ra-2NovalisJoachimiTumarkinRoss    
 
ERWIN KIRCHER
Philosophie der Romantik
[ 1 / 2 ]

"Es liegt diesem seelischen Genußleben eine neue Wertung des Lebensstoffs zugrunde. In der Geniezeit galten die großen Aufschwünge des ans Objekt verlorenen Empfindens am höchsten, im deutschen Idealismus die großen und herben Entscheidungen des bewußten Willens. Jetzt wird das eigenste, tiefste Leben da gesucht, wo sich der selber genießende Geist seine leisen und ewigen Beziehungen zum Universum empfindet und begreift, wo der Alltag der Seele die Intensität des großen Erlebens die Lichtkraft der hellen Stunden hat. Der Stolz der Aufklärung ist dahin."


Einleitung

Romantisches Leben erwacht zu ungefähr gleicher Zeit in England und in Deutschland. Unendlich vielgestaltig sind die Formen dieses Lebens und Denkens. Und dennoch ist darin nur ein Grunderlebnis: das Erwachen der Seele. Für dieses Erleben haben wir noch immer nur Bilder. Gewiß ist nur eins: es wird hier etwas Neues als Wirklichkeit empfunden, als Dasein, als Leben. Es wird alles selbstverständlicher, einfacher, klarer, reiner. Es ist ein bestimmtes Gefühl da von dem, was Leben ist, und es will sich durchsetzen. Woher dieses Neue plötzlich kommt, was es ist, dafür haben wir keine Antwort. Es ist nur ein Bild, wenn man außen und innen scheidet; es ist nur eine Hypothese, wenn man von bewußt und unbewußt spricht. Es handelt sich einfach um eine seelische Wirklichkeit. Sie wird als etwas unendlich Reines empfunden und nichts in ihr kann schlecht sein. Und sie ist etwas ganz Einfaches; die großen komplizierten Erscheinungen des inneren Lebens treten zurück; ein Mensch "hat Seele, was viel ist". Man achtet die Leidenschaften nicht mehr so hoch,, die immer nur entstehen können, wenn dieses Einfache, Reine, das wie die Quelle des Lebens selber ist, durch bestimmte Vorstellungen, durch fixe Ideen aufgejagt, aufgewühlt wird. Man stellt die Freude höher als den Schmerz, den Rhythmus höher als irgendein bestimmtes Vorstellen, das in ihm abläuft. Denn Freude und Rhythmus sind eins, sind das Geschehen selber, dem reinen Wesenhaften der Seele näher als der Schmerz, der immer ein bestimmtes Vorstellen ist, das unser inneres Leben starr macht, beherrscht, das die Bewegungen hemmt. Man spricht von Klang und Mißklang, wenn man vom Leben der Seele spricht. Man empfindet in den starken, einfachen Akzenten der Lust und der Unlust. Man stellt das Schweben, das Leichtsein höher als das schwere Haften und Feststehen auf sicherer Erde, das freie Spiel der Kräfte höher als die einseitig große, beschränkt starke Kraft. man hat eine Realität in sich, der man allein glaubt, von der man allein Freude und Schmerz erhält, in der alle Seligkeit und alle Trauer ist.

Dies sind die Ausgangspunkte. Das Leben wird einfacher, reiner. Vieles scheidet als unwesentlich aus. Was an deren nur wie seltene Augenblick vorkommt, wird nun alles, wird Wirklichkeit. Man sucht Leben, Dasein immer zu spüren und sich zu schaffen.

Romantik geht nicht aus von einem dumpfen Taumel des Gefühls. Dies ist wohl da, Kampf, Schmerz, Ekel, trübe Nachflut empfindsamer Stimmungen - aber es ist nicht das Wesentliche, nicht der Keimpunkt des Neuen, sondern hindurch gehen die neuen Losungen: Besonnen sein, das Herz mehr ehren als die Begriffe, zartere Organe als die Worte. So schreibt FRIEDRICH SCHLEGEL an den Bruder: "eine gewisse Besonnenheit überhaupt ist das sicherste Kennzeichen des Helden", und später: "meine Selbständigkeit geht nicht über Recht und Schönheit hinweg, sie schämt sich nicht der Weisheit zu gehorchen."

"Heiterkeit des Geistes" erstreben sie; "die Weltkenntnis des VOLTAIRE, die schöne Begeisterung SHAFTESBURYs, die Gewalt ROUSSEAUs." Der Geist soll leicht sein. "Ein echter Geist trägt das Hauptstolz empor. Was von ihm kommt und um ihn ist, soll jedes in seiner Art das beste und edelste sein."

Ein ganz neues Wahrheitsgefühl entsteht. Die Wirklichkeit der Seele rein, wahrhaftig, rücksichtslos leben: dies heißt ihnen "Bildung". Umgang, Geselligkeit sind nicht weniger "der Anstrengung aller willkürlichen Kräfte würdig" als irgendeine andere Beschäftigung. "Es ist falsch, nur Arbeit für die Zukunft verdienstlich zu finden. Aber die meisten leben in Hoffnung und Einbildung, ich will aber in der  Gegenwart und in der Wahrheit leben." 

Sie empfinden alle, daß sie nicht verstanden werden, daß sie der Welt als "Sonderlinge" gelten. WACKENRODERs sanfte Natur hat darum nicht recht den Mut, das innere Leben rücksichtslos durchzuführen; CAROLINE und vor allem FRIEDRICH führen ihr Leben ganz in diesem Wahrheitsenthusiasmus. FRIEDRICH fühlt, man fliehe ihn, weil er wahrer ist, als man sein darf. Keiner hat von dieser Wahrhaftigkeit des inneren Lebens eine größere Vorstellung als er. "Die höchste Begeisterung kann kaum ein Bild der Wahrheit erschwingen." "Zeige mir auch nur  ein  Gesicht ganz wahr, rein von allen Spuren der verborgensten Lüge und List, ein Gesicht, das nicht lügen kann ... In der Wirklichkeit sah ich nie ein ganz wahres Gesicht."

Bis zu einem zerreißenden Skeptizismus führt ihn dieses Bewußtsein. Eine esoterische Philosohie müsse das Lügen in Schutz nehmen; feine, nicht deutlich bewußte Lügen seien der Menschheit so notwendig, als schwach zu sein und das Schreckliche zu fliehen. Er zweifelt, ob in vielen Leben ein einziger Moment ohne Lüge war, "und in keiner Erdenfreundschaft kann die Wahrheit ganz erreicht werden." Dasselbe steht in einem Brief CAROLINEs.

*        *
*

Die  Kraft des Enthusiasmus  ist der innerste Sinn der Romantik. Sie ist nicht Schwärmerei, aber sie ist die Quelle aller Sittlichkeit. Sie hebt weit hinweg über alle  launischen  Ansichten", die man von sich selber hat. Wenn diese herrschend werden und "jemand sich selbst ein Spielwerk ist, der ist verloren, und hingegen, wer sich selbst  liebt,  der ist auf dem Wege etwas Großes zu werden".

Das "große Ganze des Geistes", die innere Bildungskraft, ,das ist nur aus dieser Kraft des Enthusiasmus zu verstehen, mit der der Einzelne sein Leben gestaltet. Denn sie ist das "Vermögen der Ideale". Sie steigert und erhöht unser Dasin, sie schafft Werte, sie enthüllt den inneren Gott in uns. Wer sein Leben, das Bild seines Lebens nicht mit der Kraft dieses Enthusiasmus, dieser zeugenden Liebeskraft ergriffen hat, der kann sich niemals selber lieben und nie ein inneres Ganzes werden. Das Innerste des Menschen muß schöpferisch sein. Es muß "der verzehrende Trieb nach Tätigkeit", nach innerem Schaffen und Werden oder "wie ich ihn noch lieber nennen möchte, die Sehnsucht nach dem Unendlichen" da sein.

Denn diese innere Kraft ist das Allgemeine und "Reine" im Menschen. Die ewigen Zwecke und Richtungen entspringen daraus jedem in einer ihm eigenen Bestimmung, und "eben die rechten Zwecke machen den Wert des Menschen, und echter Verstand und echter Mut können nur mit diesen verbunden sein." Nur von da aus kann über Wert oder Unwert entschieden werden. Wer dies in einem Menschen nicht ergriffen hat, der hat ihn nicht verstanden. Darin liegt die große Kunst des Verstehens: man muß die Menschen studieren, bsi man dieses Gemeinschaftliche findet, dieses "Ewig-Gute" im Leben eines Menschen, das seine Ehre und Liebe rechtfertigt.

"Es ist etwas Großes, den Menschen nicht nach seinen baren Taten, sondern nach seinem inneren Leben wägen zu können; nur der Weise vermag es." Dieses innere Leben wägen zu können; nur der Weise vermag es." Dieses innere Leben verrät sich in den kleinsten Äußerungen, es ist die Bildungskraft dieses Menschen. Wo sie rege ist, da kann der Mensch nicht in Kleinmut versinken. "Du trägst den schönen Namen Mensch mit Ehren; der Quell der Liebe und Freude in deiner Brust ist zu rein und zu stark, als daß niederer Unmut und unwürdiger Trotz ihn auf lange Zeit trüben und zurückpressen könnte."

Heilig gehalten werden darum die großen Quellen des Enthusiasmus:  Liebe und Freundschaft.  "In der Tiefe meiner Seele dämmert ein erhabenes Bild der Freundschaft." "Eine Verbindung mit mir, die lange bestehen soll, muß auf gegenseitiger Anregung der Sittlichkeit beruhen - denn diese Verbindung nimmt ewig zu. Vor allem aber muß der, den ich lieben soll, fähig sein, nur in einem zu leben und über einem alles zu vergessen."

Alles hat eine Quelle: Sehnsucht nach dem Unendlichen. Sie wird als Grundkraft gespürt, sie wird wirklich nur in der Liebe. - Dies ist das Bildungsideal der Romantik. In Enthusiasmus und Liebe sollen die "wundervollen Kräfte" des Menschen ausgelöst werden, dann nur kann das Gefühl unserer göttlichen höheren Natur in uns durchdringen, dann nur kann die innere Helle und Vollendung erreicht werden.

Dieser Idealismus des Menschentums, dieser Glaube an eine bildende Kraft in der Seele, deren Atem die schaffende Liebe ist, dieses Vertrauen auf den inneren Gott, auf das Ewig-Gute des wahrhaft gelebten inneren Seins ist die Lebenswurzel aller Romantik.

*        *
*

Hemsterhuis

In der Stadt des Idealismus und der Vernunftherrschaft, in der ungeheuren Zwingburg des sich selbst bewußt gewordenen Geistes, hat sich das Volk der romantischen Gedanken zuerst angesiedelt. Von hier aus geschah die Eroberung des objektiven Daseins, die weiten Entdeckungszüge in die geschichtliche Welt, in die Gebiete des Bewußten und Unbewußten, des schöpferischen Geistes und der bewußtlos schaffenden Naturproduktion, die die wichtigtse Grundlage zum System unserer modernen Geisteswissenschaften gelegt haben. Was aber schon dieser Zeit der zuversichtlichen Entdeckungsarten das Gepräge romantischer Taten gibt, ist der Zusammenhang seelischer Erlebnisse und ursprünglicher Überzeugungen vom Gehalt des Daseins, auf den all das bezogen wird. Es ist dies ein Grundstrom unmittelbarer Philosophie, der nicht aus den Gedanken des Vernunftidealismus genährt ist, der überhaupt vorerst nicht sich theoretisch in dieses System der Philosophie einzustellen sucht: es sind ursprüngliche Vorgänge in der Seele selber, der hier in schwärmerischen Gedanken sichtbar werden, neue Wertungen, die sich auf die Totalität des inneren Lebens beziehen, während ja der Idealismus mit schroffer Einseitigkeit nur die der Vernunft unterworfenen Seelenbezirke zu seiner Grundlage nahm.

Wo romantische Gedanken zuerst sichtbar werden, gehen sie auf die Allseitigkeit der persönlichen Kultur aus, da gründen sie sich auf die Forderungen eines neuen seelischen Lebens und Welterfahrens.

Es ist nicht möglich, die große Tatsache des neuen Seelenlebens auf wissenschaftliche Formeln zu bringen. RICARDA HUCH, die neuromantische Künstlerin, hat die Fülle dieser Erscheinungen unter dem Symbol des Apollinischen und Dionysischen zu umfassen gesucht. Gewiß ist nur dies: daß unter dieser Generation ein Erwachen der Seele bemerkbar wird, wie vorher nicht seit den Tagen der Mystiker. Die Begriffe stehen machtlos vor diesen Erscheinungen. Es ist eine Zeit des gewaltigsten Getümmels, der allgemeinen Anarchie, unter den Völkern wie unter den Gedanken, in der Moral der großstädtischen Gesellschaft wie in den Formeln der Wissenschaft.

Man nannte damals die Zeit das französische Jahrhundert: nach den großen Entdeckngen der französischen Chemie. Man empfand wohl etwas Symbolisches darin, daß die Gesetze der Lösung und Mischung unter den Elementen im Zeitalter ROUSSEAUs und der französischen Revolution aufgefunden wurden. Wie waren alle Sicherheiten gelöst, wie waren elementare und ungebundene Lebensgewalten in die Ordnungen des säkularen Geistes, in die Lebenssysteme der Aufklärung hereingebrochen.

Und in diesen Zeiten erwachte das Leben der Seele. An den verschiedenen Orten Europas tauchen Gedanken, Dichtungen, Erlebnisse auf, um die man sich die ganz reinen Fäden der Seele selber wieder schlingen sieht. Ein Beamter der holländischen Staatskanzlei schreibt platonische Gespräche, in denen ein Hauch sokratischer Weisheit mitten in Gedanken eines neuen Seelenreichtums fühlbar ist. Zwischen zwei Schlössern, zwischen einigen sächsischen Salinenorten und den Höhen von Jena geht ein Leben voll der zartesten, kühnsten Gedankenflüge dahin, ohne viel Kampf und Ringen, in der unmittelbaren Gewißheit eines guten und neuen Lebens, eines ganz freien und hellen Menschentums.

Was die Gedanken und die Erlebnisse dieser Menschen verbindet, das ist zunächst nicht ein Inhaltliches oder ein bestimmter formaler Ablauf ihres inneren Lebens. Ganz verschieden ist die Art, wie ihr Empfinden in den drei großen Schichten des europäischen Gefühlslebens: in der Gefühlsseligkeit des Empfindsamen, im Intellektualen der Aufklärung und im Naturalistischen der Geniezeit verwurzelt ist; ganz verschieden ist vollends die Art, wie sich ihr Gedankenleben aus den so differenten Kulturströmungen des 18. Jahrhunderts nährt.

Das Wesentliche ihres Tuns und Empfindens ist dies, daß sich der Begriff der Realität für sie völlig zu wandeln beginnt. Es soll nicht mehr der Dualismus des bisherigen idealen Lebens gelten, hier die harte Wirklichkeit, die die Gesetze des Tuns und Lassens, das Leben des Alltags im Kreislauf seiner Pflichten bestimmt, und dort das Leben der ausschwärmenden Seele, der in Phantasie und Einbildungskraft erbauten idealen Sphäre, in der sich das Gefühl nach allem Jamer und Druck des Wirklichen ersättigen kann. Vielmehr wird nun das eigentlich allein wahre, allein gültige Leben als eine positive Sphäre der Seele selber empfunden, in der das Ideale real und das Reale ideal ist, in der die Seele sich den Zusammenhang der Welt in jedem Einzelnen neu und persönlich erschaffen muß, nicht nur die Welt der Träume und der Phantasie, sondern den Alltag selber mit seinen unendlichen Beziehungen, das dem Verstand nicht durchdringbare Geflecht seelischer Aneignungen und Wertungen, das jede Minute des inneren Lebens ausmacht und bestimmt. Erst wo sich diese Sphäre erfüllt hat, wo diese innere und imaginäre Welt sich zu der allein gültigen Wirklichkeit gefestigt hat, wo die tausend unwägbaren Wahrnehmungen des Verstandes, des Gefühls, der Einbildungskraft sich zu einem Zusammenhang verschlungen haben, in dem der persönlichste, innerlichste Rhythmus unserer Seele in seinem mitschwingenden Leben die Gesetze unseres Daseins uns kundgibt, erst da soll die Vernunft ein Recht haben, ihr begreifbares und logisch bestimmbares Für und Wider auszusprechen.

Diese innerste und nun als real empfundene Sphäre ist das Leben des Gefühls, der elementaren Empfindungen, der nur als mystisch uns erlebbaren Grundschicht unseres Daseins, nicht im Sinn einer dunklen Ruhestätte unseres kaum bewußt mehr genießenden Seins, sondern als das helle Reich der Seele, in dem alle intellektuellen Kräfte unseres Wesens sich erst ihre Rechtfertigung und ihre letzten Gewißheiten holen sollen. Alle Entscheidungen und Werte unseres Lebens, auch die der sich selbst bestimmenden Vernunft verwirklichen sich uns in einem Lustmechanismus, der durch die Resonanzen unseres untersten, Körper und Geist gleichmäßig durchdringenden und beherrschenden Wesens bestimmt ist und der bei den meisten nur unterbewußt mit im Spiel ist. Diese Grundschicht unseres Wesens selber soll nun der Geist, die handelnde Bewußtheit, in seine Gewalt nehmen. Wer diese allgemeinste Richtung nicht von vornherein ins Auge faßt, wird sich im romantischen Denken nicht zurechtfinden.

Das Leben und Denken der führenden Romantiker ist in gewissem Sinn ein einziger großer Versuch, das Werk der Geistesbildung und der persönlichen Kultur in diese Grundschicht einzubauen und fest zu gründen, sich dieser Fundamente selber zu versichern. In diesem Sinn wird "Bildung" das große Studium der Romantik. Wo diese Bestrebungen persönlicher Kultur sich aus den Tendenzen des philosophischen Idealismus zu rechtfertigen versuchen, da beginnen - im Philosophischen - die spezifisch romantischen Gedankenbildungen.

Aber ehe das eintritt, hat dieses Werk, das eigene Selbst in seinem ganzen Reichtum in die Gewalt zu nehmen, schon eine mannigfache Entwicklung durchlaufen, und als die Philosophie KANTs und FICHTEs diese jungen Denker noch rein theoretisch beschäftigt, hat das Grunderleben ihres neues Selbst- und Weltgefühls schon seinen Philosophen gefunden, in FRANZ HEMSTERHUIS, der als der erste und auf lange hin der einzige Philosoph dieses Weltgefühls gelten kann. Er wurde von allen Romantikern als zum neuen Geist gehörig, als einer der Ihren imer empfunden und gefeiert. Kein anderer wirkte im stillen so nachhaltig auf die Ausbildung und Deutung der unmittelbaren Lebensgefühle, die den Unterstrom der romantischen Welt ausmachen, und die mit den Forderungen des als gewiß empfundenen Lebens dann auch wieder in die Gedankenreihen des Idealismus eindrangen. Die Geschichte der Romantik in Kunst, Wissenschaft und Philosophie ist im Grunde nur die Geschichte der Deutungen, die dieser seelische Unterstrom im Zusammenhang und in der Auseinandersetzung mit den Zeitgedanken gefunden hat.


Lebenswerte

Im Lebenszustand des Weisen beginnt sich das höchste Gut, das unbedingt Wertvolle des menschlichen Daseins zu verwirklichen und zu erfüllen. In dieser Glückseligkeit sind die Quellen aller Wertungen der HEMSTERHUIS'schen Philosophie, hier erhalten sie ihren Sinn, hier rechtfertigen sie das ganze System. Alle Vermögen der Seele haben hier den Einheitspunkt ihres besten Strebens und Verlangens. In diesem Ideal erreicht die Aufklärung einen soweit vorgeschobenen Grenzpunkt ihres Lebensempfindens, daß er in das romantische Denken unmittelbar hineinragt.

Alles konzentriert sich in diesem System um wenige letzte Lebenswertungen. Die Art, wie diese erfaßt und begründet sind, macht das Neue dieses Weiterlebens und dieses Denkens aus. Es kehren dieselben Ausdrücke häufig wieder. Ordnung, Einheit. Sie erhalten ihre sinnlichste Ausprägung im Bild der Harmonie und Dissonanz, es sind also lauter Begriffe, die gewöhnlich als ästhetische gelten. Hier sind sie viel tiefer erfaßt: als Inbegriff und Symbol des höchsten Gutes und hier werden zugleich an die seelischen Inhalte, in denen sie sich ausprägen sollen, neue Forderungen gestellt.

Es ist im inneren Leben HEMSTERHUIS' eine seltsame Mischung vorwegnehmender Gedanken und ganz zeitechten Seelenlebens. Durchaus neue Lebenswertungen und ein neuer Rhythmus der Seele verwirklicht sich hier noch zum Teil im Gefühlsstoff des 18. Jahrhunderts. HEMSTERHUIS ist gar nicht ein spezifisch ästhetischer Denker. Seine Lebensgefühle wurzeln durchaus in der Aufklärung. Er empfindet nie artistisch. Wo er von seinem tiefsten Kunsterleben spricht, ist er eher moralempfindsam; sein Grundgefühl scheint äußerlich dem Humanitätsempfinden nicht fern zu sein; die weltumfassende Liebe, in der alle Menschen Brüder werden, in der ein uferloses Ideal der Gleichheit sich verwirklichen soll, geht manchmal auch in seinem Denken über persönliches Dasein und die Werte des historischen, individuellen Lebens verständnislos schwärmend hinweg. Die Lebenswurzeln dieser Moral scheinen zum Teil auch in einem empfindsamen Selbstgenuß festzulegen: "So rinnen, indem wir die Leiden eines tugendhaften Menschen erleichtern, unsere Tränen aus Mitleid oder aus Vergnügen." - "Beim Zuwachs der Vollkommenheit oder Reizbarkeit des moralischen Sinns kann der Mensch seiner selbst am besten genießen." "Die Gemütserregung bei erhabener Musik ist keine andere als bei der Erzählung moral-heroischer Intensität auftritt, "mit Zittern, mit einer Art von Erstarrung im Herzen, die mit einem Kitzel in den Adern bis in die letzten, äußersten Teile des Körpers verbunden ist," so scheint sie häufig doch nicht zu gehen, als bis zu dem empfindsamen Schauer schwärmerischer Gefühlsekstasen.

Und doch ist zu unterst in HEMSTERHUIS' Seele eine Schicht, über die solche Gefühlswellen fast wie ein willkürliches Spiel gleiten, ein Lebensgrund, von dem durch all dieses inhaltliche Erfülltsein, Wogen und Wallen eine magnetische Lichtflut heraufdringt, die den eigenen Rhythus dieses Wellenspiels bedingt und allem den Anschein einer ganz neuen seelischen Welt gibt. In dieser Schicht ruht alles, was fruchtbar wurde von seinem Denken.

An das, was man gewöhnlich die ideale Welt, die Empfindungswelt nennt, werden hier neue Forderungen gestellt. Alles, was existiert, steht in ewigen Zusammenhängen. Auch das psychische Weltall ist ein ungeheures Gewebe von realen Beziehungen; wir sind alle in solchen Beziehungen befangen; wie in einem Geflecht von tausend unsichtbaren, unendlich zarten Fäden lebt jede Seele in der Gesellschaft und im Universum. Das Leben der Seele ist eine Geschichte; die Seele soll sich erst entdecken, damit sie das Universum entdecken kann.

Unsere seelische Erkenntnis ist noch unvollkommen, unser moralischer Sinn hat noch nicht die Schärfe und Bestimmtheit unserer gewöhnlichen Sinne. Von Liebe und Haß sollen wir so deutliche Begriffe, ein so lichtes Wissen haben wie von Baum und Strauch. Die ganze seelische Sphäre ist so wirklich, so erkennbar, so gesetzmäßig, wie die hörbare und sichtbare im Universum auch. Alles Tun und Empfinden muß nichtig und verworren sein, wenn diese Sphäre nicht völlig in unser erkennendes Bewußtsein tritt. Sie steht in Beziehun mit unseren Sinnen. Das moralische Organ ist selber ein Sinn, der Entwicklung fähig wie jeder andere. Es gehört Aufmerksamkeit, das stille Aufmerken der Seele dazu, das jedesmal ein reales Verhältnis zu den Dingen hervorbringen soll, damit sie es fest ergreife, seine Anziehungskraft wecke und aus dem Mittelpunkt der fremden Dinge dann sich selber und ihr Verhältnis zur Welt begreife.

Dies ist das eine große Ergebnis der HEMSTERHUIS'schen Philosophie, die Forderung, daß die sogenannte ideale, innere Sphäre auch als eine positive, wirkliche, reale anerkannt wird, und zwar als die reichste, schönste im Universum.

Materie nennen wir nur das, was unseren jetzigen Organen zugänglich ist. Der moralische Sinn soll so kräftig werden, daß er seine Welt auch als eine wirkliche erkennt. Die Art, wie HEMSTERHUIS sie näher bestimmt und faßt, ist durch seine eigenen Gefühlsinhalte bedingt. Er nennt sie moralisch, weil er vor allem die Verwirklichung des Guten von ihrer Ausbildung abhängig weiß, und weil ihm die empfindsamen Beziehungen der Sympathie und der Seelenfreundschaft zu den notwendigen Bedingungen des Guten gehören.

Er führt in ihr einen Spinozismus des Gefühlslebens durch, ein seelisches Notwendigkeitssystem, weil er das Ich theoretisch nur als einen passiven Spiegel der universellen Beziehungen auffaßt und weil er das individuelle, historische Leben nicht in seinem selbsteigenen Wert begreift. Schauen, Erkennen ist ihm alles. Sein Welterfassen ist eine weibliche Hingabe seiner Seele, und der Wille, der er so soft so enthusiastisch wie in der Ahnung seiner eigentlichen Bedeutung preist, scheint oft nicht viel mehr als der kundige Verwalter zu sein, der im Haus der Seele die empfangenen Kostbarkeiten mit verstehender Liebe ordnet und in ihren Wert einsetzt. In einem viel kargeren Haushalt hat der Wille des deutschen Idealismus seine Stellung und Bestimmung in der Welt viel tiefer und männlicher begriffen, hat der Geist an dieser Stelle seine Mission im Weltall wie eine ungeheure Verpflichtung erkannt. Seine Gebote werden hart und unerbittlich, wie in Kriegszeiten, wo mehr als die Sicherheit des einzelnen auf dem Spiel steht, und wo die üppigeren Schätze des Gemütslebens verachtet oder gar nicht gekannt werden. Hier in den Friedenszeiten des HEMSTERHUIS'schen Denkens werden nun die Schätze neu entdeckt. Die Seele fühlt sich unendlich reich, sie ahnt in ihren Beziehungen zum Universum ganz neue und unerhörte Quellen des seelischen Erlebens, und nach echter und ewiger Künstlerart wird die Rauhheit des Kriegerlebens dahingegeben um der genießendenn Betrachtung willen.

Diese Moral ist viel tiefer gegründet als irgendeine eudämonistische. Dem einzelnen gibt sie wenig mehr als die Richtung, wo Glück und Heil des Menschen zu suchen sind. Aber sie glaubt, daß alle echte Wahrheit ihrer Natur nach nur wegweisend sein kann - die Worte sind nur ein unzuverlässiges Medium des Vordenkens, der Tätige muß durch sich selber an Ort und Stelle gelangen - und sie wendet sich an Menschen, die das eigene Leben der Seele nur dort spüren, wo kein Kampf und kein Ringen mehr ist, wo die Barke nach mühsamer Arbeit vom Ufersand in die Flut gleitet und nun Welle und Steuermann einen Weg haben.

Es liegt diesem seelischen Genußleben eine neue Wertung des Lebensstoffs zugrunde. In der Geniezeit galten die großen Aufschwünge des ans Objekt verlorenen Empfindens am höchsten, im deutschen Idealismus die großen und herben Entscheidungen des bewußten Willens. Jetzt wird das eigenste, tiefste Leben da gesucht, wo sich der selber genießende Geist seine leisen und ewigen Beziehungen zum Universum empfindet und begreift, wo der Alltag der Seele die Intensität des großen Erlebens die Lichtkraft der hellen Stunden hat. Der Stolz der Aufklärung ist dahin. Alles Große ist nur noch insofern im Menschengeist, als das Universum in ihm ist, als die immateriellen Zusammenhänge ihm materiell wirklich werden, als die groben Hüllen allen Geschehens fallen und die leisen Schwingungen der seelischen Sphäre vernehmbar werden. Der ganz einseitige und nur aus Empfindsamkeit erklärliche Dualismus zwischen Leib und Seele kann die bedeutsamen Forderungen nicht verkümmern, die hier an Stoff und Reinheit des Gefühlslebens gestellt werden.

Zum erstenmal wird hier ein Realismus des Gefühls gefordert, der von verstiegener Schwärmerei weit entfernt ist. Der ganz einfache Lebensgedanke taucht auf, daß das "Ideale" die Realität des Wirklichen haben muß und kann, daß in einem anderen Gefühlsstoff die letzten Wertungen sich gar nicht erfüllen können - eine Gedankenreihe, die allein den Naturalismus des Ideellen, der zum Wesen aller echten Romantik gehört, auch theoretisch rechtfertigen kann.

Diese Wertungen selber sind durch die für sie geforderte Lebensgrundlage mit bestimmt. Sie sind - im äußerlichen Sinn - nicht absolut. Die Seele ist eine Geschichte, kein System. Darum gelten in ihr relative, keine systematischen Forderungen. Sie betreffen den Beziehungszusammenhang, nicht den seelischen Inhalt als solchen. Sie sind - mit einem Wort - Werte der Form, und sie sind darum in allen Gebieten der Seele gültig.

Das Weltall, das psychische und physische, ist ein unendlicher Beziehungszusammenhang, der vom Geist nur nach dem Maß seines Auffassungsvermögens, seiner dermaligen Orgne begriffen werden kann. Dieser Gedanke beherrscht alles. Die Werte bestehen in bestimmten Forderungen an die Beziehungen und Verhältnisse unter den von uns erkennbaren und erkannten Dingen, dem Sachinhalt unserer Seele. Begriffe wie Ordnung, Regelmäßigkeit usw. sind ganz relativ. Die Dinge ansich können unendlich viele Seiten haben, die wir nicht kennen. Die uns wertvoll scheinenden Eigenschaften sind - objektiv - nur einige unter vielen, die aber gerade mit der Empfänglichkeit unseres Geistes, den Bedürfnissen seines Auffassens, dem gegenwärtigen Zusammenhang unseres Denkens zusammentreffen, sie sind keine Ordnung in den Dingen. "Das, was für irgendein Wesen Ordnung in den Dingen sein kann, besteht in den Verhältnissen, die es die Fähigkeit hat, unter ihnen wahrzunehmen."

Die Organisation unseres Geistes, die uns hier bestimmte Eindrücke als Ordnung aufzufassen lehrt, ist dieselbe, die uns antreibt, in den Werken unserer Kunst und unseres Denkens Ordnung zu schaffen, und die Gesetze dieser Ordnung sind dieselben, die wir in all dem Handeln und Empfinden verwirklichen und verwirklicht finden, das wir Schön oder Sittlich nennen. Sie entsprechen untereinander in Verbindung, die Sensationen, die wir durch den Gefühlssinn, Gehörssinn, Gesichtssinn und moralischen Sinn haben, werden nach einem analogen Gesetz bewertet. Die uns am wertvollsten scheinenden Sensationen in jeder dieser Reihen entsprechen sich. Tugend, Schönheit, Harmonie, Angenehmes (und ihre Gegenteile) stehen in einer nahen Beziehung zueinander. Ein Grundwert erfüllt sich in ihnen. HEMSTERHUIS macht einige Versuche, ihn physiologisch zu begründen.

Ein darin wirkendes Grundbestreben, möglichst viele Ideen in möglichst kurzer Zeit aufzunehmen, scheint ihm eine Bedingung der Bewertung zu enthalten und wenigstens bei der Auffassung räumlicher Verhältnisse von den physiologischen Umständen abzuhängen: von der Leichtigkeit und Harmonie der Augenbewegung, die zu seiner vollständigen Wahrnehmung erforderlich sind. Aber diese Erscheinungen reichen viel weiter als die Möglichkeit, sie physiologisch zu erklären. Die formalen Verhältnisse der Ordnung, Regelmäßigkeit usw. sind uns angenehm, weil es überhaupt ein Bedürfnis der Seele ist, möglichst viele Ideen in möglichst kurzer Zeit aufzunehmen. Wo eine solche Modifikation und Einreihung verschiedener Dinge wahrgenommen wird, vermöge der unser Verstand das Ganze und die Beziehungen seiner Teile rasch auffassen kann, da fühlen wir einen Wert verwirklicht. Dieses "sonderbare Vermögen" und das Bedürfnis des Geistes, auf Beziehung, Einheit und Verknüpfung zu drängen, ist die wesentlichste Quelle unserer Wertempfindungen. Sie wirkt im logischen, moralischen und ästhetischen Verhalten in gleichem Maß; wo die Wahrnehmungen und Inhalte der Seele eine diesem Bedürfnis entsprechende Formung annehmen, da empfinden wir Schönheit, Tugend, Wahrheit oder das Angenehme der Sinne. Der moralische Sinn unterscheidet sich hier nicht von den anderen.

Und in all diesem Verhalten ist unsere Seele empfangend, leidend. Die Sensationen der Pflicht oder der Wahrheit sogut wie die des schönen Tons empfängt sie aus dem Zusammenhang der Dinge, der ihr vernehmbar wird; je reizbarer die Organe, umso lichter ist ihr dieser Zusammenhang. Sie ist das Saitenspiel, das sich selber empfinden soll, wenn auf ihm die leise Schwingung der Weltbeziehungen das Zeichen der Harmonien oder Dissonanzen gibt. Es ist hier ansich kein Gut und kein Böse, nur Vollkommenheit oder Unvollkommenheit. Es gibt beim scharfen Betrachten der seelischen Verhältnisse Regeln des gegenseitigen Abstimmens, des An- und Abspannens der Saiten. Man kann sich das Instrument aber nicht selber schaffen, oder ohne jene leisen Schwingungen die Art und Güte des Tons bestimmen, man kann nur vorbeugen, ausgleichen, durch Aufmerken die Gesetze ergründen und nach ihnen handeln, jeder nach dem Maßt der ihm gegebenen Kräfte, und man soll dieses reizbare Instrument nie sich allein überlassen. Es soll stets in Verbindung sein mit einem tätigen Herzen, moralischer Urteilskraft und dem Verstand. Nur so ist es die "ewige Quelle reiner Glückseligkeit".

Dem Weisen nur erfüllt sich diese volle Harmonie. Seine Wahrheit, seine Tugend, seine Schönheit ist jede ein vollkommenerer harmonischer Zusammenklang der Seeleninhalte, der in ihm lebendig gewordenen Weltbeziehungen, der in ihm real gewordenen ideellen Sphäre.

Diese Fragen gehen über das Ästhetische und vollends Artistische weit hinaus. Bei HEMSTERHUIS sind sie, ohne irgendwo deutlich formuliert zu werden, unsichtbar überall gegenwärtig und seine Lebensgefühle sind doch vom reinen Künstlertum so weit entfernt. Sie müssen überall auftauchen, wo das Ziel einer Welterfassung die Totalität des Lebens und der Seele ist, wo sich die Kräfte des Menschen nicht im ungeheuren Anlauf der einseitig gerichteten Größe erschöpfen, in jenen halkyonischen [sieben Tage im Dezember - wp] Zeiten der Meeresstille also, wo die Seele selber zu Wort kommen will.

Die Grundgedanken der idealistischen Ästhetik werden immer von diesen Fragen erfüllt sein. Unsere Seele empfindet gewisse Verhältnisse unter den Dingen und Menschen in jener tiefen Beglückung, die wir der Schönheit dieser Dinge und Menschen zuschreiben möchten, von denen wir sie empfangen. In welchen Lebensgebieten sie sich auch verwirklichen, immer empfinden wir in den Formen der Stetigkeit und Harmonie, des Gleichgewichts und des Ebenmaßes usw. einen letzten Wert und eine letzte Seligkeit unseres Lebens. Sind sie dieser Wert selber oder sind sie nur stille Hindeutungen auf ihn? Tragen sie den Grund unserer Beglückung in sich selber, oder fügt ihn unser innerstes Bewußtsein, als Erinnerung oder als Hoffnung, diesen Formen erst hinzu? Was die Seele als Schönheit auffaßt, kommt nur in ihr selber zustande, indem bestimmte Verhältnisse unter den Dingen mit bestimmten Bedürfnissen und Hoffnungen ihrer selbst zusammentreffen. Daß zwei verschiedene Systeme von Schallwellen, die den Luftraum durchkreuzen, als Einklang und Mißklang von uns empfunden werden, hängt von unserer erlebenden Seele ab. Das Licht leuchtet nicht und die Luft tönt nicht, wenn sie der genießende Geist nicht in sich aufnimmt. Aus dem Wunder des Füreinanderseins und Zusammentreffens von Formen der Natur und von Bedingungen der Seele kommt uns die Beglückung der Schönheit.

In diesem Grundgedanken sind HEMSTERHUIS und KANT wie alle idealistischen Ästhetiker einig. Worin besteht nun die Wohltat, die die Schönheitsformen der Seele bringen? Sind sie selber ein höchster Inhalt oder nur die Hüllen, in denen er sich uns zu erfüllen pflegt? Ist der Einklang, gleichviel zu welchen Beziehungspunkten, etwas uns Wertvolles oder nur, wenn er uns Erinnerung oder Wirklichkeit eines bestimmten Inhalts zubringt?

Das Schöne ist ausdrückend, als Symbol eines Genusses, war die schon von HERDER zuerst gegebene, neuerdings oft ausgeführte Deutung. Die einfachsten, die zeitlich räumlichen Gebilde werden erst ästhetisch wirksam, wenn wir mit namenlosen Kräften ein erlebbares Wohl und Weh von Gleichgewicht oder Bewegung hineinfühlen.

Das Schöne ist ausdrückend, als Symbol eines Sittlichen, war vor allem SCHILLERs Glaube. Die Formen sind ansich gegen den Inhalt völlig gleichgültig. Durch eine unbegreifliche Gunst der Welteinrichtung sollen die Naturbedingungen der Schönheit die Forderungen der sittlichen Vernunft zugleich erfüllen. Die ästhetische Form wurde die sittliche Form, die den Inhalt bändigt, wie sie im Erkennen und Handeln als absolute Gesetze der Vernunft mit hartem Zwang sich durchsetzen sollen. Der Rechtsgrund der Schönheitsformen wurde in den inhaltlichen Wert des Sittengesetzes verlegt. Ein späterer, zuerst von LOTZE ausgeführter Idealismus legte ihn in noch viel engeren, vom Bewußtsein geschaffenen Zusammenhang von Formen und höchstem Inhalt. All diese Formen des Verhaltens und Geschehens, die wir schön nennen, sind nicht ansich und aus sich schön als bloße Verhältnisformen, wie die formalen Ästhetiker wollen, sondern beglücken uns als die notwendigen Vorbedingungen und Erscheinungsweisen des Einen, das allein Wert hat, des Guten. Eine bloße Erscheinungsschönheit gibt es gar nicht. Der Rhythmus der sittlichen Inhalte ist der ästhetische Rhythmus. Der Inhalt hat ihn geschaffen.

Gegenüber diesen großen Versuchen von der Festigkeit eines als absolut gesetzten Lebensgehaltes über Recht und Wert der bloßen Formen zu richten, scheint eine entgegengesetzte Lebenserfassung zu bestehen, die philosophisch gerade als die Umkehrung des LOTZEschen Idealismus erscheint, die sich noch nie systematisch gerechtfertigt hat, weil sie die Anschauung der Künstler ist. Warum soll der Inhalt das Erste und Höchste sein und die Form nur von ihm ihre Bedeutung zu Lehen tragen, oder warum soll die Form nur, als ein unseren Sinnen angemessenes Verhältnis von Beziehungspunkten, auf eine so niedere Art als selbständig gelten?

Vielleicht ist Form, Rhythmus, Harmonie ansich für unsere Seele ein ursprünglicher und ein höchster Wert, und das "absolut Wertvolle" dieses oder jenes Inhalts in diesem oder jenem Seelengebiet ist nur ein Versuch der Füllung, der Deutung und Realisierung dieser Formen im Stoff des Lebens. Wo doch das Blut, das Herz, das Gehirn und jede Kraft unseres Leibes und unserer Seele diese Formen als gleich beseligend, befreiend und lösend erlebt! Die formalen und quantitativen Eigentümlichkeiten der Verknüpfung und Aufeinanderfolge sind dann, unter sinnlichen oder übersinnlichen Elementen, das Wesentliche einer Wahrheit, eines Schönen, eines Sittlichen. Der Enthusiasmus des Schönen und des Guten entspringt dann aus einem ursprünglichen Verhalten der Seele im Zudrang der Welt, das erst in anschaulicher Form, als Mystik, als Rhythmus eines bestimmten Selbst- und Weltgefühls erlebt sein muß, ehe wir seine Forderungen in einem Zusammenhang ethischer oder ästhetischer Begriffe und Vorstellungen besitzen können. Nicht das Inhaltliche irgendeiner Tugend ist alsdann das Ursprüngliche und Schöpferische, sonder der bestimmte Rhythmus, der sie in unserer Vorstellung begleitet und der sich alle inneren Zustände zu unterwerfen strebt. Das Tiefste der Seele ist dann dieses Vermögen der Form. Form ist das Licht der Dinge im Leben wie in der Kunst. Ihr tiefster Ausdruck ist die Musik, wo die reinen Formen, die unmittelbaren, schöpferischen Rhythen der Empfindungen ohne die Zufälligkeit inhaltlicher Füllung zu Leben kommen. Wir verehren dann deshalb das  eine  Folgerechte und nennen es die Form des Guten und des Wahren, den Rhythmus der Treue und der Schönheit, das Symbol der Geradheit und jedes höchsten Werts, weil es selber das Grundgesetz unseres Körpers und unseres Geistes ist, für das seine einzelnen Ausgestaltungen nur unvollkommene Bewährungen, Hindeutungen und Entwicklungen sind.

Es braucht sich das Glück des genießenden Leibes, des rhythmisch umgetriebenen Blutes sein Recht und seinen Sinn dann nicht von einem begreifbaren Inhalt zu erborgen, denn dieser Inhalt, den unser Geist vielleicht rechtfertigen kann, ist selber nur ein rhythmisch umgetriebener Strom im Kreislauf jenes großen Gesetzes, ein einzelner Zeitlauf im Jahr der Seele, vielleicht die Zeit ihrer Ernte, der großen Fruchtbarkeit, in der auch die anderen Zeiten ihre Dankfeste mitfeiern - aber keine von ihnen, und auch der Herbst nicht, vermag dem großen Gesetz des schönen Wachstums Erhöhung oder Rechtfertigung seines Sinnes zu bringen.

Dieses große Erlebnis des Rhythmus und der Form im Künstlergeist muß der begreifen, der die Weltanschauungen der Künstler sich nahe bringen will. Aus diesem Wandel der Grundanschauungen scheinen die meisten Eigentümlichkeiten der Künstlermoral und überhaupt der Künstlerwertungen und des produktiven Schaffens hervorzuwachsen. Ohne dies ist auch das Denken der Romantiker nicht zu verstehen, ohne dies auch nicht ein Gutteil der Dankbarkeit, in der sie alle der Bücher des HEMSTERHUIS stets gedachten, wie sehr sich auch die Inhalte ihres eigenen Denkens und Glaubens wandelten.

Denn in HEMSTERHUIS ist ein erster Versuch, eine Philosophie der Form zu geben - vielleicht gibt es auf dem Grenzgebiet künstlerischen und philosophischen Denkens kein größeres Problem als dieses. Bei HEMSTERHUIS sind nur Andeutungen, erste Deutungen, die sich selber gar nicht bewußt in diesen Zusammenhang stellen, aber in ihnen liegt die Quellkraft all seiner Gedanken, so wie nachher bei den Romantikern dasselbe Problem auf allen Lebensgebieten der Quell ihrer höchsten Wertungen wurde.

Unsere Seele hat eine Kraft in sich, der alle Zeit und Folge zuwider ist. Sie ist den Bedingungen des fragmentarischen Erkennens, der ins Fürsichsein festgebannten Existenzform nur gewaltsam unterworfen. Wie in Liebe, so in Freundschaft will sie im Erkennen eines Dings von der ganzen Fülle seiner Wesenheit auf einmal affiziert werden. Der Gegenstand soll auf die innigste Weise mit dem Wesen der Seele eins werden. Dann erst könnte man sagen, nun genießt die Seele. Alle inbrünstigen Empfindungen der Seele, die, welcher Art sie auch seien, bei vielen in den Geschlechtsorganen zugleich fühlbar werden, und alles Bestreben, sich mit den Gegenständen eins zu machen, ist von diesem Grundverlangen beherrscht. Es ist die ewige Liebessehnsucht, alles Ungleichartige sich gleichzumachen, von allem Wesensverwandten befruchtet zu werden, das Verlangen des All-Einen, und dieses Streben zur Einheit ist im ganzen sichtbaren und geistigen Universum. Durch das ewige Gesetz soll Existenz nur im einzelnen sein, Dasein nur im Anderssein empfunden werden, und darum muß alles im Zustand der Isolierung, des Fürsichseins beharren. Es muß ein wirkendes und ursprüngliches Wesen sein, das die Welt in Einzelheiten verteilt und doch dieses Streben nach Einigung den Wesen und Dingen einpflanzt. Darum ein unendlicher, ewiger Widerspruch.

Die Seele nun, die nur durch trennende Organe mit der Welt verbunden ist, wertet all ihr Erleben nach seinem Teilhaben an diesem Grundverlangen, nach seinem Vermögen, das Zugleichsein der Ideen und Wahrnehmungen ihr zu gewähren. Alle ihre letzten Wertungen wurzeln hier. Die logischen, ästhetischen, ethischen Güter sind nur Differenzierungen dieses letzten Bestrebens und seine Bewährungen und Verwirklichungen im Stoff des Lebens.

Vor allem war eine für die Romantiker sehr bedeutsame Form des Wertempfindens hier (in diesen oft wirren und sich selbst nicht ganz durchleuchtenden Gedanken) in ersten Keimen angelegt. Die Werte sind nichts inhaltlich Bestimmtes, durch die Rangordnung der Seelenvermögen ein für allemal festgelegt und in absolut gültigen Forderungen wirksam. Sie sind Verhältnisbegriffe, Vorbedingungen und Erscheinungsweise eines unbedingt Wertvollen, Formen der Auffassung und Darstellung der Seeleninhalte nicht im einseitig ästhetischen Sinn eines äußeren Formbegriffs, mit Gleichgültigkeit gegen den Inhalt, sondern im Bewußtsein, daß nur in diesen Formen sich das Heil der Seele erfüllen kann.

Indem sich diese Wertungen dem letzten Verlangen des Geistes, das immer nur eine "Hyperbel mit ihrer Asymptote" sein kann, anschmiegen sollen, werden sie für alle Inhalte und Sondergebiete ein tragender Lebensgrund, der sich nicht mehr bloß moralisch oder ästhetisch oder logisch, sondern nur metaphysisch und religiös begreifen und begründen läßt, sich nur im Gottesglauben und im Gefühl der ewigen Alleinheit lebendig erhält.

Dieser Glaube an die Gleichartigkeit allen Seins birgt also die einzige, tiefste Wertung unserer Seele. Durch ihre Wesenheit sind alle Dinge gleich. "Alles, was im Weltall ist, hat das Vermögen zu sein und das zu sein was es ist, in sich." Nur Beziehungen nehmen wir wahr. "Wer die Wesenheit selber wahrnimmt, dem ist alles Ordnung." "In Werken der Kunst sind nie die Dinge durch all ihr Wesen zum Ganzen vereinigt, in Werken Gottes und der Natur immer." "Das Weltall besteht aus Teilen, die es vermöge ihrer ganzen Wesenheiten bilden."

Es ist das ewige Verlangen der Seele, diese Totalität zu erkennen und zu erleben. Darum gelten uns in all ihren Inhalten die als die wertvollsten, die sich ihr in den schönen Formen, in den Verhältnissen der Ordnung und Regelmäßigkeit dargeboten haben. Denn darin herrschen Ähnlichkeit, Verhältnis, Regelmäßigkeit, ununterbrochene Analogie, gleichförmige Zeitfolge, all die Mittel, durch die wir im Gedanken- und Empfindungsleben Ganzes aus den verschiedenen Teilen, Totalität aus der trostlosen Getrenntheit der Einzeldinge uns zu erschaffen vermögen.

Im Rhythmus der Farben, Töne und Worte, in den Formen der Schönheit, Wahrheit und Sittlichkeit bezeugt sich uns allein das ewige Füreinander der getrennten Dinge und Menschen. Im Tiefgemeinsamen, das sich hier enthüllt, erkennen wir die innersten Verwandtschaften allen Lebens.

In Gefühl und Erkennen der IdentitätGeistes, die das Zugleich der Dinge auffaßt, ist am höchsten gesteigert in der Wissenschaft wurzelt das Höchste der Tugend, der Schönheit und der Wahrheit. Die Kraft des enthusiastischen Kraft der Poesie. Sie scheint uns eine göttliche Eingebung zu sein, ohne sie wäre kein Fortschritt in den Wissenschaften; durch sie geschieht überall die uns beglückende Annäherung und Verknüpfung der Ideen. Sie ergreift die Formen der Dinge; wo diese Formen sind, da ist ihre Schönheit oder Wahrheit. "Der Geist der Poesie ist das Morgenlicht, das die Bildsäule des MEMNON erleuchtet und redend macht." So sind uns also die Formen nur die Mittler und Organe, um uns der Alleinheit zu versichern. Darum sind sie uns selber das unbedingt Wertvolle.

Sie freilich sind relativ, denn sie sind bestimmt durch die Organisation unseres Geistes und unserer gegenwärtigen Organe. Aber ihnen selber - und ihnen allein - wohnt die Kraft inne, uns mit dem einen absoluten Wert in Beziehung zu setzen. Nur indem wir die Dinge durch ihre Formen erfassen, erfassen wir das Ewige in ihnen. Sie allein enthalten uns diesen Wert, und wir sollen sie erfassen im Erkennen. Wir sollen sie schaffen als Schönheit und Sittlichkeit im innerlichsten Beziehungszusammenhang des moralischen Weltalls. Dies scheint mir der Grundgedanke der HEMSTERHUIS'schen Mystik zu sein, der allerorten in den noch von Aufklärung und Empfindsamkeit so mannigfach durchdrungenen Gedanken emporkommt. Hier ist, beim gleichen Verlangen des Einswerdens mit den Dingen, mit der ewigen Fülle des Seins - der Gegenpol des geniemäßigen Erkennens erreicht.

Dort soll die Fülle des ewigen Inhalts unmittelbar und im Ungeschiedensein seiner subjektiven und objektiven Inhalte aufgefaßt und genossen werden; hier sollen ihre Wesenheiten gerade erst durch die Form, durch die im lichtesten Bewußtsein erfaßte Harmonie des Subjekts und Objekts der Seele zu eigen werden. Dort - auf primitiver Stufe - ist die Alleinheit naturalistisch gefaßt, und die Seele ist in ihren Zusammenhang unmittelbar verschlungen. Hier soll sie sich den innerlichen Beziehungszusammenhang zu den Dingen und Menschen erst durch die subtilste Ausbildung ihrer individuellen Organe erwirken, ihre positive Sphäre sich erst erschaffen.

Diese aus der Mystik genährten Gedankenreihen mußten für die Romantiker eine unerschöpfliche Quelle werden. Überall waren nur erste Andeutungen, ins Unendliche führende Aussichten, die verwandte Geister in eine ungeahnte Ferne hinauslocken mußten, wie sehr auch ein im Idealismus erzogenes Denken und Empfinden andere Grundlagen als diesen Spinozismus des Gefühls verlangen mußte und eine innigere Durchdringung mit reinem Künstlertum als in diesem moral-empfindsamen Denker.


Universum und Gott

Der moralische Sinn vollendet sich im Gottesbewußtsein. Kein Mensch ist von Natur Atheist. Religion ist eine nicht beweisbare Tatsache des Gefühls. Aber diese Überzeugung des Gefühls, auf die wir bei allen Untersuchungen als auf letzte Axiomata stoßen, sind nur scheinbar regellos und schwankend. Sie stehen in Wirklichkeit mit den Graden der Vollkommenheit, Erfahrenheit und Beschaffenheit der Seele in einem festen Verhältnis. Also HEMSTERHUIS kennt keine Gefühlsphilosophie im JACOBI'schen Sinn, sondern echt romantisch läßt er den Wert der Gefühlstatsache mit der Ausbildung der übrigen Seelenvermögen im engsten Zusammenhang stehen.

Während JACOBI als Visionär des Atheismus alles Philosophische bekämpfte und seinen Glauben in die Gefühlswinkel rettete, wollte HEMSTERHUIS auch hier Licht und Wissen schaffen. In seinen Gedanken über Gott und das Universum waren manche, die nach der Krisis der romantischen Schule im Denken der SCHELLING und FRIEDRICH SCHLEGEL die Wendung zum alten Glauben mit vorbereiteten.

In der Betrachtung des Universums sind nach HEMSTERHUIS zwei große Probleme, die das Denken nie völlig auflösen kann: vom Wesen der Materie und vom primären Ursprung der Bewegung.

Was wir Materie nennen, ist nur das an den Dingen, was unsere gegenwärtigen Organe auffassen können. Die Möglichkeit einer unendlichen Vervollkommnung unserer Organe ist gegeben. Was wir immateriell nennen, wird dann auch für uns Wirklichkeit sein. Wir sehen jetzt schon die zwei Kräfte, die das Seelenleben beherrschen, auch im körperlichen Universum wirksam.

Dem unsere Persönlichkeit begründenden Vermögen entspricht die Kraft der Trägheit in den Körpern. Der allgemeinen Anziehungskraft der seelischen Wesen entspricht die Attraktionskraft. Das, wodurch ein Ding das ist, was es ist, ist "Trägheit", das, wodurch es am Ort ist, wo es ist und so ist, ist eigentlich "Attraktion". Diese beiden Kräfte sind im Grunde  eine  Kraft. Das Weltall würde mit dieser einzigen Tendenz zur Vereinigung bald zur Einheit gebracht sein.

In der Natur ist immer Wirkung und Gegenwirkung, Sprungfeder und tätige Kraft, immerwährender Streit entgegengesetzter Prinzipien. Sie scheinen sich zu vernichten und bleiben doch ewig lebendig. Es muß eine dritte Kraft geben, die primäre Ursache der immer erneuerten Bewegung; sonst überall ist diese Ursache der Wille. Das Universum kann nicht durch sich selbst existieren. Die Bewegung kann nicht eine Eigenschaft der Materie sein. Das Universum, sofern es materiell ist, ist vollkommen unwirksam und träge. Es muß ein wirkendes Prinzip da sein, das diese Trägheit unaufhörlich überwindet.

Wir sehen im Weltall den steten Gang der Natur zur Bildung von Organisationen, von Substanzen "Das Werk des Menschen ist nur ein Ding zu dieser oder jener Absicht. Das Werk der Natur ist ein Ding, um dieses Ding zu sein." Wo Organisation ist, muß irgendein Ideal dem Wirklichen vorangehen. Wo dieser stete Gang der Organisation Natur ist, da muß eine immerwährende Impulsion sein. Sie setzt alle Teile des Universums in einen gezwungenen Zustand, in den Zustand einer "gespannten Sprungfeder", sie ist der Quell immer neuer Bewegung. Das Weltall also ist in zwei Teile geteilt, der eine unwirksam und träge, der zweite lebend und belebend. Wir können uns keine Handlung oder Wirkung ohne Richtung denken, die Richtung hat eine Ursache; es muß der Wille sein. Ein Prinzip der Übermacht der Aktion über die Reaktion, wodurch die Bewegung erhalten wird, wie das freie und tätige Prinzip im Menschen. Kein Wesen kann zwei sich wesentlich widersprechende Eigentümlichkeiten haben - die wesentliche Eigentümlichkeit der Materie ist aller Wirkung entgegen zu wirken - also gehorcht es, indem es uns zu wirken scheint, eigentlich nur einem Ding von einer anderen Natur, als es selbst ist: dieses Ding ist die  Ursache der Wirkung.  Sie ist dieselbe in aller Organisation, in der Bildung der Substanzen, der Richtung des Kreislaufs der Welten, - ein unendlicher Verstand.

Trägheit und Aktivität sind die einzigenn ewigen, allgemeinen Prinzipien, die wir in der Natur kennen. Sie sind beides keine hervorbringende Macht. Die Aktivität vermag nur die Verhältnisse unter existierenden Dingen zu modifizieren, sie ist ein "gesetzgebendes Vermögen", keine "erschaffende Macht". Diese Macht übersteigt alle menschliche Fassungskraft, sie ist Gott, der das Weltall erschaffen hat. Der Mann ist sein Attribut: er ist also allgegenwärtig, er ist hier, in diesem Strauch, in mir, in dir. Der Mensch soll seine Verhältnisse mit Gott erkennen.

Die Anziehungskraft der Seelen, auf der der moralische Sinn beruth, entspringt aus einer Homogenität zwischen ihnen. So unser Verhältnis zu Gott. Er sieht allein die ewige Ordnung der Welt, die Beziehungsgesetze, die aus der Koexistenz der Dinge entspringen, das Füreinander und Ineinander aller Wesen. Er sieht nicht Verhältnisse, sondern Totalitäten. Er ist der Quell der ewigen Liebenskraft zwischen den Wesen. Bei ihm ist die Einheit, die bei den Menschen nur als Liebe ist. Das Mögliche ist bei ihm wirklich. Darum ist kein Übel vor Gott. Die Gesetze der Beziehungen beherrschen alles einzelne Sein. Keine Wesenheit kann die andere ändern oder stören. Alles wirkliche ist als solches, als scheinbar allein realisierte Sphäre, nur für den Menschen. In Gott ist auch das Mögliche wirklich. Auch das Mögliche ist durch die unendlichen Beziehungen unter den Dingen mitgegeben und Gott gleich real. Der Mensch muß zur Vollkommenheit streben, dann wird sich auch ihm das Weltall ganz enthüllen.

Der Mensch soll es zur Harmonie seiner Kräfte bringen; dann wird die Glückseligkeit, die bei andern nur aus den Umständen entspringt, ein Ausfluß seiner Wesenheit. Unbekannte Kräfte werden erwachen und in ihm selber die Totalität erfüllen. Ein Schatten der göttlichen Macht kann so sichtbar werden im Menschen. Um unsere Verhältnisse mit der Gottheit deutlich zu erkennen, sind Entwicklungen nötig. Wir müssen die materielle Hülle abwerfen. Schon hier treten wir den Flug an. Die Organe des Gewissens und Herzens werden sich entwickeln. Sie sind "noch ungebildete Flügel, verborgen unter der Haut der Nymphe" - nach "der Morgenröte dieses Lebens" werden sie "mehr Energie" haben.

Der Glaube an die positive innerliche Sphäre, an die moralische Seite des Universums, ist so eingegangen in den Glauben an Gott. Die Fülle der Einzeldinge, die in ewiger Liebeskraft ineinander strömen sollen und doch durch ewige Schranken in ihr Dasein gewiesen sind, ist im göttlichen Sein als ewige Erfüllung, als Einheit, Glückseligkeit und Vollendung begriffen, als ewige Liebe, in der Gott selber erst die Fülle seiner ganzen Macht genießt.

Diese Spekulationen über das Wesen Gottes und das Verhältnis des Menschen haben offenbar die späteren Jahre HEMSTERHUIS' vor allem beschäftigt. Erst schienen sie ihm "ausschweifender Wahnsinn" dann nähert er sich ihnen durch kosmologische und teleologische Gedanken, durch Postulate des Gefühls und der praktischen Vernunft; aber er ist ein zu kühler und kritischer Denker, um in die Tiefe des Absoluten selber zu forschen. Dunkle Fragen der romantischen Philosophie hätten sich ihm hier schon aufdrängen müssen. Manche Gedanken drängten zum Pantheismus, und doch empfand er im platonischen Sinn die Körperwelt als Fessel und Schranke, manche wollten zum persönlichen Gott, und doch strömte die göttliche Kraft in allen großen Vermögen der Seelen. Pantheistische Gedanken und die Wertungen des Platonismus, Theismus und Naturalismus hätten aufeinanderstoßen müssen. Er geht an diesen Fragen vorüber, vielleicht ohne daß ihm die Widersprüche, die in seinem Denken angelegt waren, zu Bewußtsein gekommen sind.

Die Schwerkraft seiner Gedanken sinkt immer mehr dem platonischen Geist zu, der in einer Unterströmung längst bei ihm gewaltet hat. Der extreme Dualismus von Körper und Seele War im platonischen Geist gedacht. Die moralische Sphäre des Weltalls hatte die Weihe der platonischen Ideenwelt; was war sie, in ihrer Vollendung gedacht, anders als Gott.

Wie die dunkle, undurchsichtige Schlackenrinde ehemals vor der inneren Lichtglut der Sonne lag, bsi sie sich von ihr befreite, so liegt die Trübung des materiellen Einzelseins um die Seele, so soll sie sich von ihren Hüllen losmachen. das ist nun der große und stolze Gedanke dieses Seelenforschers, daß er diese Träume nicht in den Schlupfwinkeln verborgener Mystik und haltloser Schwärmereien hegt, sondern daß er in dieser Gewißheit der möglichen Befreiung, der unendlichen Vervollkommnung der Seele, nach den Spuren dieser verborgenen Organe und Beziehungen unermüdlich forschte, und daß er dieses Geheimnisvolle Leben der Seele nicht nur in ihren großen und seltenen Aufschwüngen, in den Momenten der Begeisterung, der Verzückung suchte, sondern in einem Organ, das jeder einfachsten Stunde des Lebens ihren Sinn und ihren Wert geben sollte, sich in jeder kleinsten und größten Entscheidung des Lebens sich bewähren sollte und mußte: denn die Mystik ist hier in einem umfassenderen Sinn als je zur Grundlage der Moral gemacht.

Darum suchte er durch ein Fülle tatsächlicher Beobachtungen die Existenz eines Moralorgans zu beweisen, darum den Glauben an unendlich viele und unbekannte Seiten des Universums zu wecken. Dieses Gefühl unserer Stellung im Universum sollte unser Leben ändern. Ein Realismus des innerlichen, seelischen Daseins wie nie zuvor ist hier also aufgestellt. Ein von den großen Anschauungen der Naturforschung und von der Ehrfurcht vor exaktem Wissen tief durchdrungener Geist will hier auch für die unsichtbaren Seiten des Weltalls die Rechte und Forderungen realer Wirklichkeiten erheben.

In diesen Anschauungen liegt eine ungeheure, verpflichtende Kraft. Der Mensch soll auch in den Gefühlssphären erkennen wollen, er soll in die wirren, dunklen Binnenländer der Seele vordringen, dort ist seine Heimat, dort nur kann er seinen ursprünglichen Reichtum finden, dort nur ist für die Seele die reale, lichte Schönheit, die mit dem Weltgeist einige Wahrheit und Tugend. Wo bisher in trüben Erregungen das Gefühl seine Zuflucht hatte vor der Zudringlichkeit der Viel- und Sicherwissenden, vor der scharfen Lichtkraft des Erkennens und Vernunftglaubens, da sollen sich jetzt die einfachsten Fragen des Menschenseins, gut und böse, recht und unrecht, wahr und falsch, entscheiden. Die Energie des freien Willens tritt immer stärker in seinen Forderungen hervor. Die Willenskraft ist kein Organ oder Mittel. Sie gehört zum Wesen der Seele selbst, wo sie geschwächt ist und sich nicht selbst bestmmt, sondern zum Raum der Einbildungskraft oder der moralischen Reizbarkeit wird, da ist sie die Quelle aller Fehler und Gebrechen. Von ihr hängt gänzlich die Richtung ab, die wir den Bewegungen der Seele geben wollen. Wer diese Gedanken und Forderungen zu Ende dachte, dem mußten sie wie die Flut einer großen Reinigung bis in die fernsten Punkte seines Wesens dringen. Es sollte nichts unklar bleiben in den gewaltigen Räumen der Seele, und eine neue Glückseligkeit war dem verheißen, der in diesem Glauben sein Leben einrichtet und seine Kräfte ausbildet, eine Zeit, wo alles hell sein wird im Menschen, wo alles Organ ist, wo sich zwischen Sichtbaren und Hörbaren die Sensationen füllen, wo alle Wahrnehmungen sich aneinander knüpfen und ein großes lichtes Ganzes ausmachen werden. Der Tod wird die genommene Richtung nicht ändern, der Flug geht weiter, nur die Kräfte sind unendlich erhöht. Es ist eine Möglichkeit da, sich mit Gott zu vermischen.


Das goldene Zeitalter der Seele

In seinen letzten Schriften ist HEMSTERHUIS' Denken auf das uralte Thema der Mysterien gerichtet: vom Fall der Seele und dem Weg zu ihrer Läuterung. Wie so oft später bei den Romantikern drohen die platonischen Wertungen das Denken zu überfluten. Der Mensch hat eine unendliche Hoffnung der Vervollkommnung - denn die Seele ist ins Verderben gefallen. Sie war schon einmal vollkommen und hat sich selber um ihre goldene Zeit betrogen. Was früher nur der stolze Flug nach neuen, nie gekannten Herrlichkeiten war, wird nun zum mühevollen Suchen der verarmten Seele nach Gütern, die sie damals lang schon besessen hat.

Es ist das Denkwürdige, daß im Geist eines stolzen Aufklärers diese Gedanken zuerst wiederkamen. Aber sie kamen so anders, als später bei den Romantikern: sie haben den Stolz seines Geistes nicht gebeugt. Es ist kein Umschlag im Rhythmus der Gedanken, wie später immer. Der Gedanke an ein goldenes Alter der Seele wird nicht moralisch ausgedeutet. Es ist nicht das Büßertum des romantischen Geistes, der sich aus der Höhe verwegenster Geistigkeit zurücksehnt, der sich seine Unvollkommenheit und Hilflosigkeit als Schuld und Fehlverhalten, als einem Abfall von Gott selber deutet und sich nun zu einer Bußfahrt ins alte Heiligtum rüstet.

HEMSTERHUIS' Denken und Leben ist viel zu harmonisch; in der Sicherheit eines anspruchslosen äußeren Daseins hat er sich der stillen Beschauung geweiht; er versichert sich der Kraft und Unabhängigkeit der Personalität immer von neuem, wenn er nun in so manchem Sinnbild und in Gedanken der alten Mysterien die Geschichte der Seele tiefer als bisher zu deuten sucht.

Die alten Gedankenreihen, in denen der Natur- und Seelenforscher, der vom Universum erfüllte Geist der Aufklärung die Vervollkommnungsfähigkeit der Seele zu begründen suchte, verschlingen sich nun merkwürdig mit den neuen Anschauungen.

Es gab ein goldenes Zeitalter der Menschen, eine Zeit, wo die Seele Organe besaß, die sie nun verloren hat. Die pythagoräischen Lehren melden davon. Er sucht diese Lehre, in der sich sonst nur müde Gedanken nach langem Kampf und Irren einzunisten pflegten, auf naturwissenschaftlichem Weg sich anzueignen und daraus ein verstärktes Vertrauen auf den Zukunftsglauben des Geistes zu gründen.

Es ist wichtig, daß HEMSTERHUIS diesen Mythos nicht als eine dichterische Fabel zeitloser Wahrheit aufgefaßt haben will, sondern daß er in gelehrten, naturwissenschaftlichen Anmerkungen die Möglichkeit eines solchen Alters nachzuweisen versucht. Derselbe, der den Mythos vom Tod des ADONIS mit dem echten Spott des Aufklärers zurückweist. Er will durch seinen Glauben an dieses goldene Zeitalter nicht einen Abfall im moralischen Sinn begründen, im Gegenteil den Stolz und die Zukunftshoffnung der Seele immer neu anfachen.

Tod, Übel, Laster sind unserer Natur zuwider, wir sind immer größerer Glückseligkeit fähig. Die Widersprüche im Tun, das Fragmentarische unserer Erkenntnis, die nur selten erscheinende enthusiastische Kraft der Dichtung, die ganz neue Zusammenhänge der Dinge und Ideen zeigt, das alles erweckt die Hoffnung auf das unbedingte, obgleich unbestimmte Bessere. Das goldene Zeitalter zeigt uns den Menschen im vollen Besitz seiner Kräfte, wie den Fisch, der seines vollen Daseins nur in den Wellen froh werden wird. Die Unendlichkeit der Begierden war im Endlichen nicht zu ersättigen. Das mußte zu einer Ausartung führen, die aber nur ein zufälliger Anschein war, da sie dem Menschen zugleich auf das vollkommenste den Adel und die Beständigkeit seiner Natur bewies. Hieran knüpft sich die Hoffnung auf ein neues goldenes Zeitalter.

Im Traum dieses goldenen Zeitalters zeigt sich noch einmal HEMSTERHUIS' ganze Eigentümlichkeit. Der Aufklärer, dem sich unerhörte neue Seiten des Universums erschlossen haben, der mit der Sicherheit und Entdeckerlust des Naturforschers einzudringen sucht, der einen Zusammenhang der körperlichen und psychischen Welt ahnt, wie zu seiner Zeit kein anderer ein einiges Allleben der natürlichen und göttlichen Kräfte, einen magischen Zusammenhang des Unsichtbaren und Sichtbaren, der frohe und zuversichtliche Denker, der alle lichtscheuen Gefühle verachtet, der an die Kraft des Geistes glaubt, auch die unerkannten Seiten des Universums zu erhellen, an die Macht des Willens, die Organe zu einer solchen Erkenntnis auszubilden, der Philosoph des enthusiastischen Verstandes, der aus dem Mystik genährte Gottsucher, faßt hier in der Idee des goldenen Zeitalters das alles noch einmal zusammen. Keine einzige Welle in den Gedanken schlägt zurück nach den schönen und entschwundenen Zeiten, alles soll Antrieb, Bewährung kühnster Hoffnungen sein. Und all diese Gedanken gehen auf die Totalität des menschlichen Geistes, auf die Erweiterung und allseitige Ausbildung der Seelenkräfte, auf die harmonische Zusammenfassung der ganzen Menschennatur. Diese ganze Philosophie ist ein einziger, großer Versuch, die Seele in den Zusammenhang des Universums zu stellen. Die Hauptgedanken: vom moralischen Sinn, von der realen seelischen Sphäre, vom metaphysischen Wert der Formen, vom göttlichen, alleinen Weltgrund, zu dem durch eben jene Kräfte und Organe alls hin und zurück strebt, sie sind nur ein einziger Versuch, die Menschenseele zu erweitern, damit sie das All und ihre Verhältnisse zu Gott empfinden und begreifen könne.

Der stolze kühle Flug, an dem man die Gedanken eines NOVALIS erkennt, geht schon durch diese Weisheitsbücher des holländischen Philosophen.

Daß darüber ihm die großen Fragen der geschichtlichen Welt zum Teil verborgen blieben, daß der Selbstwert des individuell Persönlichen, die Bedeutung des Geistes in diesem Universum, die Bedeutung des Willens im Menschengeist nicht in ihre Rechte eingesetzt sind, das konnte Wert und Wirkung dieser Anregungen nicht wesentlich verringern. An unzähligen Stellen sind einzeln aus diesen Büchern Lebenswellen in die Gedanken und Gefühlskreise der Romantiker eingedrungen. Den großen Antrieb im ganzen aber, der aus ihnen unter die Denker und künstler dieser überschwenglich reichen Zeit kam, faßt NOVALIS in seinen HEMSTERHUIS-Studien in ein neues Bekenntnis von Wert und Wesen des Philosophierens: "Echtes Gesamtphilosophieren ist also ein gemeinschaftlicher Zug nach einer geliebten Welt."
LITERATUR Erwin Kircher, Philosophie der Romantik, Jena 1906