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HERMANN LOTZE
Grundzüge der Psychologie
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    Erster Teil: Von den einzelnen Elementen des inneren Lebens
I. Von den einfachen Empfindungen
II. Über den Verlauf der Vorstellungen
III. Vom beziehenden Wissen und der Aufmerksamkeit
IV. Von den räumlichen Anschauungen
V. Von der sinnlichen Weltanschauung
VI. Von den Gefühlen
VII. Von den Bewegungen

Zweiter Teil: Von der Seele
I. Vom Dasein der Seele
II. Von der Wechselwirkung zwischen Seele und Körper
III. Vom Sitz der Seele
IV. Von den Zeitverhältnissen der Seele
V. Vom Wesen der Seele
VI. Von den unveränderlichen Zuständen der Seele
VII. Vom Reich der Seelen

"So genau wir auch die Natur der Ätherwellen zergliedern mögen, niemals entdecken wir in ihr einen Grund, warum sie als Glanz gesehen und nicht lieber als Klang gehört werden müßten; ebensowenig, warum die eine als rot die andere als blau empfunden werden müßte und nicht umgekehrt."

"Daraus zum Beispiel, daß wir Aetherwellen als Licht empfinden, folgt nicht im geringsten, daß wir nun konsequent Luftwellen als Schall empfinden müßten. Dasselben gilt von den einzelnen Gliedern der einzelnen Klassen. Wer bloß sauer oder gelb empfunden hätte, würde dadurch nicht auf den Gedanken gebracht, es müsse auch bitter und blau geben."

"In einem anderen Sinn sind  alle  unsere Empfindungen nur subjektiv, d. h. nur Erscheinungen in unserem Bewußtsein, denen in der Außenwelt nichts entspricht. Schon das Altertum behauptete das, die neuere Physik malt es weiter aus: die Welt außer uns sei weder still noch laut, weder hell noch dunkel, sondern sei mit alledem so unvergleichbar, wie etwa Süßigkeit mit einer Linie."

"Der Beweis liegt zuletzt darin, daß objektive Eigenschaften ansich undenkbar sind. Worin das Glänzen eines Lichtes, das durchaus niemand sähe oder das Klingen eines Tones bestände, den niemand hört, ist ebenso unmöglich zu sagen, als was ein Zahnschmerz wäre, den niemand hätte."

"Nun kommen aber Vorstellungen niemals in einer Seele vor, die außerdem nichts anderes täte, sondern an jeden Eindruck knüpft sich außer dem, was in dessen Folge vorgestellt wird, auch noch ein Gefühl des Wertes, den derselbe für das körperliche und geistige Wohlbefinden des Perzipierenden hat. Diese Gefühle von Lust und Unlust sind einer Gradabstufung offenbar ebenso fähig, wie das bloße Vorstellen unfähig dazu ist."


Einleitung

Empfindungen, Vorstellungen, Gefühle und Strebungen bilden die wohlbekannten Tatsachen, deren Ganzes wir mit Vorbehalt künftiger Prüfung als das Leben eines eigentümlichen Wesens, der Seele, zu bezeichnen pflegen. Unsere wissenschaftlichen Bedürfnisse würden vollkommen befriedigt sein, wenn wir zuerst nach Anleitung der Beobachtung vollständig alle einzelnen Bestandteile dieses Lebens und die allgemeinen Formen ihrer Verknüpfung darstellen könnten (deskriptive oder empirische Psychologie); wenn wir ferner die Natur des Subjekts dieses ganzen Lebens, so wie die wirksamen Kräfte und Bedingungen namhaft machen könnten, durch welche das Ganze dieses Lebens hervorgebracht und genötigt wird, jene erfahrungsmäßig bekannten Formen seines Verlaufs inne zu halen (erklärende, mechanische oder metaphysische Psychologie); wenn wir endlich den vernünftigen Sinn angeben könnten, wozu das alles vorhanden ist oder den Beruf, den das Seelenleben überhaupt im Ganzen der Welt zu erfüllen hat (ideale oder spekulative Psychologie). Da die letzte Aufgabe eine Auflösung in streng wissenschaftlicher Form incht zuläßt, die Behandlung der ersten aber sich bequem mit der der zweiten verbinden läßt, so ist die wesentliche Frage, mit der wir uns beschäftigen, diese: "Unter welchen Bedingungen und durch welche Kräfte entstehen die einzelnen Vorgänge des geistigen Lebens, wie verbinden und modifizieren sie sich untereinander und bringen durch dieses Zusammenwirken das Ganze des geistigen Lebens zustande?" Unseren Weg aber nehmen wir so, daß wir dem Gang der Sache selbst folgen, nämlich zuerst von den äußeren Eindrücken sprechen, durch welche die geistige Tätigkeit alle Augenblicke von neuem angeregt wird, dann von der mannigfaltigen inneren Bearbeitung, die diese Eindrücke erfahren, endlich von den Rückäußerungen, Bewegungen, Handlungen, die daraus hervorgehen. Nach der Durchmusterung dieser einzelnen Elemente des geistigen Lebens wird dann erst eine gesammelte Überlegung über die innere Natur des Subjekts möglich sein, das dieses Leben führt.


Erster Teil
Von den einzelnen
Elementen des inneren Lebens


Erstes Kapitel
Von den einfachen Empfindungen

§ 1.

Wir verstehen unter einfachen Empfindungen hier diejenigen, in deren Inhalte keine Zusammensetzung aus ungleichartigen oder gleichartigen Teilen uns bemerkbar ist und denken uns ferner dieselben, wie es gewöhnlich der Fall ist, durch äußere Eindrücke veranlaßt. In diesem Fall unterscheiden wir in der Entstehung der Empfindungen als ersten Vorgang den  äußeren Sinnesreiz.  Kein Gegenstand wird durch sein bloßes Dasein Objekt einer Wahrnehmung; er wird es nur dadurch, daß er entweder selbst sich unserem Körper bis zur Berührung nähert, wie es beim Stoß der Fall ist oder daß er einem ihnen umgebenden Medium Bewegungen mitteilt, die sich in diesem von Element zu Element fortpflanzen und zuletzt unseren Körper erreichen, wie es der Fall ist bei Schall- und Lichtwellen. In allen Fällen aber ist dieser äußere Sinnesreiz eine irgendwie gestaltete Bewegung irgendwelcher Massen und hat an sich selbst keine Ähnlichkeit mit den geistigen Vorgängen, die auf ihn folgen sollen.


§ 2.

Das zweite, was notwendig ist, ist der innere Vorgang im Körper, den der äußere Reiz anregt. Bei seinem Eintritt in die Oberfläche unseres Körpers bringt der äußere Reiz mancherlie Veränderungen der äußersten Bedeckungsschichten hervor, von denen wir wenig wissen und welche wir psychologisch auch nicht zu verfolgen brauchen, denn sie alle werden zu Veranlassungen von Empfindungen erst dann, wenn sie auf die Enden der im Körper überall verbreiteten Nervenfasern übergehen und in diesen eine Erregung erzeugen, welche sich durch den ganzen Verlauf des Nervenfadens bis zum Gehirn fortpflanzen muß, wenn eine Empfindung stattfinden soll. Jede Verletzung des Nerven, welche diese Fortleitung verhindert, bewirkt daher auch, daß alle Reizungen des peripherischen Nervenendes für das Bewußtsein völlig verloren gehen. Worin nun jene Erregung, der sogenannte  Nervenprozeß,  besteht, wissen wir nicht mit Bestimmtheit; auch ist für die Psychologie bloß die eine Frage von Wichtigkeit, ob dieser Prozeß nur ein physischer Bewegungsvorgang ist oder ob er bereits Teil am Charakter des geistigen Lebens nimmt.

Nun kann im Nerven eine Empfindung nicht bloß überhaupt da sein, sondern man müßte genau angeben, wer sie denn eigentlich haben soll. Der Nerv als Ganzes kann dieses Subjekt nicht sein, weil er ein Aggregat vieler Teile ist und sich überdies gar nicht auf einmal im Zustand der Erregung befindet, da vielmehr ein Teil nach dem anderen ergriffen wird. Man könnte daher bloß behaupten, jedes unteilbare Atom des Nerven sei ein empfindendes Subjekt und teile seine Empfindung seinem Nachbarn mit, bis sie zuletzt an die Seele komme. Da nun aber diese Fortpflanzung der Erregung durch Änderung des physischen Zusammenhangs des Nerven, z. B. durch Schnitt, gehindert werden kann, so erfolgt sie auch ohne Zweifel nicht durch eine unmittelbare Sympathie, sondern durch eine physische Einwirkung, welche ein Nervenatom  a  auf das nächste  b  usw. ausübt. Folglich müßte man sagen, das Atom  a  wirkt physisch auf  b,  infolge dieser erlittenen Einwirkung gerät  b  in einen Empfindungszustand  E  und wieder infolge davon übt  b  einen physischen Anstoß auf  c  aus, welches wieder hierdurch zur Empfindung  E  und infolge davon zur Ausübung des physischen Anstoßes auf das Atom  d  veranlaßt wird. Das letzte Nervenatom  z  würde dann auf eine jetzt noch ganz unklare Weise auf die Seele wirken und nun auch diese zur Erzeugung ihrer Empfindung  E  anregen. Nun sieht man ein, daß dieser letzte Anstoß, durch welchen unsere Empfindung (die einzige, von der wir wirklich etwas wissen) in uns entsteht, seinen Erfolg ganz ebenso gut gehabt haben wir, wenn die Nervenatome bloß einen physischen Einfluß aufeinander ausübten und sich ihre eigenen Empfindungen (die ja bloß leere Vermutungen und keine nachgewiesenen Tatsachen sind) ganz erspart haben. Da also diese eigenen Empfindungen der Nerven gar nichts zur Erklärung der unsrigen beitragen, außerdem nicht nachweisbar sind, während die Fortpflanzug eines physischen Anstoßes gar nicht geleugnet werden kann, so betrachten wir in Zukunft auch den Nervenprozeß als einen bloß physischen Bewegungsvorgang, der von einem Nerventeilchen auf das andere übertragen wird und noch nicht vom physischen Charakter hat, welcher der auf ihn folgenden Empfindung zukommt.


§ 3.

Das dritte Glied dieser Kette von Vorgängen ist nun der uns allen wohlbekannte Zustand des Bewußtseins, die  Empfindung  selbst, das Sehen eines bestimmtfarbigen Lichtes oder das Hören eines Klanges. Von den beiden Elementen, welche wir in Gedanken an diesem Vorgang unterscheiden können, nämlich dem qualitativen Inhalt, den wir empfinden und der empfindenden Tätigkeit, durch die wir uns seiner bewußt sind, ist weder das eine noch das andere mit der Natur des äußeren Reizes oder des Nervenvorganges vergleichbar. So genau wir auch die Natur der Ätherwellen zergliedern mögen, niemals entdecken wir in ihr einen Grund, warum sie als Glanz gesehen und nicht lieber als Klang gehört werden müßten; ebensowenig, warum die eine als rot die andere als blau empfunden werden müßte und nicht umgekehrt. Ferner, die wir auch immer physische Bewegungen der Nervenatome miteinander kombinieren mögen, niemals kommt ein Punkt, wo es selbstverständlich würde, daß die zuletzt erzeugte Bewegung bleiben dürfte, sondern in diesen ganz anders gearteten Vorgang der Empfindung übergehen müßte. Alle Anstrengungen sind daher völlig vergeblich nachzuweisen, wie es zugeht, daß die bloß physische Bewegung nach und nach in Empfindung übergeht. Wir müssen uns vielmehr begnügen zu behaupten, daß eine uns bis jetzt völlig unbekannte Naturnotwendigkeit diese beiden unvergleichbaren und aufeinander nicht zurückführbaren Reihen von Vorgängen, die Bewegungen und die Empfindungen, tatsächlich dergestalt miteinander verbunden hat, daß ein bestimmtes Glied der einen Reihe allemal ein bestimmtes Glied der anderen zu seiner Folge hat.


§ 4.

Nun aber wird man voraussetzen, daß diese beiden Reihen von Vorgängen nicht ganz prinziplos zusammengekettet sein werden, daß vielmehr ähnlichen Reizen auch ähnliche, verschiedenen verschiedene Empfindungen entsprechen und daß dann, wenn es in der Reihe der Reize einen bestimmten Fortschritt, Gegensätze, Periodizitäten oder ausgezeichnete Punkte gibt, dies alles in irgendeiner Weise auch in der Reihe der Empfindungen einen Ausdruck finden werde. Erfahrungsmäßig können wir jedoch diese Vermutung nur wenig bestätigen. Zuerst bestehen die verschiedenen Empfindungsklassen (Farben, Töne, Gerüche) unvermittelt und bloß tatsächlich nebeneinander und bilden kein geschlossenes System. Daraus z. B., daß wir Aetherwellen als Licht empfinden, folgt nicht im geringsten, daß wir nun konsequent Luftwellen als Schall empfinden müßten. Dasselben gilt von den einzelnen Gliedern der einzelnen Klassen. Wer bloß sauer oder gelb empfunden hätte, würde dadurch nicht auf den Gedanken gebracht, es müsse auch bitter und blau geben. Daß ferner einem bestimmten Fortschritt in der Reihe der Reize auch ein solcher in den Empfindungen entspreche, bemerken wir bloß bei den Tönen, deren Höhe mit der Schwingungszahl der Schallwellen zunimmt. Dabei verdient bemerkt zu werden, daß die Art, in welcher die Empfindung diese Unterschiede der Reize wiedergibt, ihr selbst ganz eigentümlich ist. Der Höhenunterschied zwischen zwei Tönen hat gar keine Ähnlichkeit mit der Differenz zweier Zahlen, sondern drückt eine ganz eigentümliche Zunahme qualitativer Intensität aus, die sich vorher gar nicht erraten ließ und von der wir sonst kein Beispiel haben. Ebenso findet der ausgezeichnete Fall einer Verdoppelung der Wellenzahl einen eigentümlichen Ausdruck in der Oktave, welche gar nicht als eine Verdopplung von irgendetwas, sondern als eine merkwürdige, sonst beispiellose Verbindung von Identität und Verschiedenheit beider Töne empfunden wird. Dagegen ordnen sich die Farben, obgleich sie in ihrer prismatischen Ordnung einer ebenso zunehmenden Wellenzahl entspringen, für den unmittelbaren Eindruck keineswegs in einer Reihe von zunehmender Höhe. Das wird davon abhängen, daß wir mit Recht eine Proportionalität nur zwischen den Empfindungen und den Nervenprozessen als ihren nächsten Bedingungen erwarten können. Diese letzteren kennen wir aber nicht und vergleichen deshalb ohne allseitigen Erfolg die Empfindungen mit den äußeren Reizen, von denen sie unmittelbar nicht abhängen. - Endlich, da unsere Empfindungen kein geschlossenes System bilden, so ist der Gedanke möglich, das Reich des Empfindbaren werde durch unsere Sinne nicht erschöpft, sondern es gäbe andere tierische Seelen mit noch ganz anderen, aber uns natürlich ganz unbekannten Empfindungsweisen.


§ 5.

Die Dauer der Empfindung kann man im großen und ganzen der Dauer des Nervenprozesses gleichsetzen, der sie erregte; denn wir finden, daß sie unter gewöhnlichen Umständen nicht einmal länger ist, als die Dauer des äußeren Reizes, sobald dieser letztere nicht dauernde Nachwirkungen außer oder in uns zurückließ, die selbst wieder Reize für neue Empfindungen sind. Genau genommen kann jedoch eine einmal entstandene Erregung des Nerven nicht von selbst aufhören, sondern muß durch wirksame Gegenkräfte aufgehoben werden. Das geschieht gewöhnlich und im gesunden Leben durch die unaufhörliche Tätigkeit des ganzen Stoffwechsels, durch welche beständig der normale und indifferente Zustand des Nerven wiederhergestellt wird, der ihn zur unparteiischen Auffassung neuer Eindrücke befähigt. Allein nicht bloß bei sehr starken Reizen, sondern namentlich im Gesichtssinn kann diese Herstellung nicht schnell genug erfolgen und es entsprechen dann der noch fortdauernden, ja zuweilen periodisch wieder wachsenden Erregung die bekannten  Nachbilder,  das heißt: wirkliche Empfindungen, welche, wenn sie lebhaft genug sind, den Sinn für die Auffassung neuer Eindrücke unfähig machen, wie z. B. die Blendungsbilder vom Anblick der Sonne.


§ 6.

Ganz alltägliche Erfahrungen, z. B. die Beobachtung eines angehenden Lichtes oder eines verklingenden Tones, beweisen, daß wir im allgemeinen für kleine Unterschiede in der  Stärke  der Sinnesreize sehr empfindlich sind, allein es bleibt bei einem bloßen Mehr oder Minder und niemals kommt der Augenblick, daß wir nach Maßgabe des unmittelbaren Eindrucks sagen könnten, ein Licht sei halb so hell oder ein Ton doppelt so stark, als ein anderer. Dieser Umstand hindert uns das genaue Gesetz, nach welchem die Empfindung von der Stärke des Reizes abhängt, auf dem kürzesten Weg zu finden; wir können zwar leicht eine Reihe von Reizen herstellen, deren verschiedene Intensitäten sich genau messen lassen, aber wir können nicht zu jedem dieser Werte aufgrund unserer Selbstbeobachtung die Stärke der dazu gehörigen Empfindung in einem Zahlenwert angeben, können daher auch nicht aus der Vergleichung dieser Wertpaare das allgemeine Gesetz finden, welches ihnen allen genügt. Daher sind wir zu folgenden Umwegen genötigt, an den glücklichen Umstand uns haltend, daß wir wenigstens über die  Gleichheit  zweier Empfindungen mit einem hohen Grad von Genauigkeit und Sicherheit unmittelbar zu urteilen vermögen.

Nach den grundlegenden Versuchen von ERNST HEINRICH WEBER (Artikel "Tastsinn und Gemeingefühl" in WAGNERs Handwörterbuch der Physiologie, Bd. III. Abt. 2), die dann von vielen bestätigt und ausgedehnt worden sind, bringen zwei gleichartige äußere Reize (nicht mehr eine und dieselbe, sondern) zwei deutlich unterscheidbare Empfindungen erst dann hervor, wenn die Intensitäten beider in einem bestimmten geometrischen Verhältnis stehen. Dieses Verhältnis bleibt dasselbe für die Empfindungen eines und desselben Sinnes, natürlich innerhalb der Grenzen zu kleiner Reize, die die Nerven nicht erregen und zu großer, die seine Funktion stören; dagegen ist es verschieden für verschiedene Sinne, annähernd etwa 3:4 für das Gehör und die bloßen Druckempfindungen der Haut; 15:16 für die letzteren, wenn sie durch das Muskelgefühl bei Hebungen unterstützt werden; 100:101 für die Lichtempfindungen.


§ 7.

Diese unmittelbar aus den Beobachtungen gefolgerte Abhängigkeit unserer  Unterscheidungs fähigkeit vom Größenverhältnis der Reize ist der Inhalt des sogenannten WEBERschen Gesetzes.  Dabei bleibt zunächst ganz unentschieden, auf welche Weise eigentlich dieses Größenverhältnis der Reize uns zum Unterscheiden der Eindrücke befähigt, nämlich ob dadurch, daß verschieden starke Reize auch eine bemerkbar verschiedene Stärke der übrigens ganz gleichartig bleibenden Empfindungen hervorbringen, oder dadurch, daß verschiedene Stärke desselben Reizes qualitativ verschiedene Empfindungen erzeugt, die dann eben nach ihren Qualitätsunterschieden von uns getrennt werden. An sich ist jede Empfindung ein einziger unteilbarer Akt. Daß wir nun in ihr den qualitativen Inhalt und die Stärke, mit der derselbe empfunden wird, in Gedanken als zwei Bestandteile trennen, ist unzweifelhaft erlaubt, so weit der unmittelbare Eindruck, der hierüber allein entscheiden kann, damit übereinstimmt. Das ist z. B. der Fall bei Tönen. Hier überzeugen wir uns wirklich, daß ein Ton von bestimmter Höhe und Klangfarbe stärker oder schwächer erklingen kann, ohne deshalb seine Natur zu ändern. Dagegen ist schon sehr fraglich, ob die Empfindung eines stärkeren Druckes wirklich dieselbe Empfindung ist als die eines kleineren, nur schwächer als diese; ob ferner der Geschmack einer konzentrierten Säure wirklich derselbe Geschmack ist, wie der der verdünnten. Noch viel mehr aber sträubt sich das unmittelbare Gefühl dagegen, Kälte als bloß schwächere Wärme zu betrachten. Beide sind vielmehr polar entgegengesetzt, wenn auch ihre Erzeugungsursachen gleichartige Vorgänge sind. Endlich verschiedene Lichtstärken haben wirklich zugleich verschiedene Färbungen; ein schwächer beleuchtetes Weiß ist nicht bloß das, sondern es ist auch grau geworden und dieses Grau, so wie zuletzt das Schwarz kann man unmöglich als eine bloß schwächere Empfindung des Weiß ansehen.

Diese Bedenken sind bisher nicht berücksichtigt und nicht widerlegt worden. Was jetzt weiter auszuführen ist, beruth auf der vielleicht richtigen aber unerwiesenen Annahme, daß Empfindungen deshalb unterscheidbar werden, weil ihre  Intensitäten  nach einem bestimmten Maß verschieden sind.


§ 8.

Man hat dann zuerst anzuerkennen, daß es für jeden Sinn eine gewisse kleine Größe des Reizes geben muß, unter die er nicht herabsinken darf, wenn überhaupt Empfindung entstehen soll. Natürlich wird man, um diesen nicht selbstverständlichen Umstand zu erklären, irgendeinen Widerstand voraussetzen, durch den die zu kleinen Reize von der Einwirkung auf die Seele abgehalten werden. Wo aber dieser Widerstand geleistet wird, weiß man nicht. Man nimmt ferner an, der Übergang von völliger Gleichheit oder unmerklichem Unterschied zu einem eben merklichen Unterschied zweier Eindrücke sei überall ein und derselbe konstante Zuwachs der Stärke der Empfindung (nämlich des zweiten Eindrucks, verglichen mit der des ersten) und es könne deshalb die Feinheit der Unterscheidung als Maß für die Stärke der Empfindungen benutzt werden. Dann kann man fragen: wie müssen die Reize wachsen, damit der Übergang von einem Wert derselben zum anderen immer denselben konstanten Zuwachs der Empfindungsstärke nach sich ziehe. Nach den erwähnten Versuchen beantwortet man diese Frage dahin: wenn die Empfindungsstärken um eine konstante Differenz, also in einer arithmetischen Reihe wachsen sollen, müssen die Reizstärken viel rascher, nämlich in einer geometrischen Reihe, zunehmen; oder auch: das Verhältnis der ersten zur zweiten ist vergleichbar dem Verhältnis eines Logarithmen zur Zahl, deren Logarithmus er ist; einfacher ausgedrückt: die Empfindung gehört zu denjenigen Leistungen oder Tätigkeiten, die immer schwerer noch weiter zu steigern sind, in je größerer Stärke sie bereits in Ausübung begriffen sind.

Zu beantworten bleiben nun folgende Fragen:
    1. warum dieses eigentümliche Verhältnis überhaupt stattfindet und warum nicht vielmehr die Empfindung, was viel natürlicher wäre, ganz einfach proportional zum Reiz wächst. Keine der hierüber aufgestellten Theorien ist befriedigend, aber am wahrscheinlichsten doch die Annahme, daß bei der Verwandlung der äußeren Reize in Nervenerregungen irgendetwas vorgeht, was die letzteren langsamer zunehmen läßt, als die äußeren Reize wachsen.

    2. aber wie kommt es, daß überhaupt nicht  alle  Eindrücke unterschieden werden, daß z. B. ein Gewicht  3  erst bis auf  4  wachsen muß, um eine Druckempfindung zu geben, es dagegen keine solche gibt, wenn es erst  3 ¼, 3 ½, 3 ¾  ist? Man kann sich leicht gewisse Einrichtungen denken, durch die auch diese Diskontinuität der Empfindung hervorgebracht werden könnte aber man weiß nicht im mindesten, wo oder wie im Körper oder in der Seele solche Einrichtungen stattfänden.
Diese beiden Rätsel sind daher völlig ungelöst.

(Vgl. GUSTAV THEODOR FECHNER, Elemente der Psychophysik, 2 Bde., Leipzig 1860 und G. E. MÜLLER, Zur Grundlegung der Psychophysik, Berlin 1878)


§ 9.

Man kann vielleicht behaupten, ein ruhender Zustand oder eine ganz gleichförmig unterhaltene Erregung sei überhaupt nicht die nächste Bedingung einer Empfindung, sondern immer bloß der Übergang aus einem Zustand in den andern. Daraus würde folgen, daß Empfindungen, die wir längere Zeit dauernd haben können, z. B. das Sehen eines Lichtes oder das Hören eines Tones, auf Reihen von einzelnen Impulsen mit dazwischen liegenen Pausen beruhen müßte, so daß auch hier eine häufige Wiederholung der Abwechslung zwischen Erregung und Nichterregung stattfinden würde. Für Licht- und Schallempfindungen läßt sich das bestätigen. Hier beruth sogar jeder einzelne Lichtblitz und jeder ganz kurze Ton auf einer bedeutenden Anzahl solcher diskreten Impulse, die dem Sinnesorgan zugeführt werden. Für die übrigen Sinne mangeln uns die Kenntnisse. Wenn man das nun dahin ausdrückt, daß alle Erregungsvorgänge, die zu Empfindungen führen sollen, diese Form der Oszillation zwischen zwei entgegengesetzten Zuständen haben müßten, so muß man wenigstens nicht hinzufügen, die Empfindung bestehe im Nachzählen dieser einzelnen Impulse. Man kann in diesen immer bloß die tatsächliche Bedingung sehen, an welche die Entstehung der Empfindung auf unbegreifliche Weise geknüpft ist, denn im Empfindungsinhalt selbst, im Rot oder Warm nehmen wir nichts von Bewegungen überhaupt, noch weniger von der Anzahl ihrer Abwechslungen wahr, durch welche sie zu Ursachen der Empfindung wurden.


§ 10.

Wenn dieselbe Erregung  a,  die gewöhnlich in einem Nerven durch einen  äußeren  Reiz bewirkt wird und auf welche die Empfindung  α  folgt, ausnahmsweise durch einen im  Innern  des Körpers entstandenen Reiz hervorgebracht wird, so folgt auch dann dieselbe Empfindung  α;  man nennt sie dann  subjektive Empfindung.  Gewöhnliche Beispiele sind das Klingen im Ohr, Lichtblitze vor den Augen, Fieberfrost und Fieberhitze. Im Zusammenhang hiermit hat man den Lehrsatz von der  spezifischen Energie  der Nerven aufgestellt, wonach jeder einzelne Sinnesnerv, wodurch er auch immer gereizt werden mag, immer dieselbe Empfindung erzeuge. Wenne es so wäre, so wäre es nicht sehr wunderbar; denn jedes zusammengehörige System von Teilen, welches  gestört, aber nicht  zerstört wird, gerät in Bestrebungen zur Wiederherstellung seines Gleichgewichts, deren Form nur von seiner eigenen Struktur und dem Zusammenhang der in ihm wirksamen Kräfte abhängt und sich nicht nach der Verschiedenehit der störenden Reize ändert; nur müßte dann, damit diese Bestrebungen in einem Nerven sich von denen in jedem anderen unterscheiden, jeder Nerv seine besondere Struktur haben, wovon wir bis jetzt nichts wissen. Aber die Tatsachen existieren nicht, die man so erklären will. Wir wissen bloß, daß Lichtreiz, Stoß und Druck, der Durchgang elektrischer Ströme durch das Auge Lichtempfindung erweckt; und vielleicht, daß auch Stoß und Elektrizität Schallempfindung, die letztere auch Geschmacksempfindung erzeugt. Nun kann schwerlich in einem gespannten Augapfel eine Bewegung der ponderablen Teile durch Stoß geschehen, ohne daß ein Teil derselben sich auch in Bewegungen des im Auge befindlichen Äthers umsetzt und so eine Lichtbewegung erzeugt, die nun als adäquater Reiz auf die Sehnerven ebenso wirkt, als wenn sie von außen käme. Ebenso können sich die mitgeteilten Stöße in Schwingungen gespannter Teile und Membranen verwandeln, die dann normale Reize für die Gehörnerven sind, gerade so gut, wie von außen kommende Schallwellen. Endlich erregt der elektrische Strom ganz gewiß chemische Zersetzungen der Mundflüssigkeit und gerade in diesen besteht der adäquate Reiz für die Geschmacksnerven. Folglich bleibt es möglich zu behaupten: damit der Nerv in den Zustand  a  gerate, welchem dann die Empfindung  α  folgt, ist immer ein bestimmter adäquater Reiz nötig; aber sehr viele unadäquate Reize teilen sich bei ihrer Einwirkung in verschiedene Komponenten; eine von diesen ist dann der adäquate Reiz, der die Empfindung  α  bedingt, die anderen werden durch andere Empfindungen, z. B. den gleichzeitigen Schmerz beim Stoß wahrgenommen.


§ 11.

Die Einwirkung der äußeren Reize geschieht nicht so einfach, wie man sich früher dachte, sodaß z. B. die Lichtwellen unmittelbar als solche auf die Sehnerven wirken und je nach ihrer Beschaffenheit alle möglichen Farben- und Lichtempfindungen erweckten. Man findet vielmehr im Auge eigentümlich gebaute, noch vielfach rätselhafte Schichten (Stäbchen- und Zapfenschichten), welche bestimmt scheinen, die an sie kommende Lichtbewegung in eine chemische Veränderung einer besonderen Substanz (Sehpurpur) umzuwandeln, welche nun erst als Reiz auf die Sehnerven wirkt. Ebenso finden wir in der Haut und der Zunge eigentümlich gebaute Tastkörperchen und Geschmackskörper, die auf noch unbekannte Weise erst dem Reiz Gestalt geben, in der er auf die in ihnen enthaltenen Nerven wirkens soll. Im Gehörorgan kennen wir etwas ähnliches nicht, dafür aber scheint die andere Einrichtung getroffen, daß jede einzelne Nervenfaser nur für einen einzigen Ton empfänglich ist; die ganze Ausbreitung der Fasern also (auf dem CORTIschen Organ) wäre einer Klaviatur vergleichbar und jede Faser nur für eine bestimmte Frequenz der Wellenbewegung zugänglich.

Eine ähnliche Hypothese ist in Bezug auf das Auge aufgestellt worden. Es soll drei verschiedene Gattungen von Fasern geben, deren jede für sich allein gereizt, eine der drei Grundfarben Grün Rot und Violett empfinden lasse. Aus gleichzeitiger Erregung von Fasern verschiedener Gattung enständen dann die anderen Farben. Diese Hypothese ist nicht müßig erfunden, sondern mit Rücksicht auf die Tatsachen der  Farbenblindheit,  die man erklären wollte. Man muß aber nicht verlangen, auch noch einen Grund einzusehen, warum eine bestimmte Mischung gleichzeitiger Erregungen aus Rot, Grün und Violett die anderen Farben, wie Blau und Gelb entstehen lasse, welche nach dem bloßen unmittelbaren Empfindungseindruck nicht im geringsten daraus ableitbar scheinen.


§ 12.

In einem anderen Sinn sind  alle  unsere Empfindungen nur subjektiv, d. h. nur Erscheinungen in unserem Bewußtsein, denen in der Außenwelt nichts entspricht. Schon das Altertum behauptete das, die neuere Physik malt es weiter aus: die Welt außer uns sei weder still noch laut, weder hell noch dunkel, sondern sei mit alledem so unvergleichbar, wie etwa Süßigkeit mit einer Linie. Nichts geschehe außer uns, als Bewegungen von verschiedenen Formen. Die Physiologie endlich drückt sich oft unpassend so aus: die Empfindungen seien bloß Wahrnehumgen unserer eigenen Zustände. Allein was in den  Nerven  geschieht, während wir sehen, nehmen wir gar nicht wahr und ein Zustand, der in unserer  Seele  der Empfindung so voran ginge, daß diese als seine Wahrnehmung bezeichnet werden könnte, ist uns auch nicht bekannt. Man kann daher nur sagen: Empfindungen sind Erscheinungen in uns, welche zwar die Folge von äußeren Reizen, aber nicht die Abbilder derselben sind.

Schließlich die  Beweise,  durch welche man diesen Satz festzustellen sucht, lassen alle noch Ausflüchte zu. Man könnte immer noch annehmen, die Dinge seien wirklich rot oder süß, wir aber könnten das freilich nur wissen, wenn sie auf uns Bewegungen einwirken lassen, die dann allerdings weder rot noch süß sind, zuletzt aber doch in unserer Seele dieselbe Röte und Süße als Empfindung entstehen lassen, die als Eigenschaften an den Dingen haften. Der einzige Beweis liegt zuletzt darin, daß solche objektiven Eigenschaften an sich undenkbar sind; worin das Glänzen eines Lichtes, das durchaus niemand sähe oder das Klingen eines Tones bestände, den niemand hört, ist ebenso unmöglich zu sagen, als was ein Zahnschmerz wäre, den niemand hätte.

Es liegt also in der Natur von Farben, Tönen, Gerüchen usw., daß sie überhaupt bloß  einen  Ort und  eine  Art haben, wo und wie sie existieren können, nämlich das Bewußtsein einer Seele und zwar in dem Augenblick, wo sie von dieser empfunden werden.


Zweites Kapitel
Über den Verlauf der Vorstellungen

§ 1.

Vorstellungen, im Gegensatz zu Empfindungen, nennen wir zunächst die Erinnerungsbilder, die wir von früheren Empfindungen im Bewußtsein antreffen. Das ist in Übereinstimmung mit dem Sprachgebrauch: wir stellen uns das Abwesende vor, das wir nicht empfinden, empfinden aber das Anwesende, das wir eben deswegen nicht vorzustellen brauchen. Die Vorstellungen unterscheiden sich eigentümlich von den Empfindungen. Die Vorstellung des hellsten Glanzes leuchtet nicht, die des stärksten Schalles klingt nicht, die der größten Qual tut nicht weh; bei alledem aber stellt die Vorstellung ganz genau den Glanz, den Klang oder den Schmerz vor, den sie nicht wirklich reproduziert.


§ 2.

Auch in dieser Gestalt sind die Erinnerungsbilder früherer Eindrücke nicht  immer  im Bewußtsein vorhanden, sondern treten nur zeitweilig in demselben wieder auf, dann aber so, daß kein äußerer Reiz nötig war, um sie von neuem zu erzeugen. Hieraus schließen wir, daß sie in der Zwischenzeit für uns nicht ganz verloren gewesen sind, sondern sich in irgendwelche unbewußte Zustände verwandelt haben, die wir natürlich gar nicht beschreiben können und für die wir den ansich widersprechenden, aber bequemen Namen "unbewußte Vorstellungen" brauchen, um anzudeuten, daß sie aus Vorstellungen entstanden sind und unter Bedingungen wieder zu solchen werden können. Eine Lehre vom Verlauf der Vorstellungen würde diese beiden Ereignisse zu erklären haben.


§ 3.

Das Verschwinden der Vorstellungen aus dem Bewußtsein kann niemand beobachten; wir können darüber bloß sprechen aufgrund von Rückschlüssen aus dem, was wir später im Bewußtsein finden oder aufgrund ganz allgemeiner Prinzipien. Zwei Ansichten standen sich hier gegenüber. Man hielt früher das Verschwinden der Vorstellungen für natürlich und glaubte das Gegenteil, das  Gedächtnis erklären zu müssen. Man folgt jetzt der Analogie des physischen Gesetzes der Beharrung und glaubt das  Vergessen  erklären zu müssen, weil an sich die ewige Fortdauer eines einmal erregten Zustandes sich von selbst verstehe. Diese Analogie ist nicht ohne Bedenken. Sie gilt von der Bewegung der Körper. Allein Bewegung istnur eine Änderung äußerer Relationen, von welcher der bewegte Körper nichts leidet; denn er befindet sich an einem Ort genauso, wie am anderen und hat daher weder einen Grund noch einen Maßstab für einen der Bewegung zu leistenden Widerstand. Die Seele dagegen befindet sich selbst in verschiedenen inneren Zuständen, je nachdem sie  a  vorstellt oder  b  oder auch gar nichts. Denkbar wäre daher, daß sie gegen jeden ihr aufgedrängten Eindruck zurückwirkte, wodurch sie zwar niemals diesen ganz annullieren, aber doch vielleicht aus bewußter Empfindung in einen unbewußten Zustand verwandeln könnte. Auch der andere ansich gewiß anzuerkennende Grundsatz, die  Einheit  der Seele sei es, welche die vielen Vorstellungen zur Wechselwirkung nötige, so daß die einen die anderen verdrängen, führt uns nicht zum Ziel. Denn, wenn man fragt, auf welche Weise denn diese Einheit der Seele sich an der Vielheit der Vorstellungen zur Geltung bringen werde, so wäre die wahrscheinlichste Vermutung die, daß sie alle qualitativ verschiedenen Empfindungen oder Vorstellungen in einen einzigen homogenen Mittelzustand verschmölze. Das geschieht aber nicht, sondern die Vorstellungen Blau und Gelb oder Groß und Klein z. B., die einmal im Bewußtsein als verschiedene entstanden sind, vermischen sich dann niemals; auch ist klar, daß alle höhere geistige Bildung, die hauptsächlich in Beziehungen zwischen verschiedenen Beziehungspunkten besteht, unmöglich sein würde, wenn durch dieses Zusammenfallen in einem einzigen Mischzustand die Verschiedenheit der zu beziehenden Punkte verschwunden wäre. Es bleibt daher nur übrig die folgenden Gedanken als bloße Hypothesen zu betrachten, die nicht aus Prinzipien ableitbar sind.


§ 4.

Nach Analogie der physischen Mechanik betrachtet man die Vorstellungen als Kräfte, welche aufeinander nach Maßgabe ihres Gegensatzes und ihrer Stärke wirken. Beide Teile dieser Hypothese sind erfahrungsmäßig schwerlich zu bestätigen. Was zuerst die Stärke betrifft, so ist dieser Begriff auf  Empfindungen  allerdings anwendbar und zwar so, daß allemal der größere empfundene Inhalt eine größere Leistung der empfindenden Tätigkeit oder eine größere Erschütterung und Affektion des empfindenden Subjekts ist. Aber die bloße  Vorstellung  eines hellen Glanzes ist keine größere Leistung der vorstellenden Tätigkeit als die eines matten Schimmers und die des Donners erfordert keine größere Anstrengung derselben als die eines kleinen Geräusches. Die vorstellende Tätigkeit also scheint überhaupt keine Unterschiede der Stärke zuzulassen, sondern diese fallen ganz allein in den vorgestellten Inhalt. Auch die mehr oder minder  dunklen  Vorstellungen, die wir von einem und demselben Inhalt zu haben glauben, bezeugen keine verschiedene Intensität des Vorstellens.  Einfache  Vorstellungen, die wir dunkel zu haben glauben, z. B. die des Geschmackes einer seltenen Frucht, haben wir gar nicht, sondern wissen bloß aus anderer Quelle, daß die Frucht einen Geschmack hat. Je größer nun der Spielraum ist, in welchem wir zwischen verschiedenen Geschmäcken wählen können, ohne jedoch eine Entscheidung zu wissen, umso dunkler erscheint uns die Vorstellung des wirklichen Geschmacks, die wir bloß suchen, aber nicht haben.  Zusammengesetzte  Vorstellungen, Bilder äußerer Gegenstände oder wissenschaftliche Lehrsätze, werden nicht dadurch dunkel, daß ihr ganzer Inhalt nach und nach bloß schwächer beleuchtet würde, sondern sie werden lückenhaft. Einzelne Bestandteile fehlen ganz, besonders aber sind die bestimmten Verbindungen vergessen, in welchen die noch übrig gebliebenen Bestandteile oder Beziehungspunkte stehen. Je größer wieder die Menge möglicher Verknüpfungen ist, zwischen denen man ungewiß schwankt, desto größer ist die sogenannte Dunkelheit dieser Vorstellungen. Umgekehrt, sobald eine Vorstellung vollständig mit allem Inhalt und allen Verbindungen seiner Teile gedacht ist, ist es nicht möglich, sie dann noch mehr oder weniger stark vorzustellen. Nur scheinbar nimmt sie, z. B. die des Dreiecks, dann noch an Klarheit zu, wenn eine Menge anderer Gedanken sich beim Kundigen an sie knüpfen, die dem Anfänger noch unbekannt sind.


§ 5.

Der zweite hier verwendete Begriff, der des Gegensatzes, erweckt  auch  die Frage, ob er auf den  Inhalt  der Vorstellungen bezogen werden soll oder auf die  Tätigkeiten,  durch welche sie vorgestellt werden. Beides fällt nicht zusammen. Vorstellungen sind überhaupt selbst niemals das, was sie bedeuten; die des roten ist keine rote, die des Dreieckigen keine dreieckige, die des Jähzornigen keine jähzornige Vorstellung. Sind daher zwei vorgestellte Inhalte einander entgegengesetzt, so wie rechts und links, plus und minus, schwarz und weiß, so folgt daraus nicht im mindesten, daß auch die vorstellenden Tätigkeiten, durch die sie vorgestellt werden, einander ebenso entgegengesetzt sind und deswegen selbstverständlich nach Analogie entgegengesetzter physischer Bewegungen oder Kräfte einander hemmen müßten.


§ 6.

Als Grundlage einer psychischen Mechanik könnten nun aber die Begriffe von Stärke und Gegensatz nur dann selbstverständlich dienen, wenn sie sich auf die vorstellenden Tätigkeiten bezögen. Das ist nicht der Fall. Man würde es daher als eine bloße Tatsache anerkennen müssen, wenn die Stärke und der Gegensatz des vorgestellten Inhalts die entscheidenden Bedingungen für die Wechselwirkung der Vorstellungen wären. Die Erfahrung bestätigt das nicht, die Vorstellung größeren Inhalts verdrängt keineswegs immer die von kleinerem. Im Gegenteil ist die letztere selbst imstande zuweilen die Empfindung äußerer Reize zu unterdrücken. Nun kommen aber Vorstellungen niemals in einer Seele vor, die außerdem nichts anderes täte, sondern an jeden Eindruck knüpft sich außer dem, was in dessen Folge vorgestellt wird, auch noch ein Gefühl des Wertes, den derselbe für das körperliche und geistige Wohlbefinden des Perzipierenden hat. Diese Gefühle von Lust und Unlust sind einer Gradabstufung offenbar ebenso fähig, wie das bloße Vorstellen unfähig dazu ist. Nach der Größe dieses Gefühlsanteils nun, welche übrigens außerordentlich wechselnd ist je nach der Verschiedenheit des Gesamtzustandes, in dem die Seele sich eben befindet oder kurz gesagt nach dem Grad des Interesses, welches eine Vorstellung aus vielerlei Gründen in jedem Augenblick zu erwecken vermag, richtet sich ihre größere oder geringere Macht zur Verdrängung anderer Vorstellungen und nur hierin, aber nicht in einer ursprünglichen Eigenschaft, welche sie als bloße Vorstellung hätte, besteht das, was wir ihre Stärke nennen können.


§ 7.

Die zweite Frage war diese: wie kehren die Vorstellungen ins Bewußtsein zurück?

Bekannt ist uns darüber bloß das, daß eine Vorstellung  b  sehr oft dann wiederkehrt, wenn eine andere  a  im Bewußtsein erzeugt worden ist. Da nun aber nicht jedes  b  in Folge jedes beliebigen  a  wiederkehrt, so muß es zwischen denjenigen, die einander so hervorrufen, eine engere Verbindung geben, als zwischen denen, die es nicht tun. Diese Verbindung nennt man  Assoziation,  ein bloßer Name, der nicht im geringsten aussagt, wodurch diese Verbindung hergestellt wird. Ebenso ist  Reproduktion  ein bloßer Name für die Tatsache, daß ein bestimmtes  a  ein mit ihm assoziiertes  b  wieder ins Bewußtsein zurückführt. Aber die Bedingungen kann man doch studieren, unter denen beides, Assoziation und Reproduktion, tatsächlich stattfindet. Die beiden gewöhnlich zuerst angeführten Klassen, wonach einesteils ähnliche, anderenteils entgegengesetzte Vorstellungen einander hervorrufen, findet man schwerlich durch Erfahrung bestätigt. Denn man kann wohl nicht sagen, daß ein Ton oder eine Farbe alle anderen Töne und Farben lebhafter in die Erinnerung zurückrufe, als irgendwelche andere Vorstellungen. Wenn andererseits Entgegengesetztes aneinander denken läßt, wie Dunkelheit an Licht, Nacht an Tag, plus an minus, so liegt der Grund nicht in diesem Gegensatz allein, sondern am besonderen Wert, den derselbe für unser Leben oder einzelne Beschäftigungen hat, so daß wir deswegen durch das eine an das andere erinnert werden. Ganz gewiß finden dagegen der dritte und der vierte Fall statt, wonach einerseits jeder Teil eines räumlichen Ganzen die übrigen Teile und das Ganze reproduziert, andererseits die Teile eines sukzessiven Ganzen, z. B. einer Melodie, einander nach ihrer ursprünglichen Ordnung hervorrufen. Beispiele sind unnötig. Auch scheint es nicht nötig, den dritten Fall, wie man häufig tut, auf den vierten zurückzuführen, weil, wie man sagt, auch die Wahrnehmung eines simultanen Ganzen doch auf sukzessivem Weg geschehe, indem der Blick die Gestalten umlaufe und sich nach und nach der Verbindung jedes Punktes mit dem nächsten bewußt werde. Genaue Bilder erhalten wir allerdings bloßauf diese Weise, doch ist nicht zu leugnen, daß auch eine momentane Auffassung Bilder zurücklassen kann, deren einzelne Teile einander reproduzieren.

Man kann daher alles Tatsächliche so zusammenfassen: Zwei Vorstellungen, gleichviel, welches ihr Inhalt sein mag, assoziieren sich, wenn sie entweder gleichzeitig oder unmittelbar, d. h. ohne ein Zwischenglied, aufeinander folgend erzeugt werden. Und hierauf würde auch ohne weitere Künste die besondere Leichtigkeit zu gründen sein, mit der wir eine Anzahl Vorstellungen ihrer Reihe nach, aber nicht außer der Reihe wiederholen. - Wenn man endlich als besonderen Fall die  unmittelbare  Reproduktion bezeichnet, bei welcher  a  durch die Einwirkung eines neuen Reizes, der dasselbe  a  hervorbringt, wieder erweckt wird, so ist zu bedenken, daß das zweite  a  vom ersten nicht als eine Wiederholung desselben unterschieden werden könnte, wenn beide ganz gleich wären. Allein das erste, welches durch das zweite wiedererweckt wird, reproduziert nun seinerseits die Vorstellung der Nebenumstände, unter denen es früher wahrgenommen wurde und diese sind verschieden von den Umständen des jetzigen Augenblicks. Daher hängt das Wiedererkennen desselben  a  doch wieder von der  mittelbaren  Reproduktion, nämlich anderer Vorstellungen durch  a  ab.


§ 8.

Die meisten Vorstellungen haben sich im Laufe des Lebens jede mit sehr vielen anderen auf dieselbe Weise assoziiert. Wenn daher eine bestimmte  f  wieder in das Bewußtsein getreten ist, so bleibt noch ganz unentschieden, welche von den vielen anderen  g, h, i, k  sie gerade jetzt reproduzieren wird, mit denen sie früher verbunden war. Die Entscheidungsgründe hierfür werden im allgemeinen teils im Verlauf liegen, den die Vorstellungen  vor f  genommen haben und in dessen Zusammenhang  g, h, i, k  nicht alle gleich gut hineinpassen, teils in unserem Gemeingefühl oder der Stimmung, die wir in jedem Augenblick von der Lebendigkeit oder der Hemmung unserer ganzen Existenz haben, teils endlich von besonderen hier noch ganz auszuschließenden Bedingungen unseres körperlichen Lebens, von denen wir später sprechen werden.

Diese Gesichtspunkte lassen sich nur im allgemeinen anführen. Es ist unmöglich eine Theorie daraus zu bilden, die ins einzelne ginge und ebenso unmöglich in einem einzelnen Fall wirklich die Gründe nachzweisen, die zum oft so launenhaft erscheinenden Verlauf unserer Gedanken tatsächlich geführt haben.
LITERATUR - Hermann Lotze, Grundzüge der Psychologie [Diktate aus den Vorlesungen], Leipzig 1881