ra-2ra-1 SimmelSchelerJ. KaftanH. StaepsR. Geijer    
 
FRITZ KLINGLER
Sollen und Wert
als Grundbegriffe der Ethik

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"Indem die Erkenntnistheorie den Seinszusammenhang, den Gegenstand der Erkenntnis, als Sollenszusammenhang auffaßt, stellt sie das Sollen als letzte transzendente Voraussetzung für jedes Urteilen absolut sicher. So gewiß es Wahrheit gibt, so gewiß gibt es sein Sollen, das eben in jener Wahrheit anerkannt wird. Und indem die Erkenntnistheoretiker den theoretischen Zweifel soweit treiben, bis sie ein absolut Unbezweifelbares - weil selbst Voraussetzung allen Zweifels - gefunden haben, fließt auf dieses, das Sollen, die ganze Kraft der Überzeugung und des Beweises über."

"Es wird also alles davon abhängen, ob die Ethik tatsächlich den Grundwert, von dem alle übrigen, auch die logischen und ästhetischen, abhängen, gefunden oder zu finden Hoffnung hat."


Einleitung

Es scheint psychologisch notwendig zu sein, daß der Menschengeist, wenn sich die Grenzen seines Reiches erweitern, zügellos, als hätte er allen Halt verloren, vorwärts stürmt, bis sich sein blinder Rausch an den neuen Schranken bricht und sein selbstbetäubendes Brausen abebbt und sich legt. Dann kommt er wieder zur Besinnung und begreift, daß die junge Flut nur eine neue Bewegung des alten Ozeans war, daß sie ihre Gesetze, die Gesetze des alten Körpers, schon in sich trug, bevor sie ihm als neues Glied entwuchs. So ging es der griechischen Sophistik, die mit einer neuen Welt fertig werden mußte und so geht es dem modernen Denken, das aus der Vielheit des Individuellen und bloßer Meinungen ein System des Notwendign und Allgemeingültig-Ewigen herausstellen möchte. Als die griechischen Kleinwelt im Laufe des 5. Jahrhunderts ihren Horizont um die östliche Hemisphäre erweitert hatte, da rauschte das früher so selbstherrisch ruhig schreitende Denken der Griechen plötzlich in den trüben Wogen der Sophistik vorwärts und als sich, von der Renaissance anhebend, die ganze Natur - man könnte sagen die westliche Hemisphäre der unbeschränkten Möglichkeiten - dem Geist erschloß, da glaubte er wieder, es geben keine Grenzen mehr. In der alten Sophistik sah man, daß wahr, gut und schön bei jedem Volk ein anderes war; und dem einzelnen Geist war es eine eitel satanische Freude, sich heute hier und morgen dort einzufühlen, heute  dafür  und morgen  dagegen  zu sprechen. Dieser selbe Zwiespalt liegt in der Moderne, nur hat er sich insofern vertieft und raffiniert, als er entschiedener durch systematische Reflexion ins Individuum hinabgestiegen ist und dort notwendig sitzen muß, weil er ja durch sogenannte psychologische Gesetze bedingt, garantiert und geschützt ist. Deshalb ist die moderne Sophistik vielleicht gefährlicher, jedenfalls schwerer zu überwinden. SOKRATES brauchte nur den  Begriff  zu entdecken, so war der Geist wieder beruhigt, denn er glaubte in ihm etwas Allgemeingültiges, Ewiges gefunden zu haben, sodaß er wieder  wußte,  was er  tun  sollte. Damit, daß der Moderne den alten Traum seiner Privilegien und seine vermeintliche Ausnahmestellung aufgab und als Gleicher unter Gleichen in die Natur selbst hineintrat, erschloß sich ihm zwar das Universum, das - wie er glaubte und heute noch in Mengen glaubt - ohne seine Begriffe geht. Da wurde das Denken zum naiven Kind, das haltlos und armselig schwankend die Arme ausstreckt und sich freut, wenn es irgendetwas erhascht, denn es könnte ja noch viel schlimmer sein: daß es mit seinen Begriffen überhaupt nichts träfe. Jedenfalls sind sie nur ganz unzulängliche, die Wahrheit nie ganz fassende Werkzeuge des Geistes. Sie gehören nur der Psyche an, außerhalb deren die Wahrheit steht. Die Gedanken kommen, entfalten sich und vergehen wieder mit ihr. Dieses Bedingtsein durch die individuelle Psyche und das Gefärbtsein nach ihr ist die gefährliche Lehre des Psychologismus. Aus ihr muß folgen, daß die sogenannten ewigen Wahrheiten, die wir in den obersten Begriffen zu fassen glauben, keine feste Eindeutigkeit für sich in Anspruch nehmen können, daß sie nur temporär heute so und morgen so, hier und dort gelten, d. i. die Konsequenz: der Relativismus. Diese entwurzelnde Entdeckung des Modernen, daß seine Begriffe sich biegen, daß sie nicht parallel sind denen seines Freundes, nicht auf denselben Punkt im Unendlichen deuten, daß  er  das Wahre in einem Begriff zu sehen glaubt und der  andere  das Falsche, dies sucht man durch seichten Relativismus und Psychologismus zu interpretieren: ja es  müsse  einem jeden so ergehen, kraft seiner Geburt, seines Milieus, seiner Zeit etc. Dies ist der trübe Strom der modernen Sophistik, nicht allein der Philosophie, sondern des Lebens. Wenn man so den Widerspruch, der früher als offener Irrtum von Meinungen und Parteien frei dastand, durch Introspektive in den Begriff selbst hineinverfolgt und ihn dort wurzeln sieht, so scheint in strengerem Sinn als bei den Alten der Weisheit letzter Schluß der zu sein: des Urteils sich enthalten.

Auch wenn man sich so retten wollte, daß man sich in den Strom des absoluten Werdens stürzt und gleichsam durch die verschiedenen Meinungen der Begriffe wie durch einzelne Bogen hindurchschwimmt und so unter ihnen einen kontinuierlichen Fluß der Wahrheit hätte, so müßte man einmal hoffnungslos erschrecken, sobald man nämlich sähe, daß dieser metaphysische Strom, der als Intuition die Welt der Dinge, ihr innerstes Wesen, durchfluten und widerspiegeln will, zum uferlosen Meer wird. Wenn Töne und "sprechende" Linien die Wahrheit besser treffen als der klar und scharf richtunggebende Begriff, dann ist alles  eine  Harmonie, - allerdings - aber eine ohne Leitsätze. Die Neuromantik sollte sich doch vor diesem Abweg der alten in acht nehmen. Nur eine nicht zu Ende gedachte Introspektive kann bei solchen Stimmungen aufhören. Es zeigt sich bald, daß sie nur dann etwas Wahres sagen, wenn sie zu den Begriffen kristallisieren. Daß diese wieder spaltbar sind, ist freilich wahr, aber das kann nicht schrecken, denn es ist kein Zerfall, sondern jedes Spaltungsstück hat seine eigene Form und Bedeutung, d. h. seine Wahrheit oder in den Worten der Philosophie gesagt: das  Gemeinte  - und das kann eine Vielheit von Intentionen in einem weiten, beweglichen Begriff sein - muß stets Wahrheit haben. Dieses Gemeinte ist der Sinn eines Begriffs. Und der  Sinn  des Begriffs ist demnach eindeutig und bleibt bestehen, auch wenn seine psychische Erzeugung und Färbng die allermannigfaltigste sein mag. Dies ist das Wesen der Geistigkeit überhaupt, der Vernunft, Inhalte zu haben, die sich nach Richtlinien wie  wahr, gut, schön  orientieren, in dem Sinne, daß das so Bezeichnete überzeitliche, ewige Geltung hat und alles ihm nicht Adäquate als falsch, schlecht, häßlich von ihm abfällt. Die Einsicht in diesen ewigen Sinn unseres Denkens, der ganz unabhängig davon ist, ob ihn nun dieser oder jener auch wirklich denkt, - damit daß er Sinne ist, ist er ein für allemal allgemeingültig gedacht - diese Einsicht allein kann den Psychologismus und Relativismus, die moderne Sophistik, überwinden. Wenn man erkannt hat, daß so das Wesen unserer Geistigkeit a priori und absolut feststeht, im kritisch oder transzendental idealistischen Sinne, so ist damit auch gesagt, daß es eine ewige Gesetzlichkeit, Normen und ein unbedingtes Sollen gibt. Nun scheint unserer heutigen Philosophie die Geltung des Sollens am besten begreiflich und deshalb am sichersten begründet, wenn man es durch  Werte  bedingt denkt, wenn man den Sollensbegriff auf den Wertbegriff fundiert. Die ganzen Gesetze der Vernunft, dieser ewige Normbestand scheint am besten in seiner überzeitlichen Selbstherrlichkeit charakterisiert und herausgestellt, wenn man ihn in einem System von Werten darstellt. Es scheint diesem Fortgang vom Sollens- zum Wertbegriff eine innere Notwendigkeit einzuwohnen; denn es ist die Wendung von der Pflichten- zur Güterlehre, die sich von KANT, FICHTE zu SCHLEIERMACHER, HEGEL vollzog und die auch in der neukantischen Bewegung sich wieder geltend macht, besonders deutlich bei RICKERT, in dessen "Zwei Wege der Erkenntnistheorie" der Wertbegriff - gegenüber den früheren Darstellungen - immer sichtbarer in den Mittelpunkt tritt. Nur eins scheinen diese werttheoretischen Erörterungen, besonders die psychologisch orientierten, zu übersehen, daß der Wertbegriff selbst ein praktischer und deshalb durchaus ethischer Begriff ist - der Grundbegriff der Ethik - und daß deshalb eine Werttheorie nur auf der Grundlage der Ethik möglich ist,  der  Ethik, die unser Handeln überhaupt als Ganzes betrachtet und bestimmt und deshalb Normwissenschaft schlechthin ist.

Diese Probleme sollen Gegenstand der folgenden Erörterungen.



Erster Teil
Sollen und Wert
als Grundbegriffe der Ethik

Wenn man die verschiedenen Ethiken daraufhin vergleicht, wie sie das Gebiet, das sie zu behandeln gedenken, eingrenzen, so sieht man sich vor der eigenartigen Tatsache, daß einmal nichts klarer umrissen scheint als dieses Gebiet, daß dann aber bei näherem Zusehen noch keine irgend genügend bestimmte Aufgabe gestellt ist. Es scheint selbstverständlich und wird deshalb kaum einer Erörterung unterzogen, daß ihr Gegenstand das menschliche Handeln und ihre Aufgabe seine Normierung ist.

Man sieht jedoch ohne weiteres, daß hier zwei ganz vage Begriffe vorliegen, unbestimmter als es auch die lebhafteste Überzeugung davon, daß die Definition einer Wissenschaft mit ihrer Entwicklung sich kläre und erst nach deren Vollendung eindeutig bestimmt werden könne, gestattet. Zudem wird kaum sonstwo die Definition oder wenigstens die ihr zugrunde liegende Auffassung, die Entwicklung der Wissenschaft selbst in dem Maß beeinflussen können als in der Ethik. Wenn man z. B. das  "menschliche"  Handeln besonders betont, so gibt man der Wissenschaft, die sich damit beschäftigt, eine so ausgesprochen empirisch anthropologische Wendung, daß man daneben die Möglichkeit überzeitlicher Normen einer ewigen Sittlichkeit von vornherein ausschließt.

Der Begriff der Handlung ist so unbestimmt, daß er der größten Erweiterung und Vertiefung fähig ist, vom äußerlichsten Tun bis zu den geheimsten geistigen Regungen, die in feinst differentzierter Gesinnung und tiefer Verantwortlichkeit Normen verlangen. Von der Fassung dieses Begriffs wird die Bedeutung jeder Ethik so wesentlich abhängen, daß man ihn mit Recht das Hauptproblem der Ethik genannt hat. (1)

Wie ist ferner die Aufgabe der Normierung zu verstehen? Soll der Philosoph Gesetzgeber sein, wie es NIETZSCHE verlangt? Soll die Ethik bestimmte Vorschriften geben: handle in diesem Fall so und so? Oder soll sie auf dem Weg der Abstraktion hinter den Handlungen ein System von Prinzipien konstruieren - aus der Empirie oder rein apriori -, das dann normativ zu wenden ist; oder soll sie ihr Hauptgeschäft in der Erörterung der theoretischen Wahrheiten sehen, die in jenen Prinzipien vorliegen?

Alle diese verschiedenen Möglichkeiten der Auffassung und Bestimmung des Gegenstandes der Ethik scheinen schließlich nur auf den weiten gemeinsamen Ausdruck gebracht werden zu können, daß sie von - vorläufig nur vage im Begriff der Handlung charakterisierten - "ethisch" genannten  Sollens erlebnissen handeln. - In der Tatsache, daß die meisten Darstellungen der Ethik mit einer Eröterung über das Sollen beginnen, mag man das bestätigt finden. -

Zwei Einwendungen scheinen jedoch gegen diese Begründung der Ethik möglich.

Man könnte einwenden, daß diese Übereinstimmung nur in Worten bestehe, indem man hier mit dem Ausdruck "sollen" ganz verschiedene Erlebnisse meine. Die verschiedensten Auffassungen der Ethik sehe man hier schon auseinandergehen. So scheiden sich vor allem zwei Hauptrichtungen, je nachdem man das "Müssen" - Gebotsethiken - oder das "Streben", - Güterethiken - das im Sollen liegt, betont. Innerhalb dieser Auffassungen spalten sich wieder die verschiedensten Richtungen, sodaß man sich in Wirklichkeit auf kein gemeinsames Erlebnis berufen kann. Man wird solchen Einwendungen zugeben müssen, daß allerdings je nach der stärkeren Betonung des Müssens oder des Strebens zwei verschiedene Arten des Erlebnisses charakterisiert scheinen, aber es ist nicht ausgeschlossen, daß es nur zwei Seiten eines Erlebnisses sind. Wie dem Müssen und dem Streben ein Zwang, eine Notwendigkeit zugrunde liegt, die nur mehr äußerlich oder innerlich gewendet ist und entsprechend die Unterscheidung zwischen Gebots- und Gütertheorien keine absolute, sondern nur durch eine Betonung des einen oder anderen Momentes entstanden ist, so könnte dem Sollen wohl ein allen gemeinsames Erlebnis zugrunde liegen. Ja, man könnte hinsichtlich dieses Zwangs- oder Notwendigkeitserlebnisses auf neuere psychologische Untersuchungen hinweisen, die hierin die letzte, von allen gleich erlebte, Grundlage sowohl der logischen, als auch der ethischen Tatsachen sehen. (2) - Doch wie dem auch sei, schon darin, daß die Ethik auf den Ausdruck "sollen" nicht verzichten zu können scheint und alle Ausdrücke, die ihn psychologisch erklärend zu umschreiben suchen, seinem Sinn nie völlig Genüge tun, kann man einen starken Hinweis auf ein eigen Einheitliches sehen, welches erst das wahre Wesen der Ethik ausmacht. Sieht man jedoch genau zu, so läuft der Einwand auf die empiristische Behauptung hinaus, daß in jedem das Sollenserlebnis anders geartet, individuell gefärbt ist. Das mag psychologisch zweifellos richtig sein; aber ebenso gewiß ist, daß es trotzdem für alle  gilt  und sein Sinn stets derselbe bleibt, wenn man ihm auch die verschiedensten psychologischen Interpretationen gibt.

Schwerer scheint folgender Einwand zu widerlegen: es ist unmöglich zu beweisen, daß wir überhaupt sollen und damit ist die Unbegründbarkeit der Ethik für immer erwiesen. Zunächst ist das Mißverständnis abzuweisen, daß das Argument an ein irgendwie inhaltlich bestimmtes Sollen denke. Es meint rein formal das Sollen überhaupt und man darf nicht die in der Ethik naheliegende Äquivokation [Doppelsinn - wp] begehen und an die Notwendigkeit zu handeln - im gewöhnlichen Sinne des Wortes - denken, was schon eine inhaltliche Bestimmung bedeutete. Daß eine quietistische Philosophie in diesem Sinne mit Recht behaupten könnte: es ist unmöglich zu beweisen, daß wir "sollen", ist unbestreitbar. Damit wäre aber nicht Unmöglichkeit einer Ethik bewiesen, sondern im Gegenteil schon eine ganze Ethik vorausgesetzt, nämlich eine Pflichtenlehre, die das Nichthandeln zum Gebot macht. Vielmehr ist der Sinn, in dem das Argument für eine Begründung der Ethik allein von Bedeutung sein kann, jener weiteste Begriff des Sollens, der in der Erkenntnistheorie seine Stelle hat und als Korrelat zu dem des Seins steht. Es ist die Frage nach der Beweisbarkeit von Normen überhaupt; denn wenn man es für unmöglich hält zu beweisen, daß wir überhaupt sollen, so leugnet man damit nicht nur die Beweisbarkeit von ethischen, sondern von Normen allgemein. Demgegenüber bietet die Erkenntnistheorie unmittelbar eine Widerlegung. Indem sie den Seinszusammenhang, den Gegenstand der Erkenntnis, als Sollenszusammenhang auffaßt, stellt sie das Sollen als letzte transzendente Voraussetzung für jedes Urteilen absolut sicher. So gewiß es Wahrheit gibt, so gewiß gibt es sein Sollen, das eben in jener Wahrheit anerkannt wird. Und indem die Erkenntnistheoretiker den theoretischen Zweifel soweit treiben, bis sie ein absolut Unbezweifelbares - weil selbst Voraussetzung allen Zweifels - gefunden haben, fließt auf dieses, das Sollen, die ganze Kraft der Überzeugung und des Beweises über. Man kann deshalb den ersten Teil des Einwandes dahin umkehren: es ist nichts sicherer als daß wir sollen; denn schon jede Aussage, die auf Wahrheit Anspruch macht, setzt ein Sollen voraus.

Die Frage ist nun jedoch, ob mit diesem logischen Sollen das ethische begründet werden kann und damit die Begründbarkeit der Ethik nachgewiesen ist. Allerdings dürfte man mit demselben Recht, mit dem man folgert: es ist unmöglich zu beweisen, daß wir überhaupt sollen,  folglich  ist die Unbegründbarkeit der Ethik erwiesen, jetzt folgern: es ist absolut sicher, daß wir sollen,  folglich  ist auch die Begründbarkeit der Ethik dargetan. Es fragt sich jedoch, ob jener Schluß zu Recht besteht. Offenbar ja, wenn die Ethik das Sollen im weitesten, oben definierten Sinn umfaßt, wo es, allgemein gesagt, nur die Notwendigkeit, sich in bestimmter Art zu verhalten, bedeutet. Dann wäre der ganze skeptische Einwand entkräftet; denn diese Notwendigkeit tritt uns in der Urteilsnotwendigkeit in strikt beweisbarer Form entgegen, insofern sie die Voraussetzung jedes Beweises ist. Jeder Beweis stützt sich auf Urteile und somit ist kein sicherer Beweis der Notwendigkeit denkbar als wenn seine Teile selbst auf ihr ruhen. Die Ethik wäre alsdann insoweit sicher gestellt, als die Behauptung ihrer Unbegründbarkeit dadurch widerlegt würde, daß ein Teil des Sollens, das sie umfaßt, gegen jeden Zweifel erwiesen ist. Sie wäre jedoch insofern noch unbegründet, als ein Schluß von der Begründbarkeit des Teils auf die des ganzen unstatthaft ist. Diese Unsicherheit verliert aber an Gewicht gegenüber der Möglichkeit einer Begründung, wenn man bedenkt, daß eine vollkommene Widerlegung des Skeptizismus letzten Endes nur in der Logik möglich ist. Es ist deshalb dem Zurückgehen vom ethischen Sollen auf das logische mehr Wert und prinzipiellere Bedeutung beizumessen, als das nur unvollständige Resultat unmittelbar zu fordern scheint. Ist dadurch doch nicht nur die Behauptung der Unbegründbarkeit der Ethik vollkommen widerlegt, sondern auch ein Teil derselben sicher begründet - allerdings immer noch unter der oben gemachten Voraussetzung, daß das ethische Sollen jenen weitesten Sinn hat.

Der skeptische Einwand ist in seiner unbestimmten Allgemeinheit widerlegt, aber durch die Frage, die er hervorrief: ob dieser weiteste Sollensbegriff sich mit dem Begriff des ethischen Sollens deckt, verspricht seine Erörterung für die Ethik fruchtbar zu werden.

Ist alles Sollen letzten Endes ethisches Sollen?

Wenn man sagt, "die Frage der Ethik sei, ob irgendeine Theorie uns zu gleicher Zeit den Bestand dessen, was ethisch genannt wird, erklären und uns sagen kann, wie wir selber unser Handeln einzurichten hätten", (3) so übersieht man anscheinend die grundlegende Aufgabe, die vorher zu lösen ist; "den Bestand dessen, was ethisch genannt wid" vor allem einmal zu bestimmen, denn es ist durchaus nicht selbstverständlich, was darunter zu begreifen ist. Anders gerichtete Ethiken haben deshalb gesagt: "Die Ethik kann nichts anderes anstreben, als die methodische Bestimmung des Begriffs vom Sittlichen." (4)

Diese abweichenden Bestimmungen der Aufgabe der Ethik sind charakteristisch für zwei im Grunde sich widerstreitende Auffassungsweisen. Überhaupt stünden sich die verschiedenen ethischen Standpunkte, konsequent durchgeführt, viel antagonistischer gegenüber als ihre tatsächliche praktische Ausführung dies zutage treten läßt. so müssen der Auffassung, die überzeugt ist, daß auch der "gemeinste Menschenverstand" weiß, was "sittlich" ist, (5) Erörterungen, wie die vorhergehenden, die von der Begründbarkeit der Ethik, von der Möglichkeit eines ethischen Sollens handeln, höchst unnütz erscheinen. Wie wenig selbstverständlich jedoch diese Annahme ist, zeigt andererseits die Tatsache, daß man diese Voraussetzung der kantischen Ethik stets wieder angegriffen hat. Soviel ist jedoch klar, daß die Philosophie, wenn sie die Voraussetzungen der übrigen Wissenschaften mit zum Gegenstand ihrer kritischen Besinnungen macht, selbst möglichst voraussetzungslos verfahren muß. Und insofern wird sich die wissenschaftliche Ethik erkenntnistheoretischer und logischer Fundierungen bedienen müssen. Wenn sie ein bestimmt geartetes Sollen zu ihrem Gegenstand hat, so wird die nächste Aufgabe sein, dieses zu bestimmen und dadurch eine Definition von "ethisch" zu gewinnen. Meist geschieht das so, daß man irgendein Prinzip, das jenes Sollen fordert, annimmt - sei es, daß man es unbewußt als allgemeingültig voraussetzt, sei es, daß man sich ausdrücklich auf seine Geltung besinnt - und das ihm Gemäße als "sittlich", was ihm zuwider, aks "unsittlich" bezeichnet. So wird im gewöhnlichen Leben das Sollen von einer Mischung religiöser und gesellschaftlicher Grundsätze abhängig gedacht und danach ein vager Begriff von sittlich, bzw. unsittlich gebildet. Hier ist ethisch jedoch schon im engeren Sinne von "ethisch gut" gebraucht und das setzt natürlich schon einen Maßstab voraus. Aber ebenso wie dem engeren Sinn von "logisch" - gleich "logisch richtig", - der weitere von "logisch", gleich "auf das urteilende Denken überhaupt bezüglich" gegenübersteht, ist dem engeren Sinn von "ethisch", gleich "ethisch richtig oder gut", seine weitere Bedeutung voranzustellen. Zunächst bietet sich hier ganz entsprechend die Definition: ethisch, gleich "auf das menschliche Handeln überhaupt bezüglich", an. Bei dieser vorläufigen Umgrenzung treffen wir wieder auf die schon angedeuteten Schwierigkeiten im Begriff der Handlung: auch jedes urteilende und ebenso jedes ästhetische Denken (6) kann als ein menschliches Handeln aufgefaßt werden und würde insofern der Ethik angehören. Der Umfang des Begriffes "ethisch" erführe dadurch dem gewöhnlichen Gebraucht gegenüber eine so umfassende Erweiterung, daß er ins Unbestimmte zu zerfließen droht. Zunächst scheint man auch der rein in sich ruhenden Geltung logischer Normen Gewalt anzutun, wenn man sie irgendwie der Ethik unterstellen will; andererseits scheint auch der Gedanke berechtigt, der eine einheitliche Orientierung - auch all unseres  psychischen  Tuns - von  einer  Norm aus verlangt. Wir stehen wieder vor der Frage: Ist alles Sollen letzten Endes ein ethisches Sollen? oder in methodologischer Wendung: "Ist die ethische Norm die Grundnorm für alle übrigen?"

Jeder normative Satz setzt eine Wertung voraus, mit deren Vollzug unmittelbar gegeben ist, daß alles, was diesen Wert fördert, sein soll und was gegen ihn ist, nicht sein soll. Eine Grundnorm ist nun diejenige, welche - wie HUSSERL definiert (7) - angibt, "nach welchem Grundmaß (Grundwert) alle Normierung zu vollziehen ist". Während diese Definition aber nur die Grundnorm für eine Gruppe "zusammengehöriger normativer Sätze", die eine normative Disziplin ausmachen, meint, ist nun die Frage, ob sie nicht im strengen Sinn der Worte für die Ethik gilt, sodaß diese das Grundmaß abgäbe, nach dem  alle  Normierung überhaupt zu vollziehen wäre. Dieser Anspruch läßt sich nicht schlechthin abweisen; vielmehr könnte eine ähnliche Meinung ungeklärten Äußerungen wie: die Logik ist die Ethik des Denkens oder überhaupt jeder Auffassung, die in der Ethik das Muster aller Normwissenschaft sieht, zugrunde liegen.

Es wird also alles davon abhängen, ob die Ethik tatsächlich den Grundwert, von dem alle übrigen, auch die logischen und ästhetischen, abhängen, gefunden oder zu finden Hoffnung hat.

Mit der Bestimmung dieses Wertes und den Anforderungen, die an ihn zu stellen sind, stößt man auf die eigentlichen internen Schwierigkeiten der Ethik, um deren Lösung man sich viel bemüht hat. Sie sind die toten Punkte, auf denen auch die scharfsinnigsten und gründlichsten Denker stehen blieben. Und daher kommt der Eindruck der Resultatlosigkeit, dessen man sich den ethischen Erörterungen gegenüber nicht erwehren kann. Es sind die Fragen, ob es ein allgemeingültiges Moralprinzip gibt, ob es nur formal oder auch inhaltlich bestimmbar sei, - und dann die eigentliche Festsetzung desselben: welchem Wert nun die tatsächliche Bedeutung des "höchsten Gutes" zukommt.

Wenn dieser der von uns gesuchte Grundwert sein soll, so wird er der Forderung der Allgemeingültigkeit unbedingt genügen müssen, denn die von ihm abhängigen logischen Werte verlangen das schon. Die absolut notwendige Gültigkeit, die dem Wahrheitswert eigen ist, wird mindestens in gleichem Maße auch ihm zukommen müssen. Eine gewisse Allgemeingültigkeit, aber in einem anderen Sinn als die hier in Frage stehende wurde vorher in der Begründung nachgewiesen. Dort handelt es sich darum, ob es allgemein gilt, daß wir ein ethisches Sollen erleben, d. h. ob wir alle  tatsächlich  ein solches erleben. Abgelehnt wurde als unmöglicher Einwand die Frage, ob es als psychische Tatsache  bei  allen dasselbe ist, unberührt blieb jene andere, ob dieses Sollen  für  alle dasselbe sei, d. h. ob ein bestimmter Wert, der dieser Norm zugrunde liegt, allgemein gilt. Mit anderen Worten: dort wurde erwiesen, daß wir uns überhaupt wertend verhalten müssen, hier fragt es sich, ob alle denselben Wert anerkennen müssen.

Die zweite oben angeführte Streitfrage: ob der Grundwert formaler oder inhaltlicher Natur sei, scheint verwickelter als das entsprechende Problem in der Logik und der Erkenntnistheorie, wo sich aus dem Wahrheitswert klar die beiden rein formalen Normen sich ergeben: erstens gewissen Denkgesetzen und zweitens der Forderung eines vorliegenden Objekts, das in bestimmter Weise gedacht sein will, zu gehorchen. Die inhaltliche Fülle kommt hier sichtbar durch das transzendente Wesen des Gegenstandes der Erkenntnis dazu. Nun hat man dieses aber auch rein formal als ein Sollen definiert und gewiß ist, was wir von ihm aussagen können, nichts weiter als dieses Symbol; denn wo wir mit unserem Denken angreifen, erfassen wir nicht die Dinge selbst, sondern werfen nur ein Netz von Formen über sie. Während man sich in der Logik mit der Wunderbarkeit, daß man in diesem Formalen auch ein inhaltlich bestimmtes Empirisches zu erfassen vermag, abgefunden hat; oder vielmehr, besonders am Vorbild der Mathematik sicher gemacht, sie nicht mehr sieht, scheint in der Ethik diese Kluf zwischen Formalem und Inhaltlichem unüberwindlich auseinander zu klaffen. Formale Regeln und Kunstgriffe mögen allenfalls genügen, um ein schlechthin Transzendentes in denkender Bearbeitung zu bewältigen - und die genetischen Erklärungen meinen das ja auch zu verstehen -; die Ethik jedoch, die unser Handeln überhaupt regeln will und zu diesem Zweck nach einem höchsten Wert sucht, an die sie unser ganzes Ich mißt und danach unser eigentliches Wesen beurteilt, sie scheint sich bei einem bloß formalen Wert nicht beruhigen zu können: denn unsere Handlungen sind als Akte ein reales, inhaltlich bestimmtes Einzigartiges, das nur an einem inhaltlich bestimmten Wert gemessen werden kann. Und so ist auch die allgemeine Überzeugung wohl die, daß ein formales Moralprinzip nicht genügt, ein inhaltliches allerdings noch nicht gefunden ist.

Hier sollte auf diese Schwierigkeiten nur hingewiesen werden, weil sie von vornherein eine Bestimmung des Grundwertes nach der einen oder anderen Seite hin beeinflussen. Je nachdem bei einem Philosophen die Frage der Allgemeingültigkeit oder die nach dem formalen oder inhaltlichen Charakter des Moralprinzipgs im Vordergrund seiner Gedankengänge steht, wird der höchste Wert von diesem Gesichtspunkt aus gesucht werden und deshalb dieser Anforderung in vollkommenerem Maß als der anderen genügen. KANTs Ethik zeigt das in seltener Deutlichkeit. In der ersten Formulierung seines Moralprinzips ist der Wert, der von ihm gefordert wird, kein anderer als die Allgemeingültigkeit schlechthin; denn wenn jede "Maxime einer Handlung" oder jede Handlung in einem weiteren Sinn danach beurteilt werden soll, ob sie zum allgemeinen Gesetz tauglich sei, so ist eben diese allgemeingültige Gesetzlichkeit - oder diese Tautologie durch  einen  Ausdruck ersetzt: - die  Allgemeingültigkeit  der höchste Wert.

Nun aber entbehrt aber dieser Wert all dessen, was man gemeinhein von einem obersten Wert erwartet: der unmittelbaren Evidenz, mit der seine in sich ruhende Geltung als Ziel und Zweck unseres Handelns vor uns hintritt; denn es wird kaum jemand in der Allgemeingültigkeit als solcher den letzten Zweck erblicken können. Es scheint, als könne diese Bedeutung nur ein inhaltlich bestimmter Wert haben, denn das ist es doch, was man immer wieder von der Ethik fordert: zeige mir, wie ich handeln soll, um gut zu handeln, d. h. schlechthin wertvoll zu handeln; und zu diesem Zweck muß ich notwendig erst einen höchsten Wert kennen. Allerdings muß dieser allgemeingültig sein; denn diese Forderung liegt schon im Begriff des höchsten Wertes, aber das ist das Wesentliche: die Allgemeingültigkeit scheint doch nur eins seiner Merkmale zu sein. Und demjenigen der einen höchsten Wert fordert - und diese Forderung hat nun einmal diesen bestimmten Sinn -, kann es doch wohl nicht genügen, wenn man die Allgemeingültigkeit selbst als diesen höchsten Wert, der im Handeln verwirklicht werden soll, ausgibt.

KANT scheint in der Tat auch ähnlichen Erwägungen darin Rechnung getragen zu haben, daß er scheinbar in der zweiten Formulierung des kategorischen Imperativs einen inhaltlich bestimmten Wert aufstellt. Der Mensch und weiter die Menschheit als Selbstzweck scheint in der Tat jener höchste Wert zu sein, der in vollkommenstem Maß all jene von ihnen geforderten Eigenschaften der Evidenz, der Allgemeingültigkeit und der inhaltlichen Bestimmtheit besitzt. Schon bei der genaueren Bestimmung des Sinnes, den die Forderung eines Grundwertes hat, lag dieser Wert als unmittelbar evident greifbar nahe. Und diese Evidenz bringt auch KANT vorzüglich zum Ausdruck in der Wendung:  "Nun sage ich:  der Mensch und überhaupt jedes vernünftige Wesen existiert als Zweck ansich ..."

In der Tat scheinen auch alle Ethiken letzten Endes in der Anerkennung dieses Wertes übereinzustimmen; denn alles Handeln und Werten hat nur Sinn für den Menschen als einzelnen oder in irgendeiner Gemeinschaft. Allerdings darf dann dieser Begriff des Menschenwertes keiner Kritik mehr unterzogen werden, und die unruhigsten und schärfsten Zweifel müssen, wie vor allen letzten Tatsachen, still werden, so daß man im festen Grund eines Pathos Anker werfen kann. KANT gab ein klassisches Beispiel dafür im ersten Satz seines "Beschlusses der Kritik der praktischen Vernunft". In der Tat muß alles kritische Suchen und alles Zweifeln zuletzt schweigen vor einer immer neuen Ehrfurcht und Bewunderung, und für keinen Wert wird eine unkritische Auffassung diese in höherem Maße empfinden können als für den Menschen- und Menschheitswert. Auch ein erkenntniskritisches Bewußtsein scheint ihn nicht ganz entbehren zu können - was KANTs zweite Formulierung beweist. Allerdings muß er sich diesem in ganz anderer Form darstellen.

Die Wissenschaftslehre wird jedenfalls bei diesem Wertbegriff nicht Halt machen dürfen, sondern muß eine erkenntniskritische Untersuchung desselben liefern; hat man doch in diesem Sinne gesagt, daß die allgemeine Werttheorie als ein Stück Erkenntnistheorie aufzufassen sei. (8) Es wird daher eine wichtige Aufgabe der Ethik nach der Seite ihrer methodologischen Voraussetzungen hin sein, den Sinn dieses Begriffes klarzustellen, zuzusehen, ob er eindeutig oder wenigstens genügend bestimmt ist, oder ob er nicht verschiedene Deutungen zuläßt.

Es zeigt sich, daß nur die Unbestimmtheit und Weite des Begriffes es allen Auffassungsweisen der Ethik möglich macht, im Menschenwert den obersten Zweck zu sehen. Sobald man eine bestimmte Interpretation vornimmt, tritt diese an seine Stelle und wird zum eigentlichen Grundmaß. Es werden alle Ethiken zugeben, daß der Mensch oder die Menschheit - auf die mehr oder weniger egoistische, respektiv altruistische Färbung kommt es hier nicht an - der oberste Zweck sei, aber nicht dessen Sein schlechthin, sondern nur sein Sosein, d. h. nur eine bestimmte Art desselben oder in einer gewissen Hinsicht.

So wird sich der Hedoniker nur insoweit für wertvoll halten, als er fähig ist, Lust zu empfinden; der Utilitarist die Menschheit nur insofern sie Glück und Wohlfahrt besitzt als Wert ansehen. Beide nehmen also den Menschen nicht schlechthin, sondern sein Gefühl als Grundmaß an.

Diese Auffassungsweisen mögen nicht schwer zurückzuweisen sein, wie die vielen Widerlegungen, die sie erfahren haben, beweisen, aber auch viele Gegner dieser ethischen Auffassungen weichen nur darin von ihnen ab, daß sie einen anderen psychophysischen Zustand als den allein wertvollen hinstellen. So die Stoiker mit ihrem Ideal der Apathie und auch alle energistischen Auffassungen, die etwa im Willen zur Macht oder in einem Maximum der Lebensbetätigung das Prinzip der Moral erblicken.

Am reinsten scheint man den Menschen als Selbstzweck aufzufassen, wenn man etwa fordert, er solle sich so verhalten, daß er "sich selbst treu bleiben kann". (9) Er ist in der Tat das Grundmaß, wenn sein Wert in seiner "Selbstverwirklichung" (10), in seinem Sichselbertreubleiben besteht. Faß man den Menschheitswert in diesem Sinne, so kann man dafür auch KANTs dritte Formulierung des kategorischen Imperativs in Anspruch nehmen: jedes vernünftige Wesen soll einer eigenen und dennoch allgemeinen Gesetzgebung unterworfen sein. Hierdurch werden zugleich die beiden verschiedenen Auffassungsweisen, welche diese Ansicht zuläßt, deutlich. Gemeinsam ist ihnen die Überzeugung, daß der Mensch und die Menschheit nur wertvoll sind, insofern in ihnen ein Konstantes ist, ein Gesetz lebt. Während nun aber KANT nur untersucht, wie dieses autonome Gesetz allgemein gelten könne und so auf die Frage nach einem apriorischen oder empirischen Ursprung das Hauptgewicht legt, ,läßt er ganz unberücksichtigt, worin diese Gesetzlichkeit eigentlich bestehe; dies zu zeigen, liegt der anderen Auffassung, die ein Sichselbertreubleiben verlangt, näher. Beide führen jedoch zu einem unbefriedigenden Resultat, wie sich gleich zeigen wird, und beweisen, daß auch die Interpretation, die das Wesentliche des Menschenwertes im uns immanenten Gesetz erblickt, ihn nicht als höchsten Wert zu rechtfertigen vermag. Bei KANT tritt nämlich an die Stelle des vorher, in der zweiten Formulierung, inhaltlich bestimmt und evident erscheinenden Menschenwertes wiederum der einer bloßen Gesetzlichkeit überhaupt, nur mit der näheren Bestimmung, daß sie autonom geschaffen sei vom Menschen, - was charakteristischerweise noch erweitert wird zu: von vernünftigen Wesen überhaupt. "Und die Würde der Menschheit besteht eben in dieser Fähigkeit, allgemein gesetzgebend, obgleich mit der Bedingung, eben dieser Gesetzgebung zugleich selbst unterworfen zu sein." (11) Wenn nun der Mensch allein um dieser Fähigkeit willen höchster Wert ist, so kann man im Menschen als solchem, im genus, nur noch insofern einen Selbstzweck erblicken, als er die Möglichkeit zur Verwirklichung dieses Wertes darstellt. Nur insofern der Mensch so ist, daß er sich ein Gesetz schaffen kann, das allgemein gilt, d. h. nur insofern er selbst Werte setzt, ist er absolut wertvoll. Und das läut auf die ganz leere Konsequenz hinaus, daß der Mensch (nicht nur der empirische, sondern als Vernunftwesen überhaupt) die conditio sine qua non [Grundvoraussetzung - wp] aller Werte ist.

Zu demselben Resultat führt die andere Auffassung, die oben als in der Grundlage mit KANT übereinstimmend, in der Ausführung aber als von ihm abweichend unterschieden wurde. Besonders bei MÜNSTERBERG wird das deutlich (12). Indem er "den einzigen wahren Sittlichkeitswert" in der "Verwirklichung der Persönlichkeit", im "Sichselbertreubleiben" sieht und darunter die Übereinstimmung zwischen der erfolgenden Handlung und dem vorhergehenden Wollen versteht, gilt ihm als absolut wertvoll die gesetzmäßige Beziehung zwischen einem Erlebnis, welches jetzt als ein Wollen gedeutet wird, und einem anderen späteren, das den Charakter der Wirklichkeit hat. Und zwar muß zwischen beiden das Verhältnis der Identität herrschen. Eine Persönlichkeit ist umso wertvoller, je vollkommener sie diese Identität verwirklicht. Und dem Menschen als solchem kann infolgedessen nur insofern Wert zugeschrieben werden, als in ihm die Möglichkeit zu dieser Verwirklichung liegt, d. h. er ist absolut wertvoll, insofern er die Voraussetzung aller Werte ist.

Alle diese Interpretationen zeigen, daß in der Tat dem Menschenwert eine eigenartige Bedeutung zukommt, welche die verschiedenen ethischen Richtungen zum Teil ausdrücklich, zum Teil nur implizit anerkennen. Es frägt sich jedoch, ob er damit auch zum  höchsten  Wert tauglich ist. Die Ergebnisse zu denen unsere Versuche, den Menschenwert näher zu bestimmen, führten, antworteten darauf: der Mensch ist letzter Wert, insofern er die  Voraussetzung aller Werte  ist.

Das mag für den ersten Blick eine Selbstverständlichkeit und deshalb ein leeres Resultat zu sein scheinen. Da jedoch alle Interpretationen darauf aus den letzten Grund, weshalb dem Menschen als solchem Wert zuzusprechen sei, zurückführen, so muß hier das Problem wie in seiner Wurzel verborgen liegen. In der Tat werden in diesem Satz, der in seiner Allgemeinheit, solange er noch keine Auslegung erfahren hat, wohl allgemein anerkannt werden wird, die zwei sich prinzipiell gegenüberstehenden Auffassungsweisen der Wertfrage sichtbar, obwohl sie noch ineinander verschlungen sind.

Einmal ist die Ansicht die, daß der Mensch alle Werte setzt, daß sie mit ihm entstehen und vergehen und in diesem Sinne nur subjektive Geltung haben.

Zweitens kann man der Überzeugung sein, daß es absolut gültige, überzeitliche und übermenschliche Werte gibt, zu denen der Mensch nur insofern ein besonderes Verhältnis hat, als er sie erkennt und für sich gültig erachtet. Ihre Voraussetzung kann er dann insofern genannt werden, als er sie verwirklicht.

In der ersten Auffassung wird der Mensch im strikten Sinne als Ursache aller Werte angesehen, und es ist dann klar, daß ihm in dieser Hinsicht eine besondere  Bedeutung  - eben die ursächliche: wenn  A  nicht wäre, so wäre  B  nicht, - zukommen muß. Es ist damit jedoch nicht gesagt, daß ihm auch ein besonderer Wert zukomme. Die Ursache braucht als solche nicht wertvoller zu sein als das aus ihr Folgende. Unter Wertgesichtspunkten hat eine ursächliche Betrachtungsweise keinen Sinn. Die Beziehung zwischen Ursache und Wirkung ist das verknüpfende Prinzip in einem Reich der Natur, nicht aber in einem Reich der Zwecke. Beide, sowohl die Ursache, als die Wirkung, müssen, wenn einer von ihnen ein Wert zukommen soll, ansich wertvoll sein, und eine darf ihn nicht erst von der anderen entlehnen. Diesen Fehler begeht die vorliegende Auffassungsweise, wenn sie folgert: Es gibt Werte für uns; der Mensch setzt sie, - ist ihre Ursache; - folglich ist der Mensch wertvoll.

Die Verkehrtheit dieser kausalen Betrachtungsweise tritt noch deutlicher zutage in der Konsequenz, zu der sie führt. Genau zugesehen ist ja mit der Wertschätzung des Menschen als Ursache aller Werte nichts weiter als die Voraussetzung jener Auffassung, daß der Mensch alle Werte setzt, nochmals ausgedrückt. Wenn man ihn nämlich wert hält, nur insofern er ein Wertsystem - allerdings nur ein für ihn gültiges - schafft, d. h. überhaupt Werte erlebt, so ist damit nur gesagt, die Werte sollen sein und deshalb auch ihre Ursache. Das ist nichts weiter als die Tautologie: Werte sind wertvoll; und wenn das nur heißen soll, sie sind vom Menschen gesetzt und gelten nur ihm als wertvoll, wenn also die subjektive Auffassungsweise sich konsequent bleiben will, so läge der Menschenwert darin, daß er ein solches Werte erlebendes Wesen ist, d. h., daß er so ist, wie er ist. In dieser bloßen Naturtatsache, in seinem eigenartigen psychophysischen Zusammen muß also schließlich diese Auffassungsweise den Wert des Menschen erblicken, ohne dafür jedoch eine andere Begründung geben zu können, als daß sie aus dem bloßen Wertbegriff - allerdings nur dem subjektiv gültigen - folgt. Mit ihm ist unmittelbar gegeben, daß dieses Werterleben und damit der Mensch  sein soll,  d. h. wertvoll ist. Und zwar der Mensch als solchr, so wie er als wertender einmal ist: der Mensch im naturwissenschaftlichen Sinne dieses Begriffs.

Auch abgesehen von dieser kausalen Betrachtungsweise, deren Schluß von den geschaffenen Werten auf den Wert des Schöpfers man vielleicht für verfehlt hält, könnte man behaupten, daß die subjektive Wertauffassung zu diesem Schluß führe: das Sein des Menschen als solches sei wertvoll. Denn wie alle Werte nur für ihn  gelten,  so schaffe er sie auch nur  für sich.  Er müßte deshalb notwendig allen anderen vorangehen, da sie nur auf ihn hinzielen. Nur unter der Voraussetzung dieses natruwissenschaftlichen Menschenbegriffs könne er in der Tat sich selbst Zweck sein. Vor allem die evolutionistische Richtung der Ethik wird diesen obersten Satz: daß die Menschheit sich in diesem Sinn Selbstzweck sei, als Axiom an die Spitze aller ethischen Erörterungen stellen. Sie glaubt diese Überzeugung vom Wert der bloßen Existenz dadurch bewiesen und sicher begründet, daß sie eine so natürliche Erklärung im allgemeinen Gesetz der Selbsterhaltung finde; ja dieser Satz sei im Grunde nichts anderes als dieses Gestz selbst, in die Form eines sittlichen Gebotes gekleidet.

Man könnte diese Ansicht, daß das Leben der Menschheit, ihre bloße Existenz, zuletzt der oberste Zweck sei, auf den alles tendiere, dadurch zu stützen suchen, daß man auf Lebensauffassungen, die in einen ausgesprochenen Optimismus oder Pessimismus münden, hinwiese. Besonders beim letzteren trete es klar zutage, welch unbedingten Wert das Leben hat; einen Wert, der alle anderen so sehr überragt, daß unser ganzes Streben auf seine Vernichtung gerichtet sein muß.

Ist nun in der Tat der Sinn, den der Begriff des Menschenwertes hat, der hier entwickelte, daß das Sein der Menschheit schlechthin oberster Zweck ist? Zu dieser Überzeugung werden wir anscheinend gedrängt, indem die verschiedenen Deutungen desselben darauf führten, daß der Mensch Voraussetzung aller Werte und deshalb höchster Wert sei, und in dem die Untersuchung dieses Begriffs "Voraussetzung" in einer ersten Auffassungsweise zeigte, - was noch durch optimistische, respektive pessimistische Wertbetrachtungen unterstützt wurde, - daß der Menschenwert zuletzt in nichts anderem liege als in der menschlichen Existenz überhaupt. Wenn man daran festhalten will, daß der Mensch Selbstzweck und oberster Wert ist, so schein man dieser Konsequenz nicht entgehen zu können: in seinem Sein als bloßer Naturtatsache diesen Wert anzuerkennen; und der Begriff des Menschen, in dem sein Wert schon gegeben und mitgedacht wird, wäre also der naturwissenschaftliche Begriff des Menschen, als dieses bestimmten psychophysischen Wesens. Mit dieser Konsequenz ist jedoch die ganze Gedankenreihe widerlegt, denn es ist mit dem Wertbegriff unvereinbar, eine Naturtatsache zum Wert zu stempeln. Sie ist als solche vollkommen wertfrei, sodaß man sogar gesagt hat: "Natur ist nur ein anderer Name für grundsätzlich wertfreie Dinge." (13) Natur und Wert, das Reich der Natur und das Reich der Zwecke, stehen sich als einander ausschließende Gegensätze gegenüber; das aber dieses Reich nur möglich ist unter der Voraussetzung, daß jenes schon besteht, so erscheinen sie in diesem Begriff der Voraussetzung doch wiederum eigenartig verschlungen. Und hierin wird man auch den Grund erblicken können, weshalb die Betrachtung des Menschen als Wert und Zweck, wie wir gesehen haben, auf die Naturvoraussetzung, sein bloßes Sein, zurückführt; weshalb dem Menschenbegriff, der in Wertbetrachtungen offenbar nicht den naturwissenschaftlichen Sinn haben darf, dieser doch meistens untergeschoben wird.

Realistisch gedacht können wir uns Werte nur innerhalb der uns umgebende Welt oder einer analog gedachten, also nur unter der Voraussetzung einer Natur, vorstellen; idealistisch gewendet ist das "Ich bin" die erste Wahrheit, nur wenn man sie voraussetzt, scheint es Werte geben zu können, oder unter kategorialer Betrachtungsweise ist das Sein die erste Kategorie, die erst als besondere Form zu einem Sein von Werten wird. Damit ist einerseits verständlich, warum man geneigt ist, das Sein dieser seiner primären Bedeutung wegen auch hinsichtlich des Wertes allem voranzustellen, andererseits ist aber auch der Fehler offensichtlich, den man damit begeht, daß man das Sein als solches, die erste und allgemeinste Kategorie, unter Wertgesichtspunkten, also unter einer abgeleiteten Einzelkategorie betrachtet. Das Sein geht notwendig allen seinen Arten und deshalb allem wertvollen Sein als absolut wertfrei voran.

Damit erweisen sich die Auffassungen, die im bloßen Sein der Menschheit deren letzten aufzeigbaren Wert erblickn, als unhaltbar, denn sie gründen auf einem Widerspruch.

Man kann einwenden, unter dem Sein sei hier nicht die Kategorie der Realität, nicht das Existieren überhaupt, sondern das Weiterexistieren im Sinne einer Entwicklung gemeint. Wenn damit aber mehr gesagt sein soll, als daß dabei wiederum nur ihr Existieren überhaupt wertvoll ist, so muß etwas anderes da sein, um dessentwillen sie wert ist zu existieren. Im Begriff der Entwicklung liegt schon eingeschlossen, daß ein Ziel vorausgesetzt wird, auf das hinblickend er allein sinnvoll angewandt werden kann. Damit führt aber dieser Einwand selbst hinaus über die bisherige Auffassungsweise, die darunter, daß der Mensch Voraussetzung aller Werte ist, dies verstand, daß er sie setze und damit sein Sein wertvoller sein müsse als sie. Es ist deutlich geworden, daß schon hier unbewußt ein Unterschied gemacht wird hinsichtlich der Geltung der Werte, neben den nur subjektiv gültigen wurden unbemerkt auch in strengerem Sinn gültige, objektive, angenommen. Wenigstens muß diesen Ausführungen eine solche Unterscheidung unbewußt zugrunde liegen, wenn anders es verständlich sein soll, daß innerhalb der, wie angenommen, doch nur subjektiv gültigen Werte dem Menschen als Schöpfer derselben ein höherer Wert innewohnen soll. Denn wenn man nicht mehr als subjektiv gültige Werte vor Augen hat, so kann man die Tautologie nicht begehen, dem Schöpfer eines subjektiv gültigen Wertsystems einen Wert zuzuschreiben, was doch offenbar nichts anderes heißt, als daß  seine  Wertwelt  ihm  wertvoll ist. Wenn also die Rede von den Werten und vom Menschen als ihrer Voraussetzung einen Sinn haben soll, so muß es überzeitliche, objektiv gültige Werte geben.

Die zweite oben unterschiedene Auffassungsweise von Werten ist somit die notwendige Konsequenz, zu der die erste über sich selbst hinaustreibt. Alle kausalen Betrachtungsweise, die Fragen nach dem Ursprung dieser Werte, haben hier keine Stelle, sie gehören der Metaphysik und der Psychologie an. Hier handelt es sich um ihre  Bestimmung,  nachdem ihre Geltung als notwendige Voraussetzung allen Wertens dargetan wurde. Gibt es ein System solcher Werte, oder gibt es einzelne von einander unabhängige, die wir mit diesem Geltungsanspruch erleben? Einer, von dem das allgemein zugegeben wird: daß er von jedem als schlechthin wertvoll erlebt wird, ist der Menschenwert.

Welchen Sinn hat nun hier die Rede vom Menschen als der Voraussetzung aller Werte? Ist er damit die Spitze des Systems der objektiven Werte und so das gesuchte Grundmaß? Indem wir zur Annahme objektiv gültiger Werte dadurch gezwungen werden, daß wir unser Werterleben nur so denkend deuten können, ist die Beziehung des Menschen zu ihnen eine doppelte:
    1. muß er sie erkennen, d. h. nicht den Inhalt, sondern diese bestimmte, absolute Geltung;

    2. ist mit diesem Erkennen zugleich gegeben, daß er sie  für sich  gültig hält, d. h. sie verpflichtet fühlt, sie zu verwirklichen.
Beide Momente sind zur Erfüllung des Sittlichen und deshalb in jeder Ethik notwendig. Sie werden zu ethischen Prinzipien gemacht, und je nachdem das eine oder das andere, das objektiv außer uns liegende und nur zu erkennende, oder das in uns liegende treibende Moment betont wird, kann man danach ethische Richtungen charakterisieren. So führt SCHLEIERMACHER in seinen "Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre" im ersten Abschnitt: "Von der Verschiedenheit in den bisherigen ethischen Grundsätzen" als drittes Gegensatzpaar auf: Ethiken, die das Sittliche lediglich darauf beschränkend auffassen - was dem  Erkennen  der absoluten Werte entspricht - und solche, die es selbsterzeugend auffassen, - womit das  Verwirklichen  ausgedrückt ist. (14) - Dadurch, daß sich dem Menschen absolute, überzeitliche Werte als denknotwendig erweisen, erweitert er auf der einen Seite seinen Abstand von ihnen bis ins Unabsehbare, denn nichts kann ihn hoffen lassen, daß er diesen gegenüber irgendwie wertvoll sei, und nichts garantiert ihm, daß er ihnen irgend näher steht als Stein und Tier. Sein Denken kann ja ein ganz für sich funktionierendes sein, das nur zufällig etwas seinem Werterleben Korrespondierendes anzuerkennen sich genötigt sieht. Aber hier zeigt sich auch die andere Seite, die uns in die engste Verbindung mit jenen Werten bringt. Sind sie uns doch nur dadurch sichtbar geworden, daß unser Erleben denkend betrachtet ein sinnvolles sein mß, und dieser Sinn nur ist, wenn  sie  sind. Wir werfen gleichsam Licht auf sie, damit sie es auf uns zurückstrahlen und unser Erleben verständlich machen. Die Notwendigkeit des Sinnvollen schließt die Annahme eines zufälligen Korrespondierens aus und macht damit die absoluten Werte zu den unsrigen. In der Überzeugung von dieser Harmonie kann man vielleicht einen Optimismus sehen, aber es ist ein denknotwendiger, ohne den es nur noch einen Sturz in den Relativismus gibt, der auf die Forderung des Sinnvollen verzichtet. Durch diese Harmonie sind wir Voaussetzung aller Werte geworden, denn wir können von den absoluten Werten nur Kenntnis haben durch unser subjektives Werten, das dadurch aber, daß es an jenen einen Halt findet, zugleich einem objektiven entspricht. Und deshalb kann  unsere  Kenntnis von ihnen zugleich als  ihre Kenntnis  und damit die Geltung für uns als ihre Geltung überhaupt angesehen werden. Damit ist der Subjektivismus, der im Begriff der "Voraussetzung" droht, überwunden. Indem wir Werte erkennen, uns ihnen gegenüber zur Verwirklichung verpflichtet fühlen (was jedoch nur zwei auseinandergelegte Momente sind des einen Erlebnisses, das der Wertbegriff ausdrückt) und dieses in Handlung umsetzen oder auch die Handlung schon darin beginnend Denken, halten wir uns jetzt nicht mehr für einen Wert, weil wir die Ursache derselben sind - obgleich unser psychophysisches Sosein auch nicht weggedacht werden kann -, sondern wir wissen uns nur deshalb wertvoll, weil absolute Werte sich in uns darstellen. Wir schauen auf uns nicht mehr insofern wir menschen im naturwissenschaftlichen Sinn des Begriffs sind, sondern insofern wir in diesem Augenblick des Seins einen absoluten Wert verkörpern. Der Begriff des Menschen ist also hier ein geschichtlicher Begriff, ja der Typus des geschichtlichen Begriffs, denn ein solcher faßt einzigartige sinnvolle Werte zu sammen. Dieser Wertzusammenhang, den der Mensch im geschichtlichen Sinn des Begriffs in Wirklichkeit darstellt, und wozu der Mensch im naturwissenschaftlichen Sinn des Begriffs nur die vollkommen wertfreie Möglichkeit ist, findet seine Zusammenfassung im Begriff des Menschenwertes. In ihm ist die Summe aller erlebbaren objektiven Werte zur Einheit gebunden. Es hat deshalb einen guten Sinn, von ihm als Selbstzweck und höchstem Wert zu sprechen, denn als diese Summe von Werten - die nicht wieder wie bei der subjektivistischen Auffassung nur ihr eigenes, sich auch sich selbst berufenes Sein will und deshalb in sich zusammenstürzt, sondern ihrer Geltung gewiß ist, weil sie auf einem objektiven Wertunterschied beruth -, ist der Menschenwert in der Tat höchster Wert, und das Werterleben trägt seinen Zweck in sich selbst, ist Selbstzweck. Das ist aber jetzt keine Tautologie mehr; es ist nicht mehr, wie bei subjektivistischer Auffassungsweise nur dies gesagt: das Werterleben ist wertvoll kraft seiner eigenen Bestimmung, sondern ein Neues, Letztes ist damit gesagt: das Werterleben ist absolut wertvoll. Es wird nicht mehr aus dem empirischen Begriff des Werts analytisch die Bestimmung seines Seins als eines wertvollen herausgeholt, sondern er wird synthetisch an den Begriff eines absoluten Wertes geknüpft.

Der Menschenwert ist damit allerdings kein inhaltlich bestimmter Einzelwert. Er ist nicht die Spitze des Wertsystems, sondern die Reihe selbst. Zum Grundmaß kann man ihn aber dennoch machen, weil er sowohl die quantitative wie die qualitative Dimensioni in sich schließt, und seine Förderung deshalb nach beiden Seiten hin bestimmbar ist. Die Einheit der Summe setzt sich entweder aus der  Anzahl  der Posten zusammen - umfaßt also die Ethik des Mittelmaßes - oder aus der  Höhe  der Posten, was den energetischen und Persönlichkeitsethiken Genüge tut. Dieser Begriff des Menschenwertes als Summe und Inbegriff aller Werte ist fern von jeder rohen Quantifizierung, die etwa das Werterleben des Hedonikers dem eines im Kantischen Sinne zum Gesetz verpflichteten gleichstellt. Vielmehr werden in ihm, da er selbst ein geschichtlicher Begriff ist (als einzigartige Erscheinung in einer Welt oder in Welten), gerade die individuellen Werte, die Einzelpersönlichkeit oder Nationalitäten darstellen, ihre Zusammenfassung finden. So hat man ihn geradezu durch die Forderung umschrieben: jede Gesellschaft solle ihren gemeinsamen geistigen Gehalt zum Bewußtsein und zur Herrschaft bringen, da nach dem Herausarbeiten dieser individuellen Werte sie sich alle in der Menschheit zusammenschließen. (15)

Durch diese Weite aber, mit der er alle historischen Werte in sich aufnimmt, scheint er zum materialen Prinzip der Ethik, aus dem sich alle Einzelwerte ableiten ließen, unbrauchbar. Es ist mit der Begründung des Menschenwertes, damit, daß er absolut sein soll, noch völlig unbestimmt gelassen, welches die  Einzelwerte  sind, die sein sollen. Wenn man als soche die sogenannten Kulturgüter bezeichnet, Wissenschaft, Kunst, Rechtsordnung, so kann man einerseits einwenden, daß sie historisch bedingt, nur für bestimmte Kreise gelten, und andererseits ist damit das Wertsystem nicht erschöpft, da kein im Wert selbst liegendes Prinzip zu ihrer Aufstellung führte, sie vielmehr willkürlich nach der psychologischen Dreiteilung Denken, Fühlen, Wollen herausgegriffen werden. Gerade das sollte aber im Begriff des Menschenwertes erreicht werden und machte seinen Vorzug aus, daß  alles  Werterleben in ihm seine Stelle findet und so ein System bildet.

Den ersten Einwand, daß die Kulturwerte je nach den historischen Bedingungen verschieden gestaltet sind und deshalb nur empirische Allgemeingültigkeit haben, wird man, was Kunst und Rechtsordnung betrifft, vielleicht geneigt sein zuzugeben, aber hinsichtlich der Wissenschaft wird man doch zweifeln, ob ihr nach genügender Bearbeitung und Prüfung ihrer Voraussetzungen nicht doch eine absolute Geltung zukomme. Gesteht man den logischen Normen eine strenge Allgemeingültigkeit zu und sieht man in ihnen mehr als psychologische und deshalb dem Wandel unterworfene Denkgesetze, so muß man auch diesem einzelnen Kulturwert dieselbe absolute Geltung zusprechen wie dem Menschenwert überhaupt. Doch wie dem auch sei, jedenfalls muß der Begründung des einzelnen Kulturwertes diejenige des Menschenwertes überhaupt vorangehen: die Ethik den übrigen Normwissenschaften.

So sind wir auf unsere eigentliche Frage zurückgeführt, die jetzt zur Entscheidung gebracht ist; denn welches auch die Verwendbarkeit des Menschenwertes zur Ableitung der einzelnen Werte und Handlungen sein mag, uns kam es vor allem darauf an, zu untersuchen, ob die Ethik überhaupt ein Grundmaß für unser ganzes Handeln, im weitesten Sinne, finden könne. Dies ist im Begriff des Menschenwertes insofern möglich, als dieser Wert absolut sein soll und davon abhängig alle Einzelwerte.

Insofern also die Ethik Sollen oder Werte überhaupt begründet, ist sie Normwissenschaft oder Wertwissenschaft schlechtin. Sie ist als Wissenschaft nur haltbar, wenn sie das weite Sollen, die Werte überhaupt zu ihrem Gegenstand macht.



Bisher wurde Sollen und Wert in dem üblichen, ungeklärten Sinn genommen, und die Erkenntnistheorie sprach nur insoweit mit, als die beiden Begriffe - auch in ihrem gewöhnlichen Sinn - notwendige Denkvoraussetzungen sind. Wie dies jedoch tiefer und letzten Endes mit dem Wesen unserer Erkenntnis überhaupt zusammenhängt, ob man den Sollens- oder Wertbegriff in einem psychologischen oder erkenntnistheoretisch-metaphysischen Zusammenhang fundieren müsse, das soll der zweite Teil der Arbeit zeigen.
LITERATUR - Fritz Klingler, Sollen und Wert als Grundbegriffe der Ethik und ihre Begründung, Straßburg 1911
    Anmerkungen
    1) HERMANN COHEN, Ethik des reinen Willens, 1904, Seite 68
    2) HERMANN MAIER, Psychologie des emotionalen Denkens, Tübingen 1908, Seite 349-354
    3) PAUL HENSEL, Hauptprobleme der Ethik, Seite 30
    4) HERMANN COHEN, Ethik des reinen Willens, Seite 51
    5) Die Überzeugung aller streng an KANTs Ethik sich anschließenden Richtungen.
    6) "Denken" im weitesten Sinne des Wortes, was "alle innere Geistestätigkeit überhaupt" bedeutet, vgl. SCHOPENHAUER, (Ausgabe GRISEBACH) Bd. III, Seite 119.
    7) EDMUND HUSSERL, Logische Untersuchungen I, Seite 45
    8) OSWALD KÜLPE, Einleitung in die Philosophie, Seite 80
    9) THEODOR LIPPS, Die ethischen Grundfragen, 2. Auflage, Seite 152
    10) HUGO MÜNSTERBERG, Philosophie der Werte, Leipzig 1908, Seite 57
    11) KANT, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akademie-Ausgabe, Bd. 4, Seite 440
    12) Vgl. HUGO MÜNSTERBERG, Philosophie der Werte, Seite 57
    13) HUGO MÜNSTERBERG, Philosophie der Werte, Seite 9
    14) SCHLEIERMACHER, Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre, 1803, Seite 69
    15) WILHELM WINDELBAND, Präludien - Vom Prinzip der Moral, Seite 408f