cr-2SigwartR. TigerstedtA. Rapoport    
 
GUSTAV von RÜMELIN
(1815-1889)
Über die Arbeitsteilung
in der Wissenschaft


"Ich will nur daran erinnern, daß, wenn der Einzelne an einer bestimmten kleinen Baustelle ohne Übersicht und Blick auf das, was die andern treiben, arbeitet, sich das doch auch in seiner Leistung selbst bemerkbar machen wird, daß er in Gefahr sein wird, sein Fach falsch zu schätzen, den Maßstab des Bedeutenden und Unbedeutenden zu vergessen, sich in unfruchtbarem Detail zu verlieren und von fremden Wissensgebieten entweder überhaupt keine Notiz mehr zu nehmen oder über sie mit plumper Zuversicht abzsprechen. In den einzelnen Wissenschaften aber wird der befruchtende, geistreiche Überblick fehlen, den die Vielseitigkeit des Wissens gewährt; die Methode wird alles gelten, der Geist wenig; die Mittelmäßigkeit mit guter Methode wird dich dem Talent ohne sie weit überlegen zeigen. Alles Wissenszweige werden in stetiger Folge stofflich anschwellen und immer unübersichtlicher werden und wenn sich dann alles ins Unbegrenzte fortsetzt, so müßte schließlich ein Zustand kommen, wie beim Turmbau zu Babel, daß die Sprache der Leute verwirrt wird und sie von ihrem Werk ablassen müssen, weil sie sich nicht mehr verstehen und die Baumeister fehlen, welch das Ganze noch überblicken könnten."

"Wenn unter den 13 000 Büchern, welche in Deutschland jährlich [1880] neu auf den Markt kommen, 13, also je eines unter Tausend sein sollten, von denen die nächsten Generationen noch Notiz nehmen werden, die neuen und reichen Inhalt in gediegender Form bieten, so wäre dieses Verhältnis wohl noch als ein günstiges anzusehen."

Es sind noch nicht viele Wochen abgelaufen, seit uns die Säkularfeier des Bestandes unserer Hochschule den Anlaß geboten hat, den Stand der Wissenschaften in alten und neuen Zeiten vergleichend nebeneinander zu stellen, und nichts war natürlicher, als daß wir der wohlberechtigten Feststimmung entsprechend dabei nur die erfreulichen und erhebenden Seiten der eingetretenen Veränderung ins Auge faßten, daß wir Angesichts der offenbaren und glänzenden Fortschritte der Wissenschaften überhaupt wie unserer akademischen Institute ebenso befriedigt auf die Vergangenheit als vertrauensvoll in in die Zukunft schauten. Ohne diese so vollbegründeten Empfindungen den geringstens Abbruch tun zu wollen, ist es doch vielleicht einer nachträglichen Betrachtung unverwehrt, am lichtvollen Bild auch eine Schattenseite zu beachten und der erschwerten Bedingungen zu gedenken, unter welche im Vergleich mit den früheren Zeiten heutzutage die Arbeit des Gelehrten gestellt ist.

Um den inneren Fortschritt und die Qualität unseres heutigen Wissens ganz beiseite zu lassen, ist gewiß nichts unzweifelhafter, als eine großartige Ausbreitung der menschlichen Erkenntnis nach der Masse des Stoffs. Für die Schätzung dieses Unterschiedes lassen sich wenigstens einigermaßen ziffermäßige Anhaltspunkte erwähnen. Vor 100 Jahren zählte unsere Hochschule 15 ordentliche und 5 außerordentliche Professoren; sie zählt jetzt, auch wenn wir die katholisch-theologische Fakultät außer Rechnung lassen, weil ihr Hinzutreten nicht in einer Ausbreitung der Wissenschaften, sondern nur unseres Staatsgebietes seinen Grund hatte, über 60 angestellte Lehrer, also das Dreifache der früheren Zahl. Das Vorlesungsverzeichnis von 1777/78 führt 46 angekündigte Lektionen auf; das neueste zählt deren 195, also über das Vierfache. Ich glaube, daß die Vergleichung anderer Universitäten zu einem ganz ähnlichen Ergebnis führen müßte; denn Tübingen stand schon damals hinsichtlich der Ausstattung mit Lehrkräften über dem Durchschnittsmaß der in jenen Zeiten viel zahlreicheren deutschen Hochschulen. Wollte man noch die polytechnischen und andere damals noch gar nicht vorhandene höhere Anstalten herbeiziehen, so wäre die Steigerung der Lehrkräfte und Lehrfächer noch eine viel größere. Der Grund dieser ganzen und großartigen Veränderung ist ein doppelter. Einmal haben sich - wie bei gewissen Tiergattungen die Entstehung neuer Individuen nicht durch Zeugung, sondern durch Teilung erfolgt - von einer ganzen Reihe von Wissenschaften vormalige Glieder als selbständige, dem Grundstamm koordinierte Wissenszweige abgelöst; sodann war es üblich und zulässig, daß  ein  Mann mehrere Fächer zugleich vertrat, von denen jetzt jedes für sich eine volle Arbeitskraft in Anspruch nimmt. Hierfür bietet gerade die Geschichte unserer Hochschule die schlagendsten Beispiele. Eine ihrer hervorragendsten Zierden, JOHANN FERDINAND AUTENRIETH, hat noch in den ersten Dezennien dieses Jahrhunderts neben seinem Hauptfach, der inneren Medizin, auch Anatomie, Physiologie, Chirurgie und Geburtshilfe vertrete. Zur gleichen Zeit hat ein ebenso hochgeschätzter und erfolgreicher Lehrer, KIELMEIER, Chemie, Botanik, Zoologie und Anatomie gelesen. Ein dritter gefeierter Dozent, FERDINAND GMELIN, trug neben Pathologie und Arzneimittellehre noch Physiologie, Mineralogie und Geographie vor. Die Naturwissenschaften, die jetzt eine eigene Fakultät voll beschäftgen, bildeten ein Anhängsel zu den Lehrstühlen der Medizin und Mathematik. Die jetzigen Fächer der staatswirtschaftlichen Fakultät versteckten sich noch im Staatsrecht und den sogenannten Kameralwissenschaften [Staatsfinanzen - wp]. Bei den Juristen fand eine Scheidung nach Fächern überhaupt fast gar nicht, sondern mehr ein bloßes Alternieren [wechselseitig - wp] statt.

Es war das große Prinzip der Arbeitsteilung, das, wie es gleichzeitig den Gewerbebetrieb und damit alle wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse des Zeitalters von Grund auf umgestaltet hat und noch ferner umgestalten wird, so auch das Reich der Wissenschaften und die Arbeit des Gelehrten durchaus verändert und in ganz neue Bahnen geleitet hat.

Das Ganze der menschlichen Erkenntnis wurde in eine Menge möglichst scharf voneinander abgegrenzter Fachwerke zerlegt und innerhalt jedes derselben für sich zum Gegenstand einer speziellen Untersuchung zu machen und bis in seine letzten Verzweigungen zu verfolgen war. Der Mann der Wissenschaft kann nicht mehr Vieles und Vielerlei betreiben, sondern muß sich vor allem über sein Fach entscheiden und an  einem  der unzähligen Baulose, in welche die Arbeit am Dom der Wissenschaft geteilt ist, seinen bestimmten Platz wählen, um hier allein oder mit Wenigen vielleicht an einem weit abgelegenen und kleinen Punkt die Arbeit gerade da aufzunehmen, wo die Vorgänger sie gelassen haben, deren Ergebnisse zu prüfen und richtigzustellen und dann, wenn er es vermag, sie anhand der Beobachtung, des Versuchs, der Quellenforschung am einen, vielleicht um einige Schritte weiter zu führen.

Niemand wird bestreiten wollen, daß, wenn unser Zeitalter an Fortschritten des Wissens fast nach allen Richtungen jede frühere Epoche in der Geschichte der Menschheit erreicht, wo nicht übertrifft, daran jene Methode der Arbeitsteilung und Spezialisierung der Aufgaben den hervorragendsten Anteil hat. Wir können uns auch nicht denken, daß jemals eine Zeit kommen sollte, wo diese Methode als veraltet oder fehlerhaft wieder außer Gebrauch käme, wo es wieder zulässig würde, ein Allgemeines zu behaupten, das nicht auch in den Teilerscheinungen seine Bewährung, nicht in gründlichen Detailuntersuchungen sein festes Fundament gewonnen hätte. Am unzweifelhaftesten und großartigsten freilich sind jene Fortschritte auf dem Feld der Natur-, der Geschichts- und Sprachwissenschaften, wo sich die Isolierung des Objekts am leichtesten durchführen läßt, wo der Aufbau von unten herauf, der Gang vom Einzelnen zum Allgemeinen seine volle Berechtigung hat, wo feste, beweisfähige, nicht weiter anfechtbare Ergebnisse erzielt werden können. Kleiner und unsicherer wird der Erfolg sein, wo die Prinzipien auch das Detail beherrschen und sich in jedem Einzelurteil oberste Zweckbegriffe und Grundanschauungen abspiegeln, wie in der Philosophie, der Theologie, den Staats- und Gesellschaftswissenschaften. Dennoch erweist sich auch auf diesem Gebiet die Methode der Arbeitsteilung schon darum als fruchtbar und unentbehrlich, weil nur durch sie die geschichtliche Entwicklung der menschlichen Ideale aufgehellt und verständlich wird.

Allein wie der Menschheit noch auf keinem Gebiet ein großer Fortschritt gegönnt war, der nicht irgendeiner Richtung zugleich auch ein Rüchschritt gewesen wäre, so konnte auch das Prinzipg der geistigen Arbeitsteilung trotz seiner großartigen Erfolge nicht ohne in kleines Gefolge von Mißständen und Nachteilen auftreten und zwarin doppelter Hinsicht, einmal für die Wissenschaft selbst und dann noch mehr für diejenigen, die sich ihr widmen. In Beziehung auf das Erstere, die objektive Seite, will ich nur daran erinnern, daß, wenn der Einzelne an einer bestimmten kleinen Baustelle ohne Übersicht und Blick auf das, was die andern treiben, arbeitet, sich das doch auch in seiner Leistung selbst bemerkbar machen wird, daß er in Gefahr sein wird, sein Fach falsch zu schätzen, den Maßstab des Bedeutenden und Unbedeutenden zu vergessen, sich in unfruchtbarem Detail zu verlieren und von fremden Wissensgebieten entweder überhaupt keine Notiz mehr zu nehmen oder über sie mit plumper Zuversicht abzsprechen. In den einzelnen Wissenschaften aber wird der befruchtende, geistreiche Überblick fehlen, den die Vielseitigkeit des Wissens gewährt; die Methode wird alles gelten, der Geist wenig; die Mittelmäßigkeit mit guter Methode wird dich dem Talent ohne sie weit überlegen zeigen. Alles Wissenszweige werden in stetiger Folge stofflich anschwellen und immer unübersichtlicher werden und wenn sich dann alles ins Unbegrenzte fortsetzt, so müßte schließlich ein Zustand kommen, wie beim Turmbau zu Babel, daß die Sprache der Leute verwirrt wird und sie von ihrem Werk ablassen müssen, weil sie sich nicht mehr verstehen und die Baumeister fehlen, welch das Ganze noch überblicken könnten. Für die Methode der Arbeitsteilung erscheinen die Wissenschaften, wie eigene, frei und unsichtbar in den Lüften waltende Wesen, die ihren Zweck in sich selbst und einen Zusammenhang haben, auch wenn er von niemand gedacht wir; so daß man fragen müßte, ist der Mensch um der Wissenschaft willen da oder die Wissenschaft um des Menschen willen.

Und das führt zu den subjektiven Wirkungen der Methode auf diejenigen, welche in der Wissenschaft arbeiten. Es mag auch hier wieder gestattet sein an die Analogie des gewerblichen Lebens zu erinnern. Unsere Taschenuhren sind jetzt ohne Frage wohlfeiler und besser, seit an jeder hundert Hände arbeiten und auch das kleinste Rädchen und Schräubchen das Werk einer Spezialität ist, nicht so wie damals, als da  ein  Meister alles allein fertig zu bringen hatte. Dafür war auf seiten dieses  einen  Meisters mehr Lust und Befriedigung an der Tätigkeit selbst, als bei jenen Spezialisten, von denen der eine nur Zifferblätter, der andere die Löcher darin, der Dritte die Zeiger, der Vierte die Ziffern macht. Er war ein selbständiger Mann von weiterem Blick, von besserem Urteil, der gebildetere Mensch. Die vollkommerener Ware hat zu ihrer Kehrseite den unvollkommeneren beschränkteren, abhängigeren, unbefriedigteren Arbeiter.

In zwar nicht gleicher aber doch ähnlicher Weise mögen wir heutzutage mit Neid auf jene Zeiten zurückblicken, da das Wissen ein viel beschränkteres, der geistige Blick des Wissenden aber ein viel unbeschränkterer war, da es dem Mann der Wissenschaft noch vergönnt war aus dem Vollen zu schöpfen und den Fortschritten der menschlichen Erkenntnis auch auf weit auseinanderliegenen Gebieten mit Interesse und Verständnis zu folgen. Man braucht nur bis in de Anfänge unseres Jahrhunderts zurückzugehen, um solche Männer in nicht geringer Zahl zu finden. Ich könnte vor allem GOETHE nennen, dem eine solche Universalität des Wissens in eminentem Grad zukam, obgleich er gar nicht einmal Gelehrter, sondern seiner Berufstätigkeit nach Verwaltungsbeamter, seiner Hauptleistung und Bedeutung für die Nation nach Dichter war. Er war in allen Zeiten und Teilen der Kultur- und Staatengeschichte wohl bewandert, kannte Literaturen alter und neuer Völker und die meisten davon im Original; mit den Naturwissenschaften war er nicht bloß vertraut, sondern in allen Zweigen, etwa mit einziger Ausnahme der Chemie und Astronomie, selbständiger und verdienter Forscher; in den schönen Künsten war ein feiner Kenner, Sammler und Dilettant; die Rechtswissenschaften waren sein akademisches Berufsstudium, er hat aber fast ebenso viel Zeit in den Hörsälen der Anatomen und Kliniker zugebracht; er folgte der großen philosophischen Bewegung seines Zeitalters mit teilnehmendem Verständnis, wenn auch in skeptischer Zurückhaltung; mit theologischen Dingen hat er sich viel beschäftigt, hat einiges daran geschrieben und war in seltenem Grad bibelfest. Nur die mathematische Begabung war ihm versagt. Dieses ganze umfassende Wissen wurden nur in den Mußestunden erworben, welche der amtliche Beruf und die poetische Produktion übrig ließen. Man kann sich nun freilich gegen dieses Beispiel auf jenen Spruch  quod licet Jovi non licet bovi  [Was Jupiter erlaubt ist, geziemt dem Ochsen noch lange nicht. - wp] berufen und einwenden, daß ein solcher Verein der vielseitigsten und genialsten Begabung mit einem solchen Maß von Erkenntnistrieb und Wahrheitsliebe kaum in jedem Jahrtausend wiederkehrt. Allein diese sichere Orientierung auf allen Gebieten menschlichen Wissens und Strebens ist auch noch manchen anderen Männern jenes Zeitalters beizulegen, einem KANT, HERDER, SCHELLING, HEGEL, SCHLEIERMACHER, NIEBUHR, dem HUMBOLDTschen Brüderpaar. Und auch in den weiteren Kreisen weniger bekannter Männer was das  Homo sum, humani nihil a me alienum puto  [Ich bin ein Mensch: nichts Menschliches ist mir fremd. - wp] das Losungswort jener Zeiten.

Wie steht es aber jetzt in diesem Punkt? Auch der Talentvollste und Strebsamste wird solches nicht von sich rühmen oder für erreichbar halten. Nur in den Sälen unserer Bibliotheken sind die Wissenschaften noch beisammen, nicht in den Köpfen der Menschen. Jedes Fach fordert seinen Mann ganz und gestattet ihm kaum von den angrenzenden Gebieten genauere Notiz zu nehmen. Der Romanist wird sich schwerlich mit den Studien des Germanisten befassen, noch weniger mit Staats- oder Strafrecht. Wie will man von einem Botaniker auch zoologisches Wissen erwarten? Der Philologe hat die größte Mühe, im sprachlichen und sachlichen Teil seiner Wissenschaft auf dem Laufenden zu bleiben und im letzteren bilden wieder Religion, Kunst, Privat- und Staatsleben ganz getrennte Gruppen. Und wie sollte es noch einen Historiker geben, der in der ganzen Geschichte wohl bewandert wäre? Universalgeschichte ist nur noch ein Wort. Jeder kann nur in einem kleinen Teil derselben arbeiten. Die erster Forderung, die an der Gelehrten gestellt wird, ist Selbstverleugnung und Beschränkung auf ein festes abgegrenztes Ziel. Er darf nicht wie die Biene oder der Schmetterling von Blüte zu Blüte flattern; er gleicht eher dem Bergmann, der im entlegenen Stollen bei mattem Grubenlicht nur ein bestimmtes Mineral suchen und alles andere, was ihm in den Weg kommt, beiseite legen muß. Das Ganze der Wissenschaften aber ließe sich etwa jenem Berg Montserrat vergleichen, auf dessen zahlreichen Felsengipfeln die Mönche ohne Verkehr unterainander ein einsiedlerisches Leben führten. Obwohl die Vertiefung und erschöpfende Einsicht in ein bestimmtes Objekt auch seine eigenen Reize hat, so war es doch dem Einzelnen wohler ums Herz, als er noch frei und weit umherblickend nach dem schönen Ziel voller und allseitiger Erkenntnis und Bildung streben durfte.

Noch schwerer als den Gelehrten und Fachmann selbst trifft jenes Prinzip der Arbeitsteilung die große Klasse derjenigen, welche nicht selbst für die Wissenschaft leben können und wollen, aber den allgemeinen Bildungsdrang in sich fühlen, um teils in ihrem eigenen Berufsfach, teils auf anderen ihrer freien Neigung entsprechenden Gebieten dem Gang der wissenschaftlichen Entwicklung zu folgen. Sie werden schon durch die Massenhaftigkeit des Stoffs abgeschreckt; denn jede Fachliteratur besteht zum größten Teil aus Monographien und wird von Jahr zu Jahr unabsehbarer. Was früher den Stoff zu einem Artikel einer Zeitschrift gab, wird jetzt ein Buch, was früher ein Buch war, wird jetzt ein mehrbändiges, sehr häufig unabgeschlossen bleibendes Werk. Mit wenigen aber umso rühmenswerteren Ausnahmen schreiben die Meister der Wissenschaft ihre Bücher nur für sich untereinander, für die Spezialkollegien, manchmal eigentlich nur für  einen  unter ihnen, der auch schon über denselben Gegenstand geschrieben hat und den man im einen oder anderen Punkt ergänzen oder widerlegen zu können glaubt. Nur durch ein Buch dieser Art kann man sich für sein Fach legitimieren. Ein noch so trefflich geschriebens aber auf die Ansprüche eines größeren Leserkreises berechnetes Buch ist stets ein gewagtes Unternehmen, das seinem Verfasser ebenso gut schaden als nützen kann. Denn er wird schwer dem Tadel entgehen, daß er diese oder jene Vorarbeit nicht gekannt oder nicht genug beachtet habe, daß er da oder dort nicht auf die letzten Quellen zurückgegangen sei. Die Aufgabe, aus den zahlreichen Monographien nun wieder das Neue und Bedeutende herauszulesen, das bereits Bekannte daraus zu ergänzen und zu berichtigen, die Ergebnisse zu einem wohlgeordneten Ganzen zu verarbeiten, wird als eine kompilatorische Arbeit von sekundären Rang behandelt, mit welcher sich die Meister nicht selbst befassen, die man der popularisierenden Literatur, den Verfassern der Schulbücher, dem Konversationslexikon, den belehrenden Beilagen der Journale überläßt. So sehen sich die Liebhaber der wissenschaftlichen Studien von den Originalwerken abgedrängt und auf die Kompilationen [Sammlungen - wp] angewiesen, womit ihnen schon der volle Reiz und Genuß entzogen ist. Am empfindlichsten fällt ihnen dies auf dem Gebiet der Geschichtswissenschaften, weil diesen das lebhafteste Interesse und leichteste Verständnis entgegengebracht wird. Die Geschichts schreibung,  die immer des Historiker Zeit und höchste Leistung bleiben muß, wird mehr und mehr durch die Geschichts forschung  verdrängt, die doch stets nur Mittel zum Zweck sein kann. Wer vom Historiker wünscht und hofft, von sachkundiger, des Stoffes mächtiger Hand in klassischer Form und geistvoller Beleuchtung durch die großen Epochen der Völker- und Kulturgeschichte geführt zu werden, der wird nur selten und in allzulangen Pausen seines Wunsches froh werden. Dagegen wird es ihm an Lust und Zeit fehlen; in dickleibigen Monographien mit allem Ballast von Belegstellen und kleinen Kontroversen Begebenheiten zu verfolgen, die ihn nur wenig interessieren würden, wenn er sie selbst erlebte, aber gar nicht, wenn sie längst vergangene Zeiten und nur etwa  eines  von den Hunderten der deutschen Territorialgebiete berühren. Wenn es jetzt weniger gebildete Männer als in der vorangegangenen Generation geben solle, die ihre Mußestunden mit ernsteren Studien füllen, so hat daran gewiß auch der Umstand großen Anteil, daß die literarische Produktion in Deutschland zwar für den Gelehrten auf der einen, für die lernende Jugend und die Masse der Halbgebildeten auf der anderen Seite fast allzureichlich sorgt, aber dem dazwischen liegenden Leserkreis nur wenig bietet. Und wenn heutzutage Engländer und Franzosen von deutscher Gelehrsamkeit vieles lernen können und auch wirklich lernen, so könnten wir uns auch umgekehrt an ihren Vorbildern in der Kunst vervollkommnen, Bücher zu schreiben, welche nicht im Stoff und kleinen Streit untergehen, welche für den Gelehrten und den gebildeten Liebhaber gleich anziehend und fruchtbar sind. Vorzüge des Stils und der Darstellung pflegen wir nicht hochzuachten; man läßt sie sich gerne gefallen, wo sie geboten werden, aber man bemerkt es kaum und tadelt es nicht, wenn sie fehlen. Wenn unter den 13 000 Büchern, welche in Deutschland jährlich neu auf den Markt kommen, 13, also je eines unter Tausend sein sollten, von denen die nächsten Generationen noch Notiz nehmen werden, die neuen und reichen Inhalt in gediegender Form bieten, so wäre dieses Verhältnis wohl noch als ein günstiges anzusehen.
LITERATUR Gustav von Rümelin - Über die Arbeitsteilung in der Wissenschaft, Reden und Aufsätze I, Neue Folge, Freiburg i. B. und Tübingen 1881