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OTTO LIEBMANN
Die Klimax der Theorien
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"Unter einer Theorie der ersten Ordnung verstehe ich eine solche, die ihre Erklärungsprinzipien unmittelbar aus dem Bereich des empirisch Gegebe- nem entnimmt, deren Gedankenmaterial also die Grenzen der wahrnehmbaren Tatsächlichkeit gar nicht überschreitet. Unter einer Theorie zweiter Ordnung verstehe ich eine solche, die das Feld der wahrnehmbaren Tatsachen insofern schon überschreitet, als sie zum Zweck der kausalen Erklärung eines empirischen Erscheinungsgebietes solche Faktoren herbeiziehen muß, die ihrer eigenen Natur und der Beschaffenheit unseres Wahrnehmungsver- mögens gemäß nicht mehr beobachtbar sind, also nur in Gedanken konstruiert werden. Eine Theorie dritter Ordnung schließlich ist jedes metaphysische System, das jede wirkliche und mögliche Erfahrung schon insofern überschreitet, als es mit dem Anspruch auftritt, absolute Prinzipien zur Erklärung der gegeben Welt mitzuteilen, während die empirischen und hypothetischen Erklärungsprinzipien der Theorien erster und zweiter Ordnung eingestandenermaßen nur relative sind."


Vorwort

Obwohl nur eine eng eingeschränkte Monographie aus einem sehr umfangreichen Forschungsgebiet, eignet sich diese Schrift doch zur separaten Veröffentlichung. Sie behandelt in abgerundeter Gestalt ein wichtiges und relativ selbständiges Thema, welches bis in die letzten Wurzelfasern unseres Wissens hinabgreift. Sie ist gleichzeitig dazu angetan, gewissen tief eingenisteten Irrtümern durch eine energische Selbstprüfung ein Ende zu bereiten. Richtigkeit des Denkens besteht gutenteils in der Schärfe des Unterscheidens; eine Kohorte von hartnäckigen Irrmeinungen verdankt ihr zähllebniges Dasein der Konfusion, das heißt dem Zusammenwerfen solcher Dinge, die man scharf unterscheiden müßte. Die Entfernung des Irrtums aber ist eine Vorbedingung des intellektuellen Fortschritts. Als einst ANTISTHENES gefragt wurde, welche Wissenschaft unter allen die notwendigste sei, antwortete er: "Die Wissenschaft, das Falsche zu verlernen, - to kaka apomathein [= das Falsche verlernen - wp].

Es bedarf wohl nicht der besonderen Versicherung, daß auf den Gegenstand durchgängig die logische Sorgfalt verwendet worden ist, welche seiner Bedeutsamkeit entspricht. Sollten die Ausführungen der ersten Hälfte jedoch trotzdem einige Bedenken zurücklassen, so wird wohl das Schlußkapitel eine hinreichende, für Manchen sicherlich überraschende Auflösung dieser Skrupel darzubieten imstande sein.



Erstes Kapitel
Einleitung und Thesen

Zwischen dem Theoretiker und dem Historiker, deren ganz heterogene Betrachtungsweisen jede für sich gerechtfertigt und zu wechselseitiger Ergänzung bestimmt sind, herrscht vielfach ein aus einer Einseitigkeit der Interessen entspringender Antagonismus. Selbstgenügsamkeit, Überschätzung der eigenen, Unkenntnis und Unterschätzung der fremden Betrachtungsweise macht sich oft genug auf beiden Seiten geltend; - zum Schaden für die Gesamtwissenschaft. Der Historiker, der die Dinge im Fluß des Werdens betrachtet und gleich anderem Menschenwerk auch wissenschaftliche Lehrgebäude dem Wechsel von Entstehung und Untergang unterworfen sieht, wird immer versucht sein, angesichts einer sich fertig dünkenden Theorie den Ungläubigen und Skeptiker zu spielen. Er hält seinen genetischen Gesichtspunkt für den höheren; nicht etwa nur deshalb, weil sein Hauptobjekt, nämlich die sittliche und geistige Entwicklung des Menschengeschlechts, ohne Zweifel das sachlich Interessanteste ist, sondern auch deshalb, weil dieses Objekt den Wechsel menschlicher Theorien als einen Spezialfall unter sich begreift. Er glaubt nur an die relative, nicht an eine absolute Wahrheit menschlicher Lehrmeinungen. Systeme und Theorien, so denkt er, entwickeln sich, wachsen an, herrschen und stürzen wie Weltreiche, Throne und Dynastien; es gibt nichts Bleibendes in der Sphäre theoretischer Überzeugungen. Er irrt sich; er übersieht hierbei Mehreres. Er vergißt oder weiß nicht, daß wir dann doch im Besitz mancher Theorien sind, wie beispielsweise der Geometrie des EUKLID, der Syllogistik des ARISTOTELES, der Bewegungstheorie des GALILEI, der Gravitatitionslehre NEWTONs, welche, aus dem historischen Fluß und Wechsel gänzlich heraustreten, als fest kristallisierte, für immer bleibende Errungenschaften des Verstandes dastehen. (1) Er übersieht, daß der logische Erkenntniswert einer Theorie etwas von ihrer geschichtlichen Entstehungsweise vollkommen und durchaus Unabhängiges repräsentiert. Angenommen z. B. wir könnten den genauen Nachweis erbringen, daß unsere europäische Geometrie, wie schon PLATON und ARISTOTELES andeuten, von den Priestern, den Architekten, Feldmessern und Astronomen Ägyptens ganz sporadisch und stückweise aufgefunden sei, so würde diese historisch recht wertvolle Erkenntnis für unsere Einsicht in die strenge Geltung und den zeitlos-ewigen Zusammenhang der geometrischen Wahrheiten schlechterdings irrelevant und unbedingt wertlos sein. Schließlich übersieht er, daß seine eigenen Verstandesoperationen, Methoden und Ergebnisse unter der normativen Oberherrschaft theoretischer Voraussetzungen stehen; in letzter Instanz unter der Oberherrschaft derjenigen Theorie, welche  Logik  heißt.

Der Theoretiker andererseits, der irgendeinen Ausschnitt der realen oder idealen Welt auf feste Gesetze gebracht hat und den innerhalb dieser Region gültigen Kausalnexus durchschaut zu haben überzeugt ist, pflegt im Bewußtsein dieses, wie er glaubt, unantastbaren Besitztums mit einiger Geringschätzung auf Denjenigen herabzusehen, der nur auf der Oberfläche des Werdens verweilt, ohne daß er die Notwendigkeit dieses Werdens aufweisen könnte; der höchstens diplomatisch eine genaue Kenntnis liefert, aber keine mathematisch strenge Erklärung; der außerdem nur in den allerwenigsten Fällen den Wahrscheinlichkeitsgrad seiner Forschungsresultate zu schätzen, und das Gewisse vom Ungewissen haarscharf zu unterscheiden imstande ist. Er stellt, wenn auch nur im Stillen, an den Historiker das übertriebene Postulat, daß der selben, anstatt zeitlich aufeinanderfolgende individuelle Ereignisse zu referieren, lieber die allgemeinen Gesetze entdecken sollte, aus deren Geltung der Strom und Wechsel der geschichtlichen Begebenheiten resultiert; und wenn die Geschichtsforschung dies nicht leisten kann, so bezweifelt er wohl ihre Wissenschaftlichkeit. Er übersieht hierbei Mehreres. Erstens, daß such die bestbegründete Theorie durch historischen Einblick in die Reihenfolge ihrer Antezedenzien und Entwicklungsstadien vor einer dogmatischen Erstarrung bewahrt, zur Selbstkritik, zur Erweiterung des Horizonts, zur Erhebung über ihren zeitweiligen Besitzstand, damit aber zum Fortschritt und immer tieferen Eindringen in den Gegenstand ermuntert wird. Sodann, daß die Kenntnis der individuellen Entwicklungen, mit denen sich die Geschichte befaßt, das Erste, deren theoretische Erklärung aber erst das Zweite sein muß. Schließlich, daß die hochgeschraubte Forderung, die er an den Historiker stellen möchte, selbst auf ihm viel näher liegenden Gebieten, selbst an viel leichteren und einfacheren Objekten, z. B. am physiologischen Entwicklungsprozeß des organischen Individuums, bis auf den heutigen Tag noch nicht im Entferntesten erfüllt oder auch nur als erfüllbar nachgewiesen ist.

Beide Einseitigkeiten sind Bildungsdefekte. Man muß sich über sie zu erheben trachten, wenn man richtig, d. h. wenn man gerecht urteilen will.

Indessen, nicht dieser Gegensatz bildet das Thema, welches hier ins Auge gefaßt werden soll. Nur einleitungsweise und im Vorübergehen, wenn auch nicht ohne Absicht, berühren wir ihn. Wird von der einen Seite zugegeben, daß unsere Historik selbst schon gewissen Theorien subordiniert ist, von der anderen aber, daß unsere Theorie dem geschichtlichen Werden ausgesetzt ist, dann wäre mindestens der Anfang zur Einigung unter einem höheren Gesichtspunkt gewonnen. Viel eher ist es ein ganz anderer Gegensatz, auf den diese Untersuchung hinzielt; ein Gegensatz, den gleich auf der Schwelle mit gangbaren Schlagwörtern zu bezeichnen lieber vermieden werden soll. Denn Schlagwörter präokkupieren [befangen machen - wp]. Im weiteren Verlauf wird er klar genug zutage treten; auch klingt er schon vernehmlich an, wenn man auch eine gewisse Veränderlichkeit der wissenschaftlichen Geschmacksrichtung Rücksicht nimmt.

Der Hang zum Theoretisieren scheint nämlich, gleich anderen menschlichen Neigungen, einem Wechsel von Ebbe und Flut unterworfen zu sein. In einem ursächlichen Zusammenhang mit kulturgeschichtlichen Faktoren mannigfacher Art erlebt er alternierend seine Maxima und seine Minima. Es gibt Zeitalter, in denen er zur förmlichen Monogamie anschwillt und das bescheidenere Bedürfnis nach einfach beobachtender Kenntnisnahme des Tatsächlichen auf hypertrophische [übermäßige - wp] Weise überwuchert. Es gibt andere Zeitalter, in denen er unter Null absinkt und von eben jenem ihm antagonistischen Bedürfnis völlig zurückgedrängt scheint. Wenn doktrinäre Erstarrung in einer dogmatisch abgeschlossenen Weltauffassung schon auf dem Gipfel der Weisheit angelangt zu sein glaubt und nun ihre ganze Sagazität [Scharfsinn - wp] darauf verwendet, das fertige, für wahr gehaltene Begriffssystem in alle seine feinsten Ramifikationen [Verzweigungen - wp] auszuarbeiten; aber auch wenn eine jugendlich hoffnungsfreudige, eine reformatorische Periode in einem voreiligen Gestaltungsdrang das unbekannte Land der geahnten Wahrheit mit niegesehenen Gedankengebilden bevölkert und ins Unermeßliche, ins Phantastische hinausschweift, dann ist die Reaktion gegen ein solches Hypertheoretisieren naturgemäß, und eine besonnen prüfende Nachwelt wird die Hälfte ihrer Arbeitskraft auf die kritische Ausräumung überfüllter Augiasställe verwenden müssen. Dann stellt sich auch wohl jenem Zuvile ein Zuwenig entgegen; aus löblicher Scheu vor doktrinären Jllusionen, aus begreiflicher Furcht vor unsoliden Scheintheorien, aus höchst achtungswertem Wahrheitssinn verfällt man in das andere Extrem; man redet sich ein, unser Erkenntnistrieb könne dadurch seine Befriedigung finden, daß man der Frage nach dem  Warum  einfach den Rücken zukehrt und überall nur das  Was  und das  Wie  zu konstatieren sucht. Ein derartiger Umschlag hat sich oftmals und an vielen Orten der Welt wiederholt. Aber die skeptischen Prophezeiungen oder Wünsche, die den theoretisierenden Geistestrieb totsagen wollen, werden durch die Geschichte regelmäßig Lügen gestraft. Denn jedes echt Menschliche stirbt, solange die Menschheit lebt, nie gänzlich aus; und die skeptischen Reaktionen, weit entfernt den Hang zur Theorie abzutöten, dienen nur zu dessen Reinigung, Selbstbesinnung, stiller Sammlung und Höherbildung. Übrigens wäre es ein Irrtum, wenn man das hier skizzierte Verhältnis zwischen theoretisierender und empirischer Denkungsart nur so auffassen wollte wie einen zeitlich linear ablaufenden Prozeß des abwechselnden Sinkens und Steigens, wenn man mit dem chronologischen Lineal in der Hand zwischen Perioden des einen und des andern Charakters strenge Grenzlinien ziehen wollte. Wer dies unternimmt, gerät in eine erkünstelte Schablone hinein und vergißt, daß zu allen Zeiten die verschiedensten Seiten menschlicher Geistesbetätigung offener oder latenter nebeneinanderleben.

So Mancher wäre z. B. schnell mit seiner Zustimmung bereit, wenn das Mittelalter mit seiner sterilen Scholastik für eine Periode krankhafter Hypertheorie erklärt, und im glänzenden Kontrast hierzu die heute um uns lebendige Gegenwart als eine Zeit heilsamer Theorieverachtung und Tatsachenschätzung belobt würde. Aber wie kurzsichtig wäre das! Dasselbe Mittelalter hat auch hyperempirische Experimentaldisziplinen hervorgebracht, wie die Alchemie und die  Ars magna Lulliana [lullische Kunst; einlullen - wp] (2) und die Wissenschaft der Gegenwart ist nicht eben arm an weitgeglaubten, ins Fernste und Größte hinaustastenden Lehrmeinungen, die man bei einigermaßen unbefangenem Blick als äußerst gewagte, jede wirkliche und mögliche Erfahrung kühn transzendierende Theorien erkennt. Heutigen Tages konstruiert man durch Schlüsse aus verhältnismäßig geringfügigen Erfahrungsbruchstücken nicht etwa nur Stammbäume des ganzen Pflanzen- und Tierreichs, vom Urschleim bis zum Menschen hinauf, sondern auch auf Jahrmillionen zurück und vorwärts die ganze Vergangenheit und Zukunft des materiellen Universums; die Weltentstehung und den Weltuntergang. Wer dies für Erfahrungswissenschaft hält, der muß einen ziemlich laxen Begriff von der "Erfahrung" haben. Auch betrachte man unsere heutige Mathematik. Sie leidet in allen ihren Partien, von der Zahlentheorie bis zur Geometrie, an einer förmlichen Sucht, alles und jedes zu beweisen, strikt beweisen, definieren, streng definieren zu wollen. Wer dies  nicht  für eine Theorie hält, der muß von "Theorie" einen ziemlich abnormen Begriff besitzen. Letztere Erscheinung erinnert lebhaft an die skeptisch-kühlen Erwägungen eines großen Mathematikers früherer Zeiten, dem die Grundbegriffe der Mathematik und Physik einfach als unerklärlich und undefinierbar gelten. Ich meine PASCAL. Man lese einmal in PASCALs "Pensées" die interessante Abhandlung "Réflexions sur la géometrie en général". Sie ist lehrreich.

Indem wir uns zur Sache wenden, sollen hier vom Standpunkt der allgemeinen Wissenschaftslehre aus über das angedeutete Verhältnis zwischen mehreren dem menschlichen Geistestypus inhärenten Art des Erkennens eine Anzahl allgemeiner Sätze aufgestellt werden, deren Erläuterung und Begründung den nachfolgenden Kapiteln überlassen bleibt.


Thesen

I. Die Meinungen und Überzeugungen des Menschen, d. h. derjenige Teil seiner Gedanken, den er mit einem höheren oder geringeren Grad an Bestimmtheit  für wahr hält,  müssen sich stets in Gestalt logisch eindeutiger Sätze von bestimmtem Inhalt und Umfang formulieren lassen. Sie zerfallen in solche, die vermöge eines unanalysierten Gefühls, und solche, die mit einem deutlichen Bewußtsein ihrer Begründung und Berechtigung für wahr gehalten werden. Jedoch existiert psychologisch eine scharfe Trennung und exklusive Disjunktion [Unterscheidung - wp] dieser zwei Klassen keineswegs; sondern es gibt die mannigfaltigsten Überzeugungsstufen von der ganz objektiv begründeten, von Gefühlsmotiven geläuterten Überzeugung des Mathematikers an bis zum blinden, unvernünftigen Aberglauben des Fetischanbeters. Auf dieser psychologischen Stufenleiter muß irgendwo die Grenze zwischen wissenschaftlichen und populären Überzeugungen gelegen sein.

II. Unter dem Namen  Wissenschaft  verstehen wir das vom menschlichen Verstand selbständig konzipierte und ausgebildete Ideal eines Systems solcher für wahr gehaltener Sätze, deren Fürwahrgehaltenwerden von der psychologischen Wurzel des Gefühls oder des Gemütslebens völlig losgelöst und ganz und gar auf das selbstlos objektive, deutliche Bewußtsein ihrer Begründung und Berechtigung gebaut sein soll.

Die unter dem Namen "Wissenschaft" aktuell vorhandenen Gedankengebäude haben jenes Ideal nicht alle in gleichem Grad verwirklicht. Am höchsten stehen in dieser Hinsicht die Logik und die Mathematik.

III. Als objektiv begründet muß uns in erster Linie dasjenige Fürwahrhalten gelten, welches entweder aus der Undenkbarkeit, bzw. der intuitiven Unvorstellbarkeit des kontradiktorischen Gegenteils von unserem Gedanken entspringt, oder auf der direkten Wahrnehmbarkeit des von uns Gedachten beruth. Wissenschaftliche Überzeugungen der ersten Art sind notwendig oder apodiktisch [logisch zwingend - wp] gewiß; solche der zweiten Art tatsächlich assertorisch [für mich geltend - wp] gewiß. Jene heißen, wenn sie ursprünglich, d. h. nicht erst durch Schlüsse aus höheren Sätzen abgeleitet sind,  Axiome;  diese heißen  Empeireme. 

In zweiter Linie aber muß auch dasjenige Fürwahrhalten als objektiv begründet gelten, welches durch eine logisch korrekte Ableitung von Folgesätzen aus Axiomen oder aus Empeiremen erzeugt wird. Solche Folgesätze heißen  Theoreme;  und die nach irgendwelchen Richtungen hin ausgesponnene, womöglich vollständige Ableitung der Folgesätze irgendwelcher Axiome oder Empeireme ist eine Theorie.

IV. Hieraus leuchtet ein, daß nicht nur die axiomatisch, sondern auch die empirisch begründeten Wissenschaften sehr viel Theorie enthalten müssen. Letztere speziell deshalb, weil  erstens  das für uns Undenkbare und das intuitiv Unvorstellbare auch nicht in der Wahrnehmung vorhanden sein kann; weil  zweitens  unsere (äußere und innere) Wahrnehmung notorisch manchen Täuschungen ausgesetzt, und die Unterscheidung der fehlerhaften, täuschenden von der objektiv adäquaten Wahrnehmung nur nach Maßgabe und unter Anwendung von (logischen und mathematischen) Axiomen möglich ist; weil  drittens  die empirisch begründete Wissenschaft sich nie auf singuläre Wahrnehmungsurteile von nur momentaner und einmaliger Gültigkeit beschränkt, sondern partikuläre und universelle Sätze von größerem oder geringerem Umfang mit dem Anspruch auf deren objektive Gültigkeit hinstellt, wobei die Wahrheit dieser Sätze in den nicht faktisch wahrgenommenen Fällen aus ihrer Wahrheit in den wirklich beobachteten Fällen aufgrund irgendwelcher Prämissen gefolgert oder erschlossen werden muß.

V. Unter die Aufgaben der allgemeinen Wissenschaftslehre gehört die Eruierung und Prüfung sowohl der Schlußarten, mittels welcher, als der Prämissen, aufgrund welcher die empirische Wissenschaft direkt nur aus singulären Wahrnehmungen geschöpften Urteile generalisiert, ihnen einen Gattungs- oder Artumfang erteilt, mithin sie unter dem Anspruch auf Wahrheit über die nicht wahrgenommenen Fälle ausdehnt.

VI. Die Analyse dieses Problems stößt auf eine Anzahl von Grundsätzen, deren keine der Erfahrungswissenschaft entraten kann, während ihnen weder der Charakter von Axiomen, noch der von Wahrnehmungsurteilen zukommt, mithin weder apodiktische, noch assertorische Gewißheit innewohnt. Diese Grundsätze sind gewisse Maximen, nach Maßgabe welcher wir die fragmentarische und diskrete Reihe singulärer Wahrnehmungen und isolierter Beobachtungen durch eine Interpolation [Einfügung - wp] oder Einschaltung der fehlenden Zwischenglieder zu einem zusammenhängenden Erfahrungstatbestand ergänzen.

VII. Während es der empirischen und theoretischen Psychologie, einer Wissenschaft, die selbst nur aufgrund von Axiomen und unter Anwendung jener Interpolationsmaximen zustande kommen kann, anheimgestellt bleibt, die subjektive Entstehungsart der von uns als objektive Norm verwendeten Interpolationsmaximen ausfindig zu machen, hat die allgemeine Wissenschaftslehre an dieser psychogenetischen Frage kein unmittelbares Interesse; indessen ist sie, gleichviel welches die richtige Lösung der berührten Frage sein mag, genötigt, die erwähnten Maximen als unabstreifbares Attribut desjenigen intellektuellen Organisationstypus aufzufassen, innerhalb dessen jede uns bekannte Art von Erfahrungswissenschaft gelegen ist.


Zweites Kapitel
Klassifikation der Theorien

Jede Theorie besteht in einem feiner oder gröber verzweigten, über ein engeres oder weiteres Erkenntnisgebiet ausgedehnten System allgemeinerer und speziellerer, teils im Verhältnis der Koordination, teils in dem der Subordination stehender Sätze (Theoreme), die aus einer möglichst geringen Anzahl ganz universell gültiger Sätze (Prinzipien) durch eine Schlußfolgerung  a majori ad minus [vom Größeren auf das Kleinere - wp] abgeleitet sind; und zwar zu dem Zweck, um dem natürlichen Erklärungsbedürfnis unseres Verstandes vermöge der Nachweisung des logischen Zusammenhangs in einer Gruppe homogener Erkenntnisse Genüge zu leisten. Zur Einteilung und Klassifikation der Theorien bietet sich, da auf allen möglichen Erkenntnisgebieten theoretisiert wird, ein mannigfaltiger Anlaß; und es kann dabei bald dieses, bald jenes Einteilungsfundament zugrunde gelegt werden. Aus dem Gesichtspunkt der allgemeinen Wissenschaftslehre aber, welche nicht sowohl dem Erkenntnisstoff als vielmehr der Erkenntnismethode ihre Aufmerksamkeit widmet, dürfen in erster Linie  formale  Theorien von  materialen  Theorien unterschieden werden. Die  formalen  Theorien, unter welche außer der Logik die reine Mathematik gehört, entwickeln nach der Maxime des zureichenden Grundes aus irgendwelchen Prinzipien ein System solcher Wahrheiten, die unabhängig von der realen Welt des Tatsächlichen eine für alles vernünftige Denken oder auch für alles menschliche Anschauen eine zwingende Gültigkeit besitzen. Die  materialen  Theorien wollen gemäß der Maxime des zureichenden Realgrundes ein System von Spezialgesetzen deduzieren, deren natürliche oder normative Geltung auf irgendeinem Gebiet der realen Außenwelt oder Innenwelt als Erfahrungstatsache gegeben ist; ihre Prinzipien können entweder selbst der Erfahrung entnommen, oder als Hypothesen angesetzt, oder als axiomatische Behauptung aufgestellt sein. Indem aber nun der Begriff des Realgrundes sowohl den der wirkenden Ursache (causa efficiens), wie auch den der Zweckursache (causa finalis) unter sich begreift, zerfällt die Klasse der materialen Theorien in zwei Arten; man kann sie  Kausal theorien und  Normal theorien nennen (3). Das Wesen einer  kausalen  Theorie besteht darin, daß sie unter prinzipieller Voraussetzung der strengen Allgemeingültigkeit des Satzes der Kausalität irgendeine in sich homogene Gruppe empirischer Vorkommnisse aus der Wirksamkeit gewisser Grundursachen erklärt oder was dasselbe besagt, die in dieser Gruppe herrschenden Spezialgesetze aus allgemeineren Gesetzen deduziert. Eine  normative  Theorie hingegen stellt sich die Aufgabe, irgendeine Gruppe von Imperativen, praktischen Regeln, positiven oder negativen Vorschriften als Konsequenzensystem aus gewissen Grundpostulaten abzuleiten. Hierher gehört außer der Ethik, Rechtslehre, Politik und Ästhetik jede technische Wissenschaft, von der Maschinenbaukunde bis zur Taktik und Strategie, von der Anstandslehre bis zur Rhetorik und Mimik.

Die vor uns liegende Untersuchung nun bezieht sich bloß auf  eine  der hiermit unterschiedenen Wissenschaftskategorien; sie schließt sämtliche formalen und normativen Theorien ganz von sich aus, faßt allein die  kausalen  Theorien ins Auge, und will deren methodologisches Wesen, deren wissenschaftliche Dignität und Tragweite, sowie deren letzte Fundamentalvoraussetzungen einer gewissen Beleuchtung unterwerfen, die, wie mir scheint, aus einem erkenntnistheoretischem Gesichtspunkt nich uninteressant sein wird. Hierbei sei dann sogleich eine Fortsetzung der soeben begonnenen Klassifikation zugrunde gelegt, deren logische Berechtigung im weiteren Verlauf an den Tag treten muß, und welche, auch wenn ihr kein übermäßiger Wert beigelegt werden dürfte, jedenfalls zur Erleichterung der Übersicht dienlich ist. Mustert man nämlich die Gesamtheit der nach Gegenstand und Umfang so mannigfaltigen (kausalen) Theorien, mit Hilfe welcher der menschliche Verstand den Lauf des natürlichen Geschehens sich begreiflich zu machen sucht, so gibt es zwar im Hinblick auf deren größere oder geringere Allgemeinheit, sowie in Bezug auf die längere oder kürzere Distanz ihrer Erklärungsprinzipien vom empirisch beobachtbaren Sachverhalt recht viele und feine Gradunterschiede; drei Hauptstufen aber sind es, die als besonders charakteristisch hervorspringen. Wir nennen sie, in Ermangelung besserer Kunstausdrücke, die Theorien der ersten, der zweiten und der dritten Ordnung. (4)

Unter einer Theorie der  ersten Ordnung  verstehe ich eine solche, die ihre Erklärungsprinzipien unmittelbar aus dem Bereich des empirisch Gegebenem entnimmt, deren Gedankenmaterial also die Grenzen der wahrnehmbaren Tatsächlichkeit gar nicht überschreitet. Zum Zweck der kausalen Deduktion irgendeiner Gattung von Phänomenen entdeckt sie innerhalb der erfahrbaren Welt ein wirklich vorhandenes, ein der Beobachtung zugängliches wirksames Agens, eine sogenannte  causa vera,  und zeigt dann durch Schlußfolgerung, günstigenfalls durch eine förmliche Rechnung, daß aus der gesetzlich stets und überall gleichbleibenden Wirksamkeit jenes Agens sämtliche Spezialerscheinungen der in Frage stehenden Gattung mit realer Notwendigkeit entspringen müssen.

Unter einer Theorie  zweiter  Ordnung verstehe ich eine solche, die das Feld der wahrnehmbaren Tatsachen insofern schon überschreitet, als sie zum Zweck der kausalen Erklärung eines empirischen Erscheinungsgebietes solche Faktoren oder Agenzien herbeiziehen muß, die ihrer eigenen Natur und der Beschaffenheit unseres Wahrnehmungsvermögens gemäß nicht mehr beobachtbar sind, also nur in Gedanken konstruiert und dann, mit ausdrücklichem Bewußtsein von der problematischen Existenz des Hinzugedachten, hypothetisch als wirkende Ursachen angesetzt werden. In der Regel stützt sich eine derartige Hypothese auf irgendein wahrnehmbares Erfahrungsanalogon, und die Theorie beruth so auf einer versuchsweise unternommenen Übertragung von etwas Erfahrbaren ins Unerfahrbare.

Eine Theorie  dritter Ordnung  schließlich ist jedes metaphysische System, sofern wir hier das Wort  Metaphysik  in einem ehemals allgemein gebräuchlichen und heute noch landläufigen Sinn nehmen. Ein solches System ist transzendent, nicht immanent; es überschreitet jede wirkliche und mögliche Erfahrung schon insofern, als es mit dem Anspruch auftritt,  absolute  Prinzipien zur Erklärung der gegebenen Welt mitzuteilen, während die empirischen und hypothetischen Erklärungsprinzipien der Theorien erster und zweiter Ordnung eingestandenermaßen nur relative sind.

Über diese Wissenschaftskategorien handeln die nächstfolgenden drei Kapitel.


Drittes Kapitel
Die Theorien erster Ordnung

Sie beschränken sich, wie oben bereits bemerkt, ganz und gar auf das Gebiet der Erscheinungen, also desjenigen, was uns tatsächlich gegeben und wirklich beobachtbar ist; sie verlassen das empirische Beobachtungsfeld mit keinem Schritt, sondern wollen nur abhängige und sekundäre Tatsachen aus ursprünglichen Tatsachen ableiten, Spezialphänomene zurückführen auf Urphänomene. Subsumtion vieler gleichartiger, aber nach Raum und Zeit sporadischer und durch Nebenbedingungen hier so, dort anders modifizierter Einzelfälle unter einen typischen Fall, das scheint den logischen Kern dieser Art von Theorien auszumachen. Der Charakter eines solchen rein immanenten Denkverfahrens wird am besten durch einige Paradigmata vergegenwärtigt, die wir aus einer Überfülle gleichwertiger Beispiele herausgreifen.

Als erstes Beispiel dient uns die Theorie der Winde. Ausgegangen wird hier von dem Erfahrungssatz, daß die Luft, sobald an irgendeiner Stelle ihr Gleichgewicht eine Störung erleidet, in eine strömende Bewegung gerät, welche solange andauert, bis das gestörte Gleichgewicht wieder hergestellt ist. Das ist das Urphänomen und Prinzip der ganzen Theorie. Nun kann aber eine solche atmosphärische Gleichgewichtsstörung auf doppelte Weise hervorgerufen werden. Einmal so, daß die Luft irgendwo durch Erwärmung und Erhitzung verdünnt wird, mithin leichter wird und wegen ihres Gewichtsverlustes in die Höhe steigt, oder umgekehrt durch Abkühlung verdichtet wird, schwerer wird und infolge der Gewichtszunahme herabsinkt; sodann dadurch, daß eine Luftsäule, vermöge starker Verdunstung von Wasser mit Dämpfen geschwängert, an Dichte zunimmt, an Elastizität einbüßt, oder umgekehrt infolge plötzlichen Niederschlags der in ihr supendierten Wasserdämpfe, als Regen, Schnee, Hagel, an Gewicht abnimmt, an Elastizität gewinnt. Wo immer aus dem einen oder anderen Grund eine Luftverdünnung und eine Luftströmung nach oben eintritt, da wird aus den Nachbarregionen von größerer Atmosphärendichte unten die schwerere Luft herbeiströmen; dort hingegen, wo schwere und dichte Luft herabsinkt, wird in der Höhe die leichtere Luft der Nachbarregionen herbeifließen. Hier wie dort also wird ein Luftzug, Wind, Sturm, Orkan entstehen, welcher solange andauert, als die Dichtendifferenz noch unausgeglichen bleibt. Im Kleinen demonstriert dies das bekannte Experiment  ad oculos [vor Augen - wp], daß man in der geöffneten Tür eines geheizten Zimmers stehend eine brennende Kerze von der Schwelle aus langsam emporhebt, wobei dann unten die Kerzenflamme durch den kalten Luftstrom ins Zimmer hineingeweht, oben durch den warmen Luftstrom aus dem Zimmer hinausgeweht wird, in der mittleren Höhe aber, als einer neutralen Zone der Windstille, ruhig und gerade emporbrennt. Dasselbe vollzieht sich nun aber auch im Großen und in der freien Natur; nur daß hier die geographische Verteilung von Land und Meer, der vom Stand der Sonne über dem Horizont, sowie von der Beschaffenheit des Erdbodens abhängige Erwärmungsmodus der Atmosphäre, und andere Umstände noch den Prozeß komplizierter machen. Hieraus ergibt sich dann eine allgemeine und genügende Erklärung der hauptsächlichen Arten von Luftströmung, der Passatwinde, der Land- und Seewinde in Küstenstrichen, des Monsun, der Zyklonen und Wirbelstürme etc. Die Passatwinde z. B. entstehen dadurch, daß am Äquator der Erdboden und die Atmosphäre von der Sonne am stärksten erwärmt wird, daher dort unaufhörlich ein heißer Luftstrom emporsteigt und in der Höhe nach Norden und Süden zu abfließt, während an den eisbedeckten Polen die stets abgekühlte Luft herabsinkt und zum Äquator hinströmt.

Wie man sieht ist in dieser Erklärungsart alles immanent, alles empirisch; Nichts, vom einfachen Urphänomen bis zur kompliziertesten Konkurrenzwirkung, überschreitet die Grenzen faktischer und tatsächlich kontrollierbarer Erfahrung.

Als zweites Beispiel sei die sogenannte Migrationstheorie von MORITZ WAGNER angeführt; eine Doktrin, welche innerhalb des Rahmens der modernen Abstammungslehre stehend, zu dieser einen wichtigen und unentbehrlichen Baustein zu liefern berufen scheint. Die Erfahrung der Tierzüchter und Pflanzenzüchter lehrt, daß der Mensch ganz neue Spielarten (Varietäten) organischer Geschöpfe ins Leben rufen kann, indem er ein durch irgendwelche besondere Eigenschaften übereinstimmend ausgezeichnetes Pärchen einer Spezies sich miteinander paaren läßt und zugleich vor der Paarung mit morphologisch abweichenden Individuen derselben Stammart (species) durch räumliche Absonderung auf das Sorgfältigste behütet. Die Nachkommen des isolierten Paares erben dann jene hervorstechende Eigenschaft ihrer Eltern. Dieselbe befestigt sich, steigert sich sogar in der Reihenfolge der Generationen; und so kann eine neue Varietät zustande gebracht werden, die von der alten Stammart ganz erklecklich abweicht. Hundertfache Erfahrung lehrt dies. Räumliche Isolierung der Erzeuger fungiert hier als greifbare Gelegenheitsursache (causa occasionalis) eines Vorgangs, der als Prozeß der beginnenden Artenbildung aufzufassen ist. Anders für gewöhnlich in der freien Natur. Wo zahlreiche, individuell verschiedene Exemplare derselben Spezies auf einem geographisch zusammenhängenden Territorium, z. B. auf demselben Kontinent, derselben Insel oder im selben Flußtal frei zusammenleben, da wird trotz des Kampfes ums Dasein ein allseitiger Geschlechtsverkehr, eine freie Kreuzung zwischen den Artgenossen stattfinden, daher an der Nachkommenschaft im Ganzen eine Kompensation der individuellen Abweichungen resultieren; es wird infolge mannigfaltiger, stets wiederholter Neutralisierung der begonnenen Abänderungen das Zustandekommen einer förmlichen Varietät verhindert, die Erhaltung des alten Formtypus der Stammart begünstigt sein. Wenn nun aber ein Pärchen oder ein trächtiges Weibchen, oder auch der befruchtete Samen einer Pflanzenart aus irgendwelchen Gründen vom bisherigen Wohnort der Stammart räumlich entfernt, in entlegene Wohnsitze verschlagen und dort geographisch isoliert wird, kurz: wenn es eine freiwillige oder unfreiwillige Auswanderung vollzieht, dann wird aus dieser natürlichen Isolierung unbeabsichtigterweise derselbe Effekt hervorgehen, den der Mensch bei der künstlichen Züchtung durch künstliche Isolierung erzielt; d. h. es werden die Emigranten an ihrem neuen Wohnsitz der Kreuzung mit den abweichenden Individuen ihrer alten, heimischen Stammart entzogen, es wird also jene Kompensation der individuellen Abweichungen verhindert sein, mithin von selbst eine neue Varietät entspringen. Auch die Veränderung des Klimas, des Bodens, der Nahrungsmittel, welche mit der Auswanderung verknüpft ist, wird als Koeffizient auf den Organisationstypus der Auswanderer modifizierend einwirken; und das Ergebnis von all dem wird sein, daß schließlich eine der Stammart ziemlich unähnmliche Species zustande kommt. Mancherlei natürliche Grenzen, wie hohe und steile Gebirgswände, Meere oder auch breite Flüsse verhindern die Rückkehr, dienen zur dauernden Absperrung und erhalten die neue Spezies in ihrem neuen Typus. Der geschilderte Vorgang und sein Effekt ist in zahlreichen Fällen faktisch beobachtet und konstatiert. Auf die Pflanzen- und Tiergeographie fällt ein sehr bedeutsames Licht. Alles mögliche wird begreiflich, genetisch erklärbar, was ehedem als wunderbarer Zufall und Laune der Natur erschien. Und namentlich ist es das Dasein der "vikarierenden [stellvertretenden - wp] Formen", welches aus dieser Theorie eine höchst plausible Erklärung erhält.

Zum dritten Paradigma derselben Kategorie wollen wir uns die von ADAM SMITH gelieferte Theorie des Nationalreichtums auserwählen. Prinzip oder Urphänomen dieser berühmten Lehre ist bekanntlich der Egoismus. Die von SMITH aufgestellte, überall mit Originalität, Geist und eindringlicher Sachkenntnis durchgeführte Thesis geht dahin: Daß, wenn jeder Mensch, ausschließlich und allein eingeschränkt durch die öffentlichen Rechtsschranken der Ehrlichkeit, im allgemeinen Wettkampf um Ehren und Reichtümer seinem natürlichen Eigennutz nach Kräften Genüge tut, hieraus von selbst als notwendiges, wenn auch gar nicht beabsichtigtes Ergebnis das Maximum des Wohlstandes einer Nation resultieren muß. Ausgegangen wird von der psychologischen Erfahrungstatsache, daß der Mensch von Natur aus bestrebt ist, sich an nützlichen und angenehmen Besitztümern so viel anzueignen, als ihm möglich ist. Wenn nun der Staat, dieser Hüter des Friedens, der Rechtsordnung, der öffentlichen Morale und Sicherheit, die Aneignung solcher Besitztümer durch Gewalt, List, Betrug und überhaupt durch unehrliche Mittel verhindert, dann bleibt nur ein einziges Mittel übrig, sie zu erlangen: Die Arbeit. Arbeiten muß der Einzelne, um entweder die Arbeit selbst oder sein Arbeitsprodukt (die Ware) gegen die von Anderen produzierten, ihm begehrenswerten Güter einzutauschen. Diese Arbeit entspringt anerkanntermaßen aus egoistischen Triebfedern und kommt direkt dem Einzelnen zugute; indirekt aber der Gesamtheit. Indem der Einzelne sich selbst bereichern will, steigert er zugleich, ohne sein eigenes Wissen oder Wollen, den Reichtum der Nation. Uns zwar geht die so zu: Nur durch den freiwilligen Austausch von Arbeitsprodukten oder produktiver Arbeit ist unter den angegebenen Bedingungen die Befriedigung des natürlichen Egoismus erreichbar. Als Vermittler des Tausches fungiert das Geld. Denn da die Produktion und das Konsumtionsbedürfnis, als das Angebot und die Nachfrage, in einem einigermaßen ausgedehnten Landstrich nur ausnahmsweise örtlich zusammentreffen, also der direkte Tauschhandel, der unmittelbare Eintausch einer Ware gegen andere Ware, mit großen, zum Teil unüberwindlichen Schwierigkeiten verknüpft sein würde, so ist als Tauschmedium die klingende Münze erfunden worden, welche leicht transportabel durch alle möglichen Hände läuft und von der jedermann als gültiges Wertsymbol anerkannt wird. Angenommen nun, der Staat gewährt seinen Untertanen unbeschränkte Gewerbefreiheit und völlig freie Konkurrenz, dann wird sich der veränderliche Preis einer Ware im Einzelnen lediglich nach dem wechselnden Verhältnis zwischen Angebot und Nachfrage richten; im Allgemeinen aber wird ein Gesetz in Wirksamkeit treten, wonach das Steigen und Sinken der Preise zur Abnahme und Zunahme der Produktion in einem strikten Kausalnexus [-zusammenhang | wp] steht. Versteht man nämlich unter dem "natürlichen Preis" einer Ware denjenigen, welcher dem Produzenten für sämtliche Produktionskosten einen vollen Ersatz bietet, so wird, wenn wegen Überproduktion, zu starken Angebots und Marktüberfüllung der faktische Marktpreis einer Ware  unter  den "natürlichen" herabgesunken ist, naturgemäß die Produktion dieser Ware eingeschränkt werden, indem sich dann die Arbeit auf andere, größeren Gewinn versprechende Produktionszweige wirft; sobald hingegen der Marktpreis einer Ware merklich  über  den natürlichen Preis emporgestiegen ist, wird, weil der Gewinn anlockt, die Produktion dieser Ware zunehmen, bis er wieder zur natürlichen Preishöhe herabgesunken ist. Dies ist eine natürliche Mechanik, die, wie gesagt, da obwalten wird, wo vollkommene Gewerbefreiheit und freie Konkurrenz herrscht. Die hiermit deduzierte Mechanik des Steigens und Sinkens der Preise im reziproken [umkehrbaren - wp] Kausalnexus zur Abnahme und Zunahme der Güterproduktion wird nun offenbar zunächst dahin zielen, daß dem Produzenten wie dem Konsumenten stets die Wohltat natürlicher Preise annähernd gewährt sei. Sie wird aber außerdem jedermann anspornen, daß er, um nicht durch Konkurrenten aus dem Feld geschlagen zu werden, sein Bestes zu leisten bestrebt ist. Sie wird also die beste und die billigste Ware hervorbringen. Hierzu kommt, daß sich die individuelle Wahl des Berufs bei vernünftigen Menschen naturgemäß nach der individuellen Befähigung richtet; und wenn jeder nach eigener Wahl dasjenige arbeitet, wozu er am besten befähigt ist, so wird er selbst den größtmöglichen Arbeitsertrag genießen, die Gesamtheit aber die besten Arbeitsprodukte erhalten. Indem also jeder Einzelne, nur eingeschränkt durch die vom Staat überwachte Rechtsordnung, unter Anspannung all seiner Kräfte dem eigenen Vorteil nachjagt und diesem allein zu dienen wähnt, wird  eo ipso [schlechthin - wp] mit Notwendigkeit der Vorteil des Ganzen erzielt. Somit resultiert bei völlig freier Konkurrenz und staatlich bewilligtem  Laisser faire [gewähren lassen - wp] aus dem konkurrierenden Egoismus der Einzelnen der größte Wohlstand aller, aus dem betriebsamen Wettstreit der Privatpersonen der Reichtum der Nation. Das sind - (ich referiere hier, ich beurteile nicht!) - die von ADAM SMITH aufgefundenen Gesetze der Nationalökonomie.

Blicken wir zurück, so zeigen die angeführten Beispiele durchgängig die selbe logische Struktur. Alle diese Theorien sind immanent und empirisch. Die Phänomene, auf deren Erklärung es ihnen ankommt, liegen Erfahrungstatsachen vor. Ihre Erklärungsprinzipien sind ebenfalls der Erfahrung entnommen. Sie erklären gegebene Spezialphänomene aus nicht weniger gegebenen Urphänomenen. Die reale Abfolge der empirischen Wirkungen aus den empirischen Ursachen steht der unmittelbaren Beobachtung und Erfahrung offen. Wo diese Abfolge nicht direkt beobachtet ist, da darf sie dem allgemeinen Kausalitätsprinzip angenommen werden. Nur insofern scheint der Theoretiker sich von der reinen Erfahrung zu trennen, als er manche zweifellos mitwirkende Faktoren vorläufig und interimistisch [zwischenzeitlich - wp] ignoriert; z. B. bei der Erklärung der Winde die Gravitationsanziehung der Sonne und des Mondes auf die Erdatmosphäre, bei der Migrationstheorie die vereinzelten Fälle von Rückschlag und Atavismus [genetischer Rückschritt - wp], beim nationalökonomischen Industriesystem den Umstand, daß der betriebsame Egoismus der Menschen durch mancherlei antagonistisch wirkende Motive, als da sind Indolenz [Gleichgültigkeit gegenüber Schmerzen - wp], Bequemlichkeit und Arbeitsscheu oder Mangel an Intelligenz, oder auch Menschenfreundlichkeit und Mitleid, gewisse Einschränkungen erfährt. Ein solches zwischenzeitliches Ignorieren ist um der Reinheit des Phänomens willens methodologisch geboten und erlaubt. Es geschieht selbstverständlich unter dem Vorbehalt, daß nachträglich, nachdem die vollen Konsequenzen der herausgehobenen Haupterklärungsprinzipien allseitig gezogen und expliziert worden sind, dann auch die Einwirkung der übrigen, mehr nebensächlichen Faktoren mit in Rechnung zu bringen sein wird.

Wie wir ausdrücklich anerkennen, muß diese Art von Theorien das feste Fundament bilden für alle höherstrebenden Erklärungsversuche; und wenn es gestattet wäre, allein auf tatsächliche Gewißheit Wert zu legen, so würden sie ohne Zweifel die besten sein.


Viertes Kapitel
Die Theorien zweiter Ordnung

Unser Denken ist nicht damit zufriedengestellt, Erscheinungen aus Erscheinungen zu erklären; die Zurückführung abhängiger Phänomene auf die Urphänomene genügt ihm durchaus noch nicht; es greift, im Bewußtsein der Bedingtheit und Relativität aller Phänomene insgesamt, über das Erscheinende, das in der Wahrnehmung direkt Gegebene hinaus in das Gebiet des Unerfahrbaren, des im Raum schlechthin Entlegenen, Unzugänglichen, des in der Zeit Vergangenen, ein für alle Mal Unwiederbringlichen, ja des seiner ganzen Natur und Qualität nach für unsere essentiell beschränkte Wahrnehmungsfähigkeit absolut Unwahrnehmbaren; es setzt in diesen der Empirie verschlossenen Regionen hypothetisch solche Realgründe an, aus denen es ganze Erscheinungsgebiete, bis zum Urphänomen hinauf und dasselbe eingeschlossen, deduzieren kann. So baut sich auf das Erdgeschoß der empirischen Theorien ein zweites Stockwerk auf, welches schon eine weitere Aussicht gewährt, aber allerdings auch bei einem etwaigen Erdbeben in noch bedenklichere Schwankungen geraten würde, als das gesichertere Erfahrungsparterre der Wissenschaft.

Nächstliegende  exempla illustria  dieser neuen Wissenschaftskategorie sind sämtliche Zweige der Physik der Imponderabilien [Unwägbarkeiten - wp], also die Theorien des Lichts, der Wärme, des Magnetismus und der Elektrizität. Sie alle bringen auf hypothetisch angenommene, mit hypothetischen Eigenschaften ausgestattete Substrate die allgemeinen Grundlehren der analytischen Mechanik in Anwendung und deduzieren aus diesen hypothetischen Prinzipien Lehrgebäude solcher Folgesätze, die mit den empirisch aufgefundenen Gesetzen der betreffenden Erscheinungsgebiete kongruent zusammenfallen und damit ihre Berechtigung bewähren sollen. Hierdurch wird die Forderung zureichender Realgründe des Gegebenen über die Sphäre direkter Wahrnehmbarkeit hinaus in Erfüllung gebracht und dem Erklärungsbedürfnis des Verstandes auch jenseits der Urphänomene Befriedigung gewährt. Wir kennen als Wahrnehmungstatsachen das Licht und die Farben; wir messen empirisch, berechnen astronomisch die Zeit, welche der Lichtstrahl braucht, um von einem Gestirn zum andern zu gelangen; wir zerlegen mit dem dreikantigen Glasprisma den Sonnenstrahl in die bunte Reihe der Regenbogenfarben und brechen durch ein Linsenglas diesen Farbenfächer des Spektrums wieder zum farblos weißen Sonnenlicht zusammen. Worin jedoch das unwahrnehmbare Agens, das unsichtbare Geschehen besteht, welches erst in unserem Gesichtssinn und für ihn die Urphänomene des Hellen und des Farbigen erzeugt, darüber will die Undulationstheorie der Optik Aufklärung geben. Und ähnlich in den übrigen Gebieten der theoretischen Physik.

Gerade diese Paradigmata, die man in formeller Hinsicht vollendet nennen darf, haben indessen etwas Unpopuläres. Formell vollendet sind sie, weil in ihnen durchgängig eine mathematisch strenge Bestimmtheit, eine quantitativ genaue Formulierung des hypothetisch erschlossenen Kausalnexus herrscht. Aber sie sind unpopulär. Denn sie wahrhaft zu würdigen ist nur derjenige imstande, der ihren mathematischen Schlußfolgerungen Schritt für Schritt folgen kann. Wer ohne Vorkenntnis der analytischen Mechanik an sie herantritt, für den wird das Überzeugende, das eminent Befriedigende solcher Erklärungsarten ebensowenig verständlich sein, wie für den Taubstummen die Macht und der Wert der Musik.

Allgemeiner verständlich in dieser Hinsicht sind schon die Theorien der modernen Chemie, aus deren Bereich wir als ein besonders instruktives Beispiel die seit DALTON immer schärfer ausgebildete chemische Atomistik wählen wollen. Vier generelle Tatsachen der Experimentalchemie gibt es, für welche diese Theorie äußerst plausible Erklärungen zu liefern vermag; es sind die chemischen Äquivalente, das Erfahrungsgesetz der multiplen Proportionen, die sogenannte Isomerie und der Allotropismus. Vorausgesetzt und durch eine offenkundige oder verborgene Überlieferung seit LEUKIPP und DEMOKRIT fortgeerbt ist der Grundgedanke des Atomismus, also die Hypothese, wonach jeder wahrnehmbare Körper in einem Aggregat unsichtbar kleiner, nicht weiter teilbarer Körperchen bestehen, und das Phänomen qualitativer Veränderung von physischen Dingen lediglich aus dem Ortswechsel, den Bewegungen, Vereinigungen und Trennungen jener ansich beharrlichen und unveränderlichen Atome hervorgehen soll (5). Nun ist es ein allseitig bewährter Erfahrungssatz der Experimentalchemie, daß die Stoffe sich stets nach konstanten Gewichtsverhältnissen miteinander verbinden, wie z. B. im Wasser stets 8 Gewichtsteile Sauerstoff mit einem Gewichtsteil Wasserstoff, im Schwefelwasserstoffgas stets 16 Gewichtsteile Schwefel mit einem Gewichtsteil Wasserstoff verbunden sind. Diese sogenannten  Äquivalente  erklären sich am leichtesten aus der Annahme, daß die chemische Verbindung zweier Elemente nichts anderes ist, als eine durch Affinitätsanziehung bewirkte Aneinanderlagerung und Zusammengruppierung ihrer Atome, welche Atome dann in eben jenem Gewichtsverhältnis zueinander stehen, nach welchen die Elemente erfahrungsgemäß in Verbindung treten; so ist z. B. ein Sauerstoffatom achtmal, ein Schwefelatom sechzehnmal so schwer wie ein Wasserstoffatom. Die Erklärung stimmt; aus der Hypothese folgt das Faktum, und das für die Hypothese vorbildliche Erfahrungsanalogon liegt auf der Hand. Man nehme zwei Sorten Pulver, zwei Arten kleiner, je unter sich gleichgroßer und gleichschwerer Kügelchen, etwa bleierne Schrotkörner einerseits, kleine Korkkugeln andererseits; ihre spezifischen Gewichte mögen sich verhalten wie  a : b.  Wenn dann bei einer Mischung beider Sorten immer ein Kügelchen oder Korn der einen Art mit je einem solchen der anderen Art paarweise zusammenklebt, die überschüssigen Bestandteile der einen oder anderen Art aber sich vom neuentstandenen Mischstoff ganz absondern, dann würden im resultierenden Mischstoff stets beide Sorten in einem Gewichtsverhältnis  a : b  enthalten sein. Dieser Vorgang ins Metamikroskopische, also ins Unerfahrbare, übertragen ergibt die Theorie der Atomgewichte. Etwas Drastisches hat diese Vorstellungsweise; sie erinnert stark an die Kruditäten [Grobheiten - wp] der kartesianischen Naturphilosophie; aber wenn man am unaufgeklärt zurückbleibenden Rest, ich meine an der qualitativen Verschiedenheit der Elementarstoffe und dem Mysterium der sogenannten "Affinitätskraft", keinen Anstoß nehmen will, so hat sie jedenfalls den Vorzug, einen unerfahrbaren Prozeß in ein für unsere Anschauung völlig klares und faßliches Bild zu transformieren. Ferner aber entdeckte DALTON das Gesetz der multiplen Proportionen. Er fand auf experimentellem Weg, daß, wenn zwei Elemente sich in einer Stufenleiter nach mehreren verschiedenen Gewichtsverhältnissen zu mehreren qualitativ verschiedenen Stoffarten verbinden, wie z. B. Schwefel und Sauerstoff erst zur unterschwefligen Säure, dann zu schwefliger Säure und schließlich zur Schwefelsäure, - daß dann diese Verbindungen nach Multiplen der Äquivalente vor sich gehen. So verhalten sich die relativen Gewichtsquanta an Schwefel und an Sauerstoff in den ebengenannten drei Oxydationsstufen des Schwefels sukzessive wie  16 : 8, 16 : 16,  und  16 : 24;  d. h. die in ihnen enthaltenen Sauerstoffmengen stehen in der Proportion  1 : 2 : 3.  Auch dieser Umstand läßt sich aus der atomistischen Hypothese vortrefflich deduzieren, indem man annimmt, daß je ein Atom Schwefel im ersten Fall mit je einem, im zweiten Fall mit je zwei, im dritten mit je drei Sauerstoffatomen zusammentritt. Und so allgemein. Es folgt die seltsame Erscheinung der  Isomerie,  d. h. der Umstand, daß es Stoffe von ganz derselben chemischen Zusammensetzung gibt, die trotzdem qualitativ verschieden sind, wie beispielsweise der Zucker, das Stärkemehl und der Holzfaserstoff, obwohl ihren empirischen Eigenschaften nach völlig heterogen, doch gleicherweise dieselben Gewichtsquanta der Elemente Kohlenstoff, Wasserstof und Sauerstoff in sich enthalten. Man erklärt sich das einfach daraus, daß in solchen Fällen die Anordnung oder Gruppierung der Atome jetzt diese, dann wieder eine andere ist. Und  ebendies  liefert auch einen plausiblen Erklärungsgrund für das noch befremdlichere Phänomen der  Allotropie.  Wenn ein und dasselbe Elemente einmal in dieser, das andere Mal in einer ganz anderen Form und Qualität auftritt, z. B. derselbe Kohlenstoff als heller Diamantkristall, als grauer Graphit und als schwarzer Ruß, derselbe Sauerstoff jetzt als Ozon, jetzt als Antozon, derselbe Phosphor jetzt als weißer, wachsweicher und leicht entzündlicher Stoff, und dann auch als roter, harter, erst bei einer Hitze von 200° Celsius sich entzündender Körper, so wird diese sonderbare, proteusartige Vielgestaltigkeit derselben chemisch unzerleglichen Substanz einigermaßen begreiflich, indem man sich die gleichen Atome einmal so, das andere Mal ganz anders gruppiert denkt. Übrigens wären über den empirisch unbekannten Sachverhalt auch noch anderweitige Hypothesen denkbar.

Ein ferneres Paradigma derselben Kategorie liefert uns die von DAVID FRIEDRICH STRAUSS aufgestellte Mythotheorie der in den Evangelien erzählten Wundergeschichten. Sie tritt, wie bekannt, sowohl zu den Rationalisten wie auch zu den Supranaturalisten unter den älteren Theologen in scharfe Opposition, indem sie sowohl die historische Wahrheit und natürliche Erklärbarkeit, als auch die Übernatürlichkeit jener wunderbaren Vorgänge bestreitet. Stattdessen überträgt sie den Begriff des  Mythos,  der bis dahin nur in der Kritik der heidnischen Mythologie zur Anwendung gebracht worden war, auf die christlichen Evangelien. "Mythos" heißt danach eine Dichtung, die nicht aus bewußter und absichtlicher Erfindung eines einzelnen Menschen hervorgeht, sondern als unwillkürliches Gesamtergebnis aus der Stimmung und Phantasie eines ganzen Volkes, eines Zeitalters oder einer religiösen Gemeinde entspringt. Der Mythos ist keine Lüge, aber auch keine geschichtliche Wahrheit, vielemehr, wie etwa der Traum oder die Vision des Ekstatischen, ein psychologisches Naturprodukt, ein unwillkürliches Erzeugnis der affektvollen Einbildungskraft, welches, wenn einmal entstanden, weitererzählt und von Mehreren geglaubt, dann den gläubigen Gemütern der folgenden Generationen als historische Tatsache gilt, von ihnen mit religiöser Inbrunst festgehalten wird, und allmählich vom Rost des Alters überzogen an Ehrwürdigkeit mehr und mehr gewinnt. Erwägt man nun mit STRAUSS, daß zur Zeit der Entstehung des Christentums, damals, als die später in den Evangelien kodifizierten Erzählungen entsprungen sein müssen und zu kursieren anfingen, unter dem unterdrückten Volk Israel die Messiaserwartungen, welche das alte Testament überall erregt, besonders stark lebendig waren, so wird es begreiflich, daß die Anhänger  Jesu  zunächst in der außerordentlichen Persönlichkeit des Meisters den lang erhofften Messias erblickten, sodann sich dem Glauben hingaben, es müsse bei ihm alles zutreffen, was den alttestamentlichen Weissagungen, Vorbildern und Andeutungen gemäß von einem Messias erwartet wurde. Daher erzählte und glaubte man, obwohl  Jesus  aus Nazareth stammt, er sei in Bethlehem geboren; denn so hatte es der Prophet  Micha  geweissagt. Man glaubte an den Stern, der den Weisen aus dem Morgenland als Führer voranleuchtete und in Bethlehem über dem Haus der Eltern von  Jesu  stillstand; denn im 4. Buche  Mosis  (24, 17) verkündigt  Bileam  einen Stern aus  Jakob,  ein Szepter aus Israel, und nach  Jesaias  (60, 1-6) sollte ein Licht über Jerusalem aufgehen, dem Könige mit reichen Geschenken entgegenziehen werden. Man war zu glauben bereit und glaubte, daß  Jesus  die Blinden sehen, die Tauben hören und die Lahmen gehen gemacht hat; denn  Jesaias  hatte ja ebendies vom Messias prophezeit. Man glaubte das Wunder, daß  Jesus  in der Einöde am galiläischen See fünftausend Menschen mit fünf Broten und zwei Fischen reichlich gesättigt habe; denn darauf deutete der 107. Psalm hin, und seit der wunderbaren Speisung der in der Wüste hungernden Israeliten mit Manna hatten sich nach dem Zeugnis der Schriften des alten Testaments ähnliche Speisungen öfter wiederholt. So kamen diese Mythen zustande. Eine unwillkürliche, psychologisch wohlbegreifliche Anwendung uralter, durch die Zeitumstände neubelebter messianischer Prophezeigungen und Erwartungen auf die imponierende und erhabene Person  Christi,  dies ist nach der STRAUSSschen Theorie das Hauptmotiv der evangelischen Mythenbildung.

Ich meinerseits finde nun, daß diese gewiß sehr plausible Erklärung das Gebiet des strikt Erfahrbaren gerade ebenso transzendiert, wie die vorher angeführten Theorien der Physik und Chemie. Sie beruth wie jene nicht auf empirischer, sondern auf hypothetischer Basis, kann sich aber gleich jenen auf gewisse Erfahrungsanaloga stützen. Da mir aber wohl bewußt ist, daß die Juxtaposition [Nebeneinander - wp] inhaltlich so heterogener, durch Himmelsweite getrennter Theorien manchem Zweifel begegnen kann, so sei diese meine Auffassung  in extenso  begründet. Obgleich die Fundamentalvoraussetzung von STRAUSS, daß nämlich die heute gültigen Naturgesetze auch vor achtzehnhundert Jahren Geltung gehabt haben, mithin etwas mit diesen Unvereinbares sich damals ebensowenig wie heute habe zutragen können, den Namen "Hypothese" erhalten soll, ist schließlich bloß eine Formfrage der Terminologie. Jedenfalls enthält die genannte Voraussetzung eine Ansicht, die bei höchster Wahrscheinlichkeit doch keineswegs eine absolute Gewißheit besitzt. Hypothetisch aber ist sodann zweifellos die Annahme, daß gerade der  Mythos  Entstehungsgrund der Wundererzählungen gewesen ist. Sie spielt in der STRAUSSschen Theorie dieselbe Rolle, wie in der physikalischen Optik die Annahme des oszillierenden Äthers. Es könnten stattdessen auch Halluzinationen, bewußte Erfindungen und Fälschungen, oder noch ganz andere Dinge im Spiel gewesen sein. Wir wissen es nicht. Hier wäre nun aber der Einwand denkbar: Wenn man unser Klassifikationsschema beibehalten will, so würde doch die STRAUSSsche Erklärungsart viel eher unter die Theorien  erster  Ordnung gehören als hierher. Sie verhält sich ja rein immanent, sie rechnet mit lauter empirischen Faktoren, sie überschreitet prinzipiell das Gebiet tatsächlich begründeter Erfahrungssätze um keines Fußes Breite, steht vielmehr zu psychologischen Vorgängen in derselben Beziehung, wie die Theorie der Winde zu meteorologischen Vorgängen; ja sie verhält sich soga  a limine [von vornherein - wp] abweisend gegen jene ganze Sphäre des Unerfahrbaren, Überempirischen, wohinein die Physik der Imponderabilien und die Molekulartheorie ihre hypothetischen Erklärungsprinzipien zu konstruieren gezwungen ist. Aber Halt! womöglich ist sie von uns am falschen Ort untergebracht. Sehr wohl! - erwidern wir; indessen bleibt zu bedenken, daß es mit der Theorie historischer Tatsachen eine etwas andere Bewandtnis hat, als mit der von physischen Phänomenen. Während man in den physikalischen Wissenschaften unter der Voraussetzung einer strengen Konstanz und Ubiquität [Allgegenwart - wp] der Naturgesetze einen der Vergangenheit angehörigen oder an schlechthin entlegenen Stellen des Raumes vorgefallenen Prozeß entweder experimentell wiederholen, und so unmittelbar  ad oculos  demonstrieren, oder ihn - z. B. eine vor Jahrhunderten vorgekommene Planetenkonstellation, Kometenerscheinung, Sonnenfinsternis - mit mathematischer Sicherheit zurückberechnen kann, ist dasselbe in kulturhistorischen Angelegenheiten schlechthin unausführbar und unmöglich. Welche Stimmung die Zeitgenossen und Jünger  Christi  faktisch beherrscht, welche Motive sie bei ihrem Verhalten gelenkt, auf welchen Füen eigentlich ihr Glaube gestanden, wieviel von den kursierenden Wundergeschichten auf Autopsie [Untersuchung mit eigenen Augen - wp], auf affektvoll gesteigerter Imaginationstätigkeit, auf visionären Seelenzuständen, auf Übertreibung durch das Gerücht beruth hat, ja  daß  überhaupt zur Zeit  Christi  an die angeführten Wunder geglaubt worden ist, - dies ist unwiederbringlich der Nacht der Vergangenheit anheimgefallen, nicht mehr empirisch konstatierbar. Da menschliche Seelenzustände und weltgeschichtliche Ereignisse  nicht  so wie Naturereignisse experimentell herstellbar und rekonstruierbar oder streng mathematisch zurückberechenbar sind, so gehören sie, wenn einmal der Vergangenheit anheimgefallen, dem absolut Unerfahrbaren an. Diesem lassen sie sich auf keine Weise entreißen. Es ist daher schon eine ziemlich weitgehende Konzession, wenn man die zuerst durch mündliche Überlieferung, nachher durch den geschriebenen Text der Evangelien auf bewahrten Erzählungen als  psychologische  Tatsachen der Vergangenheit in demselben Sinne gelten läßt, in welchem die Sonnenfinsternis des THALES eine  physische  Tatsache der Vergangenheit ist. Was aber gar zur psychologischen Erklärung jener psychologischen Tatsachen beigebracht wird, das überschreitet die Erfahrungswissenschaft in demselben Grad und ist zumindest ebensosehr Hypothese, wie die für immer unsichtbaren Schwingungen des Äthers oder die unwägbaren Gewichte der Atome. Es sind Gedanken, nur Gedanken, nichts als Gedanken; ohne jede empirische Gewähr; lediglich gebaut auf die subjektive Meinung, daß,  wenn  wir Heutigen uns in jene verschwundene Zeit zurückversetzen  könnten, dann,  soweit unsere in der Gegenwart erworbene Psychologie reicht, die Dinge vor unseren Augen  sich so hätten zutragen können. 

Doch hiermit ist eine Richtung der logischen Selbstkritik angedeutet, in der hier nicht weitergegangen werden soll. Sie droht uns ins Unermeßliche zu führen; und das gebietet der Zweck der gegenwärtigen Untersuchung keineswegs.

Ähnliches gilt überigens von einer ganzen Gattung theoretischer Lösungen historisch-psychologischer Probleme, z. B. von den mancherlei Theorien über den Ursprung der menschlichen Gesellschaft und Staatsordnung. Wenn hier eine optimistische und eine pessimistische Partei im Streit liegen, wenn ARISTOTELES, HUGO GROTIUS und JEAN JACQUES ROUSSEAU im  Contrat social  aus dem Geselligkeitsbedürfnis, der Sympathie und dem gegenseitigen Wohlwollen der Menschen, hingegen die Epikuräer und HOBBES im  Leviathan  aus dem Haß, der Konkurrenz, dem zwar zu kluger Mäßigung fähigen, aber unausrottbaren Egoismus, dem raubtierähnlichen  bellum omnia contra omnes  [Krieg aller gegen alle - wp] zwischen den Urmenschen die soziale und politische Ordnung deduzieren wollen, so ist der Optimismus der Einen, der Pessimismus der Anderen lediglich eine Hypothese. Es handelt sich um Theorien zweiter Ordnung.

Schließlich noch ein Wort über den logischen Wert dieser Kategorie.

Es wäre ein weit übertriebener Rigorismus, wenn man, mit einem sehnsüchtigen Rückblick auf die den Theorien erster Ordnung zukommende tatsächliche Gewißheit, diejenigen der zweiten Ordnung wegen ihrer problematischen Natur so beurteilen wollte, seien sie ein müßiges Spiel des Scharfsinns, eine subjektive Verstandesübung ohne jedes objektive Recht. Obwohl ihnen das sehnlichst erwünschte Attribut assertorischer oder apodiktischer Gewißheit fehlt, obwohl sie jeden Augenblick durch bessere Hypothesen verdrängt und ersetzt werden können, obwohl ihnen daher nur der Wert von Provisorien, von glaubhaften Annäherungen an die unbekannte Wahrheit zugesprochen werden kann, so befriedigen sie doch das Bedürfnis des Erkennens zumindest insofern, als sie das auf uns lastende Gefühl der Unwissenheit interimistisch erleichtern, als sie uns die Überzeugung gewähren, daß auch empirisch Unbegriffenes, Unerklärtes formell mit der Logik des menschlichen Verstandes überwältigt werden kann, als sie die trostreiche Zuversicht bestärken, daß uns immer weiterdringende Approximationen [Annäherungen - wp] an die Wahrheit möglich sein werden. Und namentlich dort ist dies der Fall, wo die Ziehung der Konsequenzen aus der Hypothese mit mathematischer Schärfe herstellbar ist.
LITERATUR Otto Liebmann, Die Klimax der Theorien, Straßburg 1884
    Anmerkungen
    1) Das kopernikanische System bildet, wie Jedermann weiß, geschichtlich und sachlich die Vorstufe und Basis von Newtons Gravitationstheorie. Nun wäre es möglich, ich meine in abstracto denkbar, daß das System des Kopernikus irgendeinmal dahinfällt, wie das des Kopernikus und das des Tycho de Brahe. Trotzdem, ja sogar wenn durch einen Zauberschlag die ganze faktische Weltordnung umgestürzt würde, bliebe die Lehre Newtons und die Galileis als  veritas aeterna [ewige Wahrheit - wp] feststehen. Ein Paradoxon! - ich gebe es zu. Aber wer dieses Paradoxon nicht versteht, ihm nicht unbedingte Zustimmung zollt, der steckt gerade in der oben gerügten Einseitigkeit und mag zusehen, ob er sich durch ein eifriges Studium davon befreien kann.
    2) Diese wunderliche, von Giordano Bruno und Leibniz enorm überschätzte Doktrin enthielt den barocken Versuch einer  Experimental-Logik. 
    3) Nicht unpassend wäre es auch, die erste Art ätiologische Theorien, die zweite Art teleologische Theorien zu nennen. Indessen gäbe dies, da unter dem Namen Teleologie eine metaphysische Parteiansicht auftritt, zu Mißverständnissen Gelegenheit. Deshalb verdienen die im Text gewählten Ausdrücke den Vorzug.
    4) Eine Ergänzung und teilweise eine mehr ins Spezielle hinabsteigende Ausführung der hier entworfenen Klassifikation enthält die anderswo von mir gelieferte "Schematische Stufenordnung der deduktiven Wissenschaften". Siehe Gedanken und Tatsachen, Heft 1, Seite 38-45. Auch mag hiermit verglichen Werden, was in meiner Analysis der Wirklichkeit, zweite Auflage, Seite 560, 203 und 280 über den Unterschied zwischen einer Theorie des Seines und einer Theorie des Geschehens gesagt und angedeutet wird.
    5) Der Gedankengang, welcher zur Konzeption des Atombegriffs und zur ganzen atomistischen Naturerklärung hinführt, ist eine analytisch-regressive, halb empirisch, halb hypothetisch fundierte Schlußkette. Seinen genaueren Verlauf und seine logische Dignität sich einmal scharf vor Augen zu führen, dürfte wohl hier der Mühe wert sein. - - - Ausgegangen wird von der Erfahrungstatsache, daß jeder physische Körper bei einer Anwendung der nötigen Force majeure [höheren Gewalt - wp] physisch zerteilbar ist. Der härteste Stoff wie der lockerste, ein Diamant so gut wie Ackererde, der feste, weiche wie der flüssige Körper läßt sich mechanisch zerbrechen, zertrümmern, zerreiben, pulverisieren, durch Erhitzung schmelzen, verdampfen, in Splitter, Staubkörner, Tropfen und Dunstbläschen auflösen, oder chemisch zersetzen, zu Rauch und Asche verbrennen etc. Diese empirisch feststehende physische Teilbarkeit des Körpers geht nach dem Zeugnis der Erfahrung zwar nicht in infinitum, - (da überhaupt nichts Unendliches erfahrbar ist) -; wohl aber in definitum. Sie hat nirgends irgendwelche empirisch aufweisbaren Körperteilchen, die etwa wegen ihrer absoluten Härte und unbeschränkten Kohäsion [Haftkraft - wp] jedem Versuch zu einer noch weitergehenderen Zerteilung einen schlechthin unüberwindlichen Widerstand entgegensetzen. Vielmehr steht es a priori fest, daß, falls nur die zur Zerteilung benutzten Naturkräfte selbst nicht durch gewisse äußerste Intensitätsgrenzen eingeschränkt sein sollten, dann auch die physische Teilbarkeit des Körperlichen, ebenso wie die geometrische Teilbarkeit, in infinitum gehen müßte. Nun aber hat unsere Erfahrung nach dieser Seite des Minutiösen hinab bestimmte Schranken, sofern unsere Sinne, selbst mit dem schärfsten Mikroskop bewaffnet, die Teilung und Teilbarkeit des Körperlichen nur bis zu einem gewissen minimum visibile hin wahrzunehmen und durch die Beobachtung als faktisch zu konstatieren fähig sind. Diese Schranken der Erfahrung überspringt jedoch das Denken, indem es, gestützt auf den Satz von der Beharrlichkeit der Substanz, in das unerfahrbare Gebiet des Transmikroskopischen hinübergreift und dort als wirklich beharrliche Substrate des empirischen Geschehens gewisse nicht mehr wahrnehmbare, absolut konstante, folglich auch unzerteilbare Elementarbestandteile des Körperlichen annimmt. Somit dürfte man sagen, das physische Atom ist eigentlich eine metaphysische Fiktion. Da nun aber außerdem der hierbei als Prämisse zugrunde gelegte Satz von der Beharrlichkeit der Substanz weder ein Empeirem, noch ein Axiom, weder a priori noch experimentell irgendwie erweisbar ist (siehe "Gedanken und Tatsachen", Heft 1, Seite 63-64), dergestalt, daß er sogar von namhaften Denkern, wie Heraklit von Ephesus, angezweifelt und bestritten werden konnte, so ist mit der Prämisse selbst auch die darauf gebaute Atomlehre durchaus problematisch und hypothetisch. Die tatsächliche Existenz von Atomen streng zu beweisen, wird für immer unmöglich sein.