweit die Erinnerung reicht, ein ewiger Streit? Jede philosophische Epoche scheint erfüllt zu sein von einer Jllusion, jeder große Philosoph glaubt derjenige zu sein, dem es gelang, das letzte Rätsel zu lösen; aber jede Epoche wird abgelöst durch eine andere, welche aufs Neue erkennt, wie wenig Dauerndes die vorhergehende geleistet hat, jeder Philosoph findet seinen Nachfolger und Gegner zugleich, der ihn widerlegt; jede Philosophie trägt ihren Todeskeim in sich selbst. Die Geschichte des philosophischen Denkens zeigt keinen Zusammenhang, keine Kontinuität, keinen Fortschritt. Ein Chaos von Meinungen, eine Anarchie von Anschauungen und von Theorien herrscht, von denen keine erweisbar ist, und doch tritt jede mit gleichem Anspruch auf Allgemeingültigkeit auf.

Und scheinen nicht die folgenden Blätter gleichfalls dieselbe Resignation predigen zu wollen? Welch eine Fülle voneinander abweichender Standpunkte! Das ist nicht der Anblick gemeinsamer Arbeit, gemeinschaftlichen Wirkens zu einem Ziel; das ist ein Kampfgewühl wildester Art, eine Verworrenheit, eine Zwiespältigkeit des Denkens, die dem nüchternen, ruhigen Beobachter wenig Respekt vor der Philosophie zu erwecken mag. Denn auf diesem Gebiet herrscht der Kampf aller gegen alle. Vermutungen steigen, Vermutungen sinken und es bleibt, so scheint es, nur der Skeptizismus, der aus diesem Mißklang von Stimmen, aus diesem Widerstreit und Gegensatz der Behauptungen nur einen Schluß zu ziehen vermag: es gibt keine Philosophie als Wissenschaft.


I.

Es gibt keinen Zweifel, daß die Geschichte in der Tat zu Bedenken dieser Art Anlaß gibt. Art und Entwicklung der Philosophie ist eine andere als die der Wissenschaft. Für das Altertum freilich fiel der Begriff der Philosophie, soweit er nicht ein Nachsinnen über Fragen der Lebensführung und Lebensweisheit einschloss, mit dem Begriff der Wissenschaft zusammen. Der größte Philosoph des klassischen Altertums war zugleich ihr größter Gelehrter, und versucht die rückblickende Betrachtung, die Entwicklung des philosophischen Geistes von THALES an zu konstruieren: so liegt das erste Merkmal dieser großen Bewegung im Verlangen nach einer Erklärung des Kosmos, welche nicht auf mythische Vorstellungen und Symbole, sondern auf Tatsachen und klare Begriffe von Prinzipien zurückging. So führte die Befreiung von der Macht der mythischen Erklärungsgründe zur Wissenschaft. Aber noch bevor das antike Denken in das Stadium der Einzel- und Erfahrungswissenschaften trat, läßt sich aus der Mannigfaltigkeit der Betrachtungsweisen und Einsichten doch schon deutlich sondern, was allein als wissenschaftlich in einem engeren,  modernen  Verstand angesprochen werden kann. Es ist vor allem die Mathematik, die unabhängig von der Verschiedenheit der metaphysischen Standpunkte, sich in allem Wechsel der Meinungen erhaltend, zu einer wahren Wissenschaft, zur ersten in Europa sich ausgestaltete. Und es ist ein denkwürdiges Zeugnis, daß noch zu derselben Zeit, da das Handbuch des EUKLID in einer unwiderleglichen Verkettung strenger Schlüsse einen Inbegriff unumstößlichen Wissens, der bis zur Gegenwart das Vorbild vollkommenen Wissens geblieben ist, der Welt vorlegte, die Metaphysiker und Philosophen über die Möglichkeit eines Kriteriums der Wahrheit streiten konnten. Und neben der Mathematik erhob sich zugleich die Astronomie; auch sie schritt von der allmählich errungenen Einsicht von der Kugelgestalt der Erde zu Hypothesen über das Weltganze fort, die dauernde Bestandteile unserer Wissenschaft geworden sind. Allerdings erachteten die Alten diese Zweige des Wissens nicht für selbständige Disziplinen, vielmehr nur als Unterstufen der Philosophie. Denn die Erkenntnis der mathematischen, der gedankenmäßigen Ordnung der Gestirnbahnen bildete nicht den Abschluß, sondern den Eingang des höchsten Wissens, das nun von diesen astronomischen Tatsachen den Schluß auf eine vernünftige Ursache des Ganzen wagte. Als aber in der nacharistotelischen Zeit neben Mathematik und Astronomie noch andere Einzelwissenschaften aus dem gemeinschaftlichen Schoß der Philosophie hervortraten, wurde doch schon das Bewußtsein vom Gegensatz der in ihnen geltenden Forschungsweise zu den Auffassungen der Schulsysteme lebendig, welche gänzlich aufzulösen sich der Skeptizismus in einem siegreichen Kampf anschickte. Doch stand dieses Stadium der positiven Wissenschaften noch unter den Bedingungen des metaphysischen Geistes der klassischen Epoche und so wurden die verschiedenen Richtungen sehr ungleich und in steter Abhängigkeit von der in den philosophischen Schulen erarbeiteten Begriffswelt und Logik fortgebildet.

Diese Schranken durchbrach erst die große, seit der Renaissance in Europa anhebende intellektuelle Bewegung, welche die moderne Wissenschaft hervorgebracht hat. Man kann sagen, daß die positive Forschung von den neueren Völkern genau dort aufgenommen wurde, wo die alten sie unterbrachen. So begann auch hier das Denken mit der Ausbildung der Mathematik und der Astronomie und allgemein mit dem Studium der Außenwelt. Das Erscheinen des Hauptwerkes von KOPERNIKUS eröffnet die neue Epoche des menschlichen Geistes, der nun in einem unaufhaltsamen Fortgang den Grund für ein Naturerkennen legte, das eine wirkliche Erklärung dieser Natur und eine Herrschaft über die ermöglichen sollte. Gegenüber der Scholastik, die in einem steten Zerfall begriffen war, gegenüber dem Skeptizismus, der als Rückstand ihrer inneren Auflösung verblieben war, erhob sich die neue Wissenschaft als ein in sich gefügter Zusammenhang demonstrabler Erkenntnisse, der nicht von metaphysischen Prinzipien das Recht seiner Geltung empfing, sondern kraft der zwingenden Sicherheit bestand, mit der er in Einzelerklärungen vorwärts schritt. Wohl war auch er durchzogen und durchweht von den metaphysischen Stimmungen, die das Zeitalter der Renaissance erfüllten. KEPLERs Augen und denen GALILEIs erschien die Welt in jener strahlenden Schönheit, die PLATO einst in ihr geschaut hatte. Aber darin bestand doch die Größe dieser neuen Wissenschaft, daß sie als eine in sich geschlossene Auffassung von der Natur und eine Methode, die die Möglichkeit größter Verallgemeinerung in sich trug, loslösbar war von einem gefühlsmäßigen Hintergrund, mit dem sie sich in der Einzelperson verband. Wie sie hervorgegangen war aus einem denkwürdigen Zusammenhang von wirtschaftlicher Arbeit und wissenschaftlicher Reflexion, aus einer Verbindung unablässiger Beobachtung und exaktem Durchdenken dieser Beobachtungen, so schied sie alles aus, was der subjektiven Phantasie entsprang und nicht den Nachweis seiner Berechtigung durch die Erprobumg an der Erfahrung erbringen konnte.

Soweit das Denken aus eigener Kraft sich der Welt bemächtigen kann, hatten die Griechen den Umkreis des Wißbaren erschöpft. Aber nunmehr verfestigte sich die Einsicht, daß das Geheimnis der Natur nicht mit einem Mal zu lüften ist. Ein solches Bemühen führt bestenfalls zu Bestimmungen von generellen Möglichkeiten. Vielmehr ist klar, daß nur durch eine geduldige Zergliederung der Einzeltatsachen wahre Erkenntnis zu erwerben sei. Wie die Griechen in der Betrachtung der Raumgestalten und der Gestirnbewegungen, durch die Natur der Sache bewogen, Teilinhalte der Erfahrung ausgesondert und für sich zur Darstellung gebracht hatten, so erhob der neue wissenschaftliche Geist dieses Prinzip der Zerlegung der Natur in ihre Teilinhalte, die Analyse der Erscheinungen zum leitenden Grundsatz der Forschung. Und zugleich trat die Intelligenz in ein neues Verhältnis zur Wirklichkeit, indem sie sich durch das experimentelle Verfahren die Grundlage für eine beständige Kontrolle der Begriffsbildung durch die Natur selbst schuf. So war die neue Wissenschaft in erster Hinsicht eine neue Methode der Untersuchung, welche planmäßig auf alle Tatsachen der Erfahrung anzuwenden war. So erwuchs sie stetig in einer gemeinsamen Arbeit der Gelehrten aller Nationen zu einer geschichtlichen Tatsächlichkeit, die als der einzige Bestand allgemeingültiger Erkenntnisse bestimmt war, der Ausgangspunkt und das Vorbild einer neuen universalen Wissenschaft, der Wissenschaft schlechthin, zu werden.

Aber soweit diese Wissenschaft sich auch ausdehnte, als sie nun auch in einem zweiten erstaunlichen Aufschwung es unternahm, die andere Hälfte des Wirklichen, die geschichtlich gesellschaftliche Welt, zu umspannen: konnte sie doch niemals zu einem völligen Ersatz dessen werden, was in der Philosophie der Alten mehr als bloße Wissenschaft, nämlich Philosophie im eigentlichen Sinne gewesen war. Man darf den Wert dieses altertümlichen Denkens, den Wert der Systeme des DEMOKRIT und des ANAXAGORAS, des PLATO und des ARISTOTELES für den Aufbau der abendländischen Wissenschaft nicht unterschätzen. Aber das eigene Wollen wie die geschichtliche Bedeutung dieser Personen reicht weiter. Denn der Mensch ist nicht nur ein vorstellendes Wesen, das sich in einem rein intellektuellen Verhältnis zur Wirklichkeit Genüge tun kann. In der Tiefe seiner ganzen Natur, in der Mannigfaltigkeit seiner lebendigen Kräfte ist gegründet, daß er bei der theoretisch wissenschaftlichen Betrachtung der Dinge der Erfahrung nicht stehen bleiben kann. So entspringen die Fragen nach dem, was der Mensch bedeutet, nach Tod und Leben, nach dem Sinn und Zweck des Ganzen, nach Glück und Gut und Ewigkeit. Fragen, die so alt sind wie die Menschheit, und die in jedem denkenden Gemüt aufs Neue stets erwachen. So entsteht Philosophie als der Versuch einer Lösung dieser Fragen, als Ausdruck der Anschauungen, die dem einzelnen die Bezüge seines Daseins und seine Stellung zum Universum zu Bewußtsein bringen. Philosophie ist daher immer mehr als ein bloßes Gedankenerzeugnis; wie sie aus den Tiefen des Lebens hervorgeht, will sie bestimmend auf dasselbe zurückwirken. Und wenn in den großen Systemen, welche die Geschichte hervorgebracht hat, rein wissenschaftliche Tendenzen eingreifen, wenn fortschreitend dieser auf positive Erkenntnis gerichtete Geist an Einwirkung gewinnt: so empfängt dieses wissenschaftliche Erklären doch seinen Charakter, seine Bedeutung erst in dem Zusammenhang, der sich in der Totalität des Lebens erschließt. Wie bei den Ägyptern die Sternenkunde mit den religiösen Erlebnissen im Innersten verwoben war, so ist auch bei den Griechen die Betrachtung der mathematischen Figuren und der Formen der Natur von einem Bewußtsein der Schönheit und der Gedankenmäßigkeit des Kosmos getragen. Das ganze Mittelalter hindurch hat die Philosophie als Theologie gleichmäßig Religion und Kunst und Wissenschaft umfaßt; in ihr waren alle Seiten des Lebens in einem wirklichen Zusammenhang verbunden.

Das Verlangen, das Wesen der Dinge und unsere Natur zu ergründen und die Lebendigkeit des Ganzen, das auch die Bestimmung unseres Daseins enthält, zu erfassen, hat sich erhalten, auch seit in der europäischen Gesellschaft die Wissenschaft von der Natur und der Geschichte sich aus dem Zusammenhang der Philosophie gelöst hat und zu einem selbständigen Gebiet der Forschung geworden ist, die nur die in der Erfahrung auftretenden Gleichförmigkeiten [willma] sammelt und mittels einer Unterordnung unter die denknotwendigen Bedingungen des Vorstellens zu einem rationalen System vereinigen will. Denn die Wissenschaft hebt aus dem ganzen Verhältnis unseres Selbst zur Wirklichkeit nur  eine  Seite hervor. Sie verzichtet auf eine Generalerkenntnis; sie zerlegt die Welt wie eine Maschine in ihre einzelnen Bestandteile und untersucht dieselben, die Bewegungen, das Licht, die Stoffe, das organische Leben, die Entwicklung, den Staat, die Wirtschaft, die Religion, für sich und ohne Rücksicht darauf, wie alles zu einem Ganzen paßt. In dieser Differenzierung der Arbeit liegt ihre Fruchtbarkeit. Aber unauslöschbar bleibt doch das Bewußtsein, daß in all dem eine Einheit lebt und webt, daß die Bausteine, welche die wissenschaftlichen Forscher herbeischaffen, in einen großen umfassenden Bauplan hineingehören, daß ein Zusammenhang das künstlich Getrennte im Innersten verbindet. Und selbst wenn die Philosophie darauf verzichtet, als die höchste und letzte Wahrheit, über allen Wissenschaften stehend, den Schleier zu Sais zu heben, bleibt doch die Aufgabe ewig, das Mosaik des menschlichen Wissens zu einem sinnvollen Arrangement zu ordnen und die Fragmente und Bruchstücke, die der Mensch in der Hand hält, zu einer einheitlichen Weltanschauung zu verknüpfen.

Aber in der Forderung, den Weltverlauf nicht nur zu berechnen, sondern auch zu verstehen, ist noch etwas anderes gegeben. Denn wie weit und wie tief auch der forschende Blick in das Innere des Seienden dringt, größer ist noch das Verlangen, zu ergründen, was in der eigenen Brust geheimnisvoll verschlossen liegt. In sich trägt jeder eine Welt, nicht zu tasten und zu sehen, wie die Dinge im Raum, und doch so real und wesenhaft wie diese, eine Welt von Hoffnungen und Wünschen und Zielen und Idealen, eine Welt von geistigen Werten. Wir alles sind erfüllt von einem Glauben an die Zukunft, von einem freudigen Willen, Ziele zu verwirklichen, die nicht mehr Mittel, sondern Zwecke ansich sind. Niemand vermag ohne Ideale zu leben, denn nur durch sie empfängt das Leben Richtung und Bedeutung. Wie der Seefahrer in den Sternen, die schweigend in unendlicher Ferne leuchten, findet, das ihm den Weg auf dieser Erde weist, so bedarf auch der Mensch für sein Handeln einer Orientierung nach festen idealen Punkten. So tritt im griechischen Denken neben die Frage nach dem wahrhaften Sein sogleich die Frage nach dem höchsten Gut. Die Erkenntnis des Weltzusammenhangs soll zugleich den Sinn des eigenen Daseins erschließen. Man kann die Aufgabe der Wertbestimmung so wenig vom Begriff der Philosophie trennen, daß vielmehr die tiefste Weltanschauung, die die Griechen hervorgebracht haben, aus eben dieser Wurzel ihre stärkste Kraft gewinnt: im Reich der platonischen Ideen herrscht die Idee des Guten; durch sie empfangen die andern erst Wirklichkeit und Wert und werden fähig, die Welt zu einem Kosmos zu gestalten.

Auch diese Aufgabe ist unsterblich. An ihrer Auflösung arbeitete noch das Altertum, als es bereits die objektive Welterkenntnis geringer zu schätzen, an ihrer Möglichkeit zu zweifeln begann. Ja, in der letzten Epoche der antiken Kultur bis zu ihrem Untergang verfestigte sich immer stärker das Bewußtsein, daß die philosophischen Wissenschaften in erster Linie den Bedürfnissen eines religiös-sittlichen Lebens zu genügen haben. Der Eintritt des Christentum in die Geschichte ist für diese Bewegung entscheidend. Die neue Form des inneren Lebens, sein Reichtum, seine Tiefen und Geheimnisse führten mit Notwendigkeit zu einem Standpunkt, auf welchem die Probleme des Kosmos gegenüber den Fragen, was der Mensch sei und was er auf Erden soll, ganz gleichgültig wurden. Aber wenn in diesem Verhältnis durch die Ausbildung einer selbständigen Wissenschaft, welche zugleich ein Zurückweichen der religiösen Mächte zur Folge zu haben scheint, sich eine durchgreifende Wandlung vollzogen hat, so bleibt doch allem wissenschaftlichen Begreifen entrückt, was nicht als Faktum vorfindbar, sondern nur als Ideal anzuerkennen ist. Keine Kenntnis des Seienden vermag über das, was geschehen soll, Auskunft zu geben. Urteile über Tatsachen begründen niemals Werturteile oder Regeln. Mag die Psychologie das geistige Leben wie die Physik das Naturgeschehene in ein System von Gleichförmigkeiten auflösen, so wird sie vielleicht die Bedingungen ermitteln, an welche der Eintritt erstrebenswerter Erfolge gesetzmäßig geknüpft ist, aber eine Entscheidung über den Wert dieser Ziele wird sie niemals geben können. Es ist die Größe der positiven Wissenschaft, daß sie durchaus auf die Erforschung dessen eingeschränkt ist, was mittels der Beobachtung, des Experiments, der Historie als Gegenstand möglicher Erfahrung nachgewiesen werden kann. Aber der Geltungsanspruch von Idealen ist kein Gegenstand möglicher Erfahrung; seine Berechtigung ist keine  quaestio facti  [Frage nach den Tatsachen - wp] sondern eine  quaestio juris  [Frage der Berechtigung - wp] und diese aufzulösen sind andere Methoden erforderlich. So lange der Mensch sich nicht damit begnügt, frei von Haß und Liebe zu konstatieren, was ist und was geschieht, solange er der Wirklichkeit gegenüber sich auch beurteilend verhält und bemüht ist, nach seinem Teil an der Verwirklichung dessen zu arbeiten, was ihm wertvoll und gut erscheint, wird er in Klarheit die Leitsterne seines Handelns schauen und ihren ewigen Wert erweisen wollen. Seine Weltanschauung vollendet sich erst, wenn er aus ihr gewinnen kann, was ihm zu tun gesetzt ist.

So entsteht und so erhält sich Philosophie bei allem Wechsel und Fortgang der wissenschaftlichen Forschung wenigstens als ein Inbegriff eigener Aufgaben. Aber führt nicht die genaue Erkenntnis der Punkte, in welchen die Philosophie die Wissenschaft überschreitet und stets überschreiten muß, zu einem grundsätzlichen Zweifel an der Möglichkeit, jemals diese Aufgabe in einer allgemeingültigen Aufgabe aufzulösen? Setzt nicht das moderne Bewußtsein von Wissenschaftlichkeit allen Versuchen einer Metaphysik und einer Moral in wissenschaftlicher Form unaufhebbare Grenzen? Wenn die antike Skepsis in ihrem erbarmungslosen Krieg gegen die Schulen unterschiedslos jedes Wissen angriff und es unternahm, jede Art von Erkenntnis als unmöglich zu demonstrieren, so vermochte sie doch nicht das Gefühl von Wagemut oder auch Sicherheit zu ersticken, in welchem jeder echte Forscher lebt und das sich in einem Suchen nach Wahrheit durch kein Räsonnement beirren läßt. Allen skeptischen Argumenten zum Trotz erhob sich die Wissenschaft, welche die großen Denker des 17. Jahrhunderts begründeten. Aber behalten jene nicht ewig recht gegenüber allen Versuchen, über das Maß möglichen positiven Wissens hinaus eine Weltanschauung zu gewinnen, ein philosophisches System zu errichten? Beweist nicht gerade dieser Differenzierungsprozeß, in welchem das erkennende Subjekt das allgemeingültig Wißbare von einem poetischen Sinnen, der religiösen Andacht, der metaphysischen Kontemplation sondert, daß abseits von den selbständigen Einzelwissenschaften eine erweisbare Erkenntnis nicht zu erreichen ist? Macht nicht die bloße geschichtliche Tatsache der modernen Wissenschaften Philosophie als eine Wissenschaft zu einem Problem?

Auch darin besteht kein Zweifel; die Lage der Philosophie ist seit dem Anbruch der neuen Zeit eine andere. Sie ist nicht mehr die Königing der Wissenschaften, von ihr empfangen die einzelnen Disziplinen nicht mehr ihre Kraft und Geltung, denn ihre eigene Wissenschaftlichkeit ist problematisch.

Freilich entsteht der Philosophie aus diesem ihrem neuen Verhältnis zur Wissenschaft eine neue Aufgabe und zwar eine Aufgabe von so umfassender Bedeutung, daß mit dem Bewußtsein ihrer geradezu eine neue bis zur Gegenwart reichende Epoche der Philosophie beginnt. Die antike Skepsis hat ihre Rolle ausgespielt; gegenüber den Ergebnissen der modernen Naturwissenschaft und der historischen Forschung kann die Möglichkeit des Wissens nicht mehr bestritten werden. Aber eben dieselbe Frage nach der Möglichkeit des Wissens gewinnt nun mit Hinblick auf die rastlos fortschreitende, durch keinen Machtanspruch aufzuhaltende Entwicklung der wissenschaftlichen Erkenntnis einen von Grund auf veränderten tiefen Sinn. Denn was Wissenschaft, die vor aller Augen als Tatsache besteht, eigentlich sein soll, woher sie das Recht ihrer Existenz nimmt, wie weit ihr Umfang sich erstreckt, kann offenbar diese forschende Wissenschaft selbst nicht sagen. Sie müßte denn, von den Objekten ihrer Untersuchung absehend, den Gang ihrer Forschung unterbrechen und, auf sich selbst reflektierend, sich selbst zum Objekt nehmen. Aber eine Teilung der Arbeitsgebiete ist das erste Erfordernis für die Gewinnung klarer Erkenntnisse. Und so erhebt sich eine neue Wissenschaft, die die Voraussetzungen und Quellen, die Methoden und die Grenzen des Erkennens zu ihrem Gegenstand hat. Und wie diese Wissenschaft allen Einzelwissenschaften der Erfahrung gegenüber dadurch ausgezeichnet ist, daß sie nicht als eine unter ihnen auftritt, sich vielmehr auf ihre Gesamtheit bezieht, indem sie die Möglichkeit einer wissenschaftlichen Erfahrung überhaupt untersucht, darf sie als philosophisch in einem eminenten Sinn bezeichnet werden. Die kritische Philosophie, wie sie sich seit LOCKE als eine neue Form der Philosophie erkennt, ist in erster Linie Wissenschaftslehre, sie sucht die Tatsache der Wissenschaft durch eine allgemeine Theorie des Erkennens zu erklären und in ihrem Wert zu bestimmen. Durch diese klare Abgrenzung der Aufgabe scheint nun auch die Philosophie in das Stadium der reinen Wissenschaftlichkeit getreten zu sein, wie die Einzeldisziplinen vor ihr, die nur ihre Objekte sind. Auch sie hat sich von der Totalität der Lebenserfahrung zu einer methodischen Verfolgung eines Einzelproblems gesondert; sie läßt den Anspruch auf die Bildung einer umfassenden Welt- und Lebensanschauung fallen. Sie gibt die monotheistische Metaphysik preis, welche ein ganzes Jahrtausend und länger das Denken der abendländischen Menschheit beeinflußt hat. Indem sie als Erkenntnistheorie bescheidenen, aber genau umschriebenen Zielen folgt, strebt sie in diesen selbstgesetzten Schranken eine Strenge der Darstellung, eine Beweisbarkeit ihrer Sätze und die Allgemeingültigkeit ihrer Erkenntnisse an.

Hat nun aber die Philosophie auch nur auf diesem engen Gebiet dem Ideal von Wissenschaftlichkeit sich zu nähern vermocht, das seit GALILEI das moderne Bewußtsein bestimmt? Kann wenigstens die Erkenntnistheorie als ein Zusammenhang von Erkenntnissen bezeichnet werden, der, auf gesicherten Einsichten aufgebaut, in stetiger Entwicklung durch die gemeinsame Arbeit der Forscher fortgebildet wird, bis er eine befriedigende und von allen anerkannte Auflösung des Problems, dessen Bewältigung er dienen soll, ermöglichen wird? Ist nun die Philosophie nach langem Irren, später zwar als ihre Tochterwissenschaften, aber doch nun für immer in die sichere Bahn des allgemeinen Fortschrittes eingelenkt?

Die Antwort, welche die Geschichte gibt, ist wenig tröstlich. Dem Schicksal, das die Metaphysik vermöge ihrer Relativität aus dem Kreis der Wissenschaften scheidet, scheint auch die Erkenntnistheorie, sofern man von der rein deskriptiven Logik absieht, nicht entgehen zu können. Weder herrscht über ihre Methode, noch über die wesentlichsten Ergebnisse Übereinstimmung. Seitdem es eine Erkenntnistheorie gibt, treten uns sich bekämpfende Schulen entgegen. Der Gegensatz der empirischen und rationalen Methode wurde durch die Ausbildung der transzendentalen Methode nicht aufgehoben, vielmehr erhob sich im Kritizismus nur eine neue unter den möglichen Positionen. Mit unverminderter Kraft verteidigt der Empirismus seinen Standpunkt; in der großen positivistischen Bewegung erwuchs ihm ein wertvoller Bundesgenosse, in der neuen Psychologie fand er seine stärkste Waffe. Und selbst auf den Wegen einer gleichen prinzipiellen Auffassung mehrt sich die Zahl auseinandergehender Richtungen. Welch eine Fülle von Erkenntnistheorien hat allein die neukantische Bewegung in Deutschland hervorgebracht! Wie tiefgreifend sind etwa die Unterschiede zwischen der "Erkenntniskritik" COHENs und dem "philosophischen Kritizismus von ALOIS RIEHL, der "immanenten Philosophie" WILHELM SCHUPPEs und WINDELBANDs "Philosophie der Normen". Und der Mannigfaltigkeit der Methoden entspricht die Mannigfaltigkeit der Ergebnisse. Dem extremsten Phänomenalismus steht mit gleichem Anspruch auf Erweisbarkeit der extremste Realismus gegenüber. Vergeblich bemühen sich vermittelnde Richtungen um einen Ausgleich. Daß die Wirklichkeit zunächst nur als Tatsache des Bewußtseins gegeben und darum subjektiv sei, wird ebenso entschieden behauptet wie bestritten. Daß die forschende Wissenschaft nur unter der Annahme einer ansich bestehenden Realität einen Sinn und Geltung habe, wird ebenso als selbstverständlich gesetzt, wie abgelehnt. Daß die Erfahrungswissenschaften keiner Ergänzung durch eine Lehre von Transzendenten fähig noch bedürftig seien, wird ebenso bestimmt gefordert, wie widerlegt. Und schließlich unterliegt das Recht der Erkenntnistheorie, aus eigener Kraft und unabhängig von metaphysischen Voraussetzungen ein System der Erkenntnis aufzubauen, der Diskussion. Die Gegner KANTs haben schon darauf hingewiesen, in der Epoche HEGEL war es ein leitender Gedanke, LOTZE hat darauf bestanden, daß eine voraussetzungslose Kritik der Vernunft ein unmögliches Unternehmen ist. Und wie um die Wende des 18. Jahrhunderts nach und trotz KANT eine Fülle von metaphysischen Systemen hervortrat, so sind auch in unseren Tagen die Versuche nicht mehr selten, sich von den Fesseln der Erkenntnistheorie zu befreien und in positiver Gedankenbildung zu entwickeln, was prinzipiell auch jede Erkenntnistheorie als gültig anerkennen muß, ohne diese Gültigkeit direkt erweisen zu können. Damit ist aber der wissenschaftliche Bankrott der Erkenntnistheorie ausgesprochen, der förmliche Rückgang auf Metaphysik proklamiert und die Philosophie wieder der Anarchie der persönlichen Überzeugungen überantwortet.

Ist es verwunderlich, daß bei dieser Lage der Dinge der Subjektivismus, der aller angestrebten Wissenschaftlichkeit der Philosophie zum Trotz doch immer durchbricht, nun mit vollem Bewußtsein gefordert und behauptet wird? Die großen Systeme locken nicht mehr, der verwirrende Anblick ihres Reichtums lähmt die Kraft zum Aufbauen neuer, der titanenhafte Mut, der noch FICHTE und HEGEL beseelte, scheint abstorben. Dafür ist die Sehnsucht nach systemfreier Philosophie erwacht. Der einzelne verzichtet, das Absolute zu erfassen; er begnügt sich mit der Wiedergabe seiner Meinung, verzichtet auf die Geschlossenheit der Form, auf die Demonstration jedes Satzes; was über das positive Wissen hinausgeht, ist Ausdruck der eigenen Erlebnisse und eine durchaus persönliche Anschauung. In NIETZSCHE ist diese Souveränität des genialen Individuums, diese Einschränkung auf die rein subjektive Sphäre, sowie die lockere Form der aphoristischen Darstellung am höchsten gesteigert. Bei ihm verliert schließlich die Philosophie alle Züge, die der Wissenschaft wesentlich sind, um sich den Formen orientalischer Spruchweisheit und visionären Prophetentums anzunähern. Und was bei NIETZSCHE in leidenschaftlicher und alles Maß überschreitender Willkür erscheint, wird bei den positiven wissenschaftlichen Forschern zur höchsten Vorsicht. MACH kann als ihr Typus gelten. Innerhalb der Sonderuntersuchung gilt die ganze Strenge des Verfahrens, kann der Grad der Wahrscheinlichkeit jedes Satzes genau bestimmt werden. Aber jeder Versuch, den verschiedenen Erscheinungen gegenüber einen Standpunkt zu gewinnen, der sie als ein einheitliches Ganzes zu betrachten gestattet, hat nur bedingten Wert. An die Stelle der objektiven Einheit des Systems tritt die Einheit der persönlichen Anschauung, die ihre Aufgabe erfüllt, wenn sie eine für die Bedürfnisse des Autors genügende Orientierung über die Mannigfaltigkeit des Gegebenen gestattet. Die Philosophie wird so durchaus nicht abgelehnt, vielmehr der durch sie bezeichnete Inbegriff von Problemen als berechtigt, weil psychologisch gefordert und darum auch als notwendig anerkannt. Aber deren befriedigende Lösung scheint wenig aussichtsreicht, eine Entscheidung zwischen den verschiedensten Antworten und Auffassungen unmöglich. In diesem Sinne gilt dann doch, daß nur die positive Wissenschaft als Wissenschaft anzusehen ist und die Philosophie, sofern sie als wirkliche Wissenschaft auftreten will, sich nur als Geschichte der Philosophie behaupten kann.


II.

Es ist nicht Willkür, nicht oberflächliche Modeweisheit, die zu einer solchen Resignation führt; die Geschichte selbst, so scheint es, kündet dem, der Ohren hat zu hören, mit 1000 Zungen, daß eine einheitliche, mit wissenschaftlichen Mitteln erweisbare Weltanschauung nicht möglich ist. Und dennoch: so wohlbegründet das Mißtrauen gegen jede Art von Philosophie, gegen jeden neuen systematischen Versuch sein mag, diese Resignation kann nicht das letzte Wort, der freiwillige Verzicht auf eine wissenschaftliche Philosophie nicht das Ende der Geschichte der Philosophie sein. Es ist doch eine einseitige Betrachtung, die aus der historischen Mannigfaltigkeit der Systeme ihre Unhaltbarkeit und damit ihren wissenschaftlichen Unwert folgert. Gewiß lehrt die Geschichte einen erstaunlich schnellen Wandel der philosophischen Überzeugungen, und wir sehen allerorten, wie zu derselben Zeit, in demselben Land Gedankenbildungen entstehen, die einander widerlegend alle zugleich den Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben. Aber dieselbe Geschichte lehrt doch noch ein anderes. Wer nicht nur die Vergänglichkeit der großen Systeme, das Auseinanderstreben der Schulen als eine historische Tatsache konstatieren will, wer tiefer forschend die Ursachen dieser seltsamen Erscheinung aufzudecken sich bemüht, wird eben hierdurch zu der Einsicht kommen, wie wenig diese ihre Relativität für ihre angebliche Unwissenschaftlichkeit und für die Hinfälligkeit der Hoffnung spricht, jemals über dieses Stadium hin zu exakter Erkenntnis zu gelangen. So befremdlich es klingen mag, so steht doch fest, daß die wissenschaftliche Ergründung der Entwicklung der Philosophie wieder von selbst zu einer Anschauung von Philosophie als einer Wissenschaft zurückführt. Dieselbe Geschichte, welche den Skeptizismus zu beweisen scheint, schränkt ihn am Ende wieder ein.

Gesetzt einmal, es treffe in der Tat und ohne Ausnahme zu, daß bisher über irgendwelche philosophischen Sätze von Bedeutung keine Einigkeit erzielt wurde, daß vielmehr auch noch in der Gegenwart in jedem Punkt der Kampf der individuellen Meinungen dauert: ist die Erklärung für diesen Tatbestand nur darin zu suchen, daß das philosophische Denken seiner Natur nach unfähig ist, ein gemeingültiges Wissen hervorzubringen? Könnte nicht auch in der Größe der Aufgabe, in der Höhe des Zieles ein Grund für diesen unbefriedigenden Stand der Erkenntnis gefunden werden? Die Erfahrungswissenschaften haben einen Zeitraum von fast 2000 Jahren in Europa gefordert, um Klarheit über ihre Methoden und Probleme zu gewinnen. Bis zum Ausgang des Mittelalters herrschte dieselbe Verwirrung der Auffassung, dasselbe Chaos von Meinungen in Bezug auf die Dinge der Natur und der Geschichte, das die modernen Skeptiker auch in der Philosophie unserer Zeit wie in allen Zeiten finden wollen. Man nehme irgendeine der großen mittelalterlichen Enzyklopädien und man wird leicht aus der unendlichen Fülle gegensätzlicher Theorien die Ohnmach des menschlichen Wissens demonstrieren können. Aber die KEPLER, HARVEY, GALILEI haben durch die Tat jede Beweisführung dieser Art aufgehoben. Könnte es nun nicht sein, daß sich die Philosophie noch auf dem Standpunkt befindet, den etwa VINZENZ von BEAUVAIS innerhalb der Erfahrungswissenschaft einnimmt? Es mag sein, daß das Tempo ihrer Entwicklung ein anderes als das der Erfahrungswissenschaften ist; aber dieser Umstand ist so wenig geeignet, die Hoffnung auf eine künftige Lösung dieser Probleme zu zerstören, daß er vielmehr der stärkste Anreiz zu immer neuen Versuchen ist. Daß bisher die gegensätzlichen Auffassungen nicht ausgeschieden sind, die Meinungen noch durcheinanderwogen, ohne sich Anerkennung erzwingen zu können, möchte allein für die Zukunft nichts beweisen. Und ist selbst der Glaube jedes der großen Philosophen ein Irrtum gewesen, daß in ihm der NEWTON, der nun die wahren Prinzipien der Philosophie gefunden hat, erstanden ist, so ist vielleicht kein Irrtum zu glauben, daß dereinst ein solcher NEWTON kommen wird. Wenigstens ist die prinzipielle Unmöglichkeit einer allgemeingültigen Philosophie noch niemals allgemeingültig erwiesen worden. Nicht einmal die Unmöglichkeit der Metaphysisch als Wissenschaft kann als gesichert gelten. Selbst wenn das Unternehmen KANTs, Grenzen der menschlichen Erkenntnis zu bestimmen, keiner Kritik mehr unterliegen sollte, so ist durch ihn nicht die Metaphysik überhaupt, sondern nur eine bestimmte, die apriorische Form der Metaphysik widerlegt; andere Formen, z. B. auf der Grundlage der Erfahrung und der Wahrscheinlichkeit sind denkbar und seit LEIBNIZ historisch auch hervorgetreten. Und ebensowenig vermag das von den französischen Positivisten aufgestellte Gesetz des geschichtlichen Fortschritts, nach welchem die menschliche Intelligenz nacheinander das theologische, das metaphysische und das positive Stadium durchlaufen soll, die Gewißheit zu rechtfertigen, daß nunmehr das positive Zeitalter angebrochen ist, in welchem die Metaphysik für immer ihre Rolle ausgespielt hat. Denn dieses Gesetz ist, wie jede allgemeine Formel, welche den Gang der Geschichte abschließend zusammenfassen will, falsch. Hat auch die Funktion der Religion durch die Entstehung der Erfahrungswissenschaften eine gewisse Modifikation erlitten, so ist sie doch nicht durch dieselben abgelöst und ersetzt worden; und ähnlich mag die Bildung einer Weltanschauung durch den Bestand des Erfahrungswissens in eigener Weise bedingt, erschwert oder eingeschränkt sein: daß sie aber durch die Tatsache dieses Wissens überhaupt aufgehoben sei, ist weder logisch gefordert noch geschichtlich erwiesen. Richtig ist nur, daß die Art der Entwicklung der positiven Wissenschaften eine andere ist, als die der Religion und der Philosophie. Während jene nach festen Methoden und klaren Zielen schrittweise aber unaufhaltsam fortschreitend einen Zusammenhang von Erkenntnissen erarbeiten, der durch keine Macht mehr zu erschüttern ist, herrscht hier eine freie Beweglichkeit der einzelnen Geister, wechseln Epochen höchster Anspannung aller Kräfte mit Epochen der Erschlaffung. Aber noch immer hat die Geschichte gelehrt, daß auch die Zeiten der tiefsten Erschöpfung nicht das Ende waren. Wer einen derartigen Niedergang miterlebt hat, mag an einem Aufschwung verzweifeln. Aber allemal zeigt eine neue Generation sich mit neuem Mut, mit neuen Hoffnungen für die Zukunft erfüllt. Es ist das Vorrecht der Jugend, das scheinbar Unmögliche wieder und wieder zu wagen. Und wenn wir gegenwärtig auf allen Gebieten ein Erwachen des philosophischen Geistes bemerken, vermag keine Erinnerung an Mißerfolge früherer Zeiten die Hoffnung auf ein künftiges Gelingen zu lähmen. Das Verlangen nach einer neuen Weltanschauung, die dem Stand unseres Wissens genügt, ist erwacht und dies allein reicht schon aus, um jede müde Resignation zu überwinden. Unerschöpflich ist die Zukunft; in ihr schlummern so viele ungeahnte Möglichkeiten, so viele Morgenröten, um mit NIETZSCHE zu reden, die noch nicht geleuchtet haben. Das Leben steigt und steigend bringt es Neues stets hervor. Wer ist vermessen genug, das Kommende zu deuten, was es sei und was es nicht sei?

Doch es bedarf gar nicht einmal einer solchen Berufung auf den Mut des Wagenden und Wollenden. Dieser ist gewiß unzerstörbar, er wird immer wieder hervorbrechen und mit sich fortreißen. Aber die Hoffnung auf das Unbekannte allein vermag noch nicht die Beweisführung zu entkräften, die aus der Geschichte gegen jede Art von wissenschaftlicher Philosophie abgeleitet werden kann; sie möchte eine Warnung gegen voreilige Folgerungen für die Zukunft sein, aber sie schafft die Tatsache nicht aus der Welt, daß bisher zumindest in der Philosophie nicht dieselbe allgemeingültigkeit der Sätze wie in den Erfahrungswissenschaften erreicht ist. Wenn also die Zuversicht auf bessere Zeiten bleiben mag, so ist sie doch ein verhältnismäßig schwacher Trost; denn an dem vernichtenden Urteil über all das, was bisher als Philosophie hervorgetreten ist, ändert sie nichts.

Indessen kann dieses Urteil bei tieferem geschichtlichen Eindringen nicht in vollem Umfang bestehen bleiben. Der Gegensatz von Philosophie und Wissenschaft, der den Ausgangspunkt der skeptischen Betrachtung bildet, ist nicht so absolut, der Unterschied ist nicht so schroff, wie es zunächst scheint. Weder ist die Wissenschaft in all ihren Sätzen so allgemeingültig und dem Streit abweichender und nur relativ berechtigter Meinungen und Auffassungen entzogen, noch ist das Ganze der philosophischen Entwicklung so bar der gemeinsamen, dauernden Überzeugungen, eine bloße Aufeinanderfolge persönlicher Glaubenssätze. Von beiden Seiten aus erfolgt vielmehr beständig eine Annäherung aneinander, derartig, daß man doch eigentlich nicht die Historisch vorliegenden Systeme aus dem Reich der Wissenschaft ausscheiden und dem Gebiet der Phantasie, der Dichtung zuschreiben darf.

Die Berechtigung, das Ganze der Einzelwissenschaften als eine Einheit anzusehen und es schlechthin als  die  Wissenschaft zu bezeichnen, ist durch das Ideal der Wissenschaftlichkeit gegeben, das in all den Sonderdisziplinen leitend ist. Aber die geschichtliche Betrachtung darf den Abstand nicht verkennen, der zwischen diesem Ideal und dem tatsächlichen Bestand der verschiedenen Wissenschaften besteht; sie wird vielmehr hervorheben müssen, daß dieses Ideal aus einer ganz bestimmten Wissenschaft, nämlich der Mathematik und vielleicht auch der Mechanik abgezogen ist und nur mit bedeutsamen Einschränkungen für die anderen gilt. Faßt man den Begriff der strengen Wissenschaft ganz eng, dann entspricht ihm vielleicht nur die mathematische Naturwissenschaft; wie dann auch KANT folgerichtig Disziplinen wie die Chemie, Psychologie und Geschichte nicht mehr als unter ihn fallend ansah. Aber es läßt sich leicht zeigen, daß schon die mathematische Naturwissenschaft, sofern sie mehr als eine Kinematik [Lehre von den Bewegungsverhältnissen - wp] ist, eine gewisse Differenz in der Gewißheit ihrer Sätze von der Allgemeingültigkeit der rein mathematischen Erkenntnisse aufweist. Ja, man könnte sogar geneigt sein, innerhalb der reinen Mathematik noch Grade der Evidenz zu unterscheiden. Sieht man auch vom logischen Aufbau der mathematischen Sätze ab, der bekanntlich, was z. die Anzahl und Ordnung der Axiome, die Definition des Differentials usw. betrifft, sehr verschieden gestaltet ist, so kann von einem Inbegriff der Erkenntnisse, die keinem möglichen Zweifel unterliegen, die ein künftiger Fortschritt nicht aufheben kann, wenn sie sich vielleicht auch als Sonderfälle allgemeinerer Verhältnisse darstellen, eine Summe von solchen getrennt werden, die sich nicht der allgemeinen Anerkennung erfreuen. Man erwäge, einen wie weiten Einfluß in den konstruktiven Fortschritten der Mathematik doch die Willkür, die freie Wahl ausüben kann und ausgeübt hat. Die Einführung der geometrischen Darstellung imaginärer Größen ist ein besonderes bekanntes Beispiel dafür. Die Aufstellung derartiger Beziehungen ist durchaus nicht denknotwendig; sie sind erlaubt, sofern sie zu keinen logischen Widersprüchen führen, sie sind berechtigt, sofern sie zweckmäßig sind, das heißt, die Lösung von Aufgaben erleichtern. So ist der Fortgang der Mathematik nicht mit einem Bau zu vergleichen, in welchem nach einem festen Plan Stein auf Stein gefügt wird; vielmehr ändert sich dieser Plan selbst und wie er sich ändert, hängt in einem hohen Maß von der freien Entscheidung des konstruierenden Geistes ab.

Aber wie es sich damit auch innerhalb des Gebietes der reinen Mathematik verhalten mag; jedenfalls ändert sich in all den Wissenschaften, die eine Beziehung auf Tatsachen enthalten, auch wenn sich ihre Ergebnisse in mathematischer Form darstellen lassen, eben vermöge dieser Beziehung der Charakter ihrer Gewißheit. Als Arithmetik erzeugt sich das Denken in bewußten spontanen Akten den Gegenstand, als Geometrie unternimmt es eine nach eigenen Gesetzen fortschreitende Rekonstruktion der Raumvorstellung; als Naturwissenschaft aber tritt es aus dem Bereich der selbstgesetzten Ordnungen heraus, um ein Fremdes, das in seiner Faktizität nicht durch Regeln des Geistes bestimmt ist, aufzunehmen. Man könnte vielleicht eine allgemeine Naturschematik etwa als eine Mechanik entwickeln, die unbedingte Gültigkeit besäße und der alle denkbaren Dinge und Vorgänge der Körperwelt sich unterordnen lassen müßten; aber diese Mechanik allein gäbe noch keine vollkommene oder auch nur für die nächsten Zwecke hinreichende Naturforschung; vielmehr erfordert diese immer die Erkenntnis bestimmter Ordnungen, bestimmter Substanzen, die mehr als die idealen Einheitspunkte für die Anwendung der Gesetze sind. Wir wollen nicht nur die Möglichkeiten übersehen, nach denen sich Verläufe in der Natur abspielen können, sondern wir wollen auch wissen, welche von ihnen verwirklicht sind. Die Bedeutung, welche allein die Größenangaben, die konstanten und absoluten Zahlen in allen wissenschaftlichen Theorien besitzen, ohne welche diese zu leeren Schematen werden, die im günstigsten Fall ein rein mathematisches Interesse beanspruchen können, erweist einen Wirklichkeitsgehalt in ihr, der aber zugleich ihre Gültigkeit zumindest im Prinzip einschränkt. Denn sind alle ihre Sätze in irgendeiner Weise, direkt oder vermittelt, von der Feststellung von Tatsachen abhängig, können sie nur denselben Grad an Sicherheit wie diese besitzen. Das Faktische läßt sich aber nicht mit gleicher Notwendigkeit wie die Sätze über Raumgebilde und Zahlen ableiten; es kann immer nur durch Beobachtung ermittelt und als ein so Seiendes erkannt werden. Und wenn die Naturwissenschaft dasselbe in seiner Existenz als notwendig erweisen will, kann sie dies nur durch den Rückgang auf ein anderes Faktisches; alle Erkenntnis von Naturnotwendigkeit stellt sich in hypothetischen Formen dar.

Diese Einsicht von der Gebundenheit der Naturwissenschaft an die Kenntnis von empirischen Wirklichkeiten wird aber besonders bedeutsam, wenn der menschliche Geist nicht nur bei der Feststellung dessen, was tatsächlich in der Erfahrung konstatierbar ist, stehen bleibt, sondern es unternimmt, über die Schranken der Sinne hinaus Vermutungen über direkt nicht wahrnehmbare Existenzen zu wagen. Man pflegt derartige Schlüsse auf Unbekanntes als Hypothesen zu bezeichnen. Nun ist allerdings der Naturforschung die Berechtigung der Hypothesenbildung in jüngster Zeit aufs Schärfste bestritten und von den Freunden einer hypothesenfreien Naturforschung die Forderung erhoben worden, alle anschaulichen Bilder aus der Wissenschaft zu bannen, dafür das Gegebene in solcher Weise darzustellen, daß nur die tatsächlich in den darzustellenden Erscheinungen angetroffenen und nachgewiesenen Elemente in die Darstellung aufgenommen werden. Allein es ist sofort ersichtlich, daß diese Forderung niemals erfüllt werden kann. Denn nimmt man sie in ihrer ganzen Schärfe, so hebt sie jede Wissenschaft vom Wirklichen auf. Schließlich enthält jede Feststellung von Tatsachen schon eine Hypothese. Was uns die unmittelbare Sinneswahrnehmung zeigt, sind immer nur Reihen diskontinuierlicher Wahrnehmungsfragmente und es bedarf zahlreicher Beobachtungen unter verschiedenen Bedingungen, um aus diesem Chaos die geordnete Welt von Gegenständen zu konstruieren. Kein Ding, von dem die Naturwissenschaft etwas aussagt, wird als solches in der Erscheinung angetroffen; es wird vielmehr immer erst aus den Elementen derselben erschlossen. Und zwar beziehen wir nicht nur den Inbegriff unserer Sinnesempfindungen auf Dinge als deren objektive Ursachen, sondern beständig ergänzen wir die so konstruierte Welt von Dingen durch die Hinzufügung von Stücken, von denen uns keine sinnlichen Repräsentanten gegeben sind. Wir stellen Vermutungen über das Erdinnere oder die Rückseite des Mondes oder nichtleuchtende Fixsterne an, die bisher kein menschliches Auge gesehen hat, wir erachten die Existenz von unsichtbaren Strahlen und elektrischen und magnetischen Kräften über jeden Zweifel erhaben, obwohl wir diese direkt niemals in der Erfahrung antreffen können. Dürfen wir aber in dieser Weise das Gegebene hypothetisch erweitern, dann ist nicht abzusehen, warum es nicht erlaubt sein sollte, sich die Stoffe als aus Atomen bestehend, die Lichtschwingungen als Schwingungen eines Mediums vorzustellen. Man kann allerdings etwa bei der Diskussion der Schwingungsverhältnisse längs eines Lichtstrahls von einem körperlichen Träger der Wellen ganz absehen, aber jeder Versuch, die Lichterscheinungen in ein Verhältnis zu anderen Naturerscheinungen zu setzen, wird immer zu Annahmen über einen solchen Träger herausfordern; gerade die jüngste Geschichte der Lichttheorie spricht doch zu deutlich für die Notwendigkeit wie die Fruchtbarkeit, über die bloße Deskription von Relationen zwischen meßbaren Größen zu bestimmten Anschauungen von den sie bedingenden Vorgängen fortzugehen. Aber wie man auch den Einfluß der Bildung von Hypothesen für den weiteren Fortschritt der Erkenntnis einschätzt: sie bilden jedenfalls, geschichtlich gesehen, zu allen Zeiten und gewiß auch in der Gegenwart einen integrierenden Bestandteil der wissenschaftlichen Arbeit.

Erwägt man nun diese hypothetische Grundlage aller Naturwissenschaft, die niemals völlig wird beseitigt werden können, dann mindert sich der Abstand zwischen ihr und der Philosophie doch schon erheblich. Der Charakter von Apodiktizität [Gewißheit - wp], der den mathematischen Erkenntnissen innewohnt, ist den physikalischen, chemischen, biologischen Sätzen versagt; dieselben weisen vielmehr alle Grade der Wahrscheinlichkeit auf und in dem Maß, in dem sie sich den  reinen  Hypothesen nähern, mehrt sich die Anzahl der gegensätzlichen Meinungen und Vermutungen. Es ist einseitig, nur auf den Inbegriff festgestellter Tatsachen zu achen und von ihm aus die Sicherheit der philosophischen Wahrheiten zu messen. Lenkt man das Augenmerk auf die Hypothesenbildung und deren Funktion in der Naturwissenschaft, so wird man gewahr werden, daß bei ihnen wie in der Philosophie nur von einer relativen Geltung der einzelnen Theorie die Rede sein kann. Zumindest zeigt die Gegenwart noch auf den meisten Gebieten einen durchaus ungeschlichteten Streit der einander widerstrebenden Hypothesen. Man erinnere sich etwa der Fülle von physiologischen Theorien, die zur Erklärung des Farbensehens aufgestellt wurden, oder der vielen einander zuwiderlaufenden Versuche, die Umbildung der organischen Arten verständlich zu machen, oder des Gegensatzes der Aufassungen, nach denen alle Druckkräfte auf Fernkräfte oder alle Fernkräfte auf Druckkräfte zurückzuführen sind. Ja, umso tiefer man in das eigentlich  theoretische  Denken der Naturwissenschaft eindringt, desto verwirrender scheint die Mannigfaltigkeit der abweichenden Standpunkte, ganz wie in der Philosophie. Umso weniger ist aber das Recht begründet, dieser darum den Charakter als Wissenschaft abzusprechen.

Nun ist allerdings richtig, daß immerhin noch ein Unterschied zwischen der Art von Relativität, die den zur Zeit noch nicht definitiv anerkannten naturwissenschaftlichen Theorien eigen ist, und derjenigen der philosophischen Anschauungen und Systeme besteht. Es liegt darin, daß jene nur zeitlich, dieses dauernd scheint. Wenn gegenwärtig zwischen der mechanischen und der vitalistischen Erklärung des Lebens noch nicht entschieden ist, so sind doch alle Forscher davon überzeugt, daß dereinst eine Entscheidung möglich sein wird. Die Hypothesen werden eben allmählich bis zu dem Punkt geführt, wo andere nicht mehr in Betracht kommen können. Dagegen ist ein gleicher Fortgang zur Gewißheit, eine gleiche Steigerung der Wahrscheinlichkeit unter Ausscheidung gegensätzlicher Behauptungen in der Entwicklung der Philosophie nicht erkennbar.

Zweifellos trifft die Beobachtung in gewisser Hinsicht zu, und alles, was aus der historischen Betrachtung gegen die Wissenschaftlichkeit der Philosophie gefolgert werden kann, läßt sich in eben diese Formel zusammenfassen. Indessen stehen ihrer skeptischen Verwertung doch wiederum Erwägungen anderer Art entgegen.

Zunächst ist es eine bedeutsame Tatsache, daß die Anzahl der grundlegenden philosophischen Anschauungen, welche die Geschichte hervorgebracht hat, verhältnismäßig gering und verhältnismäßig konstant ist. Die Abweichungen der einzelnen Systeme voneinander, das Gefühl von Originalität, das die Schöpfungen der Großen in der Regel sehr stark betonen, darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß gleichwohl zwischen ihnen eine Art von Verwandtschaft besteht, vermöge derer sich Gruppen eng zusammengehöriger Lehrmeinungen aussondern und als Repräsentanten des gleichen Typus von Weltanschauungen auffassen lassen. Dieses Bewußtsein von einer inneren Zusammengehörigkeit der auseinanderstrebenden Richtungen des philosophischen Denkens ist schon früh, wenn auch vielfach in sehr ungeklärter Form erwacht. Es ist in allen Versuchen eines Eklektizismus wirksam gewesen. LEIBNIZ war von ihm durchdrungen, wenn er in den Systemen der verschiedenen Richtungen das Positive anerkannte und nur das für verfehlt hielt, was jene bestritten. Es tritt in den neueren Systembildungen als historische Grundlegung auf. Sodann unternahmen KANT, FICHTE, TRENDELENBURG und andere, die möglichen Arten der Systeme konstruktiv zu bestimmen. Den vorsichtigsten und zugleich vollkommensten Ausdruck hat diesem Bewußtsein die rein geschichtliche Forschung gegeben, indem sie begann, die Fülle der Weltanschauungen nach inneren Gesichtspunkten zu klassifizieren. In unserer Zeit hat besonders WILHELM DILTHEY diese Versuche in einem vertieften Sinn weitergeführt. Er gelangt zu einer Scheidung von drei Formen, die er als Naturalismus, als Idealismus der Freiheit und als objektiven Idealismus bezeichnet. Aber das Wesentlichste ist, daß er sie nicht konstruktiv auf das Verhältnis von Begriffen zueinander zurückführt, vielmehr sind ihm diese Typen Ausdruck einer bestimmten Art von Lebensverfassung. So ist der  Naturalismus  im Überwiegen der in der äußeren Erfahrung gegebenen physischen Wirklichkeit nach ihrer Masse und ihrer Wucht gegründet. Die geistigen Tatsachen erscheinen wie Interpolationen im großen Text der physischen Welt; tiefer noch darin, daß diese physische Welt zugleich der ursprüngliche Sitz aller Erkenntnis von Gleichförmigkeiten ist. Vom Naturalismus des Altertums reicht so ein Zusammenhang von Überzeugungen bis zum Psychologismus von HUME und dem französischen Positivismus von d'ALEMBERT und TURGOT, der diese große typische Weltanschauung in geschichtlicher Kontinuität in unser modernes Denken hinein fortsetzt. Ein ganz anderes Verhältnis aber tritt da ein, wo das philosophische Denken vom Bewußtsein seinen Ausgang nimmt, in diesem aber Spontaneität, Einheit, sittliche Verantwortlichkeit, Freiheitsbewußtsein als nicht weiter auflösbare Grundzüge des Seelenlebens festzustellen strebt. So liegt das Ziel dieser Richtung im willentlichen Verhalten des Menschen. Aus ihm entspringt die Forderung einer Relation zur höchsten Ursache, welche die Grundeigenschaft von Freiheit und moralisch teleologischer Relation hat, woraus sich ein Inbegriff von Beziehungen von Person zu Person als Postulat ergibt. In diesem  Idealismus der Freiheit  findet die willentliche Lebenshaltung ihren denknotwendigen Ausdruck. Er verbindet SOKRATES, das römische Denken und den christlichen Glauben, die schottische Schule, KANT, JACOBI und FICHTE, MAINE de BIRAN und seine Schule, HAMILTON und seine Nachfolger. Unter einem  objektiven Idealismus  ist schließlich die Weltanschauung zu verstehen, die das Universum als die Verwirklichung eines idealen Zusammenhangs zur Erkenntnis zu bringen sucht; sie entsteht auf der Grundlage der Kontemplation und jener hingebenden Betrachtung des Alls, in welchem sich ein Verhältnis von innerer Verwandtschaft des Einzelnen zum Unendlichen erschließt. So verinnerlicht sich alles Gegebene. In der Sprache, dem Mythos, der Dichtung ist dieser Vorgang von Belebung des Unbelebten wirksam. In den pantheistischen Weltreligionen hat er seinen größten Ausdruck gefunden. HERAKLIT und andererseits die  Eleaten  formulieren das Prinzip dieser Metaphysik zum ersten Mal ganz abstrakt. In der  Stoa  empfängt es innerhalb der antiken Welt seine vollkommenste Form. Die Entstehung des modernen europäischen Pantheismus, der sich von BRUNO und SPINOZA ab durch GOETHE hindurch bis zur Gegenwart stetig entwickelt hat, ist durch das Fortwirken dieser Tradition wesentlich bedingt. Aber all diese Systeme, wie weit sie sich in der wissenschaftlichen Durchführung voneinander unterscheiden, sind in demselben kontemplativen und ästhetischen Verhalten des Geistes gegründet, welches umblickend in der Welt, rings um sich Sinn, Bedeutung, verständlichen Zusammenhang gewahren will, und so erweisen sie sich bei allen Differenzen doch darin verwandt, daß sie gleichmäßig in der äußeren Wirklichkeit einen geistigen Zusammenhang nachweisen und durch diesen den Sinn dieser Wirklichkeit verständlich zu machen suchen.

Auf der Grundlage dieser historischen Einsicht klärt sich nun aber der anscheinend so verworrene Ablauf des philosophischen Denkens erheblich. Das Chaos lichtet sich und hinter der Mannigfaltigkeit der Systeme werden die wenigen, ewig wiederkehrenden Standpunkte sichtbar, von denen der Mensch nun einmal die Wirklichkeit betrachten kann. Gewiß ist jedes große philosophische System eine Individualität in einem viel engeren Sinne als die Lebensarbeit des rein wissenschaftlichen Forschers es ist; es ist in einem ganz anderen Verstand als etwa die Lösung eines wissenschaftlichen Problems von der Eigenart der Persönlichkeit abhängig, die es hervorgebracht hat. Niemals ist es die bloße Beseitigung vorhandener Widersprüche oder ein Zuendedenken begonnener Anfänge. Wie es auch durch seine Stellung innerhalb der philosophischen Literatur durch die vorangegangenen Versuche hinsichtlich seiner logischen Durchbildung bestimmt sein mag: allemal ist doch in ihm ein Letztes, ein Tiefstes enthalten, was nicht durch bloßes Denken ableitbar ist.

Aber wenn diese vor jedem Räsonnement liegende Entscheidung und Stellungnahme auch keine logische Allgemeingültigkeit besitzt, so ist sie doch wiederum nicht etwas schlechthin so Individuelles, daß sie in gar keinen Zusammenhang mit den allgemeinsten Überzeugungen anderer Personen gebracht werden könnte. Allerdings findet, solange es eine Geschichte der Philosophie gibt, durchweg ein unerbitterlicher Kampf zwischen den Weltanschauungen statt, aber es sind im letzten Grund nur einige wenige, in immer neuen Formen auftretende Arten der Wirklichkeitsbetrachtung und Wertung, die in eine Auseinandersetzung miteinander treten.

Diese Beziehungen von innerer Verwandtschaft und Gegensätzlichkeit der Systeme sind so klar und einleuchtend, daß es fast verwunderlich erscheint, wie sie sich solange der Erkenntnis nicht nur der Historiker, sondern auch der schöpferischen Geister selbst entziehen konnten. Dies ist jedoch gerade durch den Umstand bedingt, daß die Philosophie immer mehr als ein bloß persönlicher Glaube sein, daß sie Wissenschaft werden will. Insofern ein System den Anspruch auf eine objektive Darstellung erhebt, wird es immer bemüht sein, das Irrationale und jenseits aller Beweisbarkeit Liegende in seinen Grundlagen zu verdecken oder doch durch eine rein wissenschaftliche Demonstration zu ersetzen. So erhalten die Systeme eine logische Struktur, welche ihnen gemäß der ihren Aufbau bestimmenden wissenschaftlichen Vorbildern eine Gleichartigkeit verleiht, die ihre Gliederung nach inneren Gesichtspunkten in den Hintergrund treten läßt.

Man vergegenwärtige sich etwa das Verhältnis, in welchem die System des DESCARTES, des HOBBES und des SPINOZA zueinander stehen. Diese drei Denker gehen von den Prämissen der mechanischen Naturansicht aus, welche DESCARTES zuerst von ihnen und vorbildlich für immer in klassischer Vollkommenheit entwickelt hat. Schon der gemeinsame Besitz der inhaltlichen und methodischen Einsichten, welche das neue Naturideal in sich schließt, verleiht ihren Systemen gegenüber dem mittelalterlichen Kirchenglauben eine solche Ähnlichkeit, daß eine kurzsichtige Geschichtsbetrachtung sie für nur unbedeutend voneinander abweichende Variationen desselben Themas auffassen konnte, deren Unterschiede im einzelnen durch die verschiedene Denkenergie ihrer Schöpfer oder gar durch deren Rückständigkeit oder Akkomodation [Angleichung - wp] an die Kirche zu erklären seien. Richtig hieran ist nur, daß es gemäß den Bedingungen der Zeit dieselben oder ganz ähnlich gefaßte Probleme sind, mit deren Lösung diese Personen ringen. Und richtig ist auch, daß die Methode, deren sie sich im besonderen und im Aufbau des Ganzen vom Satz des Bewußtseins aus bedienen, im wesentlichen eine gleichartige ist. Aber die möglichen Lösungen sind nicht eindeutig durch ihre logischen Prämissen bestimmt; über sie entscheidet die ganze Lebensverfassung der Denker. So hatte DESCARTES im geistigen Leben die Grenze für die Ausdehnung des Erklärungsbereiches mittels der mechanischen Methode erkannt: die ausgedehnte und die denkende Substanz sind in ihrem inneren Verhältnis für das menschliche Erkennen unbegreiflich; das Höchste, zu dem wir gelangen können, ist der Nachweis der Existenz dieser Substanzen und die Aufdeckung der Gesetze, die im einen Reich von ihnen, dem ausgehnten, herrschen; im andern, wie wir seiner in der Selbstgewißheit inne werden, regiert die Freiheit. Diese Schranken vermochte HOBBES nicht anzuerkennen; in seinem Inneren fand er nicht das stolze Selbstbewußtsein und das Freiheitsgefühl, von dem DESCARTES seinen Ausgang nahm. Auch der Mensch ist ihm nur eins unter den natürlichen Geschöpfen; in ihm regieren die animalischen Triebe und der Eigennutz; so wenig das Denken das Göttliche zu erfassen vermag, so wenig reicht das Handeln hinüber in eine höhere, reine Welt. So entstand für HOBBES die große Aufgabe seines Lebens, die Mittel der Bändigung der Bestie im Menschen zu finden, und zwar Mittel, die in den Eigenschaften der Natur selbst liegen. Indem er nun auf die physiologischen Zustände zurückging, welche die Bedingungen für die Entfaltung der animialischen Triebe sind, hatte er den Punkt erreicht, von dem aus er zu einer gänzlichen Unterordnung der geistigen Tatsachen unter die natürliche Wirklichkeit und deren Gesetze fortschreiten konnte. Und wieder ganz anders mußte sich SPINOZA zum psychophysischen Problem verhalten. Seine Grundanschauung von der unendlichen vollkommenen Natur, welche von Gott nicht unterschieden ist, forderte die Determination aller einzelnen Veränderungen durch den Zusammenhang des Ganzen, schloß demgemäß die Freiheit des Handelns aus. Aber der in SPINOZA lebende religiöse Affekt gegenüber der allwaltenden göttlichen Natur gestattete nicht, diese bloß naturalistisch als ein körperliches System zu denken; vielmehr konnte ihm die Ausdehnung nur als eines unter den vielen Attributen der einen Substanz erscheinen. So kann auch das Geistige im Menschen, der nur ein Modus dieser Substanz ist, nicht nach dem Voranschreiten des HOBBES dem Körperlichen untergeordnet werden; beide Seiten des Menschen sind vielmehr gleichwertig; sie sind nur ein anderer Ausdruck der im Wesen mit sich selbst identischen Gottheit.

So treten uns drei inhaltlich voneinander gänzlich verschiedene Weltansichten in gleicher Formelsprache, in gleichem logischem Aufbau entgegen. In dieser Gemeinsamkeit von Problemen und Methoden und in dem Bemühen, die Ergebnisse allgemeingültig darzustellen, ist aber die Grundlage für eine Fülle von Beziehungen gegeben, welche die einzelnen Systeme, ungeachtet ihrer innerlichen Gegensätzlichkeit, miteinander verknüpfen. Weil jedes System in der Einseitigkeit der Weltbetrachtung gegründet ist und daher aus der unendlichen Vielseitigkeit der Wirklichkeit immer nur eine Seite hervorzuheben vermag, wird der logische Zusammenhang, in dem es sich darstellt, nur mittels einer Vernachlässigung oder gänzlichen Ausschaltung dessen, was in anderen Denkrichtungen lebendig wirksam ist, eine Konsequenz behaupten können. Jeder Versuch aber, den anderen Seiten vom gewählten Standpunkt aus gerecht zu werden oder das auf ihm geschaffene Begriffssystem in eine andere Weltanschauung umzudenken, hat bisher immer zu Widersprüchen geführt. In den logischen Schwierigkeiten treten in einem durchgeführten System die Grenzen des Weltverständnisses seines Schöpfers hervor. Aber eben in diesen Schwierigkeiten liegt ein Antrieb weiter zu denken; sie geben die Punkte an, wo die Arbeit der Gegner und Nachfolger einsetzt; denn auch diese vermögen nur eine der möglichen Richtungen einzuschlagen, ohne die noch bleibenden wirklich ausschließen zu können. So ist der Fortgang von System zu System in der Tat ein anderer als der innerhalb der positiven Wissenschaften. DILTHEY hat das Prinzip, das das Verhältnis der großen philosophischen Denker zueinander bestimmt, als das der Mehrseitigkeit der in einem System enthaltenen Konsequenzen bezeichnet.

Aber so aufklärend alle diese Einsichten für ein tieferes Verständnis der Geschichte der Philosophie sein mögen, so wenig scheint doch das systematische Interesse dadurch befriedigt. Wenn es eine historische Tatsache ist, daß es im Laufe der Zeiten letztlich immer dieselben Arten der Weltbetrachtung sind, die miteinander kämpfen, ohne jedoch durch bloß wissenschaftliche Mittel eine Entscheidung unter sich herbeiführen zu können, da sie in Erlebnissen gründen, die vor aller Wissenschaft liegen: ist damit nicht die Möglichkeit einer wissenschaftlichen Philosophie doch wieder in Frage gestellt? Wird nicht eben hierdurch die Relativität der Systeme, wenn sie auch nicht für die einzelnen unbeschränkt gilt, für größere Gruppen von ihnen als eine ihrer wesentlichen Züge ausgesprochen? Denn auch dies unterliegt keinem Zweifel, daß die dargelegte Mehrseitigkeit der Weltinterpretation nicht nur auf das Gebiet der eigentlich metaphysischen Theorien und Gedankenbildungen beschränkt ist. Auch auf dem engeren Feld der Erkenntnistheorie tritt, wenn schon in abgeblaßter Form, dieselbe innere Gegensätzlichkeit der Standpunkte hervor. Eine voraussetzungslose Erkenntnistheorie, die gewissermaßen von einem festen Punkt im Denken ausgehend, alle ihre Sätze in evidenten Schlüssen ableitet, ist ein unmögliches Unternehmen. Was die menschliche Erkenntnis, wie sie ihren Begriff in der Wissenschaft gefunden hat, bedeutet, ob sie als ein bloß biologisches Anpassungsprodukt oder als Ausdruck eines souveränen, die Natur erst bedingenden Verstandes anzusehen ist, oder ob das menschliche Denken nur darum über ein Seiendes etwas Allgemeingültiges aussagen kann, weil es diesem im letzten Grund konform ist: darüber läßt sich aus allein wissenschaftlichen Gründen nicht befinden; eine Stellungnahme in diesen Fragen ist offenbar in einem weiten Umfang davon abhängig, "was für ein Mensch einer ist". Es ist doch eine bemerkenswerte Tatsache, daß sich gerade bei den schärfsten der jüngeren Erkenntnistheoretiker immer mehr das Bewußtsein verfestigt, daß jede Erkenntnistheorie schließlich auf allgemeine ethische Voraussetzungen zurückweist. Wer den Glauben an den Geltungswert der Wissenschaft nicht besitzt, wird nicht durch rein theoretische Erwägungen zu seiner Anerkennung gezwungen werden können; auch hier gibt schließlich die gesamte Lebensverfassung der philosophischen Persönlichkeit den Ausschlag.

Wenn so aber auch diejenige der philosophischen Disziplinen, die der reinen Wissenschaft noch am nächsten zu kommen scheint, von irrationalen Faktoren abhängig ist: in welchem Sinne kann dann noch die Philosophie einen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben? Scheint nicht gerade die Erkenntnis, daß Philosophie eine Lebensmacht ist, sie eben vermöge dieser Beziehung zur ewigen Lebendigkeit des Menschen von wahrer Wissenschaft für alle Zeiten zu trennen?

Das Problem einer allgemeingültigen Entscheidung zwischen den möglichen Weltansichten oder das einer künftige Versöhnung kann auf eine rein logische Form gebracht werden. Theoretisch betrachtet sind Weltanschauungen Hypothesen, die keinen Inhalt der Erscheinungen, sondern die Gesamtheit aller Erscheinungen umfassend erklären wollen. Auch die Erkenntnistheorie ist eine Hypothese, welche die Tatsache der Wissenschaft verständlich machen will. Ethische Ideen und Regeln der Lebensführung können als solche allerdings nicht als Hypothesen bezeichnet werden, denn sie woll kein Vorhandenes erklären, sondern ein Künftiges bestimmen. Sieht man aber einmal von ihnen ab, so läßt sich in der Philosophie immerhin ein Inbegriff rein theoretischer Sätze absondern, wenn auch in Wahrheit diese stets mit jenen ethischen Anschauungen auf das Engste verbunden sind. Hypothesen werden nun durch eine fortschreitende Verifikation an den Erscheinungen bewahrheitet. So entsteht die Frage: können metaphysische, erkenntnistheoretische und ästhetische Hypothesen durch ein Zurückgreifen auf die Erscheinungen verifiziert werden oder sind sie verurteilt, stets Spekulation, d. h. unverifiziertes und prinzipiell unverifizierbares Wissen zu bleiben?

Hier scheint nun die Antwort zumindest für den Teil der Philosophie, der herkömmlich den Namen der Metaphysik trägt, sehr einfach zu lauten. Denn die Metaphysik in ihrem dogmatischen Verstand möchte von der Erfahrung ganz unabhängig sein; insofern sie zu den letzten Erkenntnisgründen aufsteigen will, die als solche nicht weiter begründbar die gemeinsamen Bestimmungen des Seienden erklären, überschreitet sie die Erfahrung; sie ergänzt das in der Erfahrung Gegebene durch einen objektiven und allgemeinen inneren Zusammenhang. Gleichwohl ist die Annahme nicht gerechtfertigt, daß eben darum die Metaphysik keinen hypothetischen Charakter besitzen darf, ihr vielmehr der streng ableitende Beweis wie der Mathematik wesentlich sei. Das ist die Auffassung KANTs gewesen, nach welcher die von aller Erfahrung abgesonderte Vernunft alles nur a priori und als unbedingt notwendig oder gar nicht erkennen kann. Daraus würde folgen, daß die metaphysischen Sätze weder durch Erfahrung zu bestätigen noch durch Erfahrung zu widerlegen sind. Der grundlegende Unterschied zwischen jeder metaphysischen Spekulation und dem mathematischen Denken darf jedoch nicht übersehen werden; bei diesem fällt Begriff und Gegenstand zusammen, bei jenem bleiben beide getrennt. Das die Welt erklärende Prinzip, mag es selbst als ein Alldenken bezeichnet werden, ist immer mehr als bloß ein von uns nach bestimmten Regeln der Konstruktion gedachtes Objekt, denn es wird von den Philosophen als ein Seiendes gesetzt. Über die Wirklichkeit dieses Seienden kann aber unter den Bedingungen unseres Wissens nur die Erfahrung befinden. Es ist daher keine Ungereimtheit, die Metaphysik unter diesem Gesichtspunkt geradezu als Erfahrungswissenschaft anzusprechen. Wendet man dagegen ein, daß sie sich durch diesen Schritt in positive Wissenschaft verwandelt und ihren besonderen metaphysischen Charakter aufgibt, so wird doch zu beachten sein, daß sie sich gleichwohl durch die Beziehung auf die Totalität des Seienden von den besonderen Erfahrungswissenschaften, die Teilinhalte desselben aussondern und erforschen, unterscheidet; ihre eigentümliche Aufgabe liegt dann darin, die Ergebnisse der positiven Wissenschaften in einer allgemeinen Weltansicht zusammenzufassen. Wohl aber ist damit gegeben, daß zumindest im Prinzip auch metaphysische Annahmen einer Verifikation durch Daten der Erfahrung zugänglich sind. Freilich wird der Nachweis der Übereinstimmung der Erscheinungswelt mit dem vorausgesetzten Erklärungsprinzip wegen der Universalität des letzteren und der unendlichen Vielheit der ersteren praktisch schwerlich jemals befriedigend zu führen sein. Aber das hindert nicht, an der grundsätzlichen Forderung der Bestätigung auch der allgemeinsten, der metaphysischen Hypothesen durch die Erscheinungen festzuhalten. Geht man auf andere Zweige der Philosophie ein, so ist eine Verifikation auf diesen engeren Gebieten viel eher möglich. Ja, in gewissen Disziplinen, wie z. B. der Erkenntnistheorie, liegt die Sache sogar erheblich günstiger, als etwa in den historischen Wissenschaften, da hier das Faktum der wissenschaftlichen Erkenntnis, die als solche vom denkenden Subjekt jeden Augenblick nacherzeugt werden kann, ein Verfahren der Erprobung der Theorie erlaubt, das fast den Wert eines Experiments besitzt.

Dennoch darf man billig zweifeln, ob jemals philosophische Hypothesen mit Einschluß derjenigen der Erkenntniskritik allein durch einen Erfahrungsbeweis sich zur allgemeinen Anerkennung durchringen werden. Denn von den Hypothesen der positiven Wissenschaften unterscheiden sie sich nicht nur durch ihre größere Allgemeinheit; das würde ansich nur eine graduelle Differenz in einem erreichbaren Maß von Wahrscheinlichkeit bedingen. Viel weittragender ist, daß sie, streng genommen, nicht das gleiche Objekt wie diese zum Gegenstand haben. Denn indem die Philosophie den gesamten Inhalt der Erfahrung in sich aufnehmen und zusammenhängend darstellen will, muß sie sich der Einseitigkeit des Erkenntnisstandpunktes, auf welchen sich der wissenschaftliche Mensch isoliert, begeben. Freilich leugnet dies der Positivismus. Aber seine Leugnung ist nicht besser wie das Verlangen des Idealismus begründet, das Verhalten des handelnden oder fühlenden Menschen zum Ausgangspunkt einer Weltauffassung zu machen. Hier tritt jenes irrationale Element in seiner Bedeutung hervor, von dem der wissenschaftliche Forscher planmäßig absieht, das jedoch einem philosophischen Weltverständnis unentbehrlich ist. Von ihm aus erhält der Gesamtinhalt der Erfahrung einen spezifischen Charakter. Es ist nicht dieselbe Welt, die DESCARTES und SPINOZA erblicken. Was im rein wissenschaftlichen Verstand die "Welt" ist, bildet nur einen Ausschnitt aus einer viel reicheren Erfahrung, ist nur ein Konstruktionszusammenhang aus denknotwendigen Bedingungen, der dem im Erleben und Erfahren Gegebenen substituiert wird. Insofern aber die Philosophie die Realität, die im wirklichen Erlebnis gegeben ist, aufdecken will, ist sie von der ganzen, lebendigen und unverstümmelten Erfahrung abhängig. Das wissenschaftlich erkennende Subjekt ist gewissermaßen völlig passiv, oder richtiger, es sucht mit Bewußtsein aus dem Erlebniszusammenhang, in den sie eingebettet auftreten, zu sondern. Aber der philosophisch sinnende Geist wird immer gerade auf diesen Erlebniszusammenhang reflektieren. Selbst wenn man also künstlich die theoretische Philosophie im engeren Sinn von der eigentlichen Ethik, der Lehre von den Zielen und den Werten des menschlichen Geistes, trennen wollte, so läßt sich doch auch in der rein theoretisch gefaßten Weltansicht nicht die Beziehung auf die letzten Lebensüberzeugungen der sie hervorbringenden Person beseitigen; denn das Verhältnis des Menschen zu der ihn umgebenden Wirklichkeit bildet am Ende das Thema jeder Philosophie. So bestimmt sich die Wertordnung der Erfahrungsinhalte, die Art der Relationen zwischen ihnen und der ganze Inbegriff von Bezügen, die den Einzelnen im Ganzen umfassen, verschieden, und eine durchgeführte Verifikation der allgemeinsten philosophischen Hypothesen wird deshalb prinzipiell nicht möglich sein.

Man muß dies, wenn man will, tragische Geschick der Philosophie ganz durchschauen, um nun zu der Frage nach ihrer Wissenschaftlichkeit eine klare Stellung zu gewinnen. Denn aus all dem folgt keineswegs, daß deshalb, weil ein Ausgleich zwischen jenen letzten Richtungen des Denkens in absehbarer Zeit nicht vorstellbar ist, jedes Bemühen in diesem Sinne hoffnungslos, jede wissenschaftliche Behandlung philosophischer Probleme aussichtslos ist. Vielmehr grenzen die Bedingungen, welche die Konstituierung geschlossener Systeme unmöglich zu machen scheinen, zugleich das Gebiet ab, auf welchem die Philosophie sehr wohl gesunde wissenschaftliche Arbeit leisten kann.

Zunächst ist durch die Beziehung des philosophischen Denkens auf die europäische Wissenschaft die Grundlage für eine exakte Fassung ihrer Probleme gegeben für die Wissenschaftslehre im engeren Sinne, für die Logik als Methodenlehre, ist das ja selbstverständlich. Aber auch eine Weltanschauung ohne diese Rücksicht zu bilden, ist unter den Bedingungen unseres Wissens nicht mehr möglich. Wir erblicken die Natur und das Leben nicht mehr vom Standpunkt der natürlichen, vorwissenschaftlichen Stellung der Intelligenz zur Wirklichkeit. Wenn es jemals in historischen Zeiten so ein naives Verhältnis des Geistes zum Seienden gegeben hat: wir können von der durch die Wissenschaft erreichten Orientierung nicht absehen; die Arbeiten der Astronomie, der physikalischen Optik und Akustik, der Chemie, der Biologie kann kein philosophisches Denken mehr aufheben oder durch irgendeine Art von spekulativer Betrachtung ersetzen. Der Zusammenbruch der deutschen Naturphilosophie zu Beginn des 19. Jahrhunderts hat für alle Zeiten den Beweis geliefert, wie hoffnungslos es ist, abseits von dem, was die moderne mit "Hebeln und Schrauben" vorgehende Wissenschaft von der Natur erkannt hat, die Dinge zu erfassen. Denn was in den Formeln dieser Naturphilosophie erscheint, möge sie im Gewand SCHELLINGs oder HEGELs oder SCHOPENHAUERs auftreten, ist im letzten Grund doch in irgendeiner Weise aus der positiven Wissenschaft unter Preisgabe von deren Präzision gewonnen, und das Wort von HELMHOLTZ, daß "sich bisher die Wirklichkeit der treu ihren Gesetzen nachforschenden Wissenschaft immer noch viel erhabener und reicher enthüllt hat, als die äußersten Anstrengungen mythischer Phantasie und metaphysischer Spekulation sie auszumalen wußten", wird von der Geschichte in jeder Hinsicht bestätigt. Der Ausgang aller wahren Philosophie liegt in den Ergebnissen der Wissenschaft, und aus dieser Einsicht sind allerdings alle Versuche eines Weltverständnisses, die diese Resultate irgendwie zu vernachlässigen oder gar zu verachten wagen, von vornherein gerichtet. Nur wenn man von der Tatsache dieser Wissenschaft ausgeht, können die Aufgaben der Philosophie in eine präzise Fassung gebracht werden, die allein eine fruchtbare Behandlung ermöglicht. Eine Philosophie des Unendlichen kann immer nur auf die Unendlichkeitsvorstellungen oder Formeln zurückgreifen, durch welche die Mathematik mit dem Unendlichen fertig wird. Das Verhältnis von Geist und Körper läßt sich nur unter Berücksichtigung aller hier in Betracht kommenden Sätze der Energetik, der Physiologie, der Psychologie in klare Beziehungen fassen. Keine Moralphilosophie kann an den Ergebnissen der Statistik, der Gesellschaftslehre, der Sittengeschichte vorbeigehen. Wo immer das philosophische Denken von den festen Bahnen der forschenden Wissenschaft abweicht, verliert es den Boden unter den Füßen und wird haltlose Spekulation.

Was für eine Bedeutung aber die Stellung von Problemen für den Aufbau des Wissens im allgemeinen besitzt, lehrt die Geschichte der Wissenschaft auf jeder ihrer Seiten. Der wirkliche Fortgang der Erkenntnis knüpft immer an bestimmte Fragen an. Nichts ist falscher als die von COMTE begründete Auffassung, daß sich die Wissenschaften historisch in der Ordnung nacheinander gebildet haben, in die man sie nach dem Maß ihrer Allgemeinheit bringen kann. Dürfte selbst in logisch-mathematischer Hinsicht die Mathematik als Vorstufe der Astronomie, diese als Vorstufe der Physik, diese als Vorstufe der Chemie usw. bezeichnet werden, so zeigt doch die geschichtliche Ausbildung dieser Disziplinen keineswegs diese einfache Rangordnung. Ihr gegenseitiges Verhältnis ist vielmehr ein mannigfach vermitteltes. Dies ist vor allem durch ihre Beziehung zur Lösung gemeinsamer Probleme bedingt. Es ist nicht wahr, daß erst die mathematischen Einsichten abgeschlossen sein mußten, bevor sie von der Astronomie oder der Physik aufgenommen und benutzt werden konnten. GALILEIs mechanischer Begriff vom  Impetus  enthielt zugleich im Keim die Vorstellungsweise, die später zum Begriff des Differentials fortgebildet wurde. NEWTONs Methode der Fluxionen entstand im engsten Zusammenhang mit seiner Himmelsmechanik. Diese Disziplinen stützen, tragen und beeinflussen sich gegenseitig; jeder Fortschritt in einer von ihnen wird zum Mittel des Fortschrittes in den anderen. Die Knotenpunkte in diesem engen Zusammenhang von Verflechtungen bilden bestimmte Aufgaben. Sie zu bewältigen schickt sich das wissenschaftliche Denken an; indem es hier von allen Seiten vorgeht und immer aufs Neue unter neuen Gesichtspunkten dieselbe Aufgabe angreift, werden schrittweise die mannigfachen Erkenntnisse herangebildet, die dann nachträglich voneinander gesondert und in einen systematischen Wissenszusammenhang eingereiht werden können.

Und zwar zeigt sich, daß bei dieser Entwicklung die richtige Fassung der Probleme von einer entscheidenden Bedeutung ist. Ja man möchte fast sagen, daß mit ihr schon die halbe Lösung derselben gegeben ist; jedenfalls eröffnet sie erst den Weg zu einer sachgemäßen Behandlung. Denn jede Aufwerfung einer wissenschaftlichen Frage ist entweder durch eine Kombination oder Verallgemeinerung von schon als gültig anerkannten Wissenselementen oder durch den Versucht bedingt, eine bisher noch nicht hinreichend bestimmte allgemeine Anschauung, Vorstellung oder Auffassung näher zu determinieren. Jede Frage setzt so, um überhaupt möglich zu sein, bereits die Anerkennung irgendeiner Position voraus. Besonders deutlich und wichtig ist das bei der letzteren Klasse von Fragen, auf die nicht einfach mit Ja oder Nein, sondern mit einer genaueren Bestimmung des in ihnen enthaltenen Allgemeinen zu antworten ist. Frage ich, wann CÄSAR gestorben ist, so nehme ich stillschweigend an, daß er überhaupt gelebt hat; frage ich, warum sich die Planeten in Ellipsen bewegen, so nehme ich stillschweigend an, daß ein allgemeines Gesetz existiert, das die Bahnen der Weltkörper bestimmt, von denen die Figuren, die unsere Planeten beschreiben, nur Sonderfälle sind. Je präziser aber die Frage gefaßt wird, desto genauer wird schon das in ihr enthaltene Allgemeine vorgestellt, desto näher steht die Lösung. Als ROBERT MAYER die hellrote Färbung des Venenblutes neu angekommener Europäer auf Java beobachtete, fand er zunächst in der Theorie von LAVOISIER, nach welcher der geringere Wärmebedarf in den Tropen die geringere Oxydation und damit die hellrote Färbung bedingt, eine genügende Erklärung dieser auffallenden Erscheinung. Als er aber weiter fragte, ob die Gesamtmenge der vom tierischen Körper produzierten Wärme mit Einschluß derer, die dieser scheinbar aus dem Nichts etwa durch Reibung oder andere mechanische Arbeit erzeugt, von der Menge des von ihm oxydierten Materials abhängig sei, hatte er bereits die mechanische Wärmetheorie im Keim erfaßt. Denn aus der physiologischen Verbrennungslehre ergab sich sofort, daß dies in der Tat der Fall und die Gesamtwärme des Tierkörpers dem Verbrennungseffekt quantitativ gleich sei. Damit ist aber weiter gegeben, daß die vom lebenden Körper erzeugte mechanische Wärme mit der dazu gebrauchten Arbeit in einem unveränderlichen Größenverhältnis steht, ja daß allgemein eine solche Beziehung zwischen Wärme und jeder Art von Arbeit auffindbar sein muß. So gewann MAYER den Begriff des mechanischen Wärmeäquivalents, dessen Größe allerdings dann noch experimentell zu bestimmen war. Was in diesem Fall in klassischer Einfachheit hervortritt, zeigt sich bei jedem Fortschritt der Wissenschaft; allemal ist schon in der richtigen Stellung der Frage wie in einem richtigen Ansatz von mathematischen Gleichungen der erste Schritt zur Lösung getan.

Indem sich nun aber die Philosophie ganz und gar auf die Ergebnisse der Wissenschaft stützt, wird sie auch des Vorteils teilhaftig, der in jenem Bezugnehmen auf bestimmt gefaßte Probleme liegt. Indem sie in erster Linie nach möglichst präziser Fassung der Fragen streb, wird sie dem Zug nach schweifender Verallgemeinerung, welcher der Tod alles exakten Denkens ist, am besten und wirksamsten entgegentreten. Sie wird zunächst unter Preisgabe aller auf ein System abzielender Gedankenbildungen einen Sonderfall, ein eng umschriebenes Problem zur höchsten Klarheit zu bringen, in größtmöglicher Schärfe darzustellen haben. In der Geschichte der Philosophie tritt diese Richtung des Denkens auch schon verschiedentlich hervor. Die Untersuchungen, welche LESSING in seinem  Laokoon  zusammengefaßt hat, können als das Vorbild des Verfahrens dienen, das die Philosophie, sofern sie Wissenschaft sein will, einzuschlagen hat. Auch der Aufbau der Vernunftkritik ist nach gleicher Methode angelegt; in der Reduktion des allgemeinen Erkenntnisproblems auf die Frage: "Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?" ist das Höchste geleistet, was bisher die Philosophie in der Vollendung der Fragestellung aufzuweisen hat. Aber diese Zerlegung, Vereinfachung, Präzisierung der Probleme gerichtete Methode ist doch noch nicht allgemein herrschend und nicht in ihrer ganzen Tragweite erkannt. Wenn es auch möglich ist, die Geschichte der Philosophie als eine Geschichte der Probleme und der zu ihrer Lösung erzeugten Begriffe darzustellen, so wollen die entsprechenden Arbeiten der einzelnen Philosophen, deren Ineinandergreifen das Ganze der philosophischen Bewegungen dann ist, sich wenig dieser Ordnung fügen; denn diese Arbeiten selbst dienen nicht nur und oft überhaupt nicht der Lösung der aufgeworfenen Probleme. Es gilt nun, diese Methode der Isolierung der Probleme mit Bewußtsein und kunstgemäß fortzubilden.

An diesem Ziel darf auch nicht die Besorgnis irre machen, daß vielleicht am Ende eine definitive und alle überzeugende Antwort der schwebenden Fragen nicht möglich sei. Bestehen die Erörterungen zu Recht, nach welchen die letzten Entscheidungen in der Philosophie von der gesamten Lebensverfassung der Persönlichkeit abhängen, dann wird in der Tat eine Einigung über alle Punkte in keiner Zukunft herbeizuführen sein. Aber das bedeutet nicht, daß darum jede Diskussion eines philosophischen Problems wissenschaftlich unfruchtbar sein muß. Denn zunächst ist es dem Problem als solchem nicht anzusehen, ob eine allgemeingültige Lösung zu erhoffen ist oder nicht. Die formalen Bedingungen, unter denen die Beantwortung aufgeworfener Fragen steht, lassen sich leicht ermitteln. Beschränkt man sich auf die Klasse der determinierenden Fragen, so liegen diese in der Möglichkeit, das Allgemeine, das jede Frage voraussetzt, näher zu bestimmen. Ein Problem ist unlösbar, weil falsch gestellt, wenn das in ihm enthaltene Allgemeine selbst unmöglich ist, es ist befriedigend nicht zu beantworten, wenn es in eine Disjunktion [Unterscheidung - wp] mit einer unendlichen Anzahl von Gliedern oder mit einer endlichen Zahl von solchen zu entwickeln ist, zwischen denen nur die freie Wahl, aber keine objektive Verifikation mehr entscheiden kann. Aber welche dieser verschiedenen Möglichkeiten in einem gegebenen Fall vorliegt, kann nur durch eine allseitige Untersuchung dieses, aber niemals von vornherein ausgemacht werden. Wenn also gewisse philosophische Probleme tatsächlich niemals eine befriedigende Lösung finden können, so stellt sich das jedesmal immer nur nach ihrer vollständigen Bearbeitung heraus, im wissenschaftlichen wie im philosophischen Denken. Und hierzu kommt, daß philosophische Hypothesen, wenn sie auch einerseits von irrationalen Momenten beeinflußt sein mögen, doch andererseits ein Verhältnis zur Welt der Erscheinungen gewinnen müssen, wonach zumindest sicher gestellte Tatsachen ihnen nicht widersprechen dürfen. Damit ist aber ein Weg der Ausscheidung unbrauchbarer Hypothesen eröffnet, den die Philosophie schon immer bestritten hat. So sind bereits im Laufe der Zeiten eine Reihe von Theorien endgültig ausgeschieden worden. Niemand wird gegenwärtig mehr einen Empirismus verteidigen können, der alles Wißbare auf reine Sinneseindrücke reduziert: die Wissenschaft in ihrer geschichtlichen Tatsächlichkeit, in ihrem lebendigen Fortschreiten widerlegt ihn. Im Gegensatz dazu verengt sich der Kreis der ernsthaft in Erwägung kommenden Auffassungen oder Standpunkte beständig mehr und mehr. Vielleicht liegt das Ziel einer definitiven Einigung in unendlicher Ferne und vielleicht vermögen wir uns ihm nur asymptotisch anzunähern; aber wir dürfen doch nicht übersehen, daß wir tatsächlich dabei fortschreiten. Jede eingehende Diskussion eines Sonderproblems von den bleibenden Möglichkeiten aus führt über den zur Zeit erreichten Standpunkt hinaus, macht deutlicher, was durch die Tatsachen selbst gefordert, was mit ihnen im Einklang, mit ihnen im Widerspruch ist. Und in dem Maße, als sich absondert, was allein in der Lebensauffassung des philosophierenden Geistes gründet, mehrt sich die Fülle der Sätze, die unabhängig von dieser gelten wollen und geprüft werden können. Allerdings wird sich eine Einigung am wenigsten leicht gerade über die allgemeinsten Anschauungen herbeiführen lassen, da diese mit den letzten Hoffnungen und Betrachtungsweisen verwoben sind; aber je spezieller und untergeordneter die Fragen sind, desto leichter findet eine Versöhnung der Forscher aus den verschiedenen Lagern statt. Heftet man den Blick nur auf die großen systematischen Überzeugungen, dann erscheint die Differenz zwischen den Standpunkten groß und unüberbrückbar; aber in Wahrheit ist doch schon in so vielen Sonderproblemen eine Gemeinsamkeit der Auffassungen herrschend, daß die Hoffnung auf eine beständige Zunahme dieses Gemeingutes nicht ungerechtfertigt erscheint.

Hier findet ohne jeden Zweifel ein dauernder Fortschritt innerhalb der Geschichte der Philosophie statt, der dem innerhalb der Geschichte der positiven Wissenschaften ganz analog ist. Wie dort allmählich die feststellbaren Tatsachen aus dem Kreis der schwankenden Hypothesen hervortreten, so sondern sich hier zwar in einem viel langsameren Tempo, aber doch keinem Zweifel unterlegen, die Sätze ab, mit denen jede Metaphysik, jede Erkenntnistheorie, jede Ethik rechnen muß, auch wenn sie dieselben dann weiter zu ergänzen sich berufen fühlt. So gibt es keinen Forscher mehr, der ernsthaft die Relativität der Sinneseindrücke und allgemein die Bedingtheit der sinnlichen Erscheinungswelt zu leugnen vermöchte. Und ähnlich lassen sich ganze Reihen von ästhetischen und ethischen Einsichten aufzählen, die auch nicht mehr der Diskussion unterworfen sind. Von hier aus empfängt jene einseitige Geschichtsbetrachtung, welche nur eine Anarchie persönlicher Meinungen in der Entwicklung der Philosophie erblickt, ihre zweite wesentliche Korrektur. Wie weit die Systeme in ihren letzten Überzeugungen auch voneinander abweichen: ihnen ist doch eine große Zahl von sicheren Erkenntnissen gemeinsam und von allen Seiten arbeiten die Denker daran, diesen Schatz zu mehren. Wenn sich auch hier von Zeit zu Zeit ein Protest erhebt, so darf das am allgemeinen Fortschritt nicht irre machen. Den wo träte nicht gelegentlich ein anmaßender Dilettantismus hervor? Die positive Wissenschaft pflegt mit solchen zu allen Zeiten sich erhaltenden Velleitäten [kraftloses, zögerndes Wollen - wp] nicht zu rechnen, wenn gegenwärtig jemand die kopernikanische Theorie der Erdbewegung oder die Entwicklungslehre anzugreifen wagte, würden die Astronomen und die Biologen über solche Rückständigkeiten einfach zur Tagesordnung übergehen. Auch in der Philosophie ist nicht jeder beliebige Einfall erlaubt oder darf auch nur darum, weil er von der geltenden Meinung abweicht, schon Anspruch auf eine ernsthafte Beachtung erheben. Es ist ja richtig, daß gerade hier viel schwerer zu entscheiden ist, was bloßer Dilettantismus und was wirklicher Fortschritt in der Erkenntnis ist. Aber es gibt doch ein Mittel der Prüfung, und jede philosophische Hypothese muß, sofern sie wissenschaftlich sein will, sich einer solchen Prüfung unterziehen: dieses Mittel ist in der Bearbeitung der Sonderprobleme gegeben. So ist es doch nicht allein das Herz oder die Gesamtauffassung des Lebens, welche über den Zusammenhang des Geistigen mit dem Körperlichen befindet. Jede Theorie der Wechselwirkung oder des Parallelismus muß zeigen können, wie sie mit den festgestellten Tatsachen der Energetik, der Physiologie usw. besteht. Und würde in unseren Tagen noch einmal der Okkasionalismus [Lehre von den Gelegenheitsursachen - wp] neu entstehen, so müßte er doch im besonderen erweisen, inwiefern er besser die Erscheinungen als der Parallelismus etwa erklärt. Die Philosophie ist keine positive Wissenschaft und sie wird niemals eine solche werden; aber soweit sie sich der Wissenschaft nähern will, wird sie von der methodischen Untersuchung von Einzelfragen ihren Ausgang nehmen und in deren Diskussion ihren Erklärungswert zu zeigen haben.

Rückt auf diese Weise für das ernsthafte Denken die strenge Behandlung der Einzelprobleme in den Mittelpunkt der philosophischen Arbeit, so tritt zugleich das Interesse an der eigentlichen Systembildung, an der Schöpfung einer einheitlichen Weltanschauung zurück. Denn hierbei sind nun einmal jene Verschiedenheiten der Weltbetrachtungen nicht zu vermeiden, bei der Beurteilung des Ganzen spricht der ganze lebende Mensch.

Gleichwohl wird man aber darum nicht jeden Versuch einer Systembildung von vornherein verurteilen oder als grundsätzlich unwissenschaftlich brandmarken dürfen. Die großen Systeme und jede neue Weltanschauung behalten trotz der berechtigten Kritik ihren dauernden Wert, nur daß dieser nicht vorwiegend und ausschließlich als ein wissenschaftlicher angesehen werden darf. Zunächst sind sie der Ausdruck bedeutender Personen und ihrer Art, die Welt in einem Zusammenhang zu betrachten. Aber auch für den Fortgang des philosophischen Denkens in einem wissenschaftlichen Sinn erweisen sie sich unentbehrlich. Denn wie in der positiven Wissenschaft haben die Hypothesen auch in der Philosophie eine doppelte Funktion zu erfüllen. Auf der einen Seite müssen sie den Tatsachen, auf die sie sich beziehen, gerecht werden; aber auf der anderen müssen sie zugleich zueinander ein logisch befriedigendes Verhältnis gewinnen. Denn die Theorien bilden ebenso wie die von ihnen erfaßte Wirklichkeit  ein  Ganzes; sie sind nicht isolierte und nur auf einen kleinen Kreis beschränkte Phänomene; sie greifen ineinander über, fördern oder beschränken andere Hypothesen und erheben ganz allgemein den Anspruch eines gegenseitigen Ausgleichs. Jede Theorie des Parallelismus muß zur Lehre von der menschlichen Willensfreiheit Stellung nehmen. So wird dem Philosophen stets die Aufgabe bleiben, das seinerzeit ihm zugängliche Wissen in einen allseitig und innerlich verbundenen Zusammenhang zu bringen, die Widersprüche zwischen einzelnen Sätzen zu beseitigen, die Beziehungen und Ordnungen zwischen den einzelnen Gliedern aufzudecken und das Ganze, wenn möglich, in einen letzten Grund zu verankern. Und wenn hier Hindernisse auftreten, welche nur umgangen, nicht beseitigt werden können, wenn Schwierigkeiten entstehen, welche nur verdeckt, nicht gelöst werden können, so hat auch das seinen Nutzen; denn an diesen Punkten wird ersichtlich, wo die weitere Arbeit einzusetzen haben wird. Die Lücken und die Mängel eines Systems enthalten immer zugleich eine positive Lehre.

Aber noch in einer anderen Hinsicht erweist sich dieser systembildende Trieb als fruchtbar und wertvoll. Wenn es zwar möglich ist, in gemeinsamer Arbeit aus dem Gewoge der feindlichen Meinungen diejenigen herauszufinden, die allgemein anerkannt werden dürfen, so bleibt doch immer, wie weit auch in den Hintergrund gedrängt, die Divergenz der letzten Überzeugungen bestehen; denn der Mensch kann nun einmal die Welt von verschiedenen aufeinander nicht reduzierbaren Standpunkten betrachten und er wird für jeden ein gleiches Recht fordern, da sich keiner von ihnen allein auf wissenschaftliche Gründe stützen läßt. Aber das ist nun das Geheimnis aller Weltanschauungen, daß nur in ihrer systematischen Durchführung hervortritt, was in ihr enthalten ist. Es ist nicht möglich, das, was eine Weltanschauung will, anders als in eben der Form auszusprechen, in der sie geschichtlich erscheint. Die logische Struktur eines Systemes ist nicht nur der Mantel, der die eigentlichen Gedanken verhüllt und aus dem diese noch reiner hervorzuheben sind. Vielmehr findet in demselben Maß, in dem der systematische Geist einen jener Standpunkte zu gestalten unternimmt, eine fortschreitende Vertiefung eben dieses Standpunktes statt. Gewiß ist der Idealismus der Freiheit, den SOKRATES, die  Stoa,  DESCARTES und KANT lehren, in den letzten Zielen einstimmig; aber niemand wird verkennen, um wieviel tiefer die Stoa als SOKRATES, um wieviel tiefer KANT als DESCARTES diesen Idealismus erlebt und durchdacht haben. Hier erwächst der Geschichte der Philosophie eine ihrer höchsten Aufgaben; indem sie dem inneren Forschritt der großen Weltanschauungen nachgeht, indem sie die einzelnen Systeme in ihrer universalen Tiefe erfaßt, aber zugleich den Weg verfolgt, den das Denken in der Durcharbeitung der Standpunkte genommen hat, führt sie bis zu den letzten Punkten, die der philosophische Geist erreicht, sucht sich auf, was als der Ertrag der ganzen Geschichte der Philosophie anzusehen ist. So dringt sie mit dem Fortgang der Zeiten selbst tiefer ein in das, was das menschliche Herz erfüllt, hebt sie mit den großen Denkern hervor, was im Dunkel der erlebenden Seele verborgen ist. Aber sie findet diesen Fortgang nur, wo wirklich der Geist damit ringt, sich die letzten Bezüge seines Daseins zu Bewußtsein zu bringen. Es verhält sich mit den großen Systembildungen ähnlich wie mit den großen Werken der Kunst. Auch in diesen ist etwas enthalten, was über alle Form der Darstellung hinausgeht, mögen wir es Glaube, Lebensanschauung oder wie auch immer nennen. Das Entscheidende ist, daß dieses Letzte, Tiefste nur in dieser Form der Darstellung zum Ausdruck kommt. Es gibt keine Idee des  Faust,  die von der lebendigen Dichtung zu trennen wäre; aber wohl ist diese erfüllt von Ideen; in ihren Gestalten und deren Tun und Sagen lebt ein Allgemeines, das über sie hinausragt und unmittelbar zu uns spricht. Jede kunstgemäße Interpretation eines Gedichts ist nur ein Mittel für das wahre Verständnis desselben, ist aber dieses noch nicht. Wir verstehen erst, wenn wir den Erlebniszusammenhang der Dichtung, der immer mehr ist, als eine Summe abstrakter Gedanken, in uns zu neuer Lebendigkeit erstehen lassen; wie jedes echte Kunstwerk mit dem Herzblut seines Schöpfers geschrieben ist, will es auch innerlich aufgenommen und nicht bloß begrifflich verstanden sein. Aber die dichterische Gestaltung ist nicht bloß ein Symbol, durch welches wir gewissermaßen hindurzublicken haben, sondern sie ist das Leben selbst, das uns verkünden soll, was der Dichter geschaut hat. So können wir auch in den großen metaphysischen Gedankenbildungen nicht von der systematischen Form absehen, um hinter ihr zu finden, was allein nur in ihr gegeben ist.

Aber die Verwandtschaft im Charakter von Weltanschauungen mit eigentlichen Kunstwerken darf nicht dazu führen, jene diesen in jeder Hinsicht gleichzusetzen und wegen der Unmöglichkeit, zwischen den letzten Standpunkten allgemeingültig zu entscheiden, die metaphysischen Systeme als bloße "Begriffsdichtungen" anzusprechen. Es bleibt doch immer der durchgreifende Unterschied, daß sich Dichtungen auf Erlebnisse in Anschauungen, philosophische Systeme auf Erlebnisse in Begriffen gründen. Die gedankenmäßige Darstellung des Weltverständnisses ist der wesentlichste und von wahrer Philosophie ganz und gar unabtrennbare Zug. Richtig ist nur, daß die Metaphysik, indem sie in ihren Formeln etwas ausspricht, was sonst nicht gesagt werden könnte, eine analoge Funktion wie die Kunst erfüllt. Aber es ist ein Irrtum, zu glauben, daß nunmehr die Kunst die Funktion der Philosophie übernehmen könnte. Als mit der Ausbildung der positiven Wissenschaften die mechanische Naturbetrachtung die Welt entgötterte und sie als eine ungeheure Maschine erkannte, die sich farblos und stumm nach ewigen Gesetzen bewegt, zog sich allerdings das lebendige Naturverständnis in das freie Reich der Poesie zurück, und in den Werken von ROUSSEAU und GOETHE bereitete sich im Gegensatz zu GALILEI und NEWTON ein neues Verhältnis zur Natur vor. Aber das ganze Schicksal der romantischen Naturphilosophie beweist, wie wenig zureichend eine bloße Dichterphilosophie ist und bleiben muß. Der Philosophie ist die Beziehung zur Wissenschaft unentbehrlich: sie ist eine objektive Darstellung der Welt oder sie ist überhaupt nicht; es gibt keine Dichtung in Begriffen.

Und weiter trifft zu, daß die Einheit eines Systems immer nur eine vorläufige, eine ideelle ist, die dem Stand des derzeitigen Wissens vorauseilt. Aber warum soll dem Menschen verwehrt sein, in dieser Weise seinen Wünschen nachzugehen? Der Einzelne, der ein Bild vom Weltganzen gewinnen möchte, hat nicht Zeit, zu warten, bis die Wissenschaft ihre unendliche Aufgabe vollendet hat. So wird immer der Versuch berechtigt sein, nach dem Maß des Wissens einer Zeit, unter Berücksichtigung aller möglichen Einschränktung, sich von einem Zusammenhang der Totalität des Seienden Rechenschaft zu geben.

Und hieran ändert auch die Einsicht von der ewigen Relativität der großen Weltanschauungen nichts. Denn schließlich läßt diese Tatsache auch noch eine andere Deutung oder Folgerung als die der Unwahrheit oder Unrichtigkeit der einzelnen Systeme zu. Wenn innerhalb der positiven Wissenschaften verschiedene Theorien ein und denselben Sachverhalt verschieden erklären, so erfordert unser Ideal von Wissenschaftlichkeit, daß nur eine von ihnen berechtigt und darum wahr sein kann. Aber möglicherweise verliert dieses Ideal gerade für die höchsten Fragen der Philosophie seine Gültigkeit. Wenn von einem Standpunkt aus eine gewisse Weltansicht als plausibel dargestellt werden kann, so ergibt sich daraus gewiß noch nicht, daß andere Weltansichten unmöglich sind. Es gibt in der Tat kein wissenschaftliches Mittel, zwischen den letzten Hypothesen der Philosophie zu entscheiden, die Übereinstimmung der Tatsachen mit den Annahmen erweist wie in den Hypothesen der positiven Wissenschaften nur die Möglichkeit, nicht die Notwendigkeit derselben; andere Voraussetzungen sind darum noch nicht ausgeschlossen. Aber warum sollen nicht jene letzten und allumfassendsten Überzeugungen und Weltinterpretationen, auch wenn sie voneinander dauernd differeieren, nicht gleichmäßig berechtigt und eben darum wahr sein? Vielleicht ist die Welt zu groß, zu tief, zu unergründlich, als daß der Mensch das Ganze in  einem  Begriffssystem darstellen, in  einen  begrifflichen Zusammenhang bringen könnte. Vielleicht ist uns gewissermaßen nur eine perspektivische Betrachtung des Seienden gegönnt, die immer nur eine Seite hervorheben kann und für immer verkennen muß, was auf sich einem anderen Standpunkt offenbart. Oder wie einer Gleichung höheren Grades mehrere Wurzeln genügen, so läßt vielleicht das Weltproblem mehrere gleichberechtigte aber einander entgegengesetzte Lösungen zu. Aber wie es sich auch damit verhalten mag: der Glaube, daß in jeder Weltanschauung, sofern sie nur ehrlich erlebt ist, eine Wahrheit liegt, auch wenn es nicht die ganze oder die einzige Wahrheit ist, wird sich durch kein skeptisches Argument in seiner Gewißheit beirren lassen. Und wenn auch das einzelne System niemals das Absolute erfassen, sondern immer nur ein relativ vollkommener Ausdruck eines relativ gültigen Standpunktes sein wird, so kann es dem Streben nach höchster Vollkommenheit der Darstellung und Begründung, nach größtmöglicher Allgemeinheit nur unter der Bedingung strengster Wissenschaftlichkeit genügen. Eben darum wird auch die Philosophie als Wissenschaft durch neue Systembildungen gewinnen.

So erweist sich dann von allen Seiten die Unhaltbarkeit jenes auf die Geschichte gegründeten Skeptizismus.

Die Tatsache, daß sich mit dem Zeitalter der Renaissance innerhalb der europäischen Gesellschaft eine besondere Wissenschaft der Forschung herangebildet hat, hebt die Philosophie als Wissenschaft nicht auf. Wie immer man die Aufgaben der Philosophie im einzelnen bezeichnen oder beschränken mag, es bleibt doch ein Doppeltes, das jenseits dieser forschenden Wissenschaft liegt und eine eigene Arbeit erfordert: auf der einen Seite treten eine Anzahl von Problemen auf, welche über die Fachdisziplinen hinausgreifen, in erster Linie das Problem der forschenden Wissenschaft selbst, und auf der anderen wollen gewisse Anschauungen, Lebensüberzeugungen und Betrachtungsweisen, die sich auf das Ganze des Seienden richten, sich Anerkennung verschaffen. Solange diese  Probleme  bestehen und solange der Mensch an der Durchbildung der  Standpunkte,  von denen aus er das Leben und den Weltzusammenhang zu überblicken vermag, ein Interesse hat, wird ein methodisches Denken an der Auflösung dieser Aufgaben nicht verzagen. Von welchem der beiden Pole aus die Philosophie sich bewegt, die Arbeit des einzelnen ihren Anfang nimmt, ist hierbei weniger belangreich. So lassen sich innerhalb der Geschichte auch sehr deutlich zwei Richtungen und zwei Gruppen von Denkern sondern, die einen, die, von großen Anschauungen erfüllt, diesen ihren Erlebnissen den vollkommensten Ausdruck verleihen wollen, die anderen, die, von der Unruhe ungelöster Fragen ergriffen, Antworten suchen. Allerdings wird die Philosophie als ein systematischer Zusammenhang von Erkenntnissen niemals die Art der Allgemeingültigkeit erreichen können, welche die mathematische Konstruktion oder auch nur die empirische Feststellung von Tatsachen besitzt. Philosophische Hypothesen sind Hypothesen über Hypothesen. Hier wird immer ein viel größerer Wettbewerb der Auffassungen und Theorien der einzelnen Persönlichkeiten stattfinden, und es ist auch dies nicht ausgeschlossen, daß die wissenschaftliche Vollendung der Erkenntniskritik der wissenschaftlichen Durchbildung anderer Zweige der Philosophie, etwa der Metaphysik, unaufhebbare Schranken setzt. Aber es ist doch kein Kampf aller gegen alle, keine Anarchie der Meinungen, wie eine oberflächliche Geschichtsbetrachtung uns lehren möchte. Auch in der Entwicklung der Philosophie herrscht Kontinuität, herrscht Fortschritt, und darum ist keine müde Resignation, keine Flucht vor den Forderungen strenger Wissenschaftlichkeit auf das Gebiet rein persönlicher Mutmaßungen erlaubt. Denn eine wirkliche Förderung der Philosophie gelingt immer nur unter Einsetzung der ganzen Kraft. Aber weil alles philosophische Denken schließlich doch im Herzen seine tiefsten Wurzeln hat, weil es aus der ewigen Lebendigkeit des Menschen seine beste Kraft gewinnt, wird es auch ewig ein lebendiges, das will sagen ein streitendes Denken bleiben.
LITERATUR - Max Frischeisen-Köhler, Moderne Philosophie - Standpunkte und Probleme, Stuttgart 1907 (Einleitung)