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MOSES MENDELSSOHN
(1729 -1786)
Über die Evidenz in
metaphysischen Wissenschaften


"Man hat gesehen, daß sich die Gewißheit der geometrischen Wahrheiten nur auf die unveränderliche Identität eines eingewickelten Begriffs mit den abgeleiteten entwickelten Begriffen stützt. Dies ist der höchste Grad der Gewißheit, der aber nur in der reinen theoretischen Mathematik stattfindet. Sobald wir von einer geometrischen Wahrheit in der  Ausübung Gebrauch machen, das heißt, sobald wir von bloßen Möglichkeiten zu Wirklichkeiten übergehen wollen, muß ein Erfahrungssatz zugrunde gelegt werden, welcher aussagt, daß diese oder jene Figur, Zahl usw.  wirklich vorhanden ist. Im ganzen Umfang der Mathematik findet sich kein Beispiel, daß man aus bloß möglichen Begriffen auf die Wirklichkeit ihres Gegenstandes schließen kann. Die Natur der Quantität, als des Gegenstandes der Mathematik, widerspricht einem solchen Schluß. Unsere Begriffe von der Quantität stehen mit anderen Begriffen, aber mit keinen Wirklichkeiten in einer notwendigen Verbindung."

Vorbemerkung

Die äußere Veranlassung zu dieser Schrift war eine von der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin für das Jahr 1763 gestellte Preisaufgabe, welche  die Evidenz in den philosophischen Wissenschaft  zum Gegenstand der Behandlung haben sollte. Unter vielen anderen Mitbewerbern, von denen THOMAS ABBT und IMMANUEL KANT (1) zu nennen sind, erhielt die Arbeit von MOSES MENDELSSOHN den Preis. Die Grundgedanken dieser metaphysischen Untersuchung sind allerdings auf LEIBNIZ'sche Prinzipien zurückzuführen. Wie hoch MENDELSSOHN damals Prinzip und Methode dieses Systems stellte, geht aus der dieser Abhandlung vorangehenden Einleitung hervor, in der es u. a. heißt: "Wenn die Neuern Heldengedichte hervorbringen werden, welche die  Ilias  so sehr an Schönheit übertreffen, wie die Metaphysik des DESCARTES und LEIBNIZ die aristotelische Gründlichkeit und Deutlichkeit übertrifft, so wird die  Ilias  vielleicht so unbrauchbar scheinen wie die Philosophie des ARISTOTELES." Aber indem er es unternimmt, die metaphysischen Grundlagen der LEIBNIZ'schen Weltanschauung neu zu begründen, ist ihm doch schon eine gewisse Selbständigkeit in der Art seines methodischen Verfahrens nicht abzusprechen, wie er überhaupt auch in Bezug auf den sprachlichen Ausdruck auf die strenge Schulterminologie verzichtet und immer mehr jene Reinheit, Korrektheit und Klarheit der Form anstrebt, die in seinen philosophischen Hauptschriften in so vollendeter Weise zur Geltung kommen.

Die Preisschrift zerfällt in vier Abschnitte, deren erster "Von der Evidenz in den Anfangsgründen der mathematischen Wissenschaften" die metaphysischen Grundlagen der Mathematik untersucht. Zunächst werden die Begriffe der Größe und der Ausdehnung analysiert und gezeigt, wie in diesen der Grund der aller Erkenntnis der reinen Mathematik innewohnenden zwingenden Gewißheit enthalten sei. In den Qualitätsbegriffen liege eben die innere Möglichkeit aller Evidenz der mathematischen Sätze, und die Sicherheit im Verfahren der Mathematiker bestehe darin, daß sie aus jenen quantitativen Hauptbegriffen alle in ihnen implizit enthaltenen Wahrheiten rein logisch entwickeln können. Freilich bedürften sie dazu all jener äußerlichen geometrischen Hilfsbegriffe, wie der Linien und der Figuren; aber der Verfasser hofft von den Fortschritten und der philosophischen Vertiefung der mathematischen Wissenschaften, daß es ihnen dereinst gelingen werde, ihren ganzen Inhalt, d. h. den gesamten inneren Gehalt der intensiven Größe ohne jene äußeren Hilfsmittel durch eine bloße Begriffsentwicklung in ausgedehnte Größen zu verwandeln.

Im zweiten Abschnitt "Von der Evidenz in den Anfangsgründen der Metaphysik" wird nun die Untersuchung auf das eigentliche philosophische Gebiet hinübergeleitet. Die Philosophie wird als eine auf Vernunft gegründete Erkenntnis der Beschaffenheiten definiert. Bewegt sich jedoch die Mathematik innerhalb der bloßen Möglichkeit, und muß sie, will sie aus der Möglichkeit zur Wirklichkeit übergehen, aus der Erfahrung geschöpfte (empirische) Wahrheiten zuhilfe nehmen, wobei sie freilich ganz unentschieden läßt, wie weit die Erfahrung dem inneren Sein der Dinge entspricht, so hat es die Philosophie gerade mit diesem inneren Sein der Welt zu tun, soweit die inneren Merkmale der Dinge-ansich, d. h. ohne Beziehung zu anderen Dingen gedacht werden. Zwar könne der Begriff des inneren Seins, des rein Qualitativen, ohne den des Ausgedehnten, des rein Quantitativen, und umgekehrt, nicht vorgestellt werden, und insofern sind Philosophie und Mathematik unzertrennlich zusammenhängende Wissenschaften; indessen hat jede derselben ein nur ihr angehöriges Gebiet und eine nur ihr angehörige Methode. Während demnach ihre Gemeinschaft darin besteht, daß beide Wissenschaften in ihrer Begriffsentwicklung von aller Wirklichkeit absehen (was freilich wieder die Einschränkung erleidet, daß dies nur von einem Teil der Philosophie, dem rein metaphysischen, gilt) und beide rein analytisch zu verfahren haben, fehlen der Philosophie noch die strenge, der Mathematik zukommende Evidenz und die zwingende Gewißheit, und zwar aus dem Grund, weil jene der äußerlich räumlichen Bezeichnungsweise entbehrt, wesentlich aber auch deshalb, weil der Zusammenhang des inneren Seins der Welt ein so inniger und komplizierter ist, daß die begriffliche Entwicklung eines dieser inneren Merkmale der Dinge notwendig auch die Entwicklung aller andern notwendig macht. Das philosophische Verfahren muß daher, will es die wissenschaftlich wünschenswerte Überzeugungskraft gewinnen, bei jeder einzelnen Wahrheit auf die ersten Elemente und Voraussetzungen zurückgehen. Hierin besteht die Schwierigkeit der philosophischen Methode. Vor allem aber stellt man im Gegensatz zur Mathematik an die Philosophie die Forderun, daß sie das wirkliche Sein, die Wirklichkeit der Dinge, deren Begriffe sie entwickelt, beweise. Solches geschieht, indem sie von einer inneren, den Begriff des wirklichen Seins einschließenden psychologischen Tatsache ausgeht. Hierzu kommen dann manche andere, rein menschlich-subjektive Schwierigkeiten, welche verhindern, daß die Philosophie denjenigen Grad der Evidenz erreichen könne, den die reine Mathematik besitzt.

Die Anwendung hiervon für die praktischen Teile der Metaphysik, die Religionsphilosophie und Ethik (oder wie es in der LEIBNIZ-WOLFF'schen Schule hieß: die "Natürliche Theologie" und "Sittenlehre") macht MENDELSSOHN in den beiden letzten Abschnitten der Untersuchung: "Von der Evidenz in den Anfangsgründen der natürlichen Gottesgelehrtheit" und "Von der Evidenz in den Anfangsgründen der Sittenlehre". Im ersten wird aufgrund der vorangegangenen Prämissen die Notwendigkeit und Wirklichkeit des vollkommensten Wesens, d. h. Gottes entwickelt. Hierbei sind es jedoch besonders der ontologische und der kosmologische Beweis für das Dasein Gottes, die näher begründet werden, während dem physiko-theologischen und psychologischen nur eine untergeordnete Bedeutung beigemessen werden. Schon in diesem Teil der Untersuchung ist es sichtbar, wie MENDELSSOHN bemüht ist, die Grundlagen für jenen strengen philosophischen Theismus zu legen, die er später in den "Morgenstunden" fester begründet und weiter ausgebaut hat.

Im letzten Abschnitt, der die metaphysische Begründung der philosophischen Sittenlehre versucht, werden die Begriffe "Gut" und "Böse" auf ihre Ursprung, d. h. auf das allen vernünftigen Wesen gemeinsame sittliche Vernunftgesetz zurückgeführt. Ähnlich wie die rationale Theologie teilt er auch die Sittenlehre in eine "reine" und "angewandte" ein. Jene könne ihre Wahrheiten mit mathematischer Strenge ableiten und beweisen. An die Spitze stellt er das sittliche Grundgesetz, dessen Wortlaut er formuliert: "Mache deinen und deiner Nebenmenschen inneren und äußeren Zustand, in gehöriger Proportion, so vollkommen als du kannst." Die Begründung dieses sittlichen Grundgesetzes wird aus der Voraussetzung des Begriffs des freien Wesens versucht. Wir finden auch hier wieder den wesentlich eudämonistischen Charakter vor, der fast allen ethischen Untersuchungen und Theorien der vorkantischen Zeit des achtzehnten Jahrhunderts eigentümlich ist. Dennoch tut man den Philosophen jener Zeit Unrecht, wenn man gegenwärtig (wie neuerdings erst EDUARD von HARTMANN in seiner "Phänomenologie des sittlichen Bewußtseins") mit einer gewissen Geringschätzung auf die "Glückseligkeitsmoral" des achtzehnten Jahrhunderts herabsieht. Man übersieht, daß in diesen ethischen Prinzipien eine tiefe Quelle energischer, sittlicher und humanitärer Tätigkeit für eine Zeit lag. Überdies ist der vorwiegend autonome Charakter dieser Sittenlehre in keinster Weise zu verkennen. Entsprechend freilich seinem theistischen Standpunkt glaubt übrigens MENDELSSOHN der Autonomie seines Sittengesetzes in keiner Weise Abbruch zu tun, wenn er dasselbe mit theistischen Voraussetzungen zu amalgamieren [verschmelzen - wp] sucht, indem er dartut, daß der Inhalt des sittlichen Vernunftgesetzes ein vom vollkommensten Wesen notwendig gewollter ist, woraus sich ergibt, daß sich der sogenannte Wille Gottes mit der höchsten Freiheit menschlicher Entschließungen in Harmonie befindet. So sehen wir in dieser Arbeit MENDELSSOHNs, die ihn mehr noch als die "Gespräche" als geistvollen und scharfsinnigen Vertreter der LEIBNIZ'schen Schule erscheinen läßt, die Keime für den ganzen Kreis der philosophischen Wissenschaften gelegt, deren weitere Ausführung von ihm zwar später in Angriff genommen wurde, zu deren systematisch durchgeführter Bearbeitung er aber niemals gelangen konnte.

MORITZ BRASCH



Einleitung

Man macht der Weltweisheit gemeinhin den Vorwurf, daß in ihren Lehren niemals eine sonderliche Überzeugung zu hoffen wäre, weil in jedem Jahrhundert neue Lehrgebäude emporkommen, schimmern und wieder vergehen. Die Gedichte, die Reden, die historischen und kritischen Schriften, die Bildsäulen und übrigen Kunststükce der Alten werden noch in unseren Tagen als Meisterstücke bewundert, und zum teil noch mit größerem Nutzen studiert, als die Natur selbst. Allein die philosophischen Schriften der vorigen Zeiten sind in unseren Tagen fast unbrauchbar geworden. Ihre berühmtesten Lehrgebäude enthalten zwar noch einige Materialien, die mit Nutzen angewandt werden können, allein wie man glaubt, lohne sie die Mühe nicht, daß man ihrethalben das zerfallene Gemäuer durchsucht, und den Schutt aufgräbt, mit welchem sie bedeckt sind. Man schließt hieraus, daß die Empfindung der Schönheit und Ordnung oder der Geschmack weit beständiger und zuverlässiger sei, als die Vernunft, oder die Überzeugung von philosophischen Wahrheiten. Denn blieb auch der Geschmack seit HOMER noch so erhalten, die Vernunft aber mit jedem Menschenalter ihre Gestalt verändert hat, so muß jener sicherer und weniger dem Zweifel unterworfen sein, als diese.

Allein die Unbeständigkeit der philosophischen Lehrgebäude scheint von einer Ursache herzurühren, die der Weltweisheit einesteils zum Vorteil gereicht. Daß wir so schwache Gründe, so wenig bündiges und zusammenhängendes in den Systemen der Alten finden, kommt daher, weil die Vernunft seit der Zeit merkliche Fortschritte gemacht hat, weil wir durch die Bemühungen der Weltweisen der Wahrheit näher gekommen sind, die ersten Grundsätze der Natur besser einsehen und deutlicher auseinandersetzen gelernt haben. Die Naturlehre der Alten ist heutigen Tages noch weit unbrauchbarer, als ihre Metaphysik, denn die Erkenntnis der Natur hat seit der Zeit einen weit merklicheren Fortschritt gehabt, als die Metaphysik. Überhaut, je höher eine Kunst oder Wissenschaft getrieben wird, desto weiter entfernt man sich von den ersten schwachen Versuchen, die zu den Zeiten des Erfinders vielleicht mehr Genie erfordert haben, als die späteren Meisterstücke. Man wird mit dem Gegenstand immer vertrauter, die Begriffe klären sich auf, man erlangt tiefere Einsicht mit weniger Mühe, man sieht mit ganz anderen Augen.

Hingegen ist man in den schönen Wissenschaften und Künsten noch immer da, wo man zu Zeiten der alten Griechen gewesen ist, und vielleicht hat man seitdem noch einige Schritt zurück getan. Eine glückliche Nachahmung der Alten ist die höchste Vollkommenheit, nach welcher unsere Virtuosen ringen, und die glücklichste Nachahmung ist doch allezeit dem Muster nachzusetzen. Nach dem Urteil der Kenner hat noch kein Heldendichter den HOMER, kein Redner den DEMOSTHENES und kein Bildhauer den PHIDIAS völlig erreicht. Da wir also keine besseren Originalwerke haben, was wundert es, daß wir die Werke der Alten noch immer mit denselben Augen ansehen, mit welchen sie von ihren Zeitgenossen betrachtet wurden? In den dunklen Zeiten war ARISTOTELES den Weltweisen noch weit mehr, als HOMER den Dichtern ist. Seine Aussprüche wurden so lange für untrüglich gehalten, bis daß DESCARTES und LEIBNIZ kamen, die aristotelische an Gründlichkeit und Deutlichkeit zu übertreffen. Wenn die Neueren Heldengedichte hervorbringen werden, welche die  Ilias  so sehr an Schönheit überragen, als die Metaphysik des DESCARTES oder LEIBNIZ die aristotelische an Gründlichkeit und Deutlichkeit übertrifft, so wird die  Ilias  vielleicht so unbrauchbar scheinen, wie die Philosophie des ARISTOTELES.

Mit der Mathematik hingegen hat es eine ganz eigene Beschaffenheit ob man gleich in derselben größere Fortschritte gemacht hat, als in irgendeiner Wissenschaft, so haben deswegen die Werke der Alten noch nicht ganz ihren Nutzen verloren. Diesen Vorzug hat die Mathematik ihrer Untrüglichkeit zu verdanken. Ihre Evidenz ist so groß, daß man sich selten hat von der Wahrheit entfernen können. Man hat weniger gewuß, aber was man wußte, waren doch unleugbare Wahrheiten. Die Entdeckungen der Neueren haben die Grenzen der Wissenschaft unendlich erweitert; allein den kleinen Bezirk, den sie vorgefunden haben, ließen sie unverändert. Seine innere Verfassung war so gut, daß es unnötig war, die geringste Reform vorzunehmen.

Man hat es in unserem Jahrhundert versucht, die Anfangsgründe der Metaphysik durch untrügliche Beweise auf einen ebenso unveränderlichen Fuß zu setzen, wie die Anfangsgründe der Mathematik, und man weiß, wie groß die Hoffnung war, die man anfangs von dieser Bemühung schöpfte; allein der Erfolg hat gezeigt, wie schwer dieses ins Werk zu setzen ist. Selbst diejenigen, welche die metaphysischen Begriffe für überzeugend und unwiderlegbar halten, müssen doch endlich gestehen, daß man ihnen noch bisher die Evidenz der mathematischen Beweise nicht gegeben hat, sonst hätten sie unmöglich einen so vielfältigen Widerspruch finden können. Die Anfangsgründe der Mathematik überzeugen einen jeden, der Menschenverstand hat, wenn er es nur nicht an aller Aufmerksamkeit fehlen läßt. Man weiß aber, daß viele scharfsinnige Köpfe, die von ihren Fähigkeiten hinlängliche Proben abgelegt haben, gleichwohl die Anfangsgründe der Metaphysik verwerfen, und keiner anderen Wissenschaft als der Mathematik die Möglichkeit einer völligen Überzeugung zutrauen. Diese Gedanken scheinen eine erlauchte Akademie zu der Aufgabe veranlaßt zu haben: Ob die metaphysischen Wahrheiten überhaupt einer solchen Evidenz fähig sind, wie die mathematischen usw.

Zur Evidenz einer Wahrheit gehört, außer der Gewißheit, auch noch die Faßlichkeit oder die Eigenschaft, daß ein jeder, der den Beweis nur einmal begriffen hat, sogleich von der Wahrheit völlig überzeugt, und so beruhigt sein muß, daß er nicht die geringste Widersetzlichkeit bei sich verspürt, dieselbe anzunehmen. Die Anfangsgründe der Fluxionalrechnung [Differentialrechnung - wp] sind ebenso unleugbaur, wie die geometrischen Wahrheiten, aber so einleuchtend, so faßlich sind sie nicht; daher kann man ihnen die Evidenz der geometrischen Wahrheiten nicht zuschreiben. Man sieht hieraus, daß die Aufgabe der Akademie auch im Bejahungsfall zwei besondere Abteilungen hat. Man hat nämlich zu zeigen:  erstens ob  die metaphysischen Wahrheiten so unumstößlich dargetan werden können, und wenn dies bejaht wird,  zweitens  ob die Beweise derselben einer solchen Faßlichkeit fähig sind, wie die geometrischen Wahrheiten? Wird aber die erste Frage verneint, so hat man auszumachen:  erstens  von welcher Beschaffenheit eigentlich ihre Gewißheit ist;  zweitens  auf was für einen Grad man diese Gewißheit bringen kann, und  drittens  ob dieser Grad zur völligen Überzeugung hinreichend ist?

Ich getraue mich zu behaupten, daß die metaphysischen Wahrheiten zwar derselben Gewißheit, aber nicht derselben Faßlichkeit fähig sind, wie die geometrischen Wahrheiten. Das heißt: man kann die vornehmsten Wahrheiten der Metaphysik durch zusammenhängende Schlüsse bis auf solche Grundsätze zurückführen, die ihrer Natur nach ebenso unleugbar sind, wie die ersten Grund- und Forderungssätze der Geometrie, aber man kann diese Kette von Schlüssen nicht so einleuchten, nicht so faßlich machen, wie die geometrischen Wahrheiten. Dies zu beweisen, werde ich die Natur der mathematischen und metaphysischen Wahrheiten jede besonders untersuchen, und sie sodann miteinander vergleichen.



Erster Abschnitt
Von der Evidenz in den Anfangsgründen der Mathematik

Die Mathematik gründet ihre Gewißheit auf das allgemeine Axiom, daß nichts zugleich sein und nicht sein kann. Man beweist in dieser Wissenschaft einen jeden Satz, wie z. B.  A ist B,  auf zweierlei Art. Denn entweder man entwickelt die Begriffe von  A,  und zeigt,  A sei B,  oder man entwickelt die Begriffe von  B,  und folgert daraus, daß  Nicht-B  auch  Nicht-A  sein muß. Beide Arten zu beweisen gründen sich also auf den Satz des Widerspruchs, und da der Gegenstand der Mathematik überhaupt die  Größe,  der Geometrie aber insbesondere die  Ausdehnung  ist, so kann man sagen, daß in der Mathematik überhaupt unsere Begriffe von der Größe, in der Geometrie insbesondere aber unsere Begriffe von der Ausdehnung entwickelt und auseinandergesetzt werden. In der Tat, da die Geometrie nichts mehr zum Grund legt, als den abgesonderten Begriff von der Ausdehnung, und aus dieser einzigen Quelle alle ihre Folgen herleitet, und zwar dergestalt herleitet, daß man deutlich erkennt, daß alles, was in derselben behauptet wird, durch den Satz des Widerspruchs notwendig mit dem urbaren Begriff der Ausdehnung verknüpft ist, so ist kein Zweifel, daß im Begriff der Ausdehnung alle geometrischen Wahrheiten  eingewickelt  anzutreffen sein müssen, die uns die Geometrie darin  entwickeln  lehrt. Denn was können die tiefsinnigsten Schlüsse anderes tun, als einen Begriff zergliedern, und dasjenige deutlich machen, was dunkel war? Was im Begriff nicht anzutreffen ist, das können sie nicht hineinbringen, das läßt sich auch, wie leicht zu begreifen ist, durch den Satz des Widerspruchs nicht davon herleiten. Im Begriff der Ausdehnung liegt zum Beispiel die innere Möglichkeit, daß ein Raum von drei geraden Linien dergestalt eingeschränkt wird, daß zwei derselben einen rechten Winkel einschließen; denn aus dem Wesen der Ausdehung ist zu begreifen, daß sie vielerlei Einschränkungen fähig ist, und daß die angenommene Art der Einschränkung einer ihrer ebenen Flächen keinen Widerspruch enthält. Wenn man nun in der Folge zeigt, daß der Begriff von dieser angenommenen Einschränkung, oder von einem rechtwinkligen Dreieck, notwendig mit sich bringt, daß das Quadrat der Hypotenuse usw., so muß auch diese Wahrheit ursprünglich und implizit im ersten Begriff der Ausdehnung anzutreffen gewesen sein, sonst hätte sie durch den Satz des Widerspruchs nimmermehr davon hergeleitet werden können. Die Idee der Ausdehnung ist unzertrennlich von der Idee der Möglichkeit einer solchen Einschränkung, wie vorhin angenommen worden ist, und die Einschränkung ist abermals notwendig mit dem Begriff der Gleichheit bemeldeter Quadrate vernküpft; daher lag auch diese Wahrheit, wie eingewickelt, im ursprünglichen Begriff der Ausdehnung, allein sie entzog sich unserer Aufmerksamkeit und konnte nicht eher deutlich erkannt und unterschieden werden, bis wir durch die Zergliederung alle Teile dieses Begriffs entwickelt und auseinander gelegt haben. Die Analysis der Begriffe ist für den Verstand nichts mehr, als was das Vergrößerungsglas für das Gesicht ist. Es bringt nichts hervor, das in einem Gegenstand nicht anzutreffen ist, sondern es erweitert die Teile des Gegenstandes und macht, daß unsere Sinne vieles unterscheiden können, das sie sonst nicht bemerkt haben würden. Nicht anders macht es die Analysis der Begriffe; sie macht die Teile und Glieder dieser Begriffe deutlich und kennbar, die vorhin dunkel und unbemerkt waren, aber sie bringt in die Begriffe nichts hinein, das nicht vorher in denselben anzutreffen gewesen ist.

PLATO erzählt (2) wie SOKRATES einst von einem unwissenden Knaben, durch geschichtes Fragen, einen tiefsinnigen geometrischen Satz herausgelockt habe, und wenn man diese Unterredung liest, so muß man gestehen, daß der Versuch leicht zu wiederholen wäre, wenn der zu unterrichtende nur geduldig genug ist, uns zu folgen, und die vielfältigen Fragen, die wir tun müssen, mit einiger Aufmerksamkeit erwägen, bevor er bejaht oder verneint. Denn ein mehreres hat er bei der ganzen Lektion nicht zu tun, als nach Beschaffenheit der Sache zu bejahen oder zu verneinen, und gleichwohl läßt ihn SOKRATES alles selbst erfinden. Er setzt nichts mehr bei ihm voraus, als den bloßen Begriff von Ausdehnung. Er entdeckt ihm keine Worterklärung, keinen Grund- oder Forderungssatz; sondern durch bloßes Fragen macht er ihn bald auf dieses, bald auf jenes Glied des zu Grunde gelegten Begriffs aufmerksam, und läßt ihn nach und nach den geometrischen Satz samt der Demonstration erfinden. Es ist kein Zweifel, daß er es durch wiederholte Versuche mit der ganzen Mathematik nicht ebenso hätte machen können, und man sieht hieraus, daß unsere Begriffe bis auf den letzten Faden, sozusagen, ablaufen, wenn ein SOKRATES sich die Mühe nimmt, sie zu abzuwickeln. PLATO erzählt diese Begebenheit, um daraus zu schließen, daß unser Lernen nichts als ein Erinnern ist, indem SOKRATES dem Knaben ja nichts Neues beigebracht hat, und bloß durch eine Erregung seiner Aufmerksamkeit, oder wie es PLATO nennt,  Erinnerungskraft ihn tiefsinnige Wahrheiten gelehrt hat. Dies heißt in der Sprache der neueren Weltweisen: durch das Lernen kommen keine neuen Begriffe in die Seele, die vorher nicht darin gewesen sind. Denn die Schlüsse, und vornehmlich die mathematischen, sind nichts anderes, als Zergliederungen der sinnlichen Eindrücke, oder der von denselben abgesonderten Begriffe; daher können sie das Dunkle deutlich machen, und das Eingewickelte aufwickeln, aber schlechterdings der Seele nichts Neues beibringen. So liegt z. B. im sinnlichen Ausdruck der Ausdehnung der ganze Inbegriff der geometrischen Wahrheiten, die durch Schlüsse nur mehr ans Licht gezogen werden. Nun ist es aber wider die Vernunft, dem sinnlichen Eindruck, als einer körperlichen Bewegung, die die Seele wahrnimmt, einen so großen Schatz von tiefsinnigen Wahrheiten zuzuschreiben; und wenn man dies auch objektiv zugeben wollte, so ist doch nicht zu begreifen, wie diese unendliche Menge von Begriffen der Seele auf einmal durch ein augenblickliches Anschauen eingetrichtert werden können. Diese Schwierigkeit zu heben, gerät PLATO auf den seltsamen Einfall: unsere Seele habe alles, was sie in diesem Leben erfährt, in einem anderen Zustand vorher gelernt und gewußt, und die sinnlichen Eindrücke wären nur die Anlässe, oder die Gelegenheiten, bei welchen sich die Seele des Vergessenen wieder erinnert. Dies kommt mit einer gewissen mystischen Lehre der orientalischen Weisen überein, welche gleichfalls behaupten, die Seele habe vor diesem Leben die ganze Welt begriffen, beim Eintritt in dasselbe aber alles wieder vergessen.

So fremd diese Lehre in unseren Ohren klingt, so liegt in derselben doch einige Wahrheit. Die Neueren haben sie auch in der Tat beibehalten, und in ihr System gebracht, nur daß sie ihr das Mystische genommen haben, das ihr ein so widersinniges Ansehen gibt. Sie sagen, da die Vorstellungskraft das Wesen und die innerliche Möglichkeit der Seele ausmacht, so ist eine Seele, die vorhanden ist, und schlechterdings keine Vorstellungen hat, ein offenbarer Widerspruch, denn eine Kraft kann so wenig ohne Wirkung sein, wie ein Dreieck vier Seiten haben kann.

Die Seele ist also beim Eintritt in dieses Leben keineswegs, wie die Aristoteliker wollen, mit einer glatten Tafel zu vergleichen, in welcher die Buchstaben erst eingegraben werden sollen, sondern so bald sie vorhanden ist, muß sie auch Vorstellungen haben; denn nichts anderes heißt für eine Seele da sein. Diese Vorstellungen aber können von der Beschaffenheit der eingewickelten Begriffe sein, davon haben wir oben gesehen, daß sie allezeit in der Seele, ohne von ihr bemerkt zu werden, anzutreffen sein können. Denn da wir gesehen haben, daß die menschliche Seele keine Ausdehnung wahrnehmen kann, ohne sich implizit alle geometrischen Wahrheiten vorzustellen: so ist es leicht möglich, daß es einen Zustand der Seele geben könne, in welchem alle ihre Vorstellungen diese Beschaffenheit haben, daß sie von ihr selbst nicht erkannt werden, wie z. B. im Schlaf. Ein unendlicher Verstand, der sich die Seele eines Schlafenden vorstellt, muß in derselben notwendig Vorstellungen wahrnehmen, sonst würde sie nicht vorhanden sein; gleichwohl ist sie selbst ihrer sich alsdann nicht bewußt, und hat keine aus einander gewickelten oder deutlichen Vorstellungen. Eine ähnliche Beschaffenheit mag es mit der Seele vor dem Eintritt in dieses Leben gehabt haben. Wenn sie anders vorhanden war, so hat ein unendlicher Verstand notwendig Vorstellungen in derselben wahrnehmen müssen, sie selbst aber kann sich vielleicht ihrer nicht eher bewußt gewesen sein, bis sich die Begriffe in diesem Leben durch eine Veranlassung der sinnlichen Eindrücke nach und nach entwickelt haben Man sieht hier den Übergang zu den erhabenen Lehren der neueren Weltweisen, daß die Seele niemals aufhört, sich implizit schlechterdings die ganze Welt, explizit aber nur die Welt nach der Lage ihres Körpers in derselben vorzustellen, daß die sinnlichen Eindrücke nur die Anlässe und Gelegenheiten seien, bei welchen die Vorstellungen der Seele sich entwickeln und wahrgenommen werden, und daß diese Entwicklung der Begriffe in der Seele mit der Entwicklung der Begebenheiten außer derselben vollkommen harmoniere. Jedoch diese Nebenbetrachtung hat mich schon zu weit von meinem Gegenstand abgeführt. Ich kehre zurück.

Die ganze Kraft der geometrischen Gewißheit beruth also auf der notwendigen Verknüpfung der Begriffe. Man zergliedert nämlich den ursprünglichen Begriff von der Ausdehung, und zeigt, daß dieselbe mit gewissen davon abgeleiteten Folgen in einer unzertrennlichen Verbindung stehe, und ohne dieselben einen offenbaren Widerspruch enthalte. Mit einem Wort, man zeigt, daß der ursprüngliche Begriff, den wir von der Ausdehnung haben, mit den davon abgeleiteten Begriffen und Folgerungen, objektiv betrachtet, einerlei sei. Denn ob wir gleich eine Ausdehnung wahrnehmen können, ohne die geometrischen Wahrheiten zu denken, die mit derselben verknüpft sind, so erkennt man doch mittels einer richtigen Zergliederung der Begriffe, daß sie alle implizit im ursprünglichen Begriff der Ausdehnung enthalten sind, und also, objektiv betrachtet, von derselben ohne Widerspruch nicht getrennt werden können.

Was hier von der Geometrie gezeigt wurde, das gilt von der Mathematik überhaupt. Denn die Ausdehnung ist nichts anderes, als eine stetige Quantität, deren Teile nebeneinander anzutreffen sind. Wenn die Quantität nicht stetig ist, oder nicht als stetig betrachtet wird, so wird die Wissenschaft derselben  Arithmetik  genannt. Folgen die Teile derselben nicht neben, sondern aufeinander, so entsteht die Ausmessung der Zeit, wiewohl man die Zeit, wenn sie ausgemessen werden soll, allzeit entweder durch Zahlen oder durch ausgedehnte Größen auszudrücken pflegt. Die Ursache hiervon wird sich in der Folge zeigen.

Wenn wir die Mathematik von dieser Seite betrachten, welch ein außerordentliches Licht zündet sie uns nicht in der von ihr so weit entfernt scheinenden Seelenlehre an! Welche Tiefe! Jeder gemeine sinnliche Eindruck trägt in seinem Schoß ein unermeßliches Meer von ewigen Wahrheiten. Jeder Begriff verliert sich vor unseren Augen in eine Unendlichkeit. Was für große Geister arbeiten seit undenklichen Zeiten an der Entwicklung des sinnlichen Begriffs von der Quantität, und immer entwölken sich ihren Augen neue Aussichten, ungesehene Fernen, die nur ein allsehendes Auge ganz umfaßt. Und gleichwohl haben sie bisher den größten Teil ihrer Bemühungen einzig und allein auf die ausgedehnte Quantität eingeschränkt. Von der unausgedehnten Größe, oder von derjenigen Quantität eingeschränkt. Von der unausgedehnten Größe, oder von derjenigen Quantität eingeschränkt. Von der unausgedehnten Größe, oder von derjenigen Quantität, deren Teile weder neben, noch aufeinander folgen, sondern in einander fallen, als nämlich von den Graden und ihren Ausmessungen, sind bisher nur einzelne dürftige Versuche zum Vorschein gekommen. Was man in den Werken der Neueren von der Ausmessung der Bewegungskräfte, der Geschwindigkeit, der Wärme, des Lichts usw. liest, ist kaum zu dieser Wissenschaft zu rechnen. Denn man hat sich bei der Ausmessung dieser besonderen Arten der unausgedehnten Größen noch allezeit des Kunstgriffs bedienen müssen, sie durch Linien und Figuren auszudrücken, um sie dadurch in ausgedehnte Größen zu verwandeln, welches abe unnötig sein würde, wenn man die ersten Grundsätze der unausgedehnten Quantität deutlich auseinandergesetzt hätte. Diese allgemeinen Grundsätze müßten nicht nur auf die angeführten Arten der intensiven Größe, sondern auch auf den Wert der Dinge, auf ihre Möglichkeit, Wirklichkeit, Vollkommenheit und Schönheit, auf den Grad der Wahrheit, Gewißheit, Deutlichkeit und inneren Wirksamkeit unserer Erkenntnisse, auf die Güte moralischer Handlungen usw. angewandt werden können; denn alle diese Grade sind wahre Quantitäten, und also einer Ausmessung und verhältnismäßigen Vergleichung fähig. Wie wenig aber noch von dieser wichtigen Theorie entdeckt worden, ist kaum nötig zu erinnern.

Indessen ist doch nicht zu leugnen, daß es eine solche Theorie geben müsse. Denn erstlich zeigt die tägliche Erfahrung, daß die Menschen mit der natürlichen gesunden Vernunft über die Grade der Dinge Urteile fällen, Vergleichungen anstellen, und Verhältnisse einsehen, deren Richtigkeit durch die Erfahrung bestätigt wird. Es gibt also eine natürliche Mathematik der unausgedehnten Größen, und also muß es auch eine künstliche geben. Denn wenn die Gründe dieser natürliche Wissenschaft deutlich auseinandersetzt, und auf allgemeine Begriffe zurückgeführt werden, so entsteht die verlangte künstliche Größenlehre. Ferner, da die unausgedehnten Größen mit den ausgedehnten im Hauptbegriff der Quantität übereinkommen, aus dem besonderen Begriff der ausgedehnten Größen aber sich durch die Zergliederung eine ganze Reihe von Folgerungen ziehen läßt, die ein bündiges System ausmachen: so muß dieses auch in Absicht auf die unausgedehnten Größen geschehen können. Woran mag es also wohl liegen, daß man hierin noch nichts Erhebliches ausgerichtet hat? Ich glaube, die Schwierigkeiten, die man hier gefunden hat, lassen sich leicht zeigen.

Zur Ausmessung einer Größer ist die deutliche Erkenntnis von ihren Schranken das notwendigste und fruchtbarste Erfindungsmittel. Eine Größe ohne Schranken ist unermeßlich, daher muß sich aus der Beschaffenheit der Schranken begreifen lassen, auf welche Weise eine Größe auszumessen ist. Man weiß, daß in der Mathematik alle Erfindungen auf der Kenntnis der Figuren, oder der Schranken der Ausdehnung, beruhen. Nun fallen die Teile der ausgedehnten Größe nebeneinander, und lassen sich mit den Sinnen wohl voneinander unterscheiden (nämlich insofern sie zur Quantität gehören, und ein mehreres ist auch hier nicht nötig); daher lassen sich auch die verschiedenen Teile der Schranken, d. h. Flächen, Linien und Punkte (welche der stetigen Ausdehnung Grenzen setzen), mit den Sinnen unterscheiden, und indem wir sie einzeln betrachten, und hernach in ihrer gehörigen Verbindung zusammen nehmen, so erlangen wir einen deutlichen Begriff von der Figur. Diesen deutlichen Begriff zergliedern wir, und erlangen Grundsätze und Forderungssätze, oder Lehrsätze und Aufgaben, nachdem die Folgen unmittelbar oder mittelbar mit der Grundidee verknüpft sind.

Hingegen fallen die Teile der unausgedehnten Größe ineinander, und lassen sich durch die Sinne keineswegs voneinander unterscheiden. Daher auch ihre Schranken durch ein bloßes Überdenken nicht deutlich begriffen werden können. Es fällt also hier das fruchtbarste Erfindungsmittel weg, welches in der ausgedehnten Größenlehre so wichtige Dienste leistet, nämlich die Betrachtung der Figuren, oder die Schranken der Ausdehnung, ohne welche man in der Mathematik keinen Schritt zu tun imstande ist. Will man endlich die Schranken einer unausgedehnten Größe kennen lernen, so muß man auf den Stoff der Größe, oder auf die Qualität (denn diese liegt bei einer jeden Quantität zugrunde, und macht den Stoff derselben aus) zurückgehen, und die inneren Merkmale derselben deutlich auseinandersetzen lernen. Allein, wie schwer ist es nicht, zu dieser abstrakten Einsicht zu gelangen! Ein Beispiel wird diese Betrachtung ins Licht setzen. Gesetzt, wir wollten den Grad der moralischen Vollkommenheit eines Charakters deutlich kennen lernen. Zu diesem Endzweck zu gelangen, und die Schwierigkeit der Unternehmung deutlicher zu fassen, wollen wir unser Augenmerk beständig auf die allgemeine Mathematik richten, um mit Hilfe einer Reduktion zu sehen, welches Erfindungsmittel zu unserem Vorhaben etwas beitragen kann. Der Stoff der gemeinen Größenlehre ist die stetige Ausdehnung; ihre verschiedenen Merkmale sind Länge, Breite und Dicke. Zwei derselben, oder die Fläche, sind die Schranken des Körpers; ein einziges derselben, oder die Linie, macht die Schranken der Fläche, und endlich das Zeichen der Abwesenheit aller derselben, oder der Punkt, die Schranken der Linie aus. Alle diese Merkmale können durch eine einfache Wirkung der Seele, durch das bloße Überdenken unterschieden werden, und es ist also nicht schwer, sich von den Schranken der ausgedehnten Größe einen deutlichen Begriff zu machen. Von der angeführten unausgedehnten Größe ist der Stoff die moralische Güte eines Charakters; die Merkmale und Schranken dieses Stoffes fallen nicht in die Sinne, und müssen durch den Verstand herausgebracht werden. Ich muß also auf die Erklärung der moralischen Güte zurückgehen. Diese besteht in der  Fertigkeit, seinen Pflichten, der Hindernisse ungeachtet, und ohne eine sinnliche Anlockung, vollkommen Genüge zu leisten.  Dies sind also die Merkmale dieser Quantität und nunmehr lassen sich auch die Schranken einigermaßen bestimmen. Denn  a. erstens  je größer die Fertigkeit,  zweitens  je mehr und  drittens  wichtiger die Pflichten,  viertens  je mehr und  fünftens  stärker die Hindernisse, und endlich  b.  je weniger und  sechstens  schwächer die sinnlichen Anlockungen, desto größer ist der Grad der moralischen Güte. Alle diese besonderen Merkmale sind abermals keine ursprünglichen Begriffe, und müssen noch weiter zergliedert werden, und erst dann können die unmittelbaren Folgen, oder die Axiomata und Postulata herausgebracht und außer Zweifel gesetzt werden. Man hat nämlich vor allen Dingen noch die unausgedehnte Größe der Fertigkeit, die ausgedehnte und unausgedehnte Größe (nämlich die Menge und Wichtigkeit) der Pflichten, der Hindernisse und der sinnlichen Reizungen zu erwägen, bevor man festen Fuß fassen und zu einer richtigen Theorie den Grund legen kann. Wundert man sich noch, daß dies so leicht geschehen kann?

Ich habe hier einen besonderen Fall zum Beispiel genommen; allein es hat mit der allgemeinen Betrachtung der unausgedehnten Größe noch weit größere Schwierigkeiten, denn die Merkmale einer Qualität überhaupt sind noch weit abstrakter, und liegen in der Natur der Dinge noch tiefer verborgen, als die Merkmale der moralischen Qualität insbesondere, die ich als Beispiel angeführt habe. Ja, es gibt besondere Arten von unausgedehnten Größen, da der Faden der Entwicklung plötzlich abbricht, und sich ohne einen Erfindungskunstgriff durchaus nicht weiter kommen läßt. Man bemerkt dies bei allen  qualitatibus sensibilibus  außer der Ausdehnung, wie z. B. Licht, Wärme, Farbe, Härte usw. Die Merkmale dieser sinnlichen Empfindungen lassen sich weder durch die Sinne, noch durch den Verstand auseinandersetzen, und also können auch ihre Schranken auf diese Weise nicht deutlich erkannt werden. Man bedient sich daher eines Erfindungskunstgriffs. Da die Ursachen allzeit den Wirkungen angemessen sind, so nimmt man jene, wo sich diese nicht entwickeln lsasen. Statt der Farben z. B. nimmt man die Beschaffenheit des Lichtstrahls, statt der Wärme die Menge und Geschwindigkeit der Feuerteilchen usw., und löst die Begriffe derselben, womöglich, in ihre ersten Grundideen auf, um mittels der Ursachen die Wirkungen abzumessen. Wer sieht aber nicht, wie weit all das von einem leichten und ebenen Weg entfernt ist, auf welchem die Mathematik der ausgedehnten Größe dahergeht?

Eben dieselbe Schwierigkeit, sich von der unausgedehnten Größe und ihrer Schranken richtige Begriffe zu machen, legt in den Weg zur mathematischen Erkenntnis der Qualitäten noch ein wichtiges Hindernis, das hier betrachtet zu werden verdient. Dieses besteht in der Art der Bezeichnung. Der Mathematiker bedarf der willkürlichen Zeichen nicht, denn er kann reelle und wesentliche Zeichen an ihre Stelle setzen, die ihrer Natur und Verbindung nach mit der Natur und Verbindung der Gedanken übereinkomen. Die Geometrie, und die Zahlen- wie auch die Buchstabenrechnung, haben diesen Vorzug gemein, doch mit einigem Unterschied. Die Geometrie hat in ihrer Bezeichnung gar nichts willkürliches, denn ihre einfachen wie auch die zusammengesetzten Zeichen kommen mit den Gedanken überein. Die Linien sind wesentliche Zeichen der Begriffe, die wir von ihnen haben, und in den Figuren werden diese Linien auf eben die Art und Weise zusammengesetzt, wie die Begriffe in unserer Seele zusammengesetzt werden. In der Zahlen- und Buchstabenrechnung aber sind die einfachen Zeichen, nämlich die Zahlen, Buchstaben und Verbindungszeichen, bloß willkürlich. Allein in den zusammengesetzten Zeichen, wie in den Formeln und Gleichungen, ist alles bestimmt, kommt alles genau mit den Gedanken überein.

Man hat also selbst in der Arithmetik nur wenige willkürliche Zeichen und einige Regeln der Verbindung derselben zu lernen, um die Sprache der Arithmetiker und Algebraisten völlig zu verstehen. Denn außer diesen wenigen einfachen Zeichen und Verbindungsregeln wird nichts der Willkür überlassen, ist alles in den Formeln und Gleichungen so bestimmt, wie in unseren Gedanken. In der Geometrie hat man zwar gar keine willkürlichen Zeichen zu behalten, und eben deswegen fällt die Geometrie den Anfängern fast leichter, als die Rechenkunst; allein von einer anderen Seite betrachtet gereicht es dieser letzten Wissenschaft zum Vorteil, daß ihre einfachen Zeichen nicht wesentlich, sondern willkürlich sind. Man kann nämlich in der Geometrie nichts  in abstracto  bezeichnen, sondern die Zeichen stellen die Sachen immer  in concreto  dar. Denn da in dieser Wissenschaft auch die einfachen Zeichen wesentlich sind, so kann in einer geometrischen Bezeichnung nichts unbestimmt bleiben, und deshalb ist es immer dieses Dreieck, dieser Zirkel, niemals ein Dreieck überhaupt, oder eine Figur überhaupt. In der Buchstabenrechnung aber kann dasjenige unbestimmt bleiben in der Bezeichnung, was im allgemeinen Begriff unbestimmt sein soll; daher ist es in dieser Wissenschaft leichter, zu allgemeinen Begriffen zu gelangen, als in der Geometrie.

Hingegen ist in der Bezeichnung der unausgedehnten Größe noch alles willkürlich, indem die einzelnen Merkmale derselben schwer zu unterscheiden, und ihre Verbindungsarten noch schwerer zu bestimmen, und auf allgemeine Regeln zurück zu bringen sind. Daher ist vorderhand zur Ausmessung der unausgedehnten Größe nichts bequemer als das Erfindungsmittel, sie durch ausgedehnte Größen zu bezeichnen, welches in der Dynamik und anderen dahin einschlagenden Wissenschaften zu geschehen pflegt. Denn dadurch genießt man die Vorteile, die eine wesentliche und unwillkürliche Bezeichnung zur Erfindung und Begreifung der Wahrheit an die Hand gibt.

Man hat gesehen, daß die Gewißheit der geometrischen Wahrheiten sich nur auf die unveränderliche Identität eines eingewickelten Begriffs mit den abgeleiteten entwickelten Begriffen stützt. Dies ist der höchste Grad der Gewißheit, der aber nur in der reinen theoretischen Mathematik stattfindet. Sobald wir von einer geometrischen Wahrheit in der Ausübung Gebrauch machen, das heißt, sobald wir von bloßen Möglichkeiten zu Wirklichkeiten übergehen wollen, muß ein Erfahrungssatz zugrundegelegt werden, welcher aussagt, daß diese oder jene Figur, Zahl usw. wirklich vorhanden ist. Im ganzen Umfang der Mathematik findet sich kein Beispiel, daß man aus bloß möglichen Begriffen auf die Wirklichkeit ihres Gegenstandes schließen kann. Die Natur der Quantität, als des Gegenstandes der Mathematik, widerspricht einem solchen Schluß. Unsere Begriffe von der Quantität stehen mit anderen Begriffen, aber mit keinen Wirklichkeiten in einer notwendigen Verbindung. Da man aber dem Zeugnis der Sinne trauen, und für unleugbar annehmen kann, daß dieser oder jener Grundbegriff einen wirklich vorhandenen Gegenstand hat, so müssen auch die Folgen notwendig vorhanden sein, die aus diesem Grundbegriff gezogen worden sind. Denn widersprechende Begriffe haben keinen wirklich vorhandenen Gegenstand. Ich betrachte z. B. eine vorhandene Figur, und bemerke, daß ich jede ihrer Seiten aus einem Augenpunkt betrachten kann, aus welchem sie ganz zu verschwinden, oder einem bloßen Punkt ähnlich zu sein scheint; hieraus schließe ich, es sei eine geradlinige Figur, und so kommen dieser vorhandenen Figur notwendig all die Eigenschaften zu, die vom Begriff einer geradlinigen Figur unzertrennlich sind. Ich zähle ihre Seite, und werde gewahr, daß es ihrer drei sind, daher ist diese Figur ein Dreieck, und ich kann von derselben alles aussagen, was mit dem Begriff eines Dreiecks verknüpft ist. Ich komme zu den Winkeln, und bemerke, daß einer derselben seinem angrenzenden Winkel gleich ist usw. In all diesen Fällen wird, vermöge der notwendigen Verknüpfung der Begriffe, aus Wirklichkeiten auf Wirklichkeiten, aus einem vorhandenen Subjekt auf die Wirklichkeit der von ihm unzertrennlichen Prädikate geschlossen. Daß aber ein solches Subjekt vorhanden ist, davon haben wir keine andere Gewißheit, als das Zeugnis der Sinne.

Durch diese Betrachtung entgeht der Mathematik gleichwohl nichts von ihrer Evidenz. Es wäre höchst ungereimt, von ihrer Lehrart zu verlangen, daß sie durch die Zergliederung eines bloß möglichen Begriffs das  Dasein  einer Quantität beweisen sollte, indem keine Quantität schlechterdings notwendig sein kann; ein jedes Ding aber, dessen Dasein aus einer bloßen Möglichkeit geschlossen werden kann, ist notwendig vorhanden. Überhaupt hat nur die Metaphysik allein, aber auch diese nur ein einziges Beispiel aufzuweisen, daß von einer bloßen Möglichkeit auf eine Wirklichkeit geschlossen werden kann. In jeder anderen Wissenschaft aber, und so auch in der Mathematik, läßt sich schlechterdings kein Vorhandensein anders beweisen, als durch die Sinne.

Wie nun? setzt man dadurch nicht wenigstens die praktische Mathematik den Angriffen der Zweifler und Idealisten aus, die den Sinnen nicht trauen, und alles, was wir mittels derselben wahrnehmen, für bloße Erscheinungen halten? - Keineswegs! Sie mögen dies tun, so müssen sie doch gestehen, daß es in der allgemeinen Verblendung beständige und auch veränderliche Erscheinungen gibt; ferner, daß gewisse beständige Erscheinungen allzeit miteinander verknüpft sind, dergestalt, daß man niemals eine derselben wahrnehmen kann, ohne versichert zu sein, daß man aus dem gehörigen Gesichtspunkt auch die andere mit ihr verknüpfte Erscheinung wahrnehmen muß. Wenn mir eine Figur alle beständigen Erscheinungen eines Dreiecks darbietet, und einer von ihren Winkeln hat die beständige Erscheinung eines rechten Winkels, so bin ich überzeugt, daß mir die beiden übrigen Winkel zusammen gleichfalls einem rechten Winkel zu gleichen beständig scheinen müssen. Um die wahre Existenz der Dinge bekümmert sich der Mathematiker niemals. Er beweist entweder den Zusammenhang der Ideen oder den Zusammenhang der Erscheinungen. Übrigens mag der Metaphysiker ausmachen, ob diese Erscheinungen einem äußeren wirklichen Gegenstand haben oder nicht. Dem Mathematiker kann es gleichviel gelten; seine Lehre kann durch die Entscheidung dieser unwichtigen Subtilität weder gewinnen noch verlieren.

Ich habe hier von beständigen und veränderlichen Erscheinungen geredet. Man erlaube mir eine kleine Ausschweifung, um diese Begriffe in ein helleres Licht zu rücken. Sie werden in der Folge dieser Abhandlung von keinem geringen Nutzen sein.

So oft wir einen Gegenstand anders wahrnehmen, als er wirklich ist, so sagen wir, es scheine uns nur so, und nennen unsere Vorstellung eine Erscheinung  (Phaenomenon, apparentia).  Ich betrachte z. B. einen Zirkel von der Seite, und sehe ihn als eine Ellipse; ein Würfel zeigt sich mir in der Ferne wie eine Kugel, eine Pyramide wie ein Kegel; die Sonne erscheint wie eine Fläche, der Mond wie ein feuriger Körper; ich lasse alle Farben des Regenbogens auf einem Ort so schnell aufeinander folgen, daß ich sie nicht unterscheiden kann, und erkenne nichts als die Vermischung derselben oder die weiße Farbe; ich lasse zwei, drei oder mehrere derselben so schnell aufeinander folgen, und werde eine zusammengesetzte Farbe gewahr, die mit den einfachen, aus welchen sie besteht, nichts gemein zu haben scheint; den Gelbsüchtigen scheinen alle Gegenstände gelb, und gewissen Kranken schmeckt alles bitter. Alle diese Vorstellungen werden Phaenomena oder Erscheinungen genannt, denn man nimmt sie anders wahr, als sie äußerlich wirklich vorhanden sind. Die Zweifler sagen: Vielleicht sind alle unsere sinnlichen Begriffe nur solche Erscheinungen, ein solcher Sinnenbetrug; denn wir können ja nicht versichert sein, daß diese Gegenstände außer uns so beschaffen sind, wie wir sie mittels der Sinne wahrnehmen? Ich habe gesaagt, die Mathematiker können dieses  vielleicht  gelten lassen, ohne von der Gewißheit ihrer Wissenschaft das Mindeste zu vergeben, und ich will es beweisen. Ich glaube, es wird kein Vernünftiger in Abrede stellen, daß es wenigstens zwei verschiedene Arten von Erscheinungen gibt, nämlich beständige und unbeständige. Jene haben ihren Grund in der inneren Beschaffenheit der menschlichen Sinne überhaut, diese aber in gewissen äußeren Zufälligkeiten. In den vorhin aufgeführten Beispielen liegt er Grund der Erscheinung nicht in der inneren wesentlichen Beschaffenheit unserer Sinne, sondern in einem unrechten Standort, aus welchem wir die Gegenstände betrachten, in der Schnelligkeit, mit welcher die Gegenstände abwechseln, oder in der verderbten Beschaffenheit der Gliedmaßen und der Säfte. Dies sind bloße Zufälligkeiten, und deshalb können die Erscheinungen, die sie verursacen, zufällige oder unbeständige Erscheinungen genannt werden. Wenn aber, wie die Zweifler befürchten, alle  qualitates sensibiles  ohne Unterscheid ein Sinnenbetrug sein sollten, so müßte der Grund dafür in den inneren Bestimmungen der menschlichen Sinne anzutreffen sein. Wir müßten uns nämlich die sinnlichen Dingen deswegen so und nicht anders vorstellen, weil unsere Sinne so und nicht anders beschaffen sind. Die Wirkungen des Sinnenbetrugs verdienen also beständige Erscheinungen genannt zu werden. Nun können die Mathematiker beweisen, daß diese beständigen Erscheinungen in einer notwendigen Verknüpfung miteinander stehen, dergestalt, daß ich aus ein und derselben auf die Anwesenheit der anderen schließen kann. Wenn ich die beständige Erscheinung von einem Dreieck vor mir habe, so kann ich auf die beständige Erscheinung aller Eigenschaften eines Dreiecks unbezweifelt schließen. Daher bleibt auch im System eines Zweiflers, oder eines Idealisten, nicht nur die reine theoretische, sondern auch die praktische und angewandte Mathematik in ihrem Wert und behält ihre unleugbare Gewißheit.
LITERATUR: Moses Mendelssohn - Über die Evidenz in metaphysischen Wissenschaften; Moses Mendelssohns Schriften zur Philosophie, Ästhetik und Apologetik, Bd. 1, Leipzig 1880
    Anmerkungen
    1) KANTs Schrift, welcher der zweite Preis zuerkannt wurde, heißt: "Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral." (Kants Werke, Ausgabe HARTENSTEIN, Bd. II, Leipzig 1867-68, Seite 281)
    2) "im "Menon"