tb-2ReichenbachJeansPaulsenWillyBoutrouxLanzKroman   
 
RICHARD AVENARIUS
Philosophie als Wissenschaft

"Und nun ist die Frage nicht mehr: Wie wäre Wissenschaft möglich, wenn nicht durch Philosophie? Sie ist auch nicht mehr: Wie ist Philosophie möglich, wenn nicht als Wissenschaft? - sondern sie lautet: Wie ist Wissenschaft möglich, wenn nicht als Philosophie?"

Von den Gründen, welche die Entwicklung der Philosophie erschweren, ist einer der weniger beachteten, aber nicht minder wirksamen, das  Mißtrauen,  mit welchem ihr in den sogenannten "streng wissenschaftlichen" Kreisen, wenn auch nicht mehr allgemein, so doch immer noch allgemeiner, als es nach außen den Anschein hat, begegnet wird. Dieses Mißtrauen charakterisiert sich als die letzte Form der heftigen Rückschlagsbewegung, welche der Herrschaft der spekulativen Philosohie ein ziemlich jähes Ende bereitet hat. So gelten denn auch, genauer betrachtet, die abweisenden Urteile, die der "Philosophie" entgegengehalten werden, meist nur der "spekulativen" Philosophie, welche noch immer in weiteren Kreise - eine ungewollte Anerkennung ihrer einstigen Größe - als die "Philosophie" überhaupt gilt und nun, nachwirkend, die philosophische Entwicklung der Neuzeit noch in Mitleidenschaft zieht.

An dieser Stelle kann und soll diese Frage in ihren Einzelheiten nicht erörtert werden; aber eine kurze Antwort berühre den Hauptpunkt: jene Wissenschaft verlor den wissenschaftlichen Kredit, weil sich der spöttische Zweifel mächtig erhob: Philosophie sei wohl möglich - nur nicht als das, was sie doch dem Wesen nach zu sein behauptete, nämlich nur nicht als  Wissenschaft. 

Warum sich dieser Zweifel erheben konnte, wird sich dem aufmerksamen Leser, der die spekulative Philosophie ihrer Konstitution nach genügend kennt, aus dem Folgenden mittelbar ergeben; ausdrücklich es zu behandeln ist an dieser Stelle nicht unsere Aufgabe. Wir versuchen lieber den Kern der Sache mit der entgegengesetzten Frage zu treffen: "Wie ist Philosophie möglich, wenn nicht als Wissenschaft? Der berechtigte Sinn dieser Frage kann nicht sein: ist Philosophie möglich etwa als Dichtung oder Religionsvertiefung oder sonst etwas Ähnliches; denn Philosophie  will  in erster Linie  Wissenschaft  sein - nicht mehr und nichts anderes. So hat unsere Frage für uns nur den einfachen Sinn: "Wie ist Philosophie als Wissenschaft möglich?" Oder noch kürzer ausgedrückt: "Wie ist wissenschaftliche Philosophie möglich?"

Zwei Bedingungen müssen zur Konstitution aller Wissenschaft, deren Begriff nach, erfüllt sein.

Die erste dieser Bedingungen ist  die begriffliche Erfassung und Gliederung des Materials.  - Zufällige und zerstreute Notizen können ein Wissen von Etwas enthalten, aber sie konstituieren keine Wissenschaft. Diese hat nicht jede beliebige Eigentümlichkeit eines Einzelobjektes (sei dieses nun ein Ding oder ein Vorgang) zu notieren, sondern diejenigen Merkmale zu sammeln, welche allen Einzelobjekten gemeinsam, also  allgemein und welche, um ein der Beurteilung entgegentretendes Objekt als ein Bestimmtes wiedererkennen zu lassen, in jedem Objekt wiederkehren müssen, also zu dieser Rekognition  notwendig  sind. Eine solche Vorstellung, welche das Allgemeine und zur Rekognition notwendige und daher das Wesentliche der Einzeldinge enthält, ist der wissenschaftliche Begriff und die Erfassung jedes Einzelobjektes durch einen solchen Begriff ergibt dessen wissenschaftliche Erkenntnis. Ist das Erkenntnisobjekt ein Vorgang, so heißt der Begriff "Gesetz". Die begriffliche Erfassung des Materials gestaltet sich zu dessen begrifflicher Gliederung dadurch, daß aus den niederen Begriffen höhere abgeleitet werden. Das hiermit sich organisierende System von Begriffen findet seinen Abschluß in einem obersten Begriff, der dann, in den entsprechenden Abstufungen, alle niederen Begriffe unter sich enthält.

Das undisziplinierte Wissen kann also mit einer Wissenschaft die Materie gemeinsam haben; es kann sogar in dem Inhalt seiner Urteile mit der Wissenschaft übereinstimmen. Aber es unterscheidet sich die letztere von dem ersteren noch immer  formal  dadurch, daß die Wissenschaft ihren Gegenstand in einem gegliederten System verwandter, von einander abgeleiteter Begriffe erfaßt.

Aus dieser Begriffsbildung und Begriffsorganisation entspringt für das Denken ein wichtiger Vorteil: der Begriff, welcher das Einheitliche der Einzeldinge enthält, tritt als die Einheit der Einzeldinge auf. Das einheitliche Denken des Subjekts erscheint wieder als Einheit der mannigfaltigen gedachten Objekte. Indem also die Wissenschaft durch ihre Arbeit den Drang nach  Wissen  befriedigt, genügt sie doch zugleich dem Bedürfnis des menschlichen Geistes nach  Einheit.  Hierin liegt ihre Mehrleistung vor dem bloßen "Wissen"; hierauf auch begründet sich ihre eigentliche Wertschätzung vor dem bloßen "Wissen", das nur stellenweise durch individuelle oder praktische Interessen, die dem rein wissenschaftlichen Denken ferner stehen, ihm vorgezogen werden kann. Es versteht sich nun von selbst, daß dieses Gefühl der Wertschätzung ein um so intensiveres ist, je mehr eine Wissenschaft das Bedürfnis nach einheitlicher Auffassung der Objekte durch Gewinnung höherer Begriffe und in letzter Instanz eines höchsten Begriffes befriedigt hat. Die Wertschätzung ist eine um so größere, weil die Befriedigung jenes intellektuellen Bedürfnisses eine um so vollkommenere und die intellektuelle Freude eine um so reinere ist.

Zwei Anwendungen ergeben sich für uns hieraus.  Einmal  die Folgerung, daß jede Wissenschaft durch die Bedingung ihrer Konstitution die Tendenz haben muß, ihr Wissen zu einem völlig Einheitlichen zu gestalten, d. h. ihre Begriffsbildungen nur mit einem letztmöglichen höchsten Begriff abzuschließen, welcher, mit allen verwandt, doch alle beherrscht. Erst hierdurch ist eine Wissenschaft vollendet; das Anstreben dieser Vollendung ist für sie nicht nur eine logische, sondern eine psychologische oder, wenn man lieber will, physiologische Notwendigkeit.

 Sodann  ergibt sich aus dem Gesagten die Begründung der Wertschätzung, welche die spekulative Philosophie ihrer Zeit fand: sie befriedigte in nahezu großartiger Weise das Einheitsbedürfnis des menschlichen Denkens. Ihre Wertschätzung begründete sich also auf ihre  formale  Leistung. Und weil diese formale Leistung eine der Bedingungen aller Wissenschaft ist, so war wenigstens das durch die Tatsache der spekulativen Philosophie bewiesen: daß die Philosophie formal Wissenschaft zu sein vermöge.

Wir wenden uns jetzt zu der Besprechung der zweiten Bedingungen der Konstitution aller Wissenschaft; hier werden sich Andeutungen ergeben, warum die spekulative Philosophie bewiesen: daß die Philosophie formal Wissenschaft zu sein vermöge.

Wir wenden uns jetzt zu der Besprechung der zweiten Bedingungen der Konstitution aller Wissenschaft; hier werden sich Andeutungen ergeben, warum die spekulative Philosophie die Wertschätzung, die sie auf der einen Seite verdient hatte, auf der anderen wieder verlieren mußte. Es wird sich aber auch zeigen, in welchem Sinne die Philosophie jene Wertschätzung wieder gewinnen kann, indem sie von der anderen Seite her die Bedingung nachträglich erfüllt, welche ihr zur tatsächlichen Konstituierung einer Wissenschaft fehlte. Mit einem Wort: es wird sich zeigen, in welchem Sinne die Philosophie nicht nur der Form nach als Wissenschaft erscheinen, sondern auch dem Wesen nach wissenschaftlich sein könne. Es handelt sich also um den eventuellen Nachweis der Möglichkeit einer dem  Wesen  nach  wissenschaftlichen Philosophie,  da Philosophie als Wissenschaft der  Form  nach historisch schon vorliegt.

Während die besprochene erste Bedingung auf die formale Seite sich bezog, so bezieht sich die zweite auf die  materiale,  indem sie den Inhalt betrifft, der in dem Begriffssystem gedacht wird. Welche Bedingung also muß der Inhalt unserer Begriffe erfüllen, um Wissenschaft zu konstituieren?

Machen wir uns erst das Gegenteil an einigen Beispielen klar; ich wähle diese etwas grass, das wird sie vielleicht eindringlicher machen. Erster Fall: Gesetzt, ein Halluzinierender erblicke die seltsamsten Dinge, ohne zu wissen, daß es Halluzinationen seien; und es hat eine Kulturstufe gegeben, in welcher Visionen und Halluzinationen in der Tat nicht von objektiven Sinneswahrnehmungen unterschieden worden sind. Nun also: wir nehmen an, unser Halluzinierender sei ein hochbegabtes Individuum und bringe seine Scheinobjekte, die er aber für real hält, unter gut abstrahierte Begriffe und entwickle diese zu einem völlig abgeschlossenen begrifflichen System. Hat er damit eine Wissenschaft geschaffen? Er hat dazu  nur  die formale Bedingung erfüllt. Und warum nicht die materiale? Weil die Realität seines Objekts nur scheinbar bestand - der Inhalt seiner Begriffe nicht wirklich, sondern nur scheinbar erfahren wurde. Dieser Halluzinierende hat also eine Scheinwissenschaft geschaffen; seine Leistung wäre aber Wissenschaft gewesen, wenn er seine Halluzinationen als solche und nicht als reale Dinge behandelt hätte. - Zweiter Fall: Gesetzt, ein hohler Kürbis sei mit Steinen gefüllt, deren Klappern für die Stimme einer Gottheit gegolten; und die Ethnologie berichtet von brasilianischen Stämmen, bei welchen dies der Fall gewesen. Nehmen wir nun an, eifrige Priester hätte eine Sammlung dieser göttlichen Aussprüche angelegt, die Kürbisklapper sei dann irgendwie zugrunde gegangen und vergessen, spätere Priestergeschlechter aber hätten jene überlieferten Aussprüche, in gutem Glauben an deren göttlichen Ursprung endlich auf ein theologisches System gebracht. Hätten sie damit eine Wissenschaft geschaffen? Formal - wohl möglich; material - nein: wieder weil die Aussprüche als göttliche behandelt wären, die Göttlichkeit derselben aber in keiner Erfahrung gegeben gewesen.

Das heißt nun kurz und positiv ausgedrück: die Objekte, welche - nicht, wie in der Hypothese, einen Einzelfall, sondern - den  Inhalt  einer Wissenschaft bilden sollen, müssen auch wirklich durch  Erfahrung  gegeben sein. Anderen Falles erhält man nur Scheinobjekte und eine Scheinwissenschaft - nicht zu verwechseln mit einer etwaigen Wissenschaft vom Schein, welcher als psychische Tatsache existiert und als solche material eine Wissenschaft konstituieren kann. - Beiläufig möge an dieser Stelle mit zwei Worten auch der unseligen  Scheinprobleme  Erwähnung getan werden, welche sich, nur Verwirrung und Kraftvergeudung bewirkend, namentlich in der historisch überlieferten Philosophie von Generation zu Generation forterben, ohne daß gefragt würde, ob die Probleme legitimen Ursprungs sind. Jedes Problem hat einen bestimmten Inhalt, aber nicht jeder Probleminhalt ist durch die Erfahrung bestimmt und somit für den Eintritt in die wissenschaftliche Behandlung legitimiert. Solche Probleme, welche namentlich auf den kindlichen  Scheinerfahrungen  niederer Kulturen beruhen, haben ebensowenig ein Recht auf "philosophische" Behandlung, wie die Seeschlange auf zoologische. Die einzige Behandlung, die ihnen zukommt, ist die psychologische, bzw. völkerpsychologische Erklärung.

Alle Wissenschaft hat also, material, die Erfahrung zu ihrer Grundlage und es gibt keine andere materiale Grundlage einer Wissenschaft als die Erfahrung. Ebensowenig wie Schlösser kann man Wissenschaften anders als in der Jllusion in der Luft erbauen; nur daß man die imaginären Bauten leicht für real nimmt, wenn - ganz abgesehen von den praktischen Interessen - durch ihre formalen Vorzüge der Geist in besonders hohem Maße befriedigt und eben auch bestochen wird.

Genau genommen ist daher der jetzt viel gebräuchliche Ausdruck  Erfahrungswissenschaften  ein Pleonasmus; er hat aber seine gute Berechtigung, solange man sich noch nicht allgemein über das Wesen der Wissenschaften als solcher klar geworden. Nämlich, daß das Wesen der Wissenschaft, im Gegensatz zur Kunst, im Material liegt und dieses durch die Erfahrung gegeben sein muß. Das und nichts weiter bedeutet auch der Ausdruck  wissenschaftliche Philosophie  - nämlich eine Philosophie, die nicht nur formal, sondern ihrem Wesen nach, d. h. durch den empirischen Charakter ihrer Objekte,  Wissenschaft  ist; da es wiederum das Wesen der Wissenschaft ist, empirisch fundamentiert zu sein. Der Ausdruck "wissenschaftliche Philosophie" ist daher ebensowenig oder nur in ebendem Sinne ein Pleonasmus, als der Ausdruck "Erfahrungswissenschaften" - und der Umfang seiner Berechtigung ist derselbe, wie derjenige des anderen.

Diese letzte Bemerkung leitet uns zu der nun zu formulierenden Frage über: ist eine solche, d. h. ist eine der  Materie  nach  wissenschaftliche Philosophie  möglich?

Zur Beantwortung dieser Frage wird viel darauf ankommen, wie der Charakter des Gegensatzes beschaffen ist, in welchem die Philosophie zu den sogenannten "Erfahrungswissenschaften" steht. Begründet er sich darin, daß die Philosophie keinen der Erfahrung entstammenden Erkenntnis- oder nur Problembesitz hat, so ist die Sache der wissenschaftlichen Philosophie einer mangelnden wesentlichen Erfordernis willen allerdings verloren. Dann sind die Erfahrungswissenschaften etwas von der Philosophie völlig Heterogenes und das heißt: alle Wissenschaft ist von der Philosophie etwas dem Wesen nach Verschiedenes. Daß dem aner glücklicherweise nicht so sein werde, zeigt die Tatsache an, daß die Erfahrungswissenschaften, sowie sie sich über ein gewisses niedriges Niveau hinaus entwickelt haben, faktisch bestrebt sind, in einer philosophischen Betrachtung ihren begrifflichen Abschluß zu finden. Die spezialwissenschaftliche Beobachtung und Bearbeitung der Objekte drängt augenscheinlich die Erfahrungswissenschaften zur Philosophie hin, sobald es sich darum handelt, die höchsten, letzten Begriffe endgültig festzustellen. Man sieht sofort den inneren Grund hiervon ein: die Erfahrungswissenschaften nehmen diese Entwicklung, weil sie zugleich  Spezialwissenschaften  sind - und sie nehmen sie angesichts ihrer letzten Aufgabe, weil hier die spezialwissenschaftliche Betrachtung nicht mehr ausreicht. Diese aber kann hier nicht mehr genügen, weil die höheren Begriffe ihrer Natur nach mehreren, folglich auch anderen Gebieten gemeinsam sind, bzw. weil das Objekt der Spezialwissenschaft gleichfalls mehreren spezialwissenschaftlichen Gebieten angehört. Eine Spezialwissenschaft muß also notwendig, sowie sie zu ihrer Vollendung an die Feststellung ihrer höchsten Begriffe gelangt, unter welche sie ihr Objekt zu subsumieren hat, mit den anderen verwandten Spezialwissenschaften Fühlung nehmen - das kann sie aber nur, indem sie an diesem Punkte aufhört, "Spezialwissenschaft" zu sein. So streben alle Spezialwissenschaften auf einen Punkt zu, wo sie sich in eine Betrachtungsweise auflösen, welche nicht mehr spezialwissenschaftlich sein kann.

Diese Erwägung bestimmt nun den Charakter näher, den der Gegensatz tragen muß, in welchem Philosophie zu den "Erfahrungswissenschaften" zu stehen hat, um, trotz oder unbeschadet des Gegensatzes, doch wissenschaftlich, d. h. der Materie nach und das heißt: dem Wesen nach  wissenschaftlich  sein zu können: sie tritt den empirischen Disziplinen gegenüber - nicht, insofern diese "Erfahrungswissenschaften", sondern insofern diese "Spezialwissenschaften" sind.

Wir werfen nun einen Blick auf den Prozeß selbst, in welchem sich die Spezialwissenschaften vollenden, indem sie, ihre Natur als Spezialwissenschaften aufgebend, ihre letzten abschließenden Begriffe zu gewinnen suchen. Es war schon angedeutet: diese letzten Begriffe können nicht mehr nur und ausschließlich innerhalb des Spezialgebietes liegen, weil zu jedem allgemeinen Begriff, welcher nur innerhalb des Spezialgebietes über das Objekt gebildet ist, ein allgemeinerer gedacht werden kann und auch zur Vollendung gesucht werden muß, der zugleich das Objekt in seiner spezialwissenschaftlichen Begrenzung und entweder noch andere verwandte spezialwissenschaftliche Objekte oder mindestens andere spezialwissenschaftliche Seiten desselben Objekts umfassen muß. Es muß mithin der gesuchte allgemeinere Begriff derart sein, daß er nicht nur das Objekt der suchenden Spezialwissenschaft unter sich subsumieren läßt, sondern auch das Objekt der betreffenden verwandten Spezialwissenschaften. Hierdurch stellt er die begriffliche Einheit aller der in dem Prozeß engagierten Spezialwissenschaften dar, denn er enthält die begriffliche Einheit aller der in den betreffenden Spezialwissenschaften behandelten Objekte.

Das ist das Resultat. Und nun die Mittel. Da nämlich und insofern jede Spezialwissenschaft diejenigen ihrer allgemeinen Begriffe, die sie noch innerhalb ihrer Spezialbetrachtung bilden kann, ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse anderer Spezialwissenschaften bildet, so muß die Aufgabe, für zwei oder mehrere Spezialwissenschaften aus deren apart gebildeten allgemeinen Begriffen den gemeinsamen allgemeineren zu finden, neue und eigentümliche Seiten darbieten: es wird gelten, beiderseitig Begriffsmomente zu bearbeiten, welche vielleicht wenig oder gar nicht zu einander passen wollen. Zur Lösung dieser Schwierigkeiten wird also auch keine der betreffenden spezialwissenschaftlichen Methoden allein für sich ausreichen, sondern es werden, um der Aufgabe zu genügen, teils die einseitig gewonnenen Begriffe einer mehr logischen Bearbeitung, teils die angewandten Methoden einer methodologischen Analyse unterworfen werden und zugleich wird der Einfluß des wissenschaftlichen Subjektes nach seiner physiologischen und (im weitesten Sinne) psychologischen Seite zu untersuchen sein. Es liegt auf der Hand, daß jetzt die geistige Arbeit unter der Einwirkung der vielen Vorstellungsmassen all dieser Hilfswissenschaften ein anderes Gepräge annehmen muß: das Denken ist jetzt vielseitiger bestimmt, breiter angelegt, logisch abstrakter, psychologisch vertiefter geworden. Es ist daher auch die Grenze, die das nur spezialwissenschaftliche Denken nicht zu überschreiten wagt - es ist das Gebiet, wo der reine "Fachmann" mit richtigem Instinkt Philosophie wittert und darum vorzieht, dasselbe dem "Philosophen" zu überlassen. Diese reinen Fachmänner sind es denn freilich auch nicht, welche eine Wissenschaft zur begrifflichen Vollendung erheben - diese Funktion bleibt immer nur universaler angelegten Naturen vorbehalten.

In der Tat stehen wir jetzt an der Schwelle der Philosophie und zwar - betonen wir nur den charakteristischen Ausdruck! - der wissenschaftlichen Philosophie, deren Möglichkeit uns jetzt entgegenleuchtet.

Wir erinnern uns: um formal als Wissenschaft vollendet zu sein, bedarf ein Begriffssystem, das das Wissen von irgendwelchen durch die Erfahrung gegebenen Objekten enthält, einen höchsten Begriff, der, indem er das System abschließt, es zu einem in sich geschlossenen Ganzen schafft. Das Ganze ist mithin noch nicht fertig, solange nicht der letzte Begriff gefunden - oder, mit anderen Worten, solange nicht die spezialwissenschaftlichen Begriffe in Beziehung zu einem allgemeinsten Begriff gesetzt sind, der nicht mehr spezialwissenschaftlich ist. Als allgemeinster Begriff muß er die Forderung erfüllen, den Inhalt aller Begriffe, mit denen die Spezialwissenschaften die Begriffsbildung  innerhalb  ihres speziellen Gebietes abschließen, in sich aufgenommen zu haben. Er muß also die  Gesamtheit  der gegebenen Objekte irgendwie abstrakt in sich enthalten; denn solange er dies nicht tut und eine Reihe oder Gruppe von Objekten vermissen läßt, ist ein Begriff denkbar, dessen Umfang noch allgemeiner ist. Der allgemeinste hatte also noch nicht vorgelegen.

So wird jede Spezialwissenschaft vor die Alternative gedrängt, entweder unabgeschlossen in einem Gedankenvakuum oder zu ihrem Abschluß in einer allgemeinsten Gesamtvorstellung zu enden. Selbstverständlich muß aber hier, wo es sich um die Herstellung eines gemeinsamen Begriffs für die Erfahrungsobjekte  aller  Spezialwissenschaften, unangesehen den Grad ihrer Verwandschaft handelt, es muß hier die Aufgabe noch um Vieles komplizierter erscheinen, als oben, wo nur einige und näher verwandte Spezialwissenschaften ihre speziellen letzten Begriffe miteinander auszugleichen hatten. Allein dasselbe Moment, welches hier die Schwierigkeiten häuft, reizt auch mächtiger zu ihrer Überwindung an; ja, es ist an sich so wirkungsvoll, daß man nicht selten versucht hat, mit unbewußter und selbst mit bewußter Umgehung der grundlegenden Erfahrungswissenschaften das hier sich zeigende Ziel zu erreichen - ein Unternehmen, welches der Natur der Sache nach immer nur scheinbar gelingen konnte. Worin nun dies wichtige Moment bestehe, deutete sich gleichfalls bereits oben an: der gesuchte allgemeinste Begriff, welcher die Objektsbegriffe aller Spezialwissenschaften unter sich befassen soll, stellt damit die höchste letzte Einheit dieser Objekte und Wissenschaften dar. So treibt denn schon das Einheitsbedürfnis unser Denken unablässig dazu an, eine letzte Einheit, womöglich eine einzige wahrhaft letzte und höchste Einheit der durch die Erfahrung gegebenen Objekte zu gewinnen.

Es ist diese Einheit des Gegebenen, der Objekte, die wir zunächst ein wenig näher betrachten wollen, weil sie, als Forderung, es ist, welche, wie angemerkt, die Schwierigkeiten zum guten Teil erst fühlbar macht und zugleich zu ihrer Bewältigung antreibt. Die neu hinzutretenden besonderen Schwierigkeiten beruhen nun darin, daß die verlangte letzte begriffliche Einheit  widerspruchslos  sein und doch - bei dem historischen Entwicklungsstand der Spezialwissenschaften - schroff *dualistisch sich gegenüberstehende Merkmale in ihrem Inhalt vereinigen soll. Da dieser letzte dualistische Gegensatz scheinbar  prinzipiell  ist, seine Aufnahme in einen einheitlichen und wissenschaftlichen Begriff also einen prinzipiellen Widerspruch bedeuten würde, so kann den Gegensatz auszugleichen, den Widerspruch zu lösen nur von einer Untersuchungsreihe erhofft werden, welche den letzten Wurzelfasern des Widerspruchs im Boden sowohl des Objekts als auch des Subjekts nachspürt, indem sie die Prinzipien des Begreifens und Wissens, alles Gegebenseins und Erfahrens selbst betrachtet. Hieraus erhellt nun freilich sofort die erwähnte besondere Schwierigkeit der Herstellung jenes letzten Begriffes, jener höchsten Einheit - hieraus ergeben sich die Komplikationen neuer eigenartiger Untersuchungen, welche fast wieder Spezialwissenschaften zu werden den Anlauf nehmen - hieraus ergibt sich aber auch, daß alle Spezialwissenschaften gegenüber dieser einen geforderten Leistung als bloße Hilfswissenschaften erscheinen - und endlich erklärt sich nicht minder hieraus, wie die Beschäftigung mit diesen Spezialwissenschaften  zum bewußten Zweck,  jene höchste Leistung anzubahnen oder womöglich zu vollziehen, oder auch die Unmöglichkeit ihrer Vollziehung nachzuweisen, selbst als eine besondere Wissenschaft aufgefaßt werden könne.

Ist aber diese mit Bewußtsein des Zwecks unternommene Mehrarbeit, letzter Einheiten oder namentlich einer einzigen letzten Einheit willen - ist sie schon Philosophie?

Man kann unbedenklich mit "Ja" antworten, wenn man damit zwar nicht den weitesten, aber doch immer noch einen  weiteren  Begriff der Philosophie bezeichnen will, in welchem weiteren Sinne dann die Philosophie einerseits alle diejenigen speziellen und komplizierteren Untersuchungen befaßt, welche als solche keiner anderen materialen Spezialwissenschaft angehören und welche den Zweck haben, die relativ allgemeinen Begriffe der Spezialwissenschaften in einen letzten allgemeinsten aufzulösen; andererseits solche Spezialwissenschaften, welche sich zu den obengenannten Untersuchungen vorzugsweise als integrierende Hilfswissenschaften verhalten. Jener letzte allgemeinste Begriff, nach welchem sich der philosophische Charakter einer Wissenschaft bestimmt, heiße demnach der  philosophische  Begriff, und insofern er der Erfahrung durch seine materiale Abkunft aus den Erfahrungswissenschaften entstammt, heiße er der  wissenschaftlich philosophische  Begriff.

Es wird also eine jede Spezialwissenschaft "philosophisch", sowie sie, um sich in einem letzten Begriff zu vollenden, ihre innerhalb ihres Gebietes gewonnenen relativ allgemeinsten Begriffe mit denen anderer Spezialwissenschaften in ausgleichende Berührung bringt und sie zum bewußten Zweck dieser Ausgleichung einer allgemein prinzipiellen Bearbeitung unterwirft.

Nun aber bedarf jede Spezialwissenschaft ihrer begrifflichen Vollendung duch einen letzten höchsten Begriff, um in keinem Betracht bloße Wissensanhäufung, sondern im vollen Sinne "Wissenschaft" zu sein. Denn das verlangte die erstbesprochene formale Bedingung der begrifflichen Organisation. und somit wird jede Spezialwissenschaft erst duch das philosophische Element wahrhaft zu einer "Wissenschaft" - und daher strebt denn jede höher entwickelte Spezialwissenschaft erst instinktmäßig, dann bewußt zu einer philosophischen Vertiefung und Ergänzung ihrer Begriffe.

 Jetzt ist die Frage nicht mehr:  wie ist  wissenschaftliche Philosophie  möglich?, sondern: wie wäre  Wissenschaft  möglich, wenn nicht durch  Philosophie? 

Unsere bisherigen Bemerkungen knüpften sich an den gesuchten allgemeinsten Begriff an, insofern er die Einheit aller spezialwissenschaftlichen Objekte darstellte. Die Spezialwissenschaften vollendenten in diesem Begriff die begriffliche Erfassung ihrer Objekte und zugleich sich selbst als Wissenschaft. Wir beenden diese Bemerkung mit dem abschließenden Hinweis, daß das Resultat für die Erfassung überhaupt der Objekte eine einheitliche Auffassung alles Gegebenen ist - eine  einheitliche Weltauffassung.  Keine Spezialwissenschaft ist als Wissenschaft vollendet, solange sie nicht ihrem Objekt begrifflich den ihm zukommenden Platz innerhalb des Weltganzen angewiesen hat - übrigens mit ein Grund, warum diejenigen Spezialwissenschaften, welche dem menschlichen Geist seinen Platz im anschaulichen Weltganzen und dies selbst begrifflich zu bestimmen suchen, besonders als "philosophische Wissenschaften" aufgefaßt zu werden pflegen. Doch das nebenbei. Die Hauptsache ist, daß nur dadurch, daß die Wissenschaften Philosophie werden, sie nicht allein sich formal erst als Wissenschaft vollenden, sondern daß sie auch material ihr eigenes Werk erst völlig getan haben, wenn sie ihre Spezialbegriffe in einem einheitlichen Begriff alles Gegebenen rekognosziert und damit eine einheitliche Weltauffassung bewirkt haben. Eine solche einheitliche Weltauffassung bezeichnet man gewöhnlich als Aufgabe speziell der Philosophie - und nicht mit Unrecht: denn Philosophie ist in letzter Instanz nichts anderes, wie wir sehen, als das Resultat der Zusammenwirkung der Spezialwissenschaften in einem allgemeinsten Begriff.

Und hiermit haben wir bereits den einzigen Punkt berührt, den zu erwähnen uns noch übrig. Dadurch, daß Philosophie den letzten einheitlichen Begriff alles Gegebenen enthält, stellt sie eben den letzten Begriff dar, der allen Erfahrungs-Spezialwissenschaften einheitlich gemeinsam ist. Sie ist dann der Punkt, nach dem alle Spezialwissenschaften streben, um sich in ihm als Wissenschaften zu vollenden. Hält man das Bild der Höhendimension bei der Begriffsgestaltung fest und stellt sich diese in der Form einer Pyramide vor, so ist Philosophie im engsten Sinne die Spitze der Begriffspyramide; so daß sie dann vielleicht nicht eine umfanghabende  bestimmte  Erfahrungswissenschaft ist, aber als die Spitze erscheint, die das Ganze  aller  Erfahrungswissenschaften krönt.

Oder denken wir, da es sich um alle Erfahrungswissenschaften und um  einen  gemeinsamen Punkt handelt, jene peripherisch um diesen als ihr Zentrum angeordnet, so sehen wir zum Schluß die überaus wertvolle Leistung, welche dieses Zentrum vollzieht eben dadurch, daß es  allen  Spezialwissenschaften gemeinsam ist: die Philosophie schließt durch ihre zentrale Stellung alle Wissenschaften zu einer Einheit zusammen - und indem durch das Eingehen in diese Einheit jede Wissenschaft für sich erst völlig "Wissenschaft" wird, erhebt die Philosophie dann zugleich die einstige Vielheit der Wissenschaften zu der jetzt erreichten Einheit der Wissenschaft überhaupt.

Und nun ist die Frage nicht mehr unsere letzte: wie wäre Wissenschaft möglich, wenn nicht durch Philosophie?; sie ist auch nicht mehr unsere erste: wie ist Philosophie möglich, wenn nicht als Wissenschaft? - sondern sie lautet:

 Wie ist Wissenschaft möglich, wenn nicht als Philosophie? 
QUELLE - Richard Avenarius, Einführung, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Heft 1, Leipzig 1877