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Wer ist der Gesetzgeber der Naturgesetze?
Bei DESCARTES, welcher zwar den Ausdruck nicht geschaffen hat, mit welchem aber doch die Einbürgerung desselben in der neueren Naturwissenschaft beginnt, kann die Antwort auf diese Frage nicht zweifelhaft sein. Die Naturgesetze sind ihm Regeln, die wir nicht etwa der Beobachtung der Natur, sondern der Betrachtung der Eigenschaften Gottes entnehmen können. Regeln werden sie genannt, insofern sie von uns erkannt und der Erklärung der Erscheinungen zugrunde gelegt werden, Gesetze, insofern sie Gott ursprünglich in die Materie gelegt hat, als er die Eigenschaften derselben bestimmte. Der Geber des Gesetzes ist also hier Gott. Das Bild erscheint bei dieser ersten Form seines Gebrauchs in doppelter Beziehung der ursprünglichen Bedeutung angemessen: Das Naturgesetz ist eine Norm, der nicht nur die einzelnen Ereignisse, als Handlungen aufgefaßt, unterworfen sind, sondern die auch einen persönlichen Willen zum Urheber hat. Damit hängt zugleich der sparsame Gebrauch des Wortes in dieser frühesten Zeit seiner Anwendung zusammen. Die allgemeinen Eigenschaften der Materie und die Grundgesetze ihrer Bewegung sind - so ist die Anschauung - direkt von Gott angeordnet; alles Einzelne ergibt sich dann aber hieraus mit mathematischer Notwendigkeit. Es ist dies die nämliche Ansicht, welche später LEIBNIZ wiederholt in die Form gebracht hat: "Alle Erscheinungen sind aus den mechanischen Gesetzen mit strenger kausaler Notwendigkeit abzuleiten, aber die mechanischen Gesetze selber sind nur aus Zwecken zu begreifen." Diese Zwecke sind auch ihm die Zwecke der göttlichen Weltordnung; und hier hängt ihm die natürliche mit der sittlichen Welt, das Naturgesetz mit dem Sittengesetz unmittelbar zusammen: beide sind direkte Ausflüsse des göttlichen Willens. NEWTON hat seiner Naturphilosophie theologische Betrachtungen zumeist fern gehalten; aber bei dem religiösen Sinn, der dem großen Naturforscher eigen war, dürfen wir nicht zweifeln, daß er bei seinen "Leges naturae" ebenfalls an den Willen Gottes als des höchsten Gesetzgebers dachte. Nachdrücklich wird diese Anschauung durch die Bemerkungen bezeugt, mit denen er das dritte Buch der "Prinzipien" abschließt. Mit der Einbürgerung des Ausdrucks in der Naturwissenschaft hat sich nun aber das Verhältnis sichtlich allmählich geändert. An die Stelle Gottes trat die Natur selbst. Ältere pantheistische Anschauungen, bei denen jene beiden Begriffe von Gott und Natur in einen zusammenfielen, mögen dabei ursprünglich mitgewirkt haben. In diesem Sinne redet schon GIORDANO BRUNO mit dem Ausdruck religiöser Verehrung von den Naturgesetzen, und selbst über GALILEIs Naturanschauung ruht, wenngleich unausgesprochen, etwas vom pantheistischen Zug der italienischen Naturphilosophie der vorangegangenen Zeit. Die völlige Lösung von dieser religiösen Wurzel brachte jedoch erst das auch der Naturwissenschaft sich bemächtigende Freidenkertum des vorigen Jahrhunderts zustande. Nebenbei hat wohl hier, wie in so vielen Fällen, der häufige Gebrauch die Profanierung des Ausdrucks begünstigt. Indem man unter "Naturgesetz" nun überhaupt nur noch die strenge Regelmäßigkeit bestimmter Erscheinungen verstand, hinderte nichts mehr, den Gebrauch des Wortes weit über seine ursprünglichen Grenzen auszudehnen. So entstand die Unterscheidung von allgemeinen und speziellen, axiomatischen und abgeleiteten Naturgesetzen. Diese Vorstellungsweise ist ohne Zweifel noch heute eine weit verbreitete. Von den zwei ursprünglichen Bestandteilen des Begriffs ist der eine, die Geltung für das einzelne Geschehen, das dem Gesetz unterworfen gedacht wird, erhalten geblieben; der andere, die Idee eines persönlichen Willens, der das Gesetz gibt, ist verloren gegangen. Aber obgleich diese Bedeutung fortbesteht und unter Umständen sogar leise Anwandlungen der Verbindung mit der ersten gelegentlich vorkommen mögen, so ist damit doch noch nicht die ganze Entwicklung erschöpft, sondern jene fortgesetzte Ausdehnung auf untergeordnete Regelmäßigkeiten hat schließlich zu einer letzten Gestaltung geführt, die man wohl als die für die heutige Zeit charakteristische bezeichnen kann. Einen je spezielleren Inhalt ein Gesetz gewinnt, umso mehr bringt die Notwendigkeit der Unterscheidung das Bedürfnis einer kurzen und überall leicht zu Gebote stehenden Benennung hervor. Wie ließe sich aber ein Gesetz einfacher benennen, als indem man ihm den Namen desjenigen Mannes gibt, der es zuerst aufstellte? So hat dann in der Tat die Neuzeit eine Überfülle von persönlich benannten Naturgesetzen hervorgebracht. Wir reden vom MARIOTTE'schen, GAY-LUSSACschen, DULONG und PETIT'schen, AVOGADROschen, OHMschen, WEBERschen Gesetz, und von vielen anderen. Nachdem die großen Naturforscher vorangegangen waren, folgten allmählich die kleinerer nach. Die Ehrenbezeigung durch eine Verewigung des Namens, welche zuerst die Botaniker und Mineralogen bei ihren Speziesbezeichnungen eingeführt haben, bemächtigte sich so, wenn auch in einem durch den Gegenstand beschränkten Maß, der Physik, Chemie und verwandter Disziplinen. Zugleich tragen nun manche dieser "Gesetze" einen einigermaßen ephemeren [flüchtigen - wp] Charakter an sich: sie kommen und gehen, um nötigenfalls durch neue ersetzt zu werden. In vielen Fällen werden daher nunmehr die Ausdrücke "Gesetz" und "Hypothese" geradezu in einem identischen Sinn gebraucht. Es ist klar, daß von einem göttlichen Ursprung hier nicht mehr geredet werden kann, ebensowenig aber davon, daß sie von, ja manchmal nicht einmal davon, daß sie für die Natur gegeben sind. Wer bleibt also hier als der Gesetzgeber übrig, wenn nicht der Naturforscher, der einen derartigen Satz zum ersten Mal aufstellt? In der Tat ist nicht zu verkennen, daß diese Bedeutung mehr und mehr die herrschende geworden ist, wenn sie sich auch in vielen Fällen noch mit der zweiten und da und dort sogar einmal mit der ersten verbinden kann. Die meisten derartigen Entwicklungen haben ja das Eigentümliche an sich, daß neben dem neu Entstandenen das Alte nicht völlig untergeht. Wie weit übrigens auch diese dritte und letzte Stufe von der ersten, auf der Gott der Gesetzgeber war, entfernt scheinen mag, in einem Punkt kommt sie derselben doch wieder näher als das Zeitalter des reinen Naturalismus. Das Gesetz hat nicht bloß, wie hier, den Charakter eines Befehls, dem die objektiven Erscheinungen gehorchen, sondern es ist auch ein persönlicher Wille wiedergefunden, der diesen Befehlt gibt; und da dieser Wille ein individueller menschlicher Wille ist, so kommt hier das Bild sogar der Urbedeutung, der es entnommen ist, wieder am nächsten. Wenn endlich an der Entwicklung des zweiten Stadiums die naturalistische Weltansicht des vorigen Jahrhunderts, so mag an diesem die skeptische Neigung der Zeit nicht ganz unbeteiligt sein, eine Neigung, die es begreiflich macht, daß man die Verantwortlichkeit für die Geltung irgendeines Satzes zunächst nicht der Natur selbst, sondern lieber demjenigen aufbürden möchte, der ihn aufgestellt hat. Abgesehen von den Vorbehalten, die im Vorigen namentlich hinsichtlich der allmählichen Entstehung und der Koexistenz der verschiedenen Stufen gemacht sind, wird sich demnach die Antwort auf die eingangs aufgeworfene Frage kurz folgendermaßen geben lassen: Im 17. Jahrhundert gibt Gott die Naturgesetze, im 18. tut es die Natur selbst, und im 19. besorgen es die einzelnen Naturforscher. Wie in dieser kleinen Erscheinung sich der "Geist der Zeiten" spiegelt, darüber Betrachtungen anzustellen, mag dem Kulturhistoriker überlassen bleiben. |