p-3 TrendelenburgW. DiltheyA. RiehlFrischeisen-KöhlerO. Liebmann    
 
JULIUS von KIRCHMANN
Über den Streit der Systeme
innerhalb der Philosophie

[Vortrag gehalten in der Philosophischen Gesellschaft
zu Berlin am 27. Mai 1876]


"Daß synthetische Urteile  a priori in Form von Lehrsätzen und Gesetzen innerhalb der Wissenschaften in Wahrheit bestehen, galt  Kant mit Bezug auf die Sätze der Mathematik und die obersten Grundsätze der Naturwissenschaft für unzweifelhaft. Nun konnte das Dasein dieser Sätze aber nicht aus der  Erfahrung erklärt werden; denn alles Wahrnehmen erfaßt immer nur Einzelnes; auch vieles gleiches Einzelnes führt mittels der Induktion nur zu einem Wahrscheinlichen, aber nicht zu einem unbedingt Allgemeinen und Notwendigen. So blieb für  Kant in dieser Verlegenheit nichts übrig, als dieses Allgemeine und Notwendige nicht in den Dingen, sondern im menschlichen Erkennen zu suchen.  Wir legen also nach  Kant diese Bestimmungen in die Dinge,  nicht weil wir sie darin finden, sondern weil wir dieselben für das Zustandekommen der Erfahrung und Erkenntnis  brauchen; deshalb wird der sinnliche Stoff mit diesen im menschlichen Geist als Denkformen bestehenden Kategorien überzogen, von ihnen eingehüllt, durchdrungen und damit das Bestehen allgemein-synthetischer und damit wahrer Urteile ermöglicht."

Daß verschiedene Systeme innerhalb der Philosophie bestehen, brauche ich wohl der geehrten Gesellschaft nicht zu beweisen; wir machen in jeder unserer Versammlungen bei den Diskussionen an uns selbst die Erfahrung davon und so wie jetzt, haben verschiedene, ja entgegengesetzte Systeme zu allen Zeiten bestanden. Indem ich diese Tatsache zum Thema meines heutigen Vortrags nahm, habe ich dieselbe zunächst genauer zu präzisieren.

Ich verstehe unter dieser Verschiedenheit nicht die Abweichungen in untergeordneten Fragen, während das System in seinem Hauptzügen beibehalten wird; z. B. nicht solche Abweichungen, wie sie von SPEUSIPP in Bezug auf PLATO, von THEOPHRAST in Bezug auf ARISTOTELES berichtet werden; oder wie REINHOLD und FRIES ihre angeblichen Verbesserungen am Kritizismus KANTs vornahmen; vielmehr verstehe ich darunter verschiedene  Systeme,  also einen Unterschied in den obersten Prinzipien, welcher sich dann in der ganzen Ausbreitung derselben fortsetzt; oder Unterschiede innerhalb großer Gebiete der Philosophie, also Gegensätze, wie die der Lehre PLATOs zu der des ARISTOTELES, oder der Stoiker zu den Epikuraern, oder der Skeptiker gegenüber diesen dogmatischen Systemen; ebenso den Gegensatz des  Nominalismus  zum  Realismus  unter den Scholastikern des Mittelalters; den Gegensatz der Systeme von DESCARTES und SPINOZA gegen BACON; von LEIBNIZ gegen LOCKE; von KANT, FICHTE, SCHELLING, HEGEL, HERBART gegeneinander.

Ich kann ferner nur diejenigen Systeme beachten, welche in einer großen Anzahl von Anhängern, oder in der Stiftung einer besonderen Schule und in einer längeren tatsächlichen Geltung zugleich ein äußeres Zeichen dafür besitzen, daß sie wirklich die Entwicklung eines bedeutenden Prinzips und das Werk eines hervorragenden Geistes gewesen sind. Dagegen verlange ich nicht, daß diese verschiedenen Systeme sich in einer zeitlichen Reihe gefolgt sind, da die Geschichte lehrt, daß bedeutende Systeme auch gleichzeitig begründet worden sind und sich ebenso Jahrhunderte lang nebeneinander in gleicher Geltung behauptet haben. So erhoben sich gleichzeitig mit der Begriffsphilosophie des SOKRATES, PLATO und ARISTOTELES die  Sophisten  als die ersten Begründer des Skeptizismus; ebenso wurden nach dem Tod des ARISTOTELES gleichzeitig die Systeme der Stoiker durch ZENO, der Epikuräer durch EPIKUR und ein umfassender Skeptizismus durch PYYRHO begründet und bis zu den Zeiten des PLOTIN, also ein halbes Jahrtausend hindurch haben sich diese Systeme der Akademiker, der Peripatetiker, der Stoiker und der Epikuräer nebeneinander in einer ziemlich gleichen Anzahl von Anhängern lebendig erhalten. Das Gleiche gilt von den Systemen der  Nominalisten  und  Realisten  im Mittelalter; sie erhoben sich im Beginn der scholastischen Periode beinahe gleichzeitig und beide haben sich bis zum Ende des Mittelalters in ihrem Ansehen behauptet, so daß selbst KANT in Bezug auf das Wesen der Begriffe noch als Nominalist angesehen werden muß. Auch die neuere Zeit zeigt eine solche gleichzeitige Entwicklung des  Idealismus  und  Realismus.  Setzt man den wesentlichen Unterschied beider in den Unterschied der Quelle, aus welcher sie ihren Inhalt schöpfen, ob dies aus dem Denken oder aus der Wahrnehmung geschieht, so sehen wir, wie der Idealismus auf der einen Seite von DESCARTES, MALEBRANCHE, LEIBNIZ, KANT, FICHTE, SCHELLING und HEGEL seine Begründung und weitere Ausbildung erhält, und wie im Realismus auf der anderen Seite das Gleiche durch BACON, LOCKE, die französischen Enzklypädisten und Herbart geschieht. Schließlich treten ebenso in der neuesten Zeit mit SCHOPENHAUER, EDUARD von HARTMANN und anderen die Versuche auf, beide Systeme zu vereinen.

Dieses Dasein so großer und bedeutender Gegensätze innerhalb der Philosophie hat für den unbefangenen Beobachter zunächst etwas höchst sonderbares und auffallendes. Das große Publikum hat von jeher daraus den härtesten Vorwurf gegen die Philosophie entnommen. In der Tat kann man, wenn man mit ihr die besonderen Wissenschaften vergleicht, nicht umhin anzuerkennen, daß bei letzteren, wenn sie auch mit Gegensätzen begonnen haben, diese doch entweder schon beseitigt sind, oder wo solche noch bestehen, sie doch mit jedem Jahrzehnt an Bedeutung und Umfang abnehmen. So hat die Geometrie schon seit EUKLID einen festen und sicheren Inhalt gewonnen, den Niemand seitdem mehr in Zweifel zieht. Die Astronomie hat mehr Mühe gehabt, ihre Gegensätze und verwickelten Hypothesen zu überwinden; aber seit KOPERNIKUS und KEPLER herrscht auch hier, einzelne Querköpfe ausgenommen, eine allgemeine Übereinstimmung. Noch später haben die übrigen Naturwissenschaften die rechte Methode und den Weg zur Einigung gefunden; aber seit der Annahme einer strengen induktiven Methode hat auch hier mit den letzten Jahrhunderten eine Einigung begonnen, welche sich immer weiter über das ganze Gebiet ausbreitet. Wenn in ihnen über die letzten Elemente, über Atome, Kräfte, deren Wirksamkeit in die Ferne usw. noch ein Streit besteht, so kommt dies bloß daher, daß diese Begriffe schon in das Gebiet der Philosophie gehören. Ähnlich verhält es sich mit den besonderen Wissenschaften auf ethischem Gebiet. So war bei den Griechen die Wissenschaft ihres Rechts allerdings noch in einer trüben Mischung mit der Moral befangen; ARISTOTELES erklärt z. B. in seiner  Nikomachischen Ethik  alle Verträge, die nicht sofort Zug um Zug erfüllt werden, für rechtlich unverbindlich, weil hier das gegenseitige Vertrauen die Basis gewesen ist, also jeder Kontrahent selbst die Schuld trägt, wenn er sich geirrt hat. Aber mit der Ausbreitung des Römischen Reichs über alle kultivierten Teile der Erde gewann die Rechtswissenschaft bald ihre richtige und selbständige Stellung, und die Römischen Juristen haben ein System aufgestellt, was noch heute die Grundlage der juristischen Ausbildung abgibt und was noch heute in seinen Grundbegriffen und seiner Methode trotz der großen Veränderungen im Verkehr einen festen Anhaltspunkt für die Gesetzgebung und Fortbildung des Rechts bietet.

Es ist jedoch nicht bloß der Vergleich mit den besonderen Wissenschaften, welcher den Streit der Systeme in der Philosophie als etwas Sonderbares erscheinen läßt; auch die eigene Natur der Philosophie will sich schwer damit vereinigen. Während die besonderen Wissenschaften zu einem großen Teil dem Nutzen und den persönlichen Zwecken der Einzelnen dienen müssen, ist die Philosophie frei von einem solchen Zwang; selbst die Gefahren, welche ihr in alter Zeit von der Kirche drohten, sind mit dem Mittelalter verschwunden. Die Philosophie ist  frei  durch und durch; sie hat nur  ein  Ziel, die Wahrheit und nichts hindert sie, in der Erreichung dieses Ziels jedweden Weg beliebig zu betreten. Die Philosophie ist auch nicht, wie die besonderen Wissenschaften, zu einer mühsamen Beobachtung, zu zeitraubenden und kostspieligen Versuchen zweck einer Konstatierung des Tatsächlichen genötigt; die besonderen Wissenschaften sind vielmehr hier ihre Dienerinnen, welche alles was sie selbst gewonnen haben, der Philosophie in bündigster Weise darbieten. Das Gebiet der Philosophie ist auch kein geteiltes und begrenztes, wie das der einzelnen besonderen Wissenschaften; ihr Gegenstand ist das Universum nach seinem ganzen körperlichen und geistigen Bestand. Damit sind bei ihr all jene Quellen des Irrtums verstopft, welche in einer einseitigen Herausschneidung eines besonderen Gebiets und dessen ausschließlicher Untersuchung leicht zu Irrtümern führen. Schließlich haben sich, solange die Philosophie besteht, die besten Köpfe und alle Männer, welche in einer Fülle des Wissens, in einer Schärfe des Urteils, in divinatorischer [göttlicher - wp] Kraft ihre Zeitgenossen überragten,  dieser  Wissenschaft zugewendet, und sich in deren ausschließlichen Dienst begeben. Und doch, trotz dieser Vorteile herrscht in der Philosophie heute noch der gleiche Streit und Kampf wie in den Zeiten des Altertums und Mittelalters. Ja wir sehen sogar, wie dieselben Männer auf dem Gebiet der besonderen Wissenschaften Resultate erreicht haben, welche seitdem als feste Wahrheit gelten, während ihre Leistungen innerhalb der Philosophie längst zu der Klasse verfehlter Versuche herabgesetzt worden sind. So hat DESCARTES die analytische Geometrie geschaffen, NEWTON der Astronomie ihre feste Basis gegeben, LEIBNIZ die Rechnung des Unendlichen erfunden, KANT die Grundlagen für die Entstehung unseres Sonnensystems aufgestellt, alles Entdeckungen und wissenschaftliche Leistungen, die noch heute als allgemein anerkannte Wahrheiten bestehen, während des DESCARTES' Beweise für das Dasein Gottes, die prästabilierte Harmonie des LEIBNIZ und der Kritizismus KANTs entweder als abgetan gelten, oder doch noch in den heftigsten Streit mit den Gegnern befangen sind.

Diese Gegensätze innerhalb der Philosophie sind jedoch nicht bloß auffallend, ihre Erklärung ist auch in hohem Maße interessant. Die Lösung dieser Frage kann offenbar nur von der Philosophie selbst geboten werden. Dennoch ist es merkwürdig, daß die Philosophie mit wenigen Ausnahmen sich damit befaßt hat. Wir sehen, wie es jedem Begründer eines Systems genügt, dasselbe für das allein wahre und die vor ihm bestandenen für Irrtümer zu erklären. Selbst der bescheidene KANT steht in der Vorrede zu seinen  Prolegomenen  nicht an, die ganze Metaphysik bis zu seiner Zeit für ein verkehrtes Unternehmen zu erklären; erst mit seiner Kritik der reinen Vernunft sei die Bahn zu einer wahrhaften Metaphysik gebrochen. Es ist durchaus keine persönliche Eitelkeit, welche solche Meinungen veranlaßt hat, sondern die tiefste Überzeugung, welche bei einer Arbeit, die oft das halbe Leben und die Aufbietung der besten Kräfte in Anspruch genommen hat, sich leicht erklärt. Indem die vorliegende Frage sich damit für die meisten Philosophen in den Gegensatz von Irrtum und Wahrheit auflöste, läßt sich verstehen, wie die Begründer eines neuen Systems eine Erklärung jener Gegensätze nicht für nötig hielten, da ja durch ihre letzte Arbeit die Wahrheit gefunden, also der Streit beseitigt wurde. Allein die Erfahrung hätte sie bald vom Gegenteil belehren können. Jedes spätere System trat mit denselben Ansprüchen auf; ja die gleichzeitig bestehenden mehreren Systeme benutzen alle das gleiche Argument und so ergab sich, daß auf diese Weise die Frage nicht gelöst werden konnte. Die Lage der Philosophie ist hier ähnlich, wie die Lage der Religionen. Auch bei diesen behauptet eine jede der verschiedenen auf der Erde bestehenden Religionen allein auf göttlicher Offenbarung zu beruhen und deshalb allein die Wahrheit zu besitzen; jede erklärt die andere für unwahr, für menschliche Erfindung; allein indem dasselbe Argument sich somit für das Entgegengesetzte benutzen läßt, erhellt sich, daß es hier überhaupt nicht als Argument aufgestellt werden kann.

Erst KANT ist, soviel mir bewußt, etwas näher auf die Frage eingegangen. Er erklärt die Verschiedenheit der vor ihm bestandenen Systeme daraus, daß sich der menschliche Geist nur unmittelbar auf das Objekt und dessen Erkenntnis gewendet und verabsäumt hat vorher das Instrument, womit diese Erkenntnis erlangt wird, zu untersuchen. Indem KANT nun in seinen Kritiken die Untersuchung nachholt, glaubt er damit den festen Boden, auf dem von nun an die Metaphysik errichtet werden kann, gelegt zu haben. HEGEL hat bekanntlich diesen Gedanken KANTs ins Lächerliche gezogen, weil der Mensch zur Untersuchung seiner Erkenntniskräfte ja wieder dieselben Erkenntniskräfte benutzen müsse, und ein anderes Mittel daneben ihm nicht gegeben sei. Allein der Gedanke KANTs war dennoch ein sehr bedeutender, wenn er auch nicht ganz passend von ihm ausgedrückt wurde. Die alte Metaphysik hatte bis dahin nicht gezweifelt, daß sie mit dem Denken auch die jenseits der Erfahrung liegenden Dinge erreichen und deren Gesetze erkennen kann und so hatte man in jedem Jahrhundert vollständige Systeme in Bezug auf die übersinnlichen Gebiete aufgestellt, die dann freilich sehr verschieden ausfallen mußten. KANT mit seinem eindringenden Verstand und angeregt von den Untersuchungen LOCKEs und HUMEs bemerkte jedoch bald, daß die Frage, ob das Denken das Übersinnliche direkt zu erreichen vermag, ihre großen Bedenken hat. So faßte er seine Aufgabe in die Frage zusammen: Wie sind synthetische Urteile  a priori  möglich? Daß dergleichen Urteile in Form von Lehrsätzen und Gesetzen innerhalb der Wissenschaften in Wahrheit bestehen, galt ihm mit Bezug auf die Sätze der Mathematik und die obersten Grundsätze der Naturwissenschaft für unzweifelhaft. Nun konnte das Dasein dieser Sätze aber nicht aus der  Erfahrung  erklärt werden; denn alles Wahrnehmen erfaßt immer nur Einzelnes; auch vieles gleiches Einzelnes führt mittels der Induktion nur zu einem Wahrscheinlichen, aber nicht zu einem unbedingt Allgemeinen und Notwendigen. So blieb für KANT in dieser Verlegenheit nichts übrig, als dieses Allgemeine und Notwendige nicht in den Dingen, sondern im menschlichen Erkennen zu suchen. Wir legen also nach KANT diese Bestimmungen in die Dinge,  nicht weil wir sie darin finden,  sondern weil wir dieselben für das Zustandekommen der Erfahrung und Erkenntnis  brauchen;  deshalb wird der sinnliche Stoff mit diesen im menschlichen Geist als Denkformen bestehenden Kategorien überzogen, von ihnen eingehüllt, durchdrungen und damit das Bestehen allgemein-synthetischer und damit wahrer Urteile ermöglicht. Da nun aber auch jener sinnliche, durch die Wahrnehmung der Seele zugeführte Stoff von KANT in Übereinstimmung mit den Lehren der Naturwissenschaft nur für ein subjektives Gebilde gehalten wurde, so verwandelte sich notwendig die ganze Welt mit all ihrem Inhalt für KANT in bloße Erscheinungen (Phänomena) und das dahinter steckende eigenliche Ding (Ding-ansich) wurde ihm zu einem unerkennbaren.

Mag man nun diesem Resultat zustimmen oder nicht, so zeigte sich doch damit, welche durchaus neue Wendung die Philosophie erhalten kann, wenn sie, anstatt dreist auf die Dinge loszugehen, erst die Erkenntniskräfte des Menschen, sei es auch nur mittels dieser selbst, zum Gegenstand der Untersuchung nimmt und diese von KANT genommene Richtung der Untersuchung ist auch noch heute die dominierende, wenn man auch andere Resultate damit zu gewinnen versucht hat. Für die mir jetzt vorliegende Frage kann jedoch diese von KANT gegebene Antwort nicht genügen; denn trotz dieser seit einem Jahrhundert veränderten Richtung der Philosophie ist doch der Streit in ihr nicht beschwichtigt worden, vielmehr der Kampf der Systeme so heftig wie vorher geblieben.

Viel tiefer und eingehender ist demnächst nach Andeutungen SCHELLINGs die Frage von HEGEL behandelt worden. Die Lösung, welche er bietet ist so genial, so konsequent, so ansprechend, daß die von HEGEL in der Einleitung zu seiner "Geschichte der Philosophie" gegebenen Darstellung derselben jedem einigermaßen philosophisch gebildeten Leser, auch abgesehen von ihrer Wahrheit, einen großen Genuß gewährt, und man Mühe hat, sich dem von ihr geübten Zauber zu entziehen. Wenn ich auch bei den Meisten der Anwesenden die Kenntnis dieser Einleitung voraussetzen kann, so muß ich doch den wesentlichen Inhalt derselben hier erwähnen, da ich HEGEL nicht beistimmen kann und eine eingehende Widerlegung, deren ich mich nicht entziehen darf, nur möglich ist, wenn die Hauptsätze derselben den geehrten Mitgliedern unmittelbar gegenwärtig sind.

Nach HEGEL ist die Idee zunächst im Zustand des  Ansich;  indem sie jedoch selbst Prozeß oder reine Tätigkeit ist, verharrt sie nicht in diesem Zustand, sondern geht in das  Für sich  über, um zuletzt zu einem Ansich als  An- und für sich  zurückzukehren, wo dann diese Bewegung von Neuem beginnt. Das Ansich enthält schon den ganzen und gleichen Inhalt, welchen die Idee in ihrer Bewegung zum Für sich entfaltet; nur in der Form sind sie unterschieden; dort ist der Inhalt verhüllt, hier ausgebreitet, ein gewußter. HEGEL benutzt zur Verdeutlichung vielfach das Beispiel mit dem Samenkorn. In dessen Keime ist bereits der ganze Inhalt des späteren, daraus hervorgehenden Baumes enthalten; es kommt nichts Neues hinzu; alles war schon im Keim enthalten, aber nur als Anlage, in der Form des Vermögens, der  dynamis,  gegenüber der späteren Form der Wirklichkeit, der  energeia.  HEGEL bezeichnet diesen Vorgang mit dem Namen der  Entwicklung welcher Begriff überhaupt der bedeutendste Grundbegriff seines Systems ist. Mittels dieses Begriffs ist der Zusammenhang, die  Einheit  alles Besonderen gesetzt und die Entwicklung vollzieht sich dadurch in fester  Notwendigkeit.  Vermöge dieser Entwicklung ist das daraus Hervorgehende ein  Konkretes;  in diesem ist Eines und ein Anderes und Beide sind Eins; es ist das Allgemeine, das zugleich in sich selbst das Besondere ist. Schon das  Ansich  ist konkret; im  Für sich  ist nur die Form eine andere.

HEGEL benutzt nun diesen Begriff der Entwicklung zur Gestaltung seines ganzen Systems. Die Idee ist zunächst in der Form des Logischen oder reinen Denkens; hier entfaltet sie sich mittels dieser Entwicklung zu den verschiedenen Begriffen, welche bisher die gewöhnliche Logik und die alte Ontologie behandelt hatten. Das reine vSein schlägt in  Nichts  um, ist als reines Sein selbst dieses Nichts und indem beide sich zu einer spekulativen Einheit verbinden, ergibt sich der Begriff des  Werdens,  welcher diese Einheit von Sein und Nichts darstellt. Aus dem Werden entwickelt sich dann das  Dasein  als ein neues Ansich, welches als  Qualität  beginnt, in die  Quantität  übergeht und in der Einheit beider zum Begriff des  Maßes  wird. So geht es durch die ganze Logik fort; aus der Kategorie des Seins, nachdem es seine Entwicklung durchlaufen hat, geht das  Wesen  hervor; dieses entfaltet sich ebenfalls zu einer Reihe konkreterer Begriffe und geht zuletzt in den  Begriff  über, aus dem als höchstes und letztes die Idee als Einheit von Sein und Wesen hervorgeht. Nachdem sich die Entwicklung so innerhalb des rein Logischen vollendet hat, schlägt sie in ihr  Anders-Sein,  d. h. in das Sein der Natur um. Hier vollzieht sich eine neue Entwicklung, ausgehend vom Elemeentaren zum Unorganischen und weiter zum Organischen bis zum Begriff des Geistes, oder der Idee in ihrem  An und für sich  sein. Dieser beginnt dann als subjektiver Geist, geht in den objektiven Geist über, wo der Staat als solcher erscheint und wird endlich zum absoluten Geist, der sich zur Kunst, Religion und schließlich zur Philosophie, als der höchsten Weise der Idee entfaltet.

Während innerhalb der Natur und des Geistes die Entwicklung in der Zeit verläuft, ist diese Entwicklung innerhalb der Logik eine zeitlose. Die Geschichte der Philosophie enthält nur denselben Inhalt, dieselben Kategorien wie die Logik, die Entwicklung geht aber in jener nicht mehr zeitlos, sondern als ein zeitliches Geschehen vor. Es folgen sich in ihr dieselben Kategorien, wie dort, und die einzelnen Systeme bewegen sich nur in der einen, ihnen zugehörigen Kategorie. Jedes spätere System ist vermöge seiner reicheren ihm innewohnenden Kategorie nur eine reichere Entfaltung der vorhergegangenen. Deshalb enthält jedes spätere System die vorhergegangenen in sich, sie sind aber in ihm zu Momenten herabgesetzt. Der Inhalt der früheren Systeme wird in den späteren nicht weggeworfen, vielmehr darin aufgehoben und bewahrt; ihr Mangel war nur, daß sie ihre Kategorie als die absolute setzten, während sie in den späteren nur als Moment gilt und als Bestandteil der neuen reicheren Kategorie erscheint. Somit enthält dann auch das System HEGELs die sämtlichen vorangegangenen Systeme als Momente in sich, und gerade darin besteht seine Wahrheit. Alles Widerlegen besteht nur im Aufzeigen der Einseitigkeit und im Herabsetzen der Totalität zu einem Moment. Das Sein der Eleaten wird so zum  Werden  bei HERAKLIT und zum  nous  [Geistesvermögen - wp] bei ANAXAGORAS.

So sehr nun auch diese Auffassung der verschiedenen Systeme der Philosophie als eine Entwicklung der  einen  Idee, dem menschlichen Geist zusagt, den Leser durch ihren blendenden Scheint gefangen nimmt und alle Rätsel in höchst einfacher Weise zu lösen scheint, so wenig kann doch eine schärfere, mehr realistische Auffassung sich damit befreunden und je genauer man sie betrachtet und ihren blendenden Schein beiseite schiebt, desto mehr zeigen sich die Bedenken. Ich beschränke mich hier auf die wichtigsten.

1. Zunächst erklärt die HEGEL'sche Philosophie, indem sie den ganzen Verlauf der Entwicklung der Idee vom Ansicht, durch das Fürsich zu einem An- und Fürsich, also bis zum Höchsten und Letzten aufzuzeigen vermag, sich selbst für die höchste und letzte, über die hinaus es keine weitere Entwicklung mehr geben kann. Indem  alle  Kategorien in ihr erschöpft sind, ist eine weitere Entwicklung über das An-für-sich hinaus nach ihrer eigenen Lehre unmöglich und es ist eine Inkonsequenz, wenn ihre Anhänger noch von einer weiteren im Verlauf der Zeit zu erwartenden Entwicklung der Philosophie sprechen.

2. Sodann hat diese Entwicklung innerhalb des rein Logischen das Sonderbare, daß sie nichts als Begriffe bietet; der eine entwickelt sich aus dem andern, aber nirgends kommt es zu einer Verbindung derselben oder zu einem Satz und Gesetz. Nun hat aber schon ARISTOTELES dargelegt, daß die Wahrheit in bloßen Begriffen nicht ausgesprochen werden kann, sondern nur erst im Satz ihren Ausdruck erhält. Der Begriff "Bockhirsch" z. B. ist nach ARISTOTELES weder wahr noch unwahr; erst wenn ich einen zweiten Begriff damit als Prädikat verbinde, sei es auch nur der des Daseins, so wird der Satz entweder ein wahrer oder falscher. Indem nun diese Sätze bei HEGEL ganz ausbleiben, und selbst innerhalb seiner Natur- und Rechtsphilosophie nur nebenbei auftreten, erklärt sich das Unbefriedigende, was sich mit dem Studium seiner Schriften verbindet. Der Leser fühlt sich von einer Reihe von Begriffen umgeben, die gleich Geistern aus ihren Gräbern steigen, aber mit denen er nichts anzufangen weiß, weil die Ketten und Bande fehlen, welche die Geister fesseln und ihm erst damit die Macht gewähren, das Seiende zu verstehen und seinem Willen zu unterwerfen.

3) Das Ansich soll denselben Inhalt wie das Fürsich enthalten; nur die Form soll eine andere sein. Dieser Unterschied wird in verschiedener Weise von HEGEL bezeichnet; bald als  ideell  gegen  real,  bald als  verhüllt  gegen  herausgesetzt,  bald als  Anlage  gegen die  Wirklichkeit.  Auch findet sich mitunter der Ausdruck: Das Ansich kommt im Fürsich zum  Bewußtsein.  Dann heißt es wieder: der Trieb im Ansich setzt seinen Inhalt zur  Existenz  heraus. Alle Menschen, sagt HEGEL, sind frei ansich; die Europäer  wissen  es auch, deshalb  sind  sie frei; die Asiaten wissen es nicht, deshalb  existieren  sie nicht als frei. Schon dieses Schwanken in der Bezeichnung dieser wichtigen Kategorie muß bedenklich machen; das Fürsich als  existieren  paßt nicht zum Fürsich des Logischen; das Verhüllte ist ein bloßes Bild; die  Anlage  bloß ein anderes Wort, denn es frägt sich immer,  welcher Art  ist die Form, durch welche derselbe Inhalt ein bloßes Ansich ist. Auch der  dynamis  und  energeia  des ARISTOTELES, die HEGEL benutzt, stehen dieselben Bedenken entgegen. In seiner "Phänomenologie" (Seite 100f und Bd. II der Werke) zeigt HEGEL selbst den Unterschied der Kraft in Ruhe (dynamis, Vermögen) und in der Äußerung (energeia) als einen unwahren auf. Eine bloße Einschachtelung dieses Inhaltes, eine bloße Verkleinerung desselben im Keim gegen den Baum hat HEGEL selbst abgewiesen. Indem HEGEL somit nirgends eine Bestimmung für die Form des Ansich finden kann, sieht er sich zu Aussprüchen genötigt, welche einen Widerspruch enthalten; z. B. die Idee soll  werden,  was sie  ist;  sie soll sich ihrer entfremden und dadurch zu sich selbst kommen usw. Man kann sich ja wohl zuletzt an solche Ausdrücke gewöhnen und damit glauben, das Höchste auszusprechen; aber das Bedürfnis nach Klarheit und Bestimmtheit reagiert fortwährend dagegen. Man könnte vielleicht den Unterschied dieser Formen bei der Gleichheit des Inhalts im Gegensatz von Wissen und Sein suchen; allein dieser Gegensatz wäre doch innerhalb des Logischen nicht anwendbar, wo auch das Fürsich ein nur Gewußtes bleibt. EDUARD von HARTMANN hat deshalb den Gegensatz von Bewußt und Unbewußt eingeführt; aber selbst bei von HARTMANN ist das Unbewußte nicht selbst unbewußt, sondern ist nur für den Menschen, in dem es wirkt, ein Unbewußtes. Das Unbewußte wählt im Instinkt mit voller Vernunft das zweckmäßigste Mittel; nur dem Menschen, in dem sich der Instinkt vollzieht, ist es unbewußt. Zudem hat HEGEL die Kategorie des Unbewußten in seinen Werken nirgends benutzt, obgleich doch, wenn sie für seine Lehre gepaßt hätte, er sie sicherlich hier aufgenommen haben würde, wo die Sache selbst ihn dazu drängte. Deshalb bleibt die  Form,  in welcher das Ansich denselben Inhalt, wie das Fürsich besitzt, bei HEGEL ein durchaus Unfaßbares, Unklares, Unvorstellbares und deshalb die Kategorie ein bloßes Wort, zu dem der Gedanke fehlt.

4. Daraus erklärt sich dann auch, daß dieses Ansich nur ein blendender Schein ist, wodurch das Wissen des Menschen nicht im Mindesten bereichert wird und was durchaus ungeeignet ist, als Mittel für die Erweiterung der Erkenntnis zu dienen. Das Ansich ist für den Menschen nicht wahrnehmbar; wenn ich den Keim eines Samenkorns sehe und selbst mit dem Mikroskop betrachte, sehe ich doch darum nicht den Baum mit seinen Wurzeln, Stamm, Zweigen, Blättern und Blüten, zu denen er sich entwickelt; er hat nur die  Anlage  dazu; diese ist aber nicht wahrnehmbar. Ebenso verhält es sich im Logischen. Daß im reinen Sein auch das Nichts enthalten und beide zusammen das Ansich des Werdens sind, ist im unbefangenen Gedanken des Seins nicht enthalten. Vor HEGEL haben selbst die größten Philosophen aller Zeiten dies nicht darin gefunden; erst durch eine künstliche Gedankenverbindung kann man mit Hilfe des schon gewußten  Werdens  auf diese Annahme kommen. Und so ist es überall. Erst das  Fürsich  tritt für uns heraus, wird gewußt, präsentiert sich dem Menschen; erst der vollentwickelte Baum belehrt mich über den Inhalt oder die Anlage im Keim; das Ansich ist nur die bloße Zurückführung des Fürsich in eine unvorstellbare Form, die höchstens in Bildern oder sich widersprechenden Bestimmungen geboten werden kann. Legt man einem Anhänger dieser Lehre ein ihm unbekanntes Samenkorn vor, mit der Aufforderung, zu sagen, welcher Inhalt sich daraus entwickeln wird, so weiß er nicht mehr davon, wie andere Leute; er wird, wie diese, warten müssen, bis der Keim sich zum Baum entfaltet haben wird und erst dann wird er, wie jeder Andere, diesen Inhalt kennen, nur daß er sich nunmehr noch die Arbeit auferlegt, diesen Inhalt zusammenzupacken und in den Keim hineinzuschieben, in eine Form, die er nicht anders beschreiben kann, als unterschieden, d. h. als eine, die er selbst nicht positiv bezeichnen kann. Ähnlich ist es, wenn man solche Philosophen frägt, was wird aus der Gegenwart, aus unseren Kämpfen zwischen Staat und Kirche, zwischen Arbeit und Kapital, usw. werden? welches Fürsich steckt in diesem Ansich? Wenn der Inhalt in beiden derselbe ist, so müßte doch sicherlich der Philosoph vermögen, aus diesem gegenwärtigen Ansich das Fürsich der Zukunft herauszuschälen. Aber er steht hier so ratlos da, wie andere kluge Leute und wenn er prophezeit, so geschieht es nur mit denselben Mitteln, die auch das große Publikum benutzt und von ihm so unvollkommen, wie von diesem. Hinterher ist ein solcher Philosoph allerdings immer bereit, die Notwendigkeit dieser Entwicklung zu behaupten, allein was nützt dem Wissen eine solche Notwendigkeit, die keinen Schluß auf den nächsten Tag gestattet? Jedenfalls wird man zugeben, daß diese neue Kategorie des Ansich von der Wissenschaft auf keinem Gebiet als ein Mittel benutzt werden kann, die Erkenntnis zu erweitern; man muß trotzdem, nach wie vor die Entfaltung des sogenannten Fürsich abwarten, d. h. die Mittel der Erfahrung und Beobachtung nach wie vor benutzen, um die Erkenntnis weiter zu führen.

Diese aus der Natur des Begriffs der Entwicklung im HEGELschen Sinne entnommenen Bedenken steigern sich, wenn man die Art, wie HEGEL diese Entwicklung im Einzelnen dargestellt hat, in Betracht nimmt. Das reine  Sein  soll die reine Abstraktion und damit das  Nichts  sein. Dieses  Nichts  soll ebenso umgekehrt dasselbe sein, was das  Sein  ist; die Wahrheit beider und somit die  Einheit  beider soll das  Werden  sein. Vielmehr ist für ein unbefangenes Denken das Werden  keines  von beiden; sondern es steht  zwischen  dem Nichts und dem Sein; beide sind nicht der  Inhalt  des Werdens, sondern die  Grenzen,  zwischen denen es sich bewegt. Das Werden ist deshalb ohne eine Zeit unmöglich und da für HEGEL das Logische zeitlos ist, so hat in Wahrheit das Werden darin keine Stelle. Man kann nicht einwenden, der Keim sei doch auch bereits etwas und ebenso enthalte das Werden in jedem seiner Momente das Sein, weil ja dieses sofort da ist, wenn das Werden irgendwo unterbrochen wird. Allerdings kann ein Gegenstand bestehen,  an dem  das Werden einer Eigenschaft sich vollzieht, aber das Werden trifft dann eben nicht das schon Vorhandene, sondern ist nur in dem, was noch nicht ist und was mit dem Werden beginnt zu einem Seienden zu kommen. Unterbreche ich das  Werden,  so ist allerdings auch schon ein  Sein  da, aber damit ist auch sofort das Werden verschwunden, also liegt das Sein allemal erst da, wo das Werden aufhört. Deshalb hatte HERAKLIT ganz Recht, wenn er das Werden als das nahm, was sich nicht mit dem Sein verträgt und wenn er, indem er nur ein Werden in der Welt anerkannte, das  Sein  in derselben leugnete. Ebenso konsequent waren die Eleaten, wenn sie, weil sie nur das  Sein  anerkannten, das Werden leugneten.

Gleich unwahr ist die Umwandlung des  Seins  in ein  Nichts;  das reine Sein ist nicht "die reine Abstraktion", vielmehr bleibt das Sein als solches übrig, wenn der Mensch mittels seines trennenden Denkens alle übrigen Bestimmungen eines Gegenstandes, seine Größe, seine Gestalt, seine Eigenschaften usw. von ihm abstrahiert hat. Diese Abstraktion steckt nicht im Gegenstand, auch nicht im Begriff des reinen  Seins,  sondern dieses ist nur das Produkt des Abstrahierens, insofern das reine Sein des Gegenstandes nun abgesondert, von seinem weiteren Inhalt vorgestellt wird. Es ist eine Täuschung, wenn man dieses Sein für das Nichts nimmt; vielmehr bleibt es dessen ungeachtet der stärkste Gegensatz gegen das Nichts. Nur wenn man das reine Sein einem reicheren, mit Eigenschaften erfüllten Seienden oder Gegenstand gegenüberstellt, kann man wohl in der Sprache des Lebens  vergleichsweise  jenes ein Nichts diesem gegenüber nennen; allein diese vergleichsweise Benutzung des Nichts zur Bezeichnung des leeren Seins trifft nicht die wahre Bedeutung des Nichts. Auch hier werden von HEGEL, wie beim Werden, die unklaren Vorstellungen des täglichen Lebens benutzt, um damit seiner Darstellung den Schein der Wahrheit zu geben.

Was hier an  einem  Fall dargelegt wurde, läßt sich durch alle weiteren Kombinationen in der HEGELschen Philosophie darlegen; so im Übergang der  Qualität zur Quantität  und dem  Maß  als der Einheit beider; so im Übergang des  Seins  in das  Wesen  und im  Begriff,  als der Wahrheit des Seins und des Wesens; so im Übergang der Idee als logischer zur Idee in ihrem  Anderssein  oder zur  Natur  und dieser zur Idee in ihrem An- und Fürsich sein als  Geist Ebenso gewaltsam geschieht auch die Entwicklung innerhalb dieser letzten Gestalt der Idee; der  subjektive  Geist im einzelnen Menschen entwickelt sich da zum  objektiven  Geist, als Recht, Moral und Staat und dieser entwickelt sich weiter zum  absoluten  Geist, zunächst als Kunst, dann als Religion, bis er in der Philosophie seine höchste Stufe erreicht. In allen diesen Entwicklungen ließen sich, wenn die Zeit es gestattete, ähnliche Mängel und Verdrehungen der Begriffe nachweisen. Das Ganze erscheint nur als ein vorhergegangenes Auflesen dieser Begriffe aus der Sprache und den besonderen Wissenschaften; die hier gefundenen Begriffe werden dann nach ihrem einfacheren oder reicheren Inhalt und nach einer Art von Verwandtschaft geordnet und demnächst in dieses Schema einer dreiteiligen Entwicklung eingepreßt. Dabei kann es nicht fehlen, daß den meisten dieser Begriffe Gewalt angetan werden muß, um nur einigermaßen in dieses Schema zu passen und anstatt deren Inhalt ohne Voreingenommenheit zu prüfen, wird bloß gefragt, wo wohl der nächste zum Schema passende Begriff herzuholen ist. So großartig diese Entwicklung in ihrer allgemeinen Darstellung erscheint, so Hohes man danach von ihr für die Erkenntnis erwartet, umso kläglicher fällt die Ausführung dieses Gedankens im Einzelnen aus. Anstatt der Notwendigkeit, die dieser Entwicklung einwohnen soll, empfindet man nur das Gegenteil; überall ist es das Unnatürliche, das Erkünstelte, was hindurchleuchtet. Während die Notwendigkeit in Wahrheit dem Satz des Widerspruchs innewohnt und niemand mit gesundem Verstand bis dahin gewagt hat, das Sein des sich Widersprechenden zu behaupten, wird von HEGEL umgekehrt verlangt, das sich Widersprechende für wahr und notwendig zu halten. Herr Professor MICHELET meint in seinem Vortrag über den Real-Idealismus (zweites Heft der Verhandlungen der philosophischen Gesellschaft), HEGEL habe dies nur für das  konträr  Entgegengesetzte, nicht für das  kontradiktorisch  Entgegengesetzte behauptet. Aber auch das Konträre läßt sich nicht in einer Einheit denken; so kann das Krumme nicht zugleich Gerade sein; das Schwarz kann nicht zugleich Weiß, das Diskrete nicht zugleich das Kontinuierliche. Allerdings behauptet HEGEL, der Raum sei zugleich beides, weil man ja auch "Punkte im Raum setzen kann", allein es ist ein bekannter und anerkannter Satz der Geometrie, daß aus lauter diskreten Punkten nie eine Linie gebildet werden kann und sollen die Punkte zusammenfließen, so sind sie nicht mehr diskret und keine Punkte mehr. Jedoch findet sich selbst das kontradiktorisch sich Widersprechende von HEGEL als Einheit hingestellt. Auf Seite 178 seiner "Logik" (Werke, Bd. 6) heißt es wörtlich:
    "Es gibt überhaupt gar nichts, worin nicht der Widerspruch, d. h. entgegengesetzte Bestimmungen aufgezeigt werden können und müssen."
Ebenso erklärt HEGEL das Urteil für unfähig, die spekulative Wahrheit auszudrücken, weil es nicht zugleich bejaht und verneint. Ferner sagt HEGEL:  Sein  und  Nichts  sind dasselbe, und wenige Zeilen darauf: Sein und Nichts sind  nicht  dasselbe, sondern  schlechthin verschieden.  Weiter sagt er: Die Idee soll  werden,  was sie schon  ist;  ferner: das  Konkrete  ist Eins und das Andere und Beide sind Eins; ferner: Das  Ansich  ist einfach und doch unterschieden;  Entwicklung  ist Bewegung, Prozeß und damit Ruhe usw. - Ich sollte meinen, daß hier auch kontradiktorisch Entgegengesetztes zur Einheit verbunden wird. Diese Beispiele häufen sich, je strenger HEGEL in seinen Schriften das eigentümliche Wesen seiner Philosophie ausdrückt, während in den, seinen Vorlesungen entlehnten Zusätzen hierbei die Aussprüche gemäßigter lauten. Man kann sich eine solche Verhöhnung des Grundgesetzes allen Denkens sich nur daraus erklären, daß HEGEL dabei gewisse Beziehungen im Sinn behielt, die er nicht aussprach, aber die den Widerspruch aufhoben. So kann man wohl sagen: Was  wird, ist;  indem man meint, daß, wenn das Sein da ist, so wie das Werden anhält, das Sein doch  in  demselben enthalten sein muß; oder wenn man bei der Materie, insofern sie für diskret  und  kontinuierlich behauptet wird, einmal die ungeteilte, und dann die geteilte im Sinn hat usw. Allein wenn solche geheime Beziehungen und Unterscheidungen auch erklären, wie eine so große Zahl von Männern diese Lehre hat annehmen können, so liegen sie doch nicht im Sinne jener Aussprüche, ja HEGEL würde geradezu gegen solche Einschiebungen protestiert haben, weil dann sein System gar nichts Neues gebracht haben würde. Diese Erhebung des Widerspruchs zum Kennzeichen der Wahrheit ist umso auffallender, als HEGEL nicht ansteht, seine Gegner damit zu widerlegen, daß er ihnen Widersprüche nachweist; und da es in Wahrheit auch kein anderes Mittel der Widerlegung gibt, so erscheint es fürwahr sehr sonderbar den Widerspruch im eigenen System für das Kennzeichen der Wahrheit, und im Fremden System für das Kennzeichen der Unwahrheit zu erklären.

Was nun die Anwendung dieser Lehre auf die  Geschichte der Philosophie  anlangt, so treten den bisherigen allgemeinen Bedenken hier noch besondere und eigentümliche hinzu. Für die ersten Anfänge der griechischen Philosophie lassen sich ja vielleicht entsprechende Analogien finden; so verwandelt sich die Hauptkategorie der  Eleaten,  das Sein, bei HERAKLIT in das Werden und bei ANAXAGORAS tritt der  nous  hervor; allein sehr bald entfaltet sich die Philosophie der Griechen zu einem reicheren System von Kategorien, welches mit der  einen,  die nach HEGELs Logik die nächstfolgede sein müßte, nicht mehr erschöpft werden kann. So hat schon ARISTOTELES so ziemlich alle Kategorien in seiner Philosophie untersucht und erörtert, welche dann in den späteren Systemen des Altertums, des Mittelalters und der Neuzeit um keine neue vermehrt, sondern nur in andere Verbindungen gestellt worden sind. Selbst das  Ansich  des HEGEL ist schon im  kath auto  des ARISTOTELES, wie in dem  impliziten  gegenüber dem  expliziten  Wissen der Scholastiker vorhanden; ja man kann sagen, die meisten der elementaren Begriffe mit denen die Philosophie seit ihrem Beginn bis zur Gegenwart operiert, sind schon in den Schriften des alten Testaments, in den Dichtungen HOMERs und HESIODs und in den  Veden  der Inder enthalten. Bestände die Entwicklung der Philosophie, wie HEGEL meint, nur in einem zeitlich der Reihe nach Hervortreten jener Kategorien, die HEGEL in sein Logik behandelt, so wäre ein solches Vorhandensein all dieser Begriffe schon vor allem Beginn der Philosophie und mindestens zur Zeit des ARISTOTELES ganz unbegreiflich. Diese Kategorien sollen nach HEGEL zweieinhalb Jahrtausende gebraucht haben, ehe der menschliche Geist die höchsten erreicht und sich zu Bewußtsein gebracht hat und doch finden sich all diese Kategorien schon vollständig bei ARISTOTELES, ohne daß man behaupten kann, er habe nur ein unklares Wissen ihres Inhaltes gehabt.

Betrachtet man die Natur des Fortschritts der Philosophie in ihren einander folgenden Systemen näher, so erfolgt derselbe nur selten durch eine Aufstellung höherer Begriffe, sondern in einer verschiedenen Verbindung oder Beschränkung derselben innerhalb der Sätze. Schon vorher habe ich angedeutet, daß die Wahrheit nicht durch isolierte Begriffe ausgedrückt werden kann, sondern nur durch Sätze. Ein Beispiel wird dies erläutern: Die alte Metaphysik beruhte auf dem Satz, daß das Denken die über die sinnliche Wahrnehmung hinaus liegenden Dinge unmittelbar erkennen kann. Der Fortschritt KANTs bestand darin, daß er nicht die Kategorie des Seins oder der übersinnlichen Dinge bestritt, sondern daß er den  Satz  bestritt, wonach das Denken diese Dinge erfassen kann; er hob die  Dinge ansich  nicht auf; er leugnete auch nicht die Existenz von allgemeinen synthetischen Urteilen in den Wissenschaften, auch nicht, daß sie aus dem Denken kommen; aber er schob die Beschränkung ein, daß diese Sätze nur für die Erscheinungen gelten, und jenes Synthetische daher kmmt, daß das Denken selbst diese Synthesis aus seinen ihm innewohnenden Formen entnimmt und den Erscheinungen nur überzieht, um die Erfahrung zu ermöglichen. Wenig später bestand der Fortschritt FICHTEs nicht darin, daß er in seinem  Ich  und  Nicht-Ich  etwa neue Kategorien aufstellte, sondern darin, daß er nur das unerkennbare Ding-ansich beseitigte und auch das Seiende in ein Gedachtes verwandelte. Der fernere Schritt SCHELLINGs und HEGELs bestand ebenso nicht in der Aufstellung neuer elementarer Begriffe, sondern in der Verbindung des Seins und des Wissens zu einem Identischen, so daß die Vernunft im Objektiven und die Vernunft im Subjektiven dieselbe ist. Daher der Name der Identitätsphilosophie. Hiergegen reagierte dann der Realismus; er leugnete diese Identität für den Inhalt des Seienden und Gedachten nicht, aber beschränkte diese Satz auf den Inhalt, während er die  Form  in welcher dieser Inhalt im Sein und im Wissen ist, für durchaus verschieden erklärte. Endlich besthen auch die neuesten Versuche, welche sich Ideal-Realismus oder Real-Idealismus nennen, nicht in der Aufstellung neuer Kategorien, sondern wie schon der Name sagt, in einer gewissen Verbindung der Prinzipien beider.

Dieses Beispiel wird genügen, um zu zeigen, daß das Hervortreten neuer Systeme nicht unbedingt in der Aufstellung neuer Kategorien liegt, wie HEGEL mit seiner Entwicklung behauptet, sondern in einer veränderten Verbindung der längst vorhandenen elementaren Begriffe. Indem nun HEGEL in seiner Logik sich nur auf die Entwicklung der Begriffe beschränkt und die Natur der Sätze ganz außer Acht läßt, erhellt sich, daß auch die Bewegung der Philosophie in ihren verschiedenen Systemen, die lediglich in der Aufstellung anderer oder modifizierter alter Sätze besteht, nicht auf das Schema seiner Logik zurückgeführt werden kann. Endlich läßt sich auch das gleichzeitige Entstehen und durch Jahrhunderte Fortbestehen entgegengesetzter Systeme mit HEGELs Auffassung schwer vereinen.

Genügt sonach auch die Erklärung, die HEGEL für den Unterschied der verschiedenen philosophischen Systeme bietet, nicht, so kehrt die Frage nach den Ursachen dieser Gegensätze von Neuem wieder, und jeder Versuch, sie in einer befriedigenden Weise zu lösen, dürfte noch heute seine Berechtigung haben. In diesem Sinne eines Versuchs bitte ich daher, das Folgende aufzunehmen.

Ich möchte  zwei  Gründe für diese Gegensätze der Systeme geltend machen: der eine liegt in der  Isoliertheit  des philosophsischen Schaffens, der andere in der  Voraussetzungslosigkeit  der Philosophie. Unter Isoliertheit verstehe ich, bestimmter ausgedrückt, jene Isolierung der philosophischen Tätigkeit, in welcher allein die Begründung eines bedeutenden Systems vollzogen werden kann. Jeder Philosoph muß allerdings, ehe er sich zu solchen Unternehmungen getrieben, ja gezwungen fühlt, die Welt, die besondere Wissenschaft, die Menschen und Sitten kennengelernt, auch die bisherigen Systeme der Philosophie studiert haben; allein wenn er sich nicht mit der Behandlung einzelner Materien oder mit der nackten Aufstellung eines Prinzips begnügen will, wie etwa LEIBNIZ und SCHELLING getan haben, sondern wenn er die vollständige und konsequent durchgeführte Darstellung seines Prinzips in einem System bilden will, wie z. B. SPINOZA, LOCKE, KANT, HEGEL es getan haben, so liegt es in der Natur einer solchen Aufgabe, daß ihre Lösung völlig ungestört durch fremde Gedanken, sich lediglich innerhalb des Geistes ihres Begründers entwickeln muß. Der Gegenstand ist hier zu geistig, nur dem tiefsten und gespanntesten Nachdenken zugänglich; empfindlich gegen jedes Fremde, was die Erzeugung und den ungetrübten Fluß der Gedanken aus der  einen  Quelle stören würde. Diese schaffende philosophische Tätigkeit gleicht genau der künstlerischen Konzeption; und selbst in der Ausführung gehen beide noch lange parallel. Während in den beobachtenden und experimentierenden Wissenschaften der Inhalt schon im Objekt oder äußeren Vorgang gegenständlich vorliegt, nicht verschwindet, und zu jeder Zeit von Neuem aufgenommen werden kann, ohne an seiner Wahrheit zu verlieren, fehlt der philosophischen Konzeption dieser feste gegenständliche Anhaltspunkt und deshalb ist die Isolierung des denkenden Geistes hier eine notwendige Forderung. Alles Fremde muß abgehalten werden, damit das Prinzip bis in seine letzten Besonderungen auf der einen Seite dem Prinzip und auf der anderen Seite der Realität entsprechen, geschehen kann.

Ein deutliches Beispiel dazu liefert die Entstehung des kritischen Systems von KANT. Im Jahr 1770 veröffentlichte KANT seine Dissertation:  De mundo sensibili et intelligibili welche die Anfänge von KANTs kritischem System enthielt; erst elf Jahre darauf, 1781 erschien seine Kritik der reinen Vernunft. Innerhalb dieser elf Jahre hat die schriftstellerische Tätigkeit KANTs beinahe ganz geruht; nur eine Rezension und zwei kleine naturwissenschaftliche Abhandlungen sind in dieser Zeit von ihm erschienen. Der sonst so schreiblustige KANT war also offenbar in diesen elf Jahren nur mit der Ausarbeitung seines neuen Systems beschäftigt; in der Vorrede zu den "Prolegomenen" sagt er selbst, daß er  "nur  langsame Schritte tun konnte, um endlich den ganzen Umfang der reinen Vernunft nach Grenzen und Inhalt vollständig zu bestimmen" und so sehen wir, wie selbst ein so großer Mann sich ganz in sich selbst konzentrieren und elf Jahre lang möglichst alle Zerstreuung abhalten mußte, um sein Werk zustande zu bringen. Ähnliches berichtet die Geschichte von DESCARTES, der sich plötzlich in Paris seinen wüsten Gesellen entzog und in einer Vorstadt verborgen, nur für die Ausbildung seines philosophischen Systems lebte; ebenso von SPINOZA und anderen bedeutenden Philosophen, die an die Ausarbeitung eines Systems herangetreten sind.

Nun ist aber klar, daß eine solche Abschließung während der Zeit der Produktion unvermeidlich zu Eigentümlichkeiten und Gegensätzen führen muß, wie sie ja in gewisser Weise auch in den Stilen großer Künstler hervortreten. Der Schöpfer des Systems kann sich während der Produktion kaum einen Vergleich mit anderen Systemen einlassen, ohne die noch zarten Keime seines Systems zu gefährden; er beläßt es bei den Einwirkungen, welche die früher erworbene Kenntnis dieser Systeme halb unbewußt jetzt auf ihn ausübt; ist er aber fertig, so ist in der Regel die Überzeugung von der Wahrheit seines Systems bei ihm so stark und fest geworden, daß er für die Gegensätze anderer oder der nach ihm auftretenden Systeme kaum noch ein Verständnis hat. So sehen wir dann auch bei KANT, daß er das System FICHTEs und den auch zu seiner Lebzeit auftretenden absoluten Idealismus SCHELLINGs gar nicht beachtet, ja mißversteht, weil er, in seiner Lehre befangen, sogar am vollen Verständnis des Neuen gehindert war.

Zu diesem psychologischen Erklärungsgrund tritt aber ein tieferer und innerer, dem Wesen der Philosophie selbst angehöriger hinzu; es ist die  Voraussetzungslosigkeit  der Philosophie. Alle besonderen Wissenschaften gehen von Begriffen und Grundsätzen aus, deren Wahrheit sie ohne weiteres voraussetzen, ohne sie zu beweisen; auf ihnen wird die einzelne Wissenschaft aufgebaut; jeder Schüler, der in sie eintreten will, muß diese Voraussetzungen anerkennen. So ruht die Mathematik auf dem Syllogismus, dessen Beweiskraft ohne weiteres angenommen wir, und auf einer Anzahl von Axiomen und Grundbegriffen, wie z. B. daß Gleiches zu Gleichem Gleiches ergibt, daß die Linien ohne Ende teilbar sind, daß das unendlich Kleine im Verhältnis zum Endlichen vernachlässigt werden kann usw. Die Wissenschaft setzt diese Sätze als selbstverständlich voraus und jeder Eintretende hat sich ihnen zu unterwerfen; dies geschieht zwar gern, allein die tiefere Begründung ersetzt es nicht. Ebenso ist es mit den Naturwissenschaften; sie setzen die Wirklichkeit von Zeit und Raum, von Bewegungen, von Atomen und Kräften voraus; ihre Methode ruht auf dem Prinzip der Beobachtung und der Induktion, welcher Mittel sie sich ohne weiteres als solcher bedient, welche zur Wahrheit führen. Auch die besonderen Wissenschaften des Rechts und der Moral beginnen ohne weiteres mit einem Begriff von Pflicht und Recht. Man gibt zwar mitunter Definitionen davon, sie bleiben jedoch reine Worterklärungen; ebenso gelten die Sätze, daß das Recht durch Gewalt nicht aufgehoben werden kann, daß Verträge erfüllt werden müssen, daß die Erfüllung der Rechtsverbindlichkeit dem Zwang unterliegt usw., als selbstverständlich. Erst auf diesen Grundsätzen bauen sich die Rechtswissenschaften auf. Das Gleiche gilt von den Wissenschaften über einzelne der schönen Künste; die Begriffe des Schönen überhaupt, des Kontrastes, der idealen Gefühle, in welchen der Reiz und Genuß des Schönen enthalten, der Spaltung des Schönen in Inhalt und Form usw. werden der weiteren Entwicklung und dem Aufbau der Wissenschaft ohne Beweis zugrunde gelegt.

Anders ist es mit der Philosophie. Sie beginnt, wie DESCARTES dies so lebendig in seinem Meditationen schildert, mit dem Zweifel an allem, und selbst an dem, was der Meinung und den besonderen Wissenschaften als das Gewisseste gilt. Ähnlich ist es mit der Verwunderung, aus der nach ARISTOTELES die Philosophie entspringt. Das Alltägliche, was jedermann für selbstverständlich hält, gilt dem Philosophen als das Schwierigste; die Verwunderung, wie synthetische Urteile über die Erfahrung hinaus bestehen können, wurde für KANT der Anlaß zu seinem kritischen Idealismus. In der Philosophie besteht die höchste Freiheit des Denkens; jeder der an sie herantritt, hat das Recht, die bisher gelegten Fundamente von Neuem zu untersuchen. Allerdings kann sich auch die Philosophie nicht aus bloßen Negationen aufbauen, allein das bejahende Prinzip von dem die einzelnen Systeme beginnen, gibt sich jeder Untersuchung preis; daher die verschiedenen Prinzipien, von denen sie ausgehen. Es ist deshalb ein Irrtum, wenn die besonderen Wissenschaften auf die allgemeine Anerkennung ihrer Ergebnisse sich groß tun, und wenn die Mathematik der Philosophie als das Muster vorgehalten wird, dem sie nachzustreben habe. Die besonderen Wissenschaften gleichen vielmehr wohleingehegten Wegen, auf denen es keine Kunst ist, sich nicht zu verirren, oder sich bald wieder zurecht zu finden; die Philosophie dagegen gleicht einem Urwalt, in dem dem Forscher jeder Anhalt fehlt, um die rechte Richtung einzuhalten und wo die Spuren seiner Vorgänger ihn nur zu leicht in das Verderben führen.

Allerdings bestehen in der Seele des Menschen feste Gesetze, die sich in seinem Wahrnehmen und Denken mit Notwendigkeit geltend machen. Auf ihnen beruth alle Möglichkeit der Verständigung, und sie ziehen gewisse Schranken, welche verhindern, daß die Zahl der Systeme ins Endlose steigt. Allein mit voller Notwendigkeit wirken diese Gesetze nur im Handeln; hier rennt selbst der eifrigste Anhänger des subjektiven Idealismus mit seinem Kopf nicht gegen die Wand, obgleich sie nach seiner Lehre nur eine Vorstellung  in  seinem Kopf ist; aber innerhalb der Studierstube, mit der Feder in der Hand, kann das Denken selbst diese Notwendigkeit verleugnen und Prinzipien setzen, die das Widersprechende für die Wahrheit, ja für die alleinige Wahrheit erklären. Ebenso hat das Spalten der Begriffe für den Menschen keine unüberschreitbare Grenze und auch in dieser Richtung ist seine Freiheit ohne Schranken.

In einer solchen Lage kann die Verschiedenheit der Systeme innerhalb der Philosophie nicht verwundern; im Gegenteil, es wäre wunderbar, wenn sie nicht bestände. Aber jene Notwendigkeit, jene Gesetze, an welche auch das Denken bei seiner Tätigkeit gebunden ist, und deren Überspringen, selbst wenn sie in der Studierstube möglich ist, sich deshalb doch selten lange erhalten kann, haben die Zahl der Systeme nicht zu groß werden lassen. Sieht man von einzelnen Modifikationen ab, so fügen sich alle Systeme in einen zweifachen Gegensatz; sie sind entweder  Idealismus  oder  Realismus,  und sie sind entweder  Dogmatismus  oder  Skeptizismus . Die ersteren beiden unterscheiden sich wesentlich durch die Quelle, aus welcher sie ihren Inhalt schöpfen. Dem Idealismus gilt das  Denken  als das Mittel, um das Seiende und zwar das Seiende im höchsten Grad, das  ontos on  [seiende Sein - wp] des PLATO, unmittelbar zu erfassen und zu erkennen; der Idealismus hat deshalb sachliche, das Seiende betreffende Prinzipien  a priori.  Das Prinzip des Realismus besagt dagegen, daß der  Inhalt  des körperlich und geistig  Seienden  nur durch die Sinnes- und Selbstwahrnehmung der Seele zugeführt werden kann und daß das Geschäft des Denkens nur darin besteht, disen von der Wahrnehmung überkommenen Inhalt zu bearbeiten und insbesondere das Allgemeine daraus herauszuheben, welches in seinem Begriffen und Gesetzen den Gegenstand der Wissenschaften bildet. Beide Systeme zerfallen in Unterarten; jenes in einen subjektiven, objektiven, absoluten Idealismus; auch der Kritizismus KANTs gehört dazu, indem er das Ding-ansich für unerkennbar und das Erscheinende nur für das Produkt unseres Denkens erklärt. Ebenso zeigen sich die Anfänge des Realismus schon bei den  Stoikern  und  Epikuräern  in ihrer Zugrundelegung der Wahrnehmung (aisthesis); seine reifere Ausbildung hat er jedoch erst nach dem Mittelalter in der neueren Zeit zunächst durch BACON, LOCKE und die  Enzyklopädisten  erhalten. Der Sensualismus, Empirismus, Materialismus gehören hierher; aus ihnen hat sich der neuere Realismus dadurch abgesondert, daß er neben dem durch die Wahrnehmung zugeführten Inhalt des Seienden, noch eine Anzahl von Beziehungsformen anerkennt, welche der Seele von Natur innewohnen, und welche teils unter sich, teils mit dem Inhalt des Wahrgenommenen eine so mannigfache Verbindung und enge Verschmelzung eingehen, daß sie nicht bloß im gewöhnlichen Leben, sondern auch von den besonderen Wissenschaften, ja mehr oder weniger selbst von den idealistischen Systemen der Philosophie für ein Seiendes, ja für das höchste Seiende gehalten werden.

Alle Systeme, welche die Wahrheit für erreichbar halten, gehören zu dem einen oder anderen dieser beiden Hauptsysteme; sie bilden zusammen als Dogmatismus den Gegensatz zum Skeptizismus, welcher die Wahrheit für nicht erreichbar erklärt, sondern nur Wahrscheinlichkeiten zuläßt. Allerdings spielt der letztere nicht mehr die bedeutende Rolle, wie bei den Griechen; man irrt sich jedoch, wenn man meint, er bestehe überhaupt nicht mehr. Nur vollständig ausgebildete Systeme desselben treten jetzt nicht mehr auf, aber im Einzelnen ist er noch in all jenen sehr philosophisch angelegten Männern vorhanden, welche sich mit keinem Resultat befriedigt fühlen, welche überall noch einen ungelösten Rest behapten und sich deshalb überwiegend in der Negation gefallen und selbst in stärkerem Maß, als HEGEL zum Widerspruch greifen, um jenes Unerreichbare auch durch die Art des Ausdrucks als unerreichbar darzustellen. Zum Teil geraten sie in das neckende Spiel der Beziehungsformen; alles bereits Erkannte ist ihnen nur ein Äußeres; da aber jedes Äußere auch ein Inneres verlangt, und letzteres durch keine Ausdehnung des Äußeren aufgehoben werden kann, so gilt ihnen auch jeder Fortschritt der Erkenntnis eben durch das Heraustreten seines Inhaltes wieder, als ein Äußeres, hinter dem immer noch ein unerkanntes Inneres stehen bleibt; jedes Innere, das aufgedeckt wird, wird für sie wieder zu einem Äußeren und das Innere zieht sich damit tiefer zurück. Daher der Ausspruch HALLERs: "In das Innere der Natur dringt kein erschaffender Geist." Diese modernen Skeptiker sind in der Regel geistreiche Männer; ihre Zahl ist nicht gering; sie halten sich meist selbst nicht für Skeptiker; allein sie leisten der Philosophie ähnliche Dienste, wie die Sophisten und Skeptiker des Altertums. Wollte man streng sein, so würde auch EDUARD von HARTMANN zu den Skeptikern gehören; denn auch sein System gibt sich nur als Wahrscheinlichkeit und sein Fundamentalsatz, daß die materiellen Ursachen nicht ausreichen, die Vorgänge im Sein zu erklären, sondern geistige Ursachen daneben bestehen, wird lediglich durch die mathematische Wahrscheinlichkeitsrechnung bewiesen und deshalb nur als eine hohe Wahrscheinlichkeit gesetzt. Eine solche Wahrscheinlichkeit hat auch die spätere Skepsis im Altertum nicht geleugnet.

Auch wenn sich vermöge der das Denken beherrschenden Gesetze die Systeme nicht ins Zahllose verlieren, so bleibt doch immer die Frage, weshalb sich gerade diese von mir besprochenen Hauptsysteme gebildet und weshalb ein einzelner Mensch, welcher sich der Philosophie zuwendet, gerade den Idealismus und nicht den Realismus, oder umgekehrt ergreift und weshalb der eine ein Dogmatiker wird, der andere ein Skeptiker bleibt. Die Ursache hierfür liegt allerdings nicht mehr auf dem Gebiet des  Wissens,  sondern in dem des geistig  Seienden,  d. h. in den  Gefühlen  des Menschen. Die Idealisten repräsentieren die Poeten in der Philosophie; die Realisten die Prosaiker. Das Denken führt leicht in eine ideale Welt, gleich der des Dichters, wo nicht die harte Wirklichkeit herrscht, sondern die Phantasie sich das Seiende nach ihren Wünschen zu gestalten vermag. Das Denken fühlt sich der Wirklichkeit gegenüber frei; mit seinen Begriffen und namentlich mit seinen Beziehungsformen kann es weit über die Schranken hinausgehen, welche dem Wahrnehmen gesetzt sind; das Universum steht ihm offen, während die Sinne nur einen kleinen Teil dieser kleinen Erde erfassen und die innere Wahrnehmung nur auf das eigene Selbst beschränkt bleibt. Deshalb wenden sich alle Naturen, welche auf das Universale angelegt sind, welche keine Schranke gelten lassen mögen, welchen die Freiheit als das Höchste gilt, dem Idealismus zu; es bestimmen sie ähnliche Gefühle, wie den Künstler, nur daß das Mittel, womit jene Naturen diesen Gefühlen Genüge tun, das Denken bleibt, während der Künstler es in sinnlichen Bildern tut. In SCHELLING und HEGEL ist diese poetische Natur deutlich erkennbar; ihre Sprache ist schon in der Form oft hochpoetisch. Auch bei LEIBNIZ zeigt sich Ähnliches. Weniger bei KANT; man kann sagen, er ist nur durch die Unmöglichkeit, die synthetischen Urteile anders als idealistisch zu erklären, in dieses Gebiet philosophischer Poesie getrieben worden und man merkt ihm an, daß er sich im Grunde wenig wohl darin fühlt.

Die Realisten sind dagegen Leute, denen es um die Klarheit, Bestimmtheit, um die Erkenntnis der baren Wirklichkeit zu tun ist. Sie lassen gern die Idealisten in fernen Welten sich ergehen; das beschränkte Gebiet, auf welches sie sich angewiesen sehen, entschädigt sie durch die Sicherheit, mit welcher innerhalb desselben die Erkenntnis fortschreitet. Hier findet kein stetes Einreißen und Wiederaufbauen großartiger Systeme statt; jede, auch die unscheinbarste Entdeckung fügt sich mit Leichtigkeit in diesem Aufbau; er schreitet langsam voran, aber bildet für jeden Nachkommenden die feste Grundlage, auf der dieser weiter bauen kann. Alle seine Begriffe sind faßbar, klar, frei von Widerspruch; sie haben an dem durch Wahrnehmung erfaßbaren Seienden die feste Unterlage, an welcher die Prüfung der Wahrheit neuer Begriffe und Gesetze zu jeder Zeit, und von jedem wiederholt werden kann; in der Festigkeit und Objektivität dieser Unterlage ist für den Realismus das Mittel gegeben, um jeden Streit allmählich zu Ende zu führen; er allein bietet, wenn er sich in seinen Schranken hält, die Aussicht auf eine gemeinsame Verständigung.

So wie sich nun im Leben der Eine mehr zur Poesie, der Andere mehr zur nüchternen Prosa neigt, so dehnt sich die Wirksamkeit dieser ursprünglichen Neigungen der Einzelnen auch auf das Gebiet der Philosophie aus und es erklärt sich daraus, wie sich neben jenen idealistischen Poeten auch realistische Prosaiker finden, welche sich mit der gleichen Leidenschaft, mit dem gleichen Genuß der einen oder anderen Weise des Forschens zuwenden, und wie jeder von beiden die ihm zusagenden Grundprinzipien für die allein wahren proklamiert und mit Zähigkeit festhält.

Ähnliche Gefühle sind es auch, welche über die dogmatische oder skeptische Richtung des Einzelnen entscheiden. Je nachdem seine Natur mehr nach dem Positiven verlangt, aus dem Meer der Zweifel heraus ein Festes fordert, was die Seele zur Ruhe kommen läßt und je mehr in diesem Positiven zugleich ein Trost gegen das Ungemacht des Lebens empfunden wird, desto mehr neigt der Mensch zum Dogmatismus. Dieselben Gefühle haben auch innerhalb der Religionen zum Positiven geführt. Ihnen stehen andere Naturen gegenüber, welche sich im Zweifel gefallen; ich habe sie bereits näher geschildert und könnte auch solche in unserer Mitte nachweisen; deshalb wird auch der Skeptizismus seine Anhänger behalten.

Indem ich somit versucht habe, aus der Natur der Erkenntnismittel und der auf sie einwirkenden Gefühle die tatsächliche Verschiedenheit der philosophischen Systeme zu erklären, möchte ich doch meinen Vortrag nicht schließen, ohne noch einen Blick in die  Zukunft  der Philosophie zu werfen. Es ist allerdings ein kühnes Unternehmen, über den Gang der freiesten aller Wissenschaften etwas voraussagen zu wollen. Die von mir dargelegte Voraussetzungslosigkeit der Philosophie scheint hier jeden Ausspruch unmöglich zu machen. Ich habe jedoch bereits bemerkt, wie die dem menschlichen Denken und Fürwahrhalten innewohnenden festen Gesetze zwar vom Einzelnen am Schreibtisch verleugnet werden können, wie aber diese Ausschreitungen selten von langer Dauer sind und gegen jene großen Systeme des Idealismus und Realismus bald zurücktreten. Indem somit innerhalb der menschlichen Natur auch für das reine Denken feste Gesetze bestehen, und die hier sich ausbildenden Gegensätze an den verschiedenen Gefühlsstimmungen der Einzelnen ihren dauernden Halt besitzen, bieten diese Gesetze, solange die Natur des menschlichen Denkens und Fühlens überhaupt sich nicht völlig verändert, einen Anhaltspunkt auch für den Gang der Philosophie in den kommenden Zeiten.

Am Sichersten in dieser Hinsicht ist wohl, daß gegensätzliche Systeme innerhalb der Philosophie  für immer  bestehen bleiben werden. Selbst wenn die besonderen Wissenschaften eine volle Einigkeit für ihren Inhalt und eine volle Gleichheit in ihrer Methode im Lauf der Jahrhunderte oder Jahrtausende erreichen sollten, werden trotzdem die Gegensätze innerhalb der Philosophie fortbestehen. Es folgt dies eben aus ihrer Natur, aus der Voraussetzungslosigkeit ihres Anfangs, aus dem Gegensatz von Denken und Wahrnehmen und aus den verschiedenen Gefühlsrichtungen, welche auf diesem höchsten Gebiet, wo aller äußere Anhaltspunkt fehlt, für den Einzelnen die letzte Entscheidung abgeben. Aber ich glaube, daß sich trotz dieses Fortbestandes der Gegensätze dennoch ein Fortschritt erhalten wird, wie ja ein solcher schon vorher in der Philosophie bestanden hat und trotz ihrer Gegensätze deutlich erkennbar ist. Unzweifelhaft werden die großen Gegensätze des Idealismus und Realismus, des Dogmatismus und Skeptizismus bleiben, aber sie werden die Schärfe verlieren, mit denen diese Richtungen jetzt noch einander bekämpfen. Schon jetzt macht man Versuche, den Idealismus und Realismus zu einem Ideal-Realismus zu verknüpfen. Ich halte allerdings diese Versuche für vergeblich; sie dienen nur, die Bestimmtheit ihrer beiderseitigen Prinzipien zu verdunkeln und ein trübes Gemisch aus beiden herzustellen; oder man benutzt dabei den Realismus nur als Mittel, um zunächst den Inhalt zu gewinnen und scheut sich dann nicht, auf dieser Grundlage mittels des reinen Denkens ein Gebäude aus Hypothesen aufzuführen, welches allerdings durch seine Großartigkeit dem Stolz des Menschen schmeichelt, aber doch ein gebrechliches Kartenhaus bleibt, welches der Windzug eines neuen idealistischen Systems mit Leichtigkeit umbläst. Ich glaube deshalb, daß diese Verbindungen beider Systeme immer nur kurzen Bestand haben werden und wie Öl und Wasser trotz des eifrigsten Schüttelns, sich immer wieder voneinander trennen werden. Allein zunächst meine ich, daß neben diesen beiden Hauptsystemen kein drittes, von ihnen wesentlich verschiedenes, hervortreten wird. Denn Denken und Wahrnehmen befassen alles, was dem menschlichen Geist an Mitteln der Erkenntnis zu Gebote steht. Es wird wohl immer innerhalb des Idealismus auch eine Richtung auf das Mystische und Theosophische bestehen bleiben; die mächtige Anziehungskraft, welche die Religion auf viele Gemüter trotz aller Aufklärung ausübt, wird auch bis in das Gebiet der Philosophie hinein ihre Geltung behalten und danach die Systeme modifizieren, allein im Großen und Ganzen fällt diese Richtung noch unter den Begriff des Idealismus; und da, wo das Theosophische überragt, oder den Ausgangspunkt bildet, gehören solche Bildungen nicht mehr zur Philosophie.

Der Fortschritt wird meines Erachtens in Zukunft wesentlich darin liegen, daß die Systeme, selbst bei verschiedenen Ausgangspunkten, im  Inhalt  sich einander mehr nähern werden; daß in der Bildung und Verbindung der Begriffe mit größerer Strenge und Folgerichtigkeit verfahren werden wird und daß man sich mehr und mehr enthalten wird, den auf einer soliden Grundlage errichteten Bau mit luftigen Hypothesen auszuschmücken, in der Meinung, damit dem System erst die Krone aufzusetzen. Ich stütze diese Vermutungen darauf, daß die vor uns getane Arbeit großer Männer doch nicht vergeblich geschehen ist, selbst wenn wir ihren Resultaten nicht beistimmen; daß diese bereits nach vielen Richtungen vollzogene Durchdenkung des ganzen Gebiets, diese mannigfache Auflösung der Begriffe, diese Klarlegung der höchsten Kategorien, diese Erprobung aller möglichen Wege zur Wahrheit für die nachkommenden Geschlechter einen überaus wertvollen Besitz bildet, der nicht bloß ein historisches Interesse hat, sondern eine wahrhaft vorgetane Arbeit enthält, die jedem neu auftretenden Denken auf seinen neuen Wegen vor unzähligen Fehltritten bewahren kann. Dazu kommt, daß meines Erachtens die geistigen Fähigkeiten innerhalb des menschlichen Geschlechts sich in einem hohen Maß gesteigert haben und in einen viel größeren Teil der Bevölkerung zu einer, die Vorzeit weit übertreffenden Ausbildung gelangen. So wird sich in Zukunft nicht bloß extensiv, sondern auch intensiv die Kraft des Denkens, des Beobachtens steigern und auf die Qualität der Resultate eine vorteilhafte Wirkung äußern. So wie die Köpfe der Europäer seit der Zeit der Griechen schon an äußerem Umfang zugenommen haben, so hat offenbar auch das Gehirn zugenommen, und damit steht den geistigen Tätigkeiten jetzt auch ein vollkommeneres Organ zu Gebote. Es ist wohl noch nicht da gewesen, daß ein junger preußischer Offizier, wenige Jahre, nachdem er seinen Abschied wegen eines Fußleidens genommen hatte, ein System der Philosophie hat bieten können, was in seinen Erfolgen bei den Gelehrten, wie beim großen Publikum alles überbietet, was bisher in der Geschichte der Philosophie vorgekommen ist. Sollte dies nicht für die Steigerung der geistigen Vermögen in einem DARWINschen Sinn sprechen?

Ein letztes Moment für den Fortschritt der Philosophie in diesem Sinn ist die wachsende Annäherung der besonderen Wissenschaften an die Philosophie. Es besteht überhaupt zwischen beiden keine scharfe Grenze; die Philosophie beginnt da, wo die besonderen Wissenschaften mit ihrer Zurückführung des Einzelnen auf höhere Begriffe aufhören; sie sucht für diese obersten Begriffe und Sätze der besonderen Wissenschaften, welche für diese als Axiome und Voraussetzungen gelten, eine weitere Begründung in der Natur des Denkens und der Dinge. Nun zeigt sich, wenn man die Lehrbücher der besonderen Wissenschaften seit den letzten zwei Jahrhunderten miteinander vergleicht, hier eine merkwürdige Veränderung. Der allgemeine, einleitende Teil derselben hat von Generation zu Generation an Umfang zugenommen, und der besondere Teil hat sich verkürzt. Dies gilt sowohl für die Sprachlehren, wie für die Kompendien der Natur- und Rechtswissenschaften. Der Grund liegt einfach darin, daß die besonderen Wissenschaften ihre Grenzen in das Gebiet der allgemeinen Begriffe vorgeschoben haben und die Philosophie um so viel zurückgewichen ist. Das steigende Geschick hat nicht bloß die Regeln richtiger zu fassen vermocht und damit die Zahl der Ausnahmen und den besonderen Teil gemindert; man hat auch im Kreis der mit den besonderen Wissenschaften beschäftigten Gelehrten gelernt, die angrenzenden Begriffe der Philosophie zu verstehen und indem man erkennt, welcher große Gewinn aus der Hereinziehung dieser höheren Begriffe für die besonderen Wissenschaften abfließt, hat man nicht angestanden, diese Begriffe in die Darstellung derselben mit aufzunehmen.

Eine solche Wenung kann die Philosophie nur mit großer Freude begrüßen. Sie zeigt, daß die Zahl derer, welche sich mit Philosophie beschäftigen, viel größer ist, als man nach den Klagen der Philosophen von Profession annehmen möchte; aber vor allem kann diese Verbindung nur von den heilsamsten Folgen für beide Teile sein. Schon im Verlauf der letzten vier Jahrhunderte sind ein großer Teil der Begriffe, mit welchen die Philosophie operiert, ihr von den Förderern der besonderen Wissenschaften zugeführt worden. Die Lehren über den geistigen Ursprung der Sprachen verdankt die Philosophie den Sprachforschern; ebenso eine Menge jener in das Gebiet der Beziehungen fallenden Begriffe, für welche die Sprache mit wunderbarem Instinkt besondere Formen geschaffen hat. Die Begriffe der anziehenden und abstoßenden Kräfte, der Transformation, der Kraft, der Polarität, der Zurückführung der Wärme und des Lichts auf Bewegungen, der Überführung des Qualitativen in das Quantitative durch den Begriff des unendlich Kleinen, all diese philosophischen Begriffe sind von Naturforschern zunächst aufgestellt worden. Ähnliches gilt von der Rechtswissenschaft. Die griechischen Philosophen waren bis zum Verfall ihrer Wissenschaft nicht imstande die Grundbegriffe des Rechts bestimmt zu fassen, zu sondern und die höchsten in ihr herrschenden Grundsätze herauszuheben; ebensowenig die Grenze zwischen Recht und Moral zu ziehen. Wir verdanken dies lediglich dem Scharfsinn und der Divination [Weissagungskraft - wp] der Juristen des römischen Kaiserreichs, und wieviel auf diesem Gebiet noch die neueste Philosophie jenen Männern verdankt, kann man aus KANTs metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre und aus HEGELs Rechtsphilosophie ersehen, welche nur auf den von jenen Männern gefundenen Begriffen stehen und trotzdem für die Fortbildung der Rechtsphilosophie im Ganzen so wenig geleistet haben, daß man noch heute mit Freude zu den Schriften jener Römer zurückkehrt, in welchen die feinsten Begriffe und die gerechteste Würdigung aller zu beachtenden Faktoren in der faßlichsten Weise an einzelnen Fällen klargelegt werden.

Wenn so schon die Vergangenheit zeigt, wieviel die Philosophie den Männern der besonderen Wissenschaften verdankt, so wird sicherlich diese in der Neuzeit immer mehr steigende Richtung sowohl für den allgemeinen, an die Philosophie angrenzenden Teil der besonderen Wissenschaften wie für die Philosophie selbst von den besten Folgen begleitet sein. Diese Mithilfe wird allerdings die höchsten Gegensätze innerhalb des philosophischen Wissens nicht beseitigen, aber sie wird die Philosophie mit wichtigen neuen Begriffen bereichern und sie vor der Gefahr, ins Abstrakte und Formale oder Unklare zu verfallen, mehr und mehr bewahren.

Noch möchte ich zum Schluß eines Umstandes gedenken, der sich auf die von mir erwähnte Isoliertheit des schaffenden Philosophen bezieht. Eine der bedeutendsten Formen, in denen sich die geistige Entwicklung in der neueren Zeit vollzieht, ist der  mündliche Verkehr  der Männer der Wissenschaft, wie er sich namentlich in den zahlreichen Vereinen und Versammlungen entwickelt hat. Auch unsere Gesellschaft gehört ja dazu und ich glaube, alle geehrten Mitglieder werden mir darin beistimmen, daß unsere mündlichen Diskussionen wesentlich auf eine Läuterung und Schärfung ihrer philosophischen Begriffe und Gedanken hingewirkt haben, wenn auch die prinzipiellen Gegensätze geblieben sind. Der Wert eines Systems besteht ja nicht bloß in seinen obersten Prinzipien; er liegt ebensosehr in der Klarheit und Folgerichtigkeit der Ausführung und diese kann sicherlich durch solche mündliche Diskussionen unendlich mehr gefördert werden, wo Schlag auf Schlag fällt und der Kern nicht durch einen Wust von Phrasen und Nebendingen verhüllt werden kann, wie es gar leicht geschieht, wenn der Streit nur in Schriften geführt wird, die ein jeder isoliert bei seiner Studierlampe zustande bringt. In der mündlichen Form muß der Gegner Stich halten und wenn er auch nicht sofort nachgibt, so wirken solche Diskussionen in dem, der sich mit Lebhaftigkeit dabei beteiligt, Tage- und Wochenlang in der Stille fort und führen zu Resultaten, die man ohnedem schwerlich gefunden haben würde. In diesem mündlichen Verkehr kann allerdings ein neues System keine Ausführung erhalten; hier wird nach dem von mir früher Gesagten, die Zurückziehung des Denkens auf sich allein unbedingt notwendig bleiben; aber für die Prüfung des vollendeten Systems auf seine Wahrheit und Konsequenz ist diese mündliche Diskussion von unschätzbarem Wert und ich bin überzeugt, KANT, FICHTE, SCHELLING, HERBART und viele andere würden in ihren Grundansichten wesentliche Modifikationen aufgenommen haben, wenn sie anstatt die Gegenschriften halb ungelesen beiseite zu legen, Gelegenheit gehabt hätten, im mündlichen Streit ihre Ansichten aufrechtzuerhalten und nach allen Seiten hin zu verteidigen.

Dieser mündliche Verkehr ist in Wahrheit eine Errungenschaft der neueren Zeit; man irrt, wenn man meint, daß er schon bei den Griechen bestanden hat. Die Dialoge PLATOs könnten wohl dazu verleiten; allein wenn man sie näher betrachtet, so sieht man ihnen an, daß sie kein Bild einer wirklich stattgefundenen Diskussion unter Männern sind, die sich in ihrer Ausbildung und im Geschick der Verteidigung gleichstanden, bieten; sie sind vielmehr nur eine künstlich gemachte Gesprächsform, welche zwar vortrefflich dazu dient, die Ansichten PLATOs in einer deutlichen Weise darzustellen, aber nicht die Wahrheit entgegenstehender Systeme aneinander zu messen. Deshalb sind die Gegner des SOKRATES, welcher hier die Lehre PLATOs vertritt, in der Regel nur Schüler und Anfänger und selbst wo bedeutendere Personen auftreten, sind es nur Sophisten, welche bloß herbeigeholt werden, um an ihnen die Wahrheit der platonischen Lehre darzulegen. Die Schwächen derselben werden von keinem Gegner aufgedeckt, obgleich sie schon damals von den Sophisten mit großem Geschick geltend gemacht wurden. Selbst die Form des Gesprächs erhält sich nur am Anfang der meisten Dialoge; im Fortgang der Sache tritt sie mehr und mehr zurück und geht in eine zusammenhängendere Darstellung platonischer Ansichten über, zu welcher die andern höchsten dann und wann  Ja  sagen. Ähnlich verhält es sich mit den von XENOPHON überlieferten Gesprächen des echten SOKRATES; es sind Jünglinge oder einfache Bürger, mit denen SOKRATES die Gespräche beginn, die ihm an philosophischer Bildung und Streitgewandtheit nicht im mindesten gleich stehen und die er nur ausfrägt, um aus ihren, der gewöhnlichen Meinung entstammenden Antworten das Verkehrte derselben darzutun, oder das Material zur Begründung seiner eigenen Lehre zu entnehmen. Auch in den Gärten der Akademie und des Lykeions, sowie in den späteren Philosophenschulen wurde offenbar nicht in der Weise gleichgeschickter Anhänger entgegengesetzter Systeme verhandelt, sondern der Vortrag des Lehrers oder Vorstandes der Schule wird, wie auf den heutigen Universitäten, überwogen haben. Wenn auch die Schüler hie und da eine Bemerkung haben einfließen lassen, so war sie sicherlich noch unbedeutender als die, welche in den platonischen Dialogen der Hauptperson entgegengestellt werden.

Die philosophische Diskussion, von verschiedenen an Kenntnis und Gewandtheit sich gleichstehenden Personen kann nicht aus der Erfindung eines Einzelnen hervorgehen; sie bedarf  realer  Gegenkräfte und sie erscheint dann als eine Einrichtung der neueren Zeit. Als solche wird sie unzweifelhaft erheblich zu jenem von mir angedeuteten Fortschritt der Philosophie beitragen. Je mehr sich diese Form verbreitet und je mehr die dabei Beteiligten nicht bloß auf die Entwicklung ihrer eigenen Ansichten ausgehen, sondern sich auch in die Weise des Denkens ihrer Gegner versetzen und deren Begründungen zergliedern, umso mehr werden die Eigentümlichkeiten der Gegensätze beiderseits erkannt und damit volle Klarheit, wenn auch keine Vereinigung der Gegensätze für beide Teile erreicht werden. Wenn die durch den Druck veröffentlichten Verhandlungen unserer Gesellschaft, wie wir hören, nicht bloß in Deutschland, sondern auch in Paris und in Neapel mit Interesse gelesen werden, so dürfte dies wesentlich in dieser möglichst getreu wiedergegebenen Diskussion der beschriebenen Art seinen Grund haben.

So vereinigt die Gegenwart mannigfache Mittel, welche der Vergangenheit fehlten, und welche im Dienst der Philosophie verwendet, zu einer Klärung und Schärfung der Ansichten und Begriffe führen werden, wie sie bisher nicht erreicht wurden; aber die prinzipiellen Gegensätze werden allerdings dadurch nicht aufgehoben werden. Im Grunde wäre ein solches Zusammenfließen aller Gegensätze in eine gleiche Überzeugung und ein einheitliches System auch nicht zu wünschen. Das eigene Gefühl sagt wohl einem Jeden, daß dies eher der Tod, als das gesteigerte Leben der Philosophie sein würde. Für sie wird die Wahrheit stets ein Problem bleiben und jede vermeintliche Erreichung derselben wird von ihr selbst zu einem bloßen Ruhepunkt auf dem Weg zur Wahrheit herabgesetzt werden.

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An diesen Vortrag knüpfte sich eine ziemlich lebhafte Diskussion, an welcher beinahe alle Anwesenden teils zustimmend, teils mißbilligend teilnahmen. Der Redaktionskommission ist jedoch von keinem der Opponenten ein Manuskript zugegangen, so daß nach deren Grundsätzen keine Mitteilung darüber geschehen kann. Nur Herr Professor MAERCKER hat das nachfolgende Gedicht mit dem Bemerken eingesandt, daß der Vortrag in ihm durch das Streben der verschiedensten Kräfte nach den höchsten Zielen einen Nachklang in den hier folgenden Zeilen gefunden:

               Egalité.
    Gleich wollt ihr sein? Es sei darum,
    Wenn ihr euch selber wollt betrügen:
    Das Grade macht ihr niemals krumm,
    Und dem Gesetz müßt ihr euch fügen.

    Ihr macht die Null zu eurem Gott,
    In ihr erkennt ihr euch als Gleiche.
    So treibt ihr mit dem Höchsten Spott;
    Als Nullen baut ihr seine Reiche.

    Denn Gleichheit ist die Nullität,
    Ist Faulheit, tötet Trieb und Streben.
    Ihr Gleichheitstümler, merkt's und seht,
    Nur Sein und Nicht-Sein schafft das Leben.
LITERATUR stopper Julius von Kirchmann, Über den Streit der Systeme innerhalb der Philosophie, Verhandlungen der Philosophischen Gesellschaft zu Berlin, Heft 4, Leipzig 1876