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HERBERT HERRING
Logischer Positivismus

Alle Sätze der Logik sagen dasselbe, nämlich Nichts. Die Sätze der Logik sind Tautologien.

Zu Beginn unseres Jahrhunderts vollzieht sich in der Philosophe ein bedeutsamer Kurswechsel. Die Zeit der großen metaphysischen Systeme scheint endgültig vorbei, und die Probleme der Metaphysik, die Fragen etwa nach dem Sein der Freiheit, der Seele, des Geistes, der kosmischen Totalität, Dasein und Wesen Gottes, jene Fragen also, die selbst KANT, einer der schärfsten Kritiker der traditionellen Philosophie, als in der Naturanlage des Menschen begründete - wenn auch mittels wissenschaftlicher Argumentation nicht zu lösende - Probleme bezeichnet hatte, werden nun für viele Denker suspekt, ja sinn- und bedeutungslos.

Man fragt nicht länger nach der allgemeinen kategorialen Struktur des Seienden oder gar nach dem ersten und obersten Weltprinzip; vielmehr wird das Erkennenkönnen, das Wissen selbst problematisch, das Wissen um das in der alltäglichen Welterfahrung als sogenannte positive Tatsache Gegebene. Die Philosophie gerät so - etwa gleichzeitig mit der durch Quantenmechanik und Relativitätstheorie, nichteuklidische Geometrie und mathematische Logik herbeigeführten Grundlagenkrise in den Naturwissenschaften - in eine Grundfragenkrise; Sie gerät in die Spuren der positiven Wissenschaften, deren Methode die logische Analyse des mittels mathematischer und naturwissenschaftlicher Verfahren Feststellbaren ist. Die Philosophie wird damit zum logischen Positivismus - logisch hinsichtlich ihrer analytischen Methode, positivistisch wegen ihrer primären Ausrichtung auf das in der Sinneserfahrung sich Darbietende.

An der Universität Wien wurde schon 1895 ein separater Lehrstuhl für Philosophie der induktiven Wissenschaften eingerichtet, den bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1901 ERNST MACH innehatte. In Wien findet dann auch, etwa 20 Jahre später, der logische Positivismus seine bedeutendsten Vertreter. MORITZ SCHLICK, Schüler Max Plancks, wird 1922 auf diesen Lehrstuhl berufen. Er sammelt um sich eine Reihe gleichgesinnter Denker - FRIEDRICH WAISMANN, OTTO NEURATH, HANS HAHN, VIKTOR KRAFT, RUDOLF CARNAP unter anderen -, deren gemeinsames Anliegen die Säuberung der Philosophie von allen Scheinproblemen und der Aufbau einer wissenschaftlichen Philosophie ist. In diesem Sinne hält SCHLICK 1930 auf dem internationalen Philosophenkongress in Oxford seine revolutionär wirkende Rede über  Die Zukunft der Philosophie  mit den beiden Kernthesen:
  • Philosophie ist keine Naturwissenschaft; sie hat überhaupt keinen eigenen Gegenstandsbereich neben oder gar über den Einzelwissenschaften.

  • Philosophie ist geistige Aktivität, und zwar diejenige Aktivität des Geistes, deren einzig genuine und legitime Aufgabe die klärende Analyse der Begriffe der Naturwissenschaften und des alltäglichen Sprachgebrauchs ist.
Aber vielleicht noch schärfer und prägnanter als SCHLICK vollzieht CARNAP diese Absage an die traditionelle Philosophie. Das zeigt schon ein Blick auf die Titel einiger seiner Werke. 1928 erscheinen "Der logische Aufbau der Welt" und "Scheinprobleme in der Philosophie;" 1931 "Überwindung der Metaphysik durch die logische Analyse der Sprache;" 1934 "Die Aufgabe der Wissenschaftslogik."

Die Metaphysik und ihre Probleme - Scheinprobleme für Carnap - müssen endgültig überwunden werden. Sie werden überwunden durch logische Analyse der Sprache, denn es zeigt sich bei kritischem Hinsehen, daß fast alle metaphysischen Probleme durch mangelnde Sorgfalt des Denkens und Imprägnanz der sprachlichen Formulierung entstanden sind. Dem kann und sollte, nach CARNAP, dadurch abgeholfen werden, daß sich die Philosophie als Wissenschaftslogik begreift und jede mit dem Anspruch logischer Verbindlichkeit auftretende Behauptung daraufhin analysiert, ob die sie begründeten Begriffe nicht Scheinbegriffe sind, das heißt, weder rein logische, apriorische noch aus einer Sinneserfahrung hergeleitete aposteriorische Begriffe. (1)

Dieser neuen kritischen Methode angemessen wäre eine gegen die logischen Unzulänglichkeiten der Wortsprache immune Formelsprache. So hatte schon der bedeutende Mathematiker GOTTLOB FREGE 1879 (übrigens maßgeblich angeregt durch die entsprechenden LEIBNIZschen Gedanken einer  (Charakteristica Universalis)  nach einer der mathematischen Symbolsprache an Exaktheit nicht nachstehende Sprache des reinen Denkens verlangt. Durch dieses wissenschaftliche Verfahren verschwindet, wie diese Denker optimistisch glauben und SCHLICK enthusiastisch verkündet, die Metaphysik, "nicht etwa, weil ihre Probleme unlösbar wären, sondern weil es keine metaphysischen Probleme gibt".

Eine ähnliche Entwicklung finden wir, im Rückgriff auf den Empirismus Humes, im britischen Raum. In den Jahren 1910 bis 1913 erscheinen die  Principia Mathematica  als Ergebnis einer langjährigen gemeinsamen Forschungsarbeit von RUSSELL und WHITEHEAD. Die Kardinalthese dieses Werkes, daß nämlich alle mathematischen Axiome auf wenige logische Prinzipien reduzierbar seien, erregt sogleich heftigste Diskussionen, wird doch damit nichts Geringeres behauptet als die Reduzierbarkeit der Mathematik auf die Logik. Mathematische Logik - wie die so entstehende neue Disziplin bald genannt wird - heißt für RUSSELL zunächst nicht Mathematisierung der Logik, sondern Logisierung der Mathematik. Ist die Ausbildung der mathematischen Logik die eine große Aufgabe, deren Lösung RUSSELL sich als Ziel gesetzt hat, so ist die andere die Widerlegung der Metaphysik, und dabei soll ihm die mathematische Logik als Instrument dienen.

In  Our Knowledge of the External World as a Field for Scientific Method in Philosophy  (1914) entwickelt RUSSELLdieses Programm.(2) Uns interessiert hier nicht so sehr seine sensualistische Theorie, daß alles, was wir von räumlichen Gegenständen erkennen, nichts als Sinnesdaten sind, daß wir folglich nichts über das Ansich dieser Gegenstände aussagen können. Uns interessieren zwei andere grundsätzliche Bestimmungen:
  • Daß jede Aussage im Sinne einer Behauptung über die Natur nur dann sinnvoll ist, wenn sie - zumindest prinzipiell - durch Sinneserfahrung bestätigt, das heißt verifiziert werden kann, und

  • daß es nicht Sache der Philosophie ist, solche Aussagen zu machen. Der Philosoph hat primär die Aufgabe, die alltägliche Denk- und Sprechweise einer kritischen Analyse hinsichtlich ihrer Sinnbedeutung zu unterziehen.
RUSSELLs Freund und Kollege in Cambridge, GEORGE EDWARD MOORE, fordert ebendieses Ausgehen von der alltäglichen Welterfahrung als der einzig verbindlichen, sicheren Basis aller, auch der philosophischen Weltorientierung. Schon der Aufsatz in  Mind  vom Jahre 1903  The Refutation of Idealism  läßt seinen Standpunkt des Common-Sense-Realismus erkennen, der dann vor allem in  A Defence of Common Sense  (1925) und in  Proof of an External World  (1939) ausführliche dargelegt wird. Anknüpfend an den vielzitierten Satz aus dem Vorwort zur 2. Auflage der  Kritik der reinen Vernunft,  worin KANT die Unbeweisbarkeit außer uns seiender Dinge einen immerwährenden Skandal in der Philosophie nennt, unternimmt MOORE gleich eine Fülle solcher Beweise, und zwar nach folgendem Schema: "Ich kann beweisen, daß es zwei menschliche Hände wirklich gibt. - Wie ich das kann? Nun, indem in meine beiden Hände hochhalte und, wenn ich eine Bewegung mit der rechten Hand mache, sage  Das hier ist eine Hand,  und während ich eine Bewegung mit der linken Hand mache, sage  Und das ist eine andere Hand  ... Da aber Hände zu den räumlichen Dingen zählen und somit zur Klasse des außerbewußtseinsmäßig Seienden, habe ich damit bewiesen, daß es zumindest zwei solcher Dinge gibt."

Natürlich ist MOORE nicht der naiven Meinung, er habe damit den langersehnten wissenschaftlichen Beweis erbracht; denn das Vorhandensein irgendwelcher Sinnesdaten und Wahrnehmungsinhalte beweist noch nicht die Realexistenz subsistierender Dinge. Er will mit dieser Argumentation sagen, daß sich die traditionelle Philosophie um die Beweisbarkeit dessen mühte, was keines Beweises bedarf, was selbstevidentt, für jedermann gewiß ist. Es bedarf keines Beweises der Realität der Außenwelt, da wir alle - wie unsere täglichen Denk- und Verhaltensweisen zeigen - um ihre Existenz wissen. Folglich ist die Frage kein echtes philosophisches Problem - sowenig wie die Mehrzahl der Fragen, welche die Metaphysiker jahrhundertelang fruchtlos diskutiert haben.

Die philosophischen Gedanken des Wiener Kreises, RUSSELLs und MOOREs treffen sich in einem Denker, der zwar nie selbst zum Wiener Kreis gehörte, seiner Denkweise jedoch sehr nahestand und den nachhaltigsten Einfluß auf die Entwicklung der Philosophie des logischen Positivismus und der logischen Analyse nahm. LUDWIG WITTGENSTEIN. 1889 in Wien geboren, war vor dem Ersten Weltkrieg einige Jahre Russells Schüler. Er lebte nach dem Kriege zunächst als Schullehrer und Architekt in Österreich, bevor er an das berühmte Trinity College der Universität Cambridge berufen und schließlich 1939 Nachfolger Moores wurde.

WITTGENSTEIN, der 1951 in Cambridge in aller Zurückgezogenheit starb, war kein Vielschreiber. Das einzige Buch, das von ihm zu Lebzeiten veröffentlicht wurde, hat den etwas antiquiert klingenden Titel  Tractatus Logico-Philosophicus  (1921). Dieses kleine Bändchen ist der geniale Versuch einer wissenschaftlichen Grundlegung der Philosophie. Zur Bewältigung dieser Aufgabe müssen aber zunächst die Vor-Urteile der traditionellen Metaphysik aus der Welt geschaffen werden, und so heißt es im  Tractatus:  "Die meisten Sätze und Fragen, welche über philosophische Dinge geschrieben und gestellt worden sind, sind nicht falsch, sondern unsinnig. Wir können daher Fragen dieser Art überhaupt nicht beantworten, sondern nur ihre Unsinnigkeit festellen."

Und dann trifft WITTGENSTEIN die für seine Argumentation so wichtige Unterscheidung aller möglichen Aussagen in sinnvolle, sinnlose und unsinnige Aussagen. Sinnvoll heißt jede Aussage über eine Erfahrungstatsache, also jede Aussage über einen durch bloße empirische Beobachtung als wahr oder falsch erweisbaren Sachverhalt. So ist etwa der Satz "Gegenwärtig regnet es" eine sinnvolle Aussage, unabhängig davon, ob es im Zeitpunkt der Aussage tatsächlich regnet. Regnet es zur Zeit der Aussage tatsächlich, so ist sie wahr und sinnvoll; regnet es nicht, so ist sie falsch und sinnvoll.

Dieses Kriterium der sinnvollen Sätze wird von SCHLICK so formuliert: "Als berechtigter, unangreifbarer Kern der positivistischen Richtung erscheint mir das Prinzip, daß der Sinn jedes Satzes restlos in seiner Verifikation im Gegegebenen beschlossen liegt." Sinnvoll sind demnach die Sätze der Naturwissenschaft; sie liefern jedoch keine allgemeinnotwendige Erkenntnis. Ein solcher Satz über Empirisches ist nur unter bestimmten Umständen, nicht hingegen allemal wahr - wie die Sätze der Logik. Diese aber sind sinnlos. So sagt WITTGENSTEIN: "Von zwei Dingen zu sagen, sie seien identisch, ist ein Unsinn, und von einem zu sagen, es sei identisch mit sich selbst, sagt gar nichts."

Von dieser letzten Art sind alle Sätze der Logik, alle sogenannten analytischen Urteile a priori. So ist etwa der Satz "Die Summe der Innenwinkel im Dreieck ist 180°" ein analytischer Satz, denn "Summe der Innenwinkel = 180°" folgt durch einfache logische Analyse aus dem Begriff "Dreieck".

Oder "Alle Kreise sind rund". Entweder ist etwas ein Kreis, dann ist es rund, alle Peripheriepunkte haben demnach den gleichen Abstand vom Mittelpunkt, oder etwas ist nicht rund, und dann ist es kein Kreis. Solche Sätze sind bloße Tautologien, und als Tautologien liefern sie keine echte Gegenstandserkenntnis. "Alle Sätze der Logik sagen dasselbe, nämlich Nichts. Die Sätze der Logik sind Tautologien."

Welches sind nun die unsinnigsten Sätze? Es sind die Sätze der Metaphysik, die weder widerspruchsfrei, wie die Sätze der Logik, noch verifizierbar, wie die Erfahrungssätze, sind. Metaphysische Sätze sind solche Aussagen, in denen mit dem grundsätzlich Unerfahrenen, dem nicht einmal prinzipiell Verifizierbaren, spekuliert, das heißt so operiert wird, als ob es verifizierbar, als ob es - um mit KANT zu sprechen - ein Gegenstand menschenmöglicher Erfahrung wäre.

Von diesen Bestimmungen her versteht WITTGENSTEIN Sprachkritik als alleinige Aufgabe der Philosophie. "Der Zweck der Philosophie ist die logische Klärung der Gedanken ... Das Resultat sind nicht philosophische Sätze, sondern das Klarmachen von Sätzen." Und abschließend heißt es: "Die richtige Methode der Philosophie wäre eigentlich die: Nichts zu sagen, als was sich sagen läßt, also Sätze der Naturwissenschaft, also etwas, was mit Philosophie nichts zu tun hat, - und dann immer, wenn ein anderer etwas Metaphysisches sagen wollte, ihm nachzuweisen, daß er gewissen Zeichen in seinen Sätzen keine Bedeutung gegeben hat. Diese Methode wäre für den anderen unbefriedigend ..., aber sie wäre die einzig streng richtige."
LITERATUR - Herbert Herring, Nachwort in Alfred Jules Ayer, "Sprache, Wahrheit und Logik", Stuttgart 1981
    Anmerkungen
  1. In einem Spätwerk, der 1968 erschienen "Einführung in die Philosophie der Naturwissenschaften" (Originaltitel: "Philosophical Foundations of Physics, Introduction to the Philosophy of Science"), umschreibt CARNAP die Aufgabe der Philosophie als Wissenschaftslogik oder Methodologie der Einzelwissenschaften folgendermaßen: "Die neuere Philosophie befaßt sich nicht mit der Entdeckung von Tatsachen und Gesetzen (das ist die Aufgabe des empirischen Wissenschaftlers) und auch nicht mit der Formulierung einer metaphysischen Theorie der Welt. Stattdessen richtet sich ihre Aufmerksamkeit auf die Wissenschaft selbst, indem sie die verwendeten Begriffe und Methoden, die Aussageformen und die Arten von Logik, die man verwenden kann, untersucht."
  2. Zuerst als Lowell-Vorlesungen in Boston/USA, im Frühjahr 1914. In diesen Vorlesungen, die beabsichtigen "anhand von Beispielen Wesen, Leistung und Grenze der logisch-analytischen Methode in der Philosophie darzustellen", wird erstmals der Terminus "logical analysis" verwendet.