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NIELS BOHR
Kausalitat
und
Komplementarität


"Es handelt sich darum, inhaltslose Streitfragen durch eine Analyse der Voraussetzungen und der Zweckmäßigkeit der in Betracht kommenden Begriffsbildungen zu vermeiden."

Bei verschiedenen Gelegenheiten habe ich darauf hingewiesen, daß die Belehrung, die uns die neuere Entwicklung der Physik in bezug auf die Notwendigkeit einer ständigen Verallgemeinerung der Begriffsbildung zur Einordnung neuer Erfahrungen gegeben hat, uns zu einer allgemeinen erkenntnistheoretischen Einstellung führt, die geeignet sein dürfte, auch auf anderen Gebieten der Wissenschaft scheinbare begriffliche Schwierigkeiten zu vermeiden. Da aber von mehreren Seiten die Auffassung zum Ausdruck gebracht worden ist, daß es sich bei dieser Einstellung um einen dem Geiste der Wissenschaft zuwiderlaufenden Mystizismus handle, begrüße ich die Gelegenheit sehr, in diesem Kreise von Wissenschaftern aus den verschiedensten Fachgebieten, die das Bestreben vereint, einen gemeinsamen Boden für unsere Erkenntnis zu finden, auf diese Frage zurückzukommen und vor allem zu versuchen, Mißverständnisse, die hier aufgetaucht sind, zu klären.

Bevor ich zu den zur Diskussion gestellten Problemen übergehe, brauche ich wohl nur kurz daran zu erinnern, wie oft die Entwicklung der Physik uns gelehrt hat, daß die zweckmäßige Anwendung schon der elementarsten Begriffe, die zur Beschreibung der alltäglichen Erfahrungen unentbehrlich sind, auf zunächst nicht beachteten Voraussetzungen beruht, deren Berücksichtigung für die möglichst willkürfreie und übersichtliche Darstellung mehr umfassender Erfahrungsgebiete wesentlich ist. Auch brauche ich kaum zu betonen, wie sehr diese Entwicklung zur Klärung der allgemeinen Voraussetzungen menschlicher Erkenntnis beigetragen hat. Wenn es sich auch dabei in mehrfacher Hinsicht um bleibende Errungenschaften handelt, so haben wir doch gerade in letzter Zeit eine eindringliche Mahnung erhalten, daß die Analyse neuer Erfahrungen immer wieder unbeachtete Voraussetzungen für die eindeutige Anwendung unserer einfachsten begrifflichen Hilfsmittel, wie Raumzeitbeschreibung und Kausalzusammenhang, aufdecken kann.

Erst die Auffindung der mit der endlichen Fortpflanzungsgeschwindigkeit des Lichts verbundenen Paradoxien bei Beurteilung von Ereignissen durch relativ zueinander bewegte Beobachter hat die sogar im Gleichzeitigkeitsbegriff enthaltene Willkür enthüllt und damit eine freiere Einstellung zur Frage der Raumzeitkoordination geschaffen, wie sie in der Relativitätstheorie zum Ausdruck kommt. Diese hat bekanntlich eine einheitliche Formulierung der in verschiedenen Bezugssystemen auftretenden Erscheinungen ermöglicht und dadurch die grundsätzliche Äquivalenz bisher getrennter physikalischer Gesetzmäßigkeiten zutage gebracht. Die Erkenntnis der wesentlichen Abhängigkeit jeder physikalischen Erscheinung vom Bezugssystem des Beobachters bedeutet aber - wie besonders EINSTEIN selber betont hat - keineswegs das Aufgeben der dem Ideal der Kausalität zugrunde liegenden Annahme, daß das Verhalten eines physikalischen Objektes in bezug auf ein gegebenes Koordinatensystem auf eindeutige Weise bestimmt ist, unabhängig davon, ob es beobachtet wird oder nicht.

Eine noch weiter gehende Revision des Beobachtungsproblems wurde indessen durch die Entdeckung des universellen Wirkungsquantums veranlaßt, die uns darüber belehrt, daß die ganze Beschreibungsart der klassischen Physik mit Einschluß der Relativitätstheorie ihre Zweckmäßigkeit nur solange beibehält, als alle in die Beschreibung eingehenden Wirkungen groß sind im Vergleich zum PLANCKschen Quantum. Wenn dies nicht der Fall ist, treten, wie im Bereich der Atomphysik, neuartige Gesetzmäßigkeiten auf, die im Rahmen einer Kausalbeschreibung nicht zufammengefaßt werden können. Dieses zunächst paradox erscheinende Ergebnis findet indessen seine Aufklärung darin, daß auf diesem Gebiete nicht länger scharf unterschieden werden kann zwischen dem selbständigen Verhalten eines physikalischen Objekts und seiner Wechselwirkung mit anderen als Meßinstrumente dienenden Körpern, die mit der Beobachtung unvermeidlich verknüpft ist und deren direkte Berücksichtigung nach dem Wesen des Beobachtungsbegriffs selber ausgeschlossen ist.

Dieser Umstand stellt uns in der Tat vor eine in der Physik ganz neue Situation bezüglich der Analyse und Synthese von eren, die uns dazu zwingt, das Kausalitätsideal durch einen allgemeineren Gesichtspunkt zu ersetzen, den man "Komplementarität" zu nennen pflegt. Die scheinbar mit einander unverträglichen Auskünfte über das Verhalten des Untersuchungsobjektes, die wir bei Benutzung verschiedener Meßanordnungen bekommen, lassen sich nämlich offenbar nicht in gewöhnlicher Weise miteinander verbinden, sondern dürfen als komplementär zu einander bezeichnet werden. Insbesondere erklärt sich das Scheitern jedes Versuchs, den durch das Wirkungsquantum symbolisierten Zug von "Individualität" der atomaren Einzelprozesse durch eine Unterteilung ihres Verlaufs näher zu analysieren, dadurch, daß jeder durch direkte Beobachtung definierbare Schnitt in diesem Verlauf eine Meßanordnung verlangen würde, die mit dem Zustandekommen der betreffenden Gesetzmäßigkeiten selber unverträglich wäre. Aller Unterschiede ungeachtet kann eine gewisse formale Analogie zwischen dem Relativitätspostulat und dem Komplementaritätsgesichtspunkt darin gesehen werden, daß nach dem ersteren die Gesetzmäßigkeiten, die infolge der endlichen Lichtgeschwindigkeit je nach der Wahl des Bezugssystems in verschiedener Form auftreten, miteinander äquivalent sind, während nach dein letzteren die bei verschiedenartigen Meßanordnungen gewonnenen, wegen des endlichen Wirkungsquantums sich scheinbar widersprechenden Gesetzmäßigkeiten logisch vereinbar sind.

Um einen möglichst klaren Eindruck von der in der Atomphysik vorliegenden neuen erkenntnistheoretischen Situation zu geben, wollen wir hier zunächst solche Meßvorgänge etwas näher betrachten, die eine Kontrolle des raumzeitlichen Verlaufs irgendeines physikalischen Ereignisses zum Ziele haben. Letzten Endes besteht ja eine solche Kontrolle immer in der Herstellung einer Anzahl eindeutiger Verbindungen zwischen dem Verhalten des Objektes und den Maßstäben und Uhren, die das für die Raumzeitkoordination benutzte Bezugssystem definieren. Nur solange wir bei der Beschreibung aller für das Ereignis maßgebenden Umstände die mit der Herstellung jeder solchen Verbindung unvermeidlich verknüpfte Wechselwirkung zwischen dem Objekt und diesen Meßinstrumenten völlig außer Acht lassen können, sind wir also in der Lage, von einem selbständigen, von den Beobachtungsbedingungen unabhängigen raumzeitlichen Verhalten des Versuchsobjektes zu sprechen. Falls aber diese Wechselwirkung - wie im Gebiet der Quantenerscheinungen - für das Zustandekommen der Phänomene selbst eine wesentliche Rolle spielt, ändert sich die Situation völlig, und wir müssen insbesondere auf die für die klassische physikalische Beschreibung charakteristische Verbindung zwischen der Raumzeitkoordination der Ereignisse und den allgemeinen dynamischen Erhaltungssätzen verzichten. Denn die Benutzung der Maßstäbe und Uhren zur Festlegung des Bezugssystems schließt ja definitionsgemäß aus, daß irgendwelchen im Verlauf der Phänomene an diese Meßinstrumente übertragenen Impuls- und Energiemengen Rechnung getragen werden kann. Umgekehrt können solche Quantengesetze, deren Formulierung wesentlich auf einer Anwendung des Impuls- oder Energiebegriffes beruht, nur unter Versuchsumständen zum Vorschein kommen, unter welchen eine strenge Kontrolle des raumzeitlichen Verhaltens des Objektes ausgeschlossen ist.

Eine dieser Situation angepaßte Beschreibungsart hat man bekanntlich in der sogenannten Quantenmechanik gefunden, in welcher eine zur widerspruchsfreien Einordnung der neuen Gesetzmäßigkeiten genügende Freiheit dadurch gewonnen wird, daß die gewöhnlichen kinematischen und dynamischen Begriffe durch Symbole ersetzt werden, die neuartigen Rechenregeln gehorchen. Auch in dieser Hinsicht besteht zwischen der Quantenmechanik und der Relativitätstheorie eine interessante formale Analogie derart, daß es in beiden Fällen mit Hilfe von abstrakten Begriffsbildungen der Arithmetik bzw. Geometrie möglich gewesen ist, streng logische Formalismen aufzubauen, die eine Beherrschung neuer Erfahrungsgebiete erlauben. In Verbindung mit der oft diskutierten Frage, ob solche Formalismen als eine Erweiterung unseres Anschauungsvermögens angesehen werden können, darf jedoch nicht vergessen werden, daß die Darstellung der Raumzeitkoordination in der Relativitätstheorie mittels einer vierdimensionalen Mannigfaltigkeit, sowie die Verknüpfung kinematischer und dynamischer Größen in der Quantenmechanik durch nicht-kommutative Algebra, wesentlich auf dem alten mathematischen Kunstgriff der Einführung imaginärer Größen beruhen; in der Tat kommen die Fundamentalkonstanten der Lichtgeschwindigkeit und des Wirkungsquantum in der Definition der vierten Koordinate bzw. in den Vertauschungsrelationen kanonisch konjugierter Variabeln nur mit wurzel -1 multipliziert vor.

Es ist natürlich nicht meine Abischt, hier auf solche speziellen Punkte näher einzugehen; ich wollte bloß betonen, daß auf diesen Gebieten der logische Zusammenhang nur durch einen weitgehenden Verzicht auf die gewöhnlichen Forderungen der Veranschaulichung erkauft werden kann. Insbesondere dürfte es in diesem Zusammenhang nicht unangebracht sein, vor einem Mißverständnis zu warnen, das naheliegt, wenn man den Inhalt der wohlbekannten HEISENBERGschen Unbestimmtheitsrelationen - welche bei Beurteilung der Widerspruchsfreiheit der prinzipiell statistischen Beschreibungsweise der Quantenmechanik eine ebenso grundsätzliche Rolle spielen wie in der Relativitätstheorie die LORENTZschen Transformationsformeln für die Lösung der dort auftretenden Paradoxien - durch einen Satz wie "Der Ort und der Impuls eines Teilchens lassen sich nicht zugleich mit beliebiger Genauigkeit messen" wiederzugeben versucht. Es hätte ja danach den Anschein, als ob es sich um einen willkürlichen Verzicht auf die Messung des einen oder des anderen von zwei wohldefinierten Attributen des Objektes handelte, welcher die Möglichkeit offen ließe, in einer zukünftigen Vervollständigung der Theorie beide Attribute nach den Richtlinien der klassischen Physik in Betracht zu ziehen. Nach den obigen Auseinandersetzungen dürfte es aber klar sein, daß die ganze Situation in der Atomphysik solche den Idealisationen der klassischen Physik entsprechenden selbständigen Attribute des Objektes jedes Sinnes beraubt. Im Gegenteil besteht die eigentliche Rolle der Unbestimmtheitsrelationen eben darin, daß sie in quantitativer Weise die logische Verträglichkeit von einander scheinbar widersprechenden Gesetzmäßigkeiten sichern, die bei zwei verschiedenartigen Meßanordungen zum Vorschein kommen, von denen nur die eine die zweckmäßige Benutzung des Ortsbegriffes und nur die andere die eindeutige Anwendung des allein durch den Erhaltungssatz definierten Impulsbegriffes zuläßt.

Wir sehen also, daß die Undurchführbarkeit einer kausalen Darstellung der Quantenerscheinungen direkt mit den Voraussetzungen der Anwendung der für die Beschreibung der Erfahrungen in Betracht kommenden elementarsten Begriffe verknüpft ist. Es ist in diesem Zusammenhang von verschiedenen Seiten die Vermutung ausgesprochen worden, daß eine durchgreifende Umgestaltung der bisherigen, der alltäglichen Erfahrung angepaßten Begriffsbildungen es ermöglichen würde, auch auf dem Gebiete der Atomphysik das Kausalitätsideal zu bewahren. Eine solche Ansicht dürfte aber auf einer Verkennung der Sachlage beruhen. Schon die Forderung der Mitteilbarkeit der Versuchsumstände und der Meßergebnisse bedeutet ja, daß wir nur im Rahmen der gewöhnlichen Begriffe von wohldefinierten Erfahrungen sprechen können.

Inbesondere dürfen wir nicht vergessen, daß der Kausalbegriff schon der Deutung jedes einzelnen Meßergebnisses zugrundeliegt. Auch bei einer Zusammenfassung von Erfahrungen kann es sich der Natur der Sache nach niemals um wohldefinierte Brüche in einer Kausalkette handeln; der uns aufgezwungene Verzicht auf das Kausalitätsideal in der Atomphysik ist begrifflich ja auch allein darin begründet, daß wir infolge der unvermeidbaren Wechselwirkung zwischen den Versuchsobjekten und den Meßinstrumenten - der prinzipiell nicht Rechnung getragen werden kann, wenn diese Instrumente zweckgemäß die eindeutige Anwendung der zur Beschreibung der Erfahrungen nötigen Begriffe erlauben sollen - nicht länger imstande sind, von einem selbständigen Verhalten der physikalischen Objekte zu reden. Letzten Endes dient ja ein künstliches Wort wie "Komplementarität", das nicht zu den alltäglichen Begriffen gehört und dein daher kein anschaulicher Inhalt mit Hilfe der gewöhnlichen Vorstellungen gegeben werden kann, nur dazu, an die vorliegende jedenfalls in der Physik gänzlich neue erkenntnistheoretische Situation zu erinnern.

Die immer wieder ausgesprochenen Hoffnungen, die wesentlich statistische Beschreibungsweise der Quantenmechanik durch die Annahme eines den atomaren Phänomenen unterliegenden, aber unseren bisherigen Beobachtungen unzugänglichen kausalen Mechanismus zu vermeiden, dürften in der Tat ebenso vergeblich sein wie jede Hoffnung, mit den gewöhnlichen Vorstellungen von absolutem Raum und absoluter Zeit der durch die allgemeine Relativitätstheorie gewonnenen Vertiefung unseres Weltbildes gerecht zu werden. Vor allem dürften solche Hoffnungen auf einer Unterschätzung der prinzipiellen Gegensätze zwischen den Gesetzmäßigkeiten beruhen, um die es sich in der Atomphysik handelt, und den gewöhnlichen Erfahrungen, die in so vollkommener Weise: durch die Vorstellungen der klassischen Physik zusammengefaßt werden. Nicht allein ist das wohlbekannte Dilemma zwischen dem korpuskularen und dem undulatorischen Charakter des Lichtes und der Materie nur mit Hilfe des Komplementaritätsgesichtspunktes vermeidbar, sondern die mit der Existenz des Wirkungsquantums zwangsläufig verbundenen eigenartigen Stabilitätseigenschaften der Atomstrukturen, die in offenbarem Gegensatz zu den Eigenschaften jedes denkbaren mechanischen Modelles stehen, bilden sogar die Voraussetzung für die Existenz der Objekte und Meßinstrumente, mit deren Verhalten sich die klassische Physik befaßt. Bei näherer Betrachtung dürfte zumal die jetzige Fassung der Quantenmechanik, trotz ihrer großen Fruchtbarkeit, nur als ein erster Schritt zur notwendigen Verallgemeinerung der klassischen Beschreibungsart erscheinen, der durch die Möglichkeit bedingt ist, in ihrem weiten Anwendungsbereich bei der Deutung der Versuchsergebnisse vom atomaren Aufbau der Meßinstrumente selbst noch abzusehen. Für eine Zusammenfassung noch tiefer liegen der Gesetzmäßigkeiten der Natur, in denen nicht nur die gegenseitige Beeinflussung der gewöhnlich als elementar betrachteten Bausteine der Materie, sondern auch ihre eigene Stabilität in Frage kommt, dürfte schon diese Voraussetzung nicht länger aufrechtzuerhalten fein, und wir müssen mit einer mehr umfassenden Verallgemeinerung der Komplementaritätsbeschreibung rechnen, die einen noch weitergehenden Verzicht auf die üblichen Forderungen an sogenannte Anschaulichkeit gebieten wird.

Ich hoffe, durch diese Bemerkungen den Eindruck vermittelt zu haben, daß es sich beim Verlassen der Kausalbeschreibung in der Atomphysik nicht um eine leichtsinnige Behauptung der Unmöglichkeit, die Fülle der Erscheinungen zu erfassen, handelt, sondern um das ernsthafte Bemühen, den uns hier entgegentretenden neuartigen Gesetzmäßigkeiten im Sinne der allgemeinen Belehrung der Philosophie vom notwendigen Gleichgewicht zwischen Analyse und Synthese gerecht zu werden. Eben in diesem Zusammenhang schien es mir von Interesse darauf hinzuweisen, daß wir auch auf anderen Gebieten der menschlichen Erkenntnis scheinbaren Widersprüchen begegnen, die nur unter dem Gesichtspunkt der Komplementarität vermeidbar sein dürften. Dabei liegt es mir fern, die vielverbreitete Meinung zu teilen, daß die neuere Entwicklung auf dem Gebiete der Atomphysik uns in direkter Weise dazu verhelfen könnte, Fragestellungen wie "Mechanismus oder Vitalismus" und "Willensfreiheit oder Kausalzwang" zugunsten der einen oder der anderen Auffassung zu entscheiden. Vielmehr dürfte die Tatsache, daß die Paradoxien der Atomphysik nicht durch eine einseitige Stellungnahme zum alten Problem des Determinismus oder Indeterminismus sondern nur durch eine Abwägung der Beobachtungs- und Definitionsmöglichkeiten gelöst werden können, uns zu einer neuen Prüfung anregen, wie es sich in dieser Hinsicht mit den fraglichen Problemen in Biologie und Psychologie verhält.

Was zunächst die Frage betrifft, inwieweit wir hoffen können, die charakteristischen Merkmale der lebenden Organismen allein mit Hilfe der aus dem Studium der unbelebten Natur gewonnenen Erfahrungen zu erklären, so dürfen wir vor allem nicht vergessen, daß schon eine Definition des Lebens erkenntnistheoretische Probleme enthält. Wenn gewöhnlich eine Maschine als tot bezeichnet wird, versteht man vorerst wohl kaum etwas anderes darunter, als daß die für ihr Funktionieren wesentlichen Umstände mit Hilfe der Begriffsbildungen der klassischen Physik völlig beschrieben werden können. In Anbetracht der Unzulänglichikeit der klassischen Beschreibungsart in der Atomphysik dürfte aber selbstverständlich eine solche Definition der Unbelebtheit nicht länger ausreichen. Die neu erkannte Möglichkeit, makroskopische Erscheinungen durch einzelne atomare Vorgänge einzuleiten, die für das Funktionieren der Organismen eine wesentliche Rolle spielt - jedenfalls was die Empfindlichkeit der Sinneswahrnehmungen betrifft, - ist ja auch der Anlaß dazu gewesen, daß die Frage nach einer möglichen "Erklärung" des Lebens wieder aufgenommen wurde. Zugleich dürfte aber die Erkenntnis, daß wir bis in den Bereich der atomaren Phänomene niedersteigen müssen, wenn wir den Abgrund zwischen Belebtem und Unbelebtem überbrücken wollen, uns die damit verbundenen praktischen und begrifflichen Schwierigkeiten in eindrucksvollster Weise vor Augen führen.

Soweit wir überhaupt imstande sind, das Verhalten von Atomen in Organismen unter ähnlichen Versuchsbedingungen zu verfolgen wie in grundlegenden Experimenten der Atomphysik, können wir es selbstverständlich nur mit den durch diese aufgedeckten Gesetzmäßigkeiten zu tun haben, die - ungeachtet ihrer, der klassischen Physik fremden Züge von Individualität - uns offenbar kein Verständnis bringen für die sogenannten holistischen oder finalistischen Merkmale der Lebensaktivitäten. Die einzige logische Möglichkeit, jeden Widerspruch zwischen der Formulierung der Gesetzmäßigkeiten der Physik und der für die Beschreibung der Lebenserscheinungen zweckmäßigen Begriffsbildungen zu vermeiden, dürfte daher in dem wesentlich veschiedenen Charakter der betreffenden Versuchstumstände zu suchen sein. Bei einer früheren Gelegenheit habe ich versucht, diesen Sachverhalt in der Weise auszudrücken, daß jede denkbare Versuchsanordnung, die dazu eingerichtet wäre, das Verhalten der den Organismus bildenden Atome in so weitem Umfang zu verfolgen wie es die Beobachtungs- und Definitionsmöglichkeiten der Physik zulassen, mit der Aufrechterhaltung des Lebens des Organismus unverträglich wäre, in ganz ähnlicher Weise wie alle Versuchsergebnisse, die durch eine Meßanordnung zu gewinnen wären, welche eine eingehende Kontrolle des raumzeitlichen Verhaltens der Bausteine der Atome und Moleküle erlauben würde, in einem komplementären Verhältnis stehen zu allen Ergebnissen die unter Umständen gewonnen werden können, welche die für die physikalischen und chemischen Eigenschaften der Stoffe maßgebende Stabilität solcher Atomstrukturen zu studieren erlauben.

Zur näheren Beleuchtung dieser Auffassung wurde in dem zitierten Artikel darauf hingewiesen, daß der mit dem Leben untrennbar verknüpfte ständige Stoffwechsel der Organismen es sogar ausschließt zu entscheiden, welche Atome streng genommen zu einem lebenden Organismus gehören, so daß wir es also schon in dieser Hinsicht mit einem Problem zu tun haben, dessen Behandlung - ganz abgesehen von seiner Komplikation - sich wesentlich den Methoden der Atommechanik entzieht. Diese Methoden, die unsere ganze Kenntnis der Physik und der Chemie beherrschen, beziehen sich ja, genau wie diejenigen der klassischen Mechanik, auf Systeme, deren als elementar anzustehende Bestandteile prinzipiell angebbar sind. Es wird daher die Vermutung nahegelegt, daß die wesentlichen Merkmale der lebenden Organismen, die nur unter solchen Umständen zum Vorschein kommen, wo eine genaue Rechenschaft über ihre atomaren Bestandteile ausgeschlossen ist, Gesetzmäßigkeiten der Natur sind, die in einem komplementären Verhältnis zu denjenigen flehen, mit denen wir uns in Physik und Chemie befassen. Die Existenz des Lebens dürfte somit in der Biologie, sowohl was die Beobachtungs- wie die Definitionsmöglichkeiten betrifft, als eine elementare Tatsache anzusehen sein, ähnlich wie das Wirkungsquantum in der Atomphysik.

Ich habe mich bemüht klarzustellen, daß es sich bei einer solchen Auffassung keineswegs - wie von Philosophen und Biologen befürchtet worden ist - um sogenannte rein metaphysische Spekulationen handelt oder um einen willkürlichen Verzicht auf die Möglichkeit, durch fortgesetzte Untersuchungen immer mehr über das Funktionieren der Organismen zu erfahren. Es handelt sich vielmehr darum, inhaltslose Streitfragen durch eine Analyse der Voraussetzungen und der Zweckmäßigkeit der in Betracht kommenden Begriffsbildungen zu vermeiden. Während der Komplementaritätsgesichtspunkt jeden Kompromiß mit irgendeinem antirationalistischen Vitalismus ablehnt, dürfte er gleichzeitig geeignet sein, gewisse Vorurteile in der sogenannten mechanistischen Auffassung zu entschleiern. Einerseits wäre jedes Versagen wohldefinierter physikalisch-chemischer Gesetzmäßigkeiten im organischen Leben - wie der oft mißverständlich behauptete Widerspruch der Lebensaktivitäten zu den Hauptsätzen der Wärmetheorie - nach diesem Gesichtspunkt ausgeschlossen, anderseits dürfte jedes Verlangen nach einer Analogie zwischen der Existenz des Lebens selbst und solchen Gesetzmäßigkeiten als irrationell abzuweisen sein. Wie schon in dem zitierten Artikel betont, wird also mit diesem Sachverhalt keinerlei Einschränkung der physikalisch-chemischen Beschreibungs- und Untersuchungsmethoden in der Biologie verbunden; vielmehr bleibt die zweckmäßige Anwendung solcher Methoden - ähnlich wie auch in der Atomphysik alle Erfahrungen auf klassisch beschriebenen Versuchsanordnungen beruhen müssen - unsere einzige nie zu erschöpfende Quelle der Erforschung der biologischen Erscheinungen.

Infolge der Tendenz, innerhalb der zur Beschreibung materieller Systeme angepaßten Begriffsbildungen für die Lebenserscheinungen Platz zu schaffen, steht die angedeutete Einstellung ganz fern von jedem Versuch, das Versagen der Kausalbeschreibung in der Atomphysik in spiritualistischem Sinn auszuwerten. Im Gegensatz dazu dürfte aber der soeben erwähnte Standpunkt gegenüber den biologischen Grundfragen auch geeignet sein, das alte Problem des psychologischen Parallelismus in ein neues Licht zu rücken. Die Betrachtungen, die ich bei früheren Gelegenheiten in Verbindung mit atomphysikalischen Problemen über Fragen der Psychologie angestellt habe, verfolgten im übrigen zwei wesentlich verschiedene Zwecke. Der eine war, durch wohlbekannte Beispiele der mit der Selbstbeobachtung verbundenen Schwierigkeiten der Analyse und Synthese psychischer Erlebnisse daran zu erinnern, daß man auf diesem Gebiet der Erkenntnis schon gezwungen war, eine Situation ins Auge zu fassen, die in mehrfacher Hinsicht formale Ähnlichkeit mit derjenigen aufweist, welche wir zur größten Beunruhigung vieler Physiker und Philosophen in der Atomphysik angetroffen haben. Der andere Zweck war, der Hoffnung Ausdruck zu geben, daß die erkenntnistheoretische Einstellung, die zur Klärung der viel einfacheren Probleme auf letzterem Gebiet geführt hat, sich auch bei der Diskussion von psychologischen Fragen behilflich erweisen könnte. In der Tat weist ja schon der Gebrauch von Worten wie "Gedanke" und "Gefühl" oder "Instinkt" und "Vernunft" zur Beschreibung verschiedenartiger psychischer Erlebnisse auf das Vorhandensein von charakteristischen, durch die Besonderheit der Selbstbeobachtung bedingten Komplementaritätsverhältnissen hin. Vor allem dürfte eben in der prinzipiellen Unmöglichkeit, bei der Selbstbeobachtung zwischen Subjekt und Objekt im Sinne des Kausalitätsideals scharf zu unterscheiden, das Willensgefühl seinen natürlichen Spielraum finden.

Ich fürchte, daß die kurzen Andeutungen, mit denen ich mich in bezug auf den letzten Punkt wie auf viele andere in diesem Vortrage begnügen mußte, vielleicht allzu stark an die Selbstverständlichkeit erinnern daß letzten Endes der unmittelbare Gebrauch jedes Wortes in einem komplementären Verhältnis zur näheren Analyse seiner eigenen Bedeutung stehen muß. Doch hoffe ich, daß es mir einigermaßen gelungen ist, Ihnen den Eindruck zu geben, daß meine Einstellung keineswegs im Gegensatz steht zu unseren gemeinsamen Bestrebungen, durch die Bekämpfung von Vorurteilen auf jedem Forschungsgebiet eine möglichst große Einheit der Wissenschaft zu erreichen.
LITERATUR - Niels Bohr, Kausalität und Komplementarirät, in Rudolf Carnap / Hans Reichenbach (Hrsg), Erkenntnis 6/1936, Amsterdam 1967