Ch. SigwartB. SchmidE. BoutrouxW. WundtJ. H. KoosenE. König | ||||
Über Begriff und Aufgabe der Naturphilosophie (1)
I. Einleitung Diese Schule suchte sich in stolzer Selbstvermessenheit über die Schranken der menschlichen Erkenntnis zu erheben und durch intellektuelle Anschauung das Absolute selbst zu erfassen. Ohne Mathematik und ohne Erfahrung wollte sie die Natur der Dinge aus bloßen Begriffen ergründen; die ganze Physik sollte in eine spekulative Wissenschaft verwandelt werden. Sie verachtete die Astronomie, die Mechanik und alle Erfahrungswissenschaft und setzte an die Stelle der Naturgesetze die sogenannten Kategorien der Physik, die in der Tat nichts sind als Überschriften zu leeren Kapiteln. Fragt man, was dieselbe für das Leben getan hat, so kann man getrost antworten, daß sie sich nicht nur keinerlei Verdienste um die Förderung der menschlichen Kultur erworben, sondern auch noch die Fortschritte der Wissenschaften längere Zeit aufgehalten hat. Ganz anders als mit dieser sogenannten spekulativen Physik verhält es sich mit der mathematischen Physik. Seit NEWTON die Gesetze der in der Natur wirkenden Kräfte entdeckte, haben in einer unübersehbaren Reihe von Entdeckungen und Erweiterungen die größten Geometer und Mechaniker aller Nationen eine Wissenschaft gegründet, welche durch ihre Wahrheit und durch die Aufschlüse, die sie über die Geheimnisse der Natur gibt, ein ewiges Denkmal der Geistesgröße unserer Jahrhunderte bleiben wird. Mit bewunderswerter Genauigkeit haben diese fortbildenden Geister die Erscheinungen der Natur dem Kalkül unterworfen, haben mit Hilfe der Analysis des Unendlichen, diesem erstaunenswürdigen Werkzeug des menschlichen Geistes in Ergründung neuer Wahrheiten, in den himmlischen und irdischen Erscheinungen den unwandelbaren Gang eherner Gesetze erforscht und die Natur am Morgentor ihrer Schöpfungen belauscht. Alle Vorgänge am Himmel, den Bau der Welt, sowie die verschlungenen Wanderungen der himmlischen Körper fand man durch ein einziges Naturgesetz mit der größten Genauigkeit an die Regeln der Mechnik gebunden. Aus diesem ist man imstande, mit mathematischer Gewißheit die vergangenen und künftigen Zustände des Weltsystems zu bestimmen. Auf die nach diesem Gesetz geführten Berechnungen basieren sich die Vorhersagungen der Astronomen. Wie der Lauf der Gestirne die Zeiten teilt, wann und wie sich des Mondes Sichel füllen wird, wie die Sterne ihre Orte wechseln, wann und wo die Kometen sichtbar werden - all das vermag die auf die Mechanik des Himmels gegründete Astronomie mit einem wahrsagenden Blick im Voraus zu bestimmen. Die Verdienste, welche sich diese Wissenschaft dadurch um die Ordnung des bürgerlichen Lebens, um die Beförderung der intellektuellen Kultur erworben hat, sind in die Augen fallend und brauchen nicht erst besonders hervorgehoben zu werden. Und doch sind das bei weitem noch nicht die größten Vorteile, welche die von der SCHELLINGschen Schule so sehr verachtete Mechanik des Himmels dem Menschengeschlecht gewährt hat. In der Tat beruth die Verbindung der durch Meere geschiedenen Nationen sowie die Sicherheit des überseeischen Handels nur auf dieser tiefsten und ausgebildetsten aller menschlichen Wissenschaften, und ein einziges Blatt der "Mond-Distanzen" in ENCKEs astronomischen Jahrbuch hat einen ungleich größeren Wert, als alle Philosophie, welche, unfähig einen solchen Gegenstand in seiner hohen Wichtigkeit zu fassen, mit stolzer Verachtung auf ihn herabsehen. Daß jemand bloß durch die Messung der scheinbaren Entfernung des Mondes von einem Stern mittels eines kleinen tragbaren Instruments auf dem schwankenden Boden eines Schiffes bis auf eine deutsche Meile genau anzugeben vermag, wo er sich auf einem grenzenlosen Ozean befindet, muß Personen, denen die physische Astronomie unbekannt ist, als etwas Wunderbares erscheinen. Und doch wagt man täglich und stündlich Leben und Wohlstand mit vollkommenem Vertrauen auf diese wunderbaren Berechnungen, welche, wie nichts anderes, zeigen, wie nahe die Extreme der höchsten Theorie und des praktischen Nutzens aneinander grenzen. Sie könnten vielleicht glauben, daß ich in blinder Bewunderung für das Prinzip der Anwendung desselben eine Genauigkeit zuschreibe, welche in der Tat nur der Theorie zukommt. Allein ich kann meine Behauptung mit Tatsachen belegen. Der Kapitän BASIL HALL erzählt von sich selbst ein auffallendes Beispiel von der Genauigkeit und Wichtigkeit solcher astronomischer Längenbestimmungen. Er segelte von San Blas an der Westküste von Mexiko ab und legte binnen 89 Tagen 8000 englische Meilen zurück. Nachdem er in diesem Zeitraum den Stillen Ozean durchschifft hatte, das Kap Horn dubliert und den südatlantischen Ozean durchkreuzt hatte, kam er auf der Höhe von Rio de Janeiro an, ohne irgendwo gelandet oder auch nur ein einziges Segel gesehen zu haben, außer einem amerikanischen Walfischfänger abwärts vom Kap Horn. Als er sich noch acht Tat von Rio entfernt glaubte, bestimmte er seinen Ort nach dem Prinzip der Monddistanzen.
Die Untersuchungen der Naturforscher haben sich indessen keineswegs auf die Sternenwelt beschränkt. Mit demselben rastlosen Eifer, nach demselben Prinzip der Teilung der Arbeit, mit derselben Vereinigung verschiedenartiger Talente hat man die Natur in allen ihren Tiefen zu durchforschen gesucht. Durch höchst sinnreiche Kunstgriffe und Experimente hat man die verschiedenen Zustände und Bewegungen des Lichts entdeckt, jenes geheimnisvollen Wesens, welches alle Körper sichtbar macht, selbst aber unsichtbar ist. Man hat gefunden, daß in einer Zeitsekunde, während eines Pendelschlages ein Lichtstrahl 42000 Meilen durchfliegt. Man hat gefunden, daß ein solcher Strahl in außerordentlich kleinen Wellen durch den Raum fließt und daß in einer Sekunde nicht weniger als 500 Billionen solcher Wellen, welche alle einem einzigen Lichtstrahl angehören, das menschliche Auge treffen. Solche Resultate können unglaublich erscheinen, und dennoch stehen sie unwiderleglich fest. Man hat die Gesetze der Luftschwingungen erforscht, auf welche sich die Harmonie der Töne gründet. Man hat dem geheimnisvollen Wirken des Erdmagnetismus, dem gespenstischen Wesen der Wärme nachgespürt. Die Strombewegungen des Ozeans und der Atmosphäre, der Lauf und die anomale Beugung der isothermischen Linien, die Bedingungen des Gleichgewichts der irdischen Temperaturen sowie der Verteilung der Klimate, die Herde des unterirdischen Feuers - von allen diesen Gegenständen hat man die Ursachen und die Gesetze zu ergründen gesucht. Ja, selbst die irdischen Gestaltungen hat man in denselben Kreis der Untersuchungen gezogen. Man hat gefunden, daß die Kristallbildungen nach strengen geometrischen Gesetzen erfolgen und daß die Elementarteile des Pflanzen- und Tierlebens sich nach ganz analogen Gesetzen formen. Für die Physiologie, für die Pathologie, selbst für die Therapie eröffnen sich neue, noch nie geahnte Aussichten, und man steht gegenwärtig auf dem Punkt, die physikalischen Gesetze des Lebens zu entdecken. Ich habe hier mit wenigen und schwachen Pinselzügen die Lineamente eines Gemäldes anzudeuten versucht, das die großen Meister der letzten Jahrhunderte von der Natur entworfen haben, so wahr und treu in seinen Zügen, wie die ewige Mutter selbst. Sie hat uns auf einen Standpunkt gestellt, von dem aus die Beobachtung große Parallaxen gibt, aber sie selbst hat uns zugleich einen Kompaß gegeben, dessen Nadel ewig ohne Abweichung auf Gesetz und Ordnung weist. Mit dieser Gabe der Natur hat der Mensch sich selbst gebändigt und erzogen. Hilflos fand er sich unter den Schrecknissen eines gewaltigen und oft feindlichen Schicksals. Jetzt ist die Furcht seiner kühnen Forschung gewichen, tiefe Einsicht hat das dumpfe Staunen verdrängt, und der Reichtum seiner Erfindungen hat ihn selbst gegen die Gewalt der Elemente bewaffnet. Er hat die Natur gezwungen, auf seine Fragen zu antworten, ihm ihre Geheimnisse zu verraten und einen friedlichen Bund mit ihm zu schließen. Noch arbeiten die erfindungsreichsten Geister der gebildetsten Nationen an einem Werk, das so sichere Grundlagen und schon so vollendete Teil hat, und wenn die Geisteskraft der Völker sich noch einige Jahrhunderte auf ihrer jetzigen Höhe erhält, so steht zu erwarten, daß dann die verborgensten Werkstätten der Natur dem Menschenauge offen stehen. Dann aber, wenn diese Wissenschaft ihre Kreise vollendet haben wird, wird es auch klar werden, wie sie mit ihren Erklärungen nicht an die Würde des Geistes heranreicht und wie des Geistes eigenstes Wesen und Leben jenseits aller Körperwandlungen unseren Begriffen unfaßbar besteht. Ich habe vorhin gesagt, daß der Mensch die Regel, nach welcher er die Ordnung der Natur erforschen müsse, in sich selbst finde und nicht von der Natur erlerne. Diese Behauptung kann auffallend und paradox klingen, wenn man erwägt, daß der Gegenstand der Untersuchung gänzlich außer uns liegt, und dennoch hoffe ich sie durch den Verlauf der folgenden Betrachtungen vollständig zu rechtfertigen. Diese Umstand hat jedoch die Verirrungen veranlaßt, in welche sich die SCHELLINGsche Naturphilosophie verloren hat. An dieser Stelle ist der Punkt, in welchem Philosophie und Naturforschung zusammenhängen. Hierin liegt der Grund, daß eine Naturphilosophie der Physik zugrunde liegt und für dieselbe unentbehrlich ist. Aber unrichtige Philosopheme, sowie eine falsche Anwendung ansich richtiger philosophischer Prinzipien haben der Naturforschung ebenso oft Abbruch getan, wie eine richtigere Philosophie die Fortschritte derselben befördert hat. Einzig durch eine aufgeklärte und richtige Philosophie gelangte man zu der Einsicht, daß die astronomischen Aufgaben mechanisch gefaßt werden müßten, und diesem philosophischen Postulat an eine ihr anscheinend fremde Wissenschaft verdanken wir die vollendete Ausbildung der letzteren. Dieser eine Umstand, welcher leicht durch eine Menge anderer Beispiele noch unterstützt werden könnte, kann schon beweisen, wie wichtig, ja wie unentbehrlich die Naturphilosophie für alle Naturwissenschaft ist. Wegen des Widerstreits aber, mit welchem diese Wissenschaft bisher in den Schulen behandelt worden ist, wegen der Vermengung wissenschaftlicher Ansichten mit neoplatonischen Phantasien, wird es für uns eine Sache von großer Wichtigkeit, uns geschichtlich zu orientieren und den Standpunkt aufzusuchen, von dem aus wir unsere Aufgabe fassen müssen. Als ein Schüler von FRIES versteht es sich für mich von selbst, daß ich die Ansichten meines Lehrers verteidigen werde. Demgemäß will ich gleich im Voraus die Hauptpunkte bezeichnen, die ich bei der Ausführung unseres Gegenstandes besonders glaube berücksichtigen zu müssen. 1. Die Aufgabe, welche wir uns für diese Untersuchungen stellen, ist, daß ich Sie über den Zusammenhang der Philosophie mit der Naturforschung zu verständigen suche. Die Abhängigkeit der letzteren von der ersteren läßt sich nach drei verschiedenen Seiten hin verfolgen:
2) gibt die Philosophie der Naturforschung ihre methodischen Regeln, und 3) liegt aller Naturwissenschaft eine Metaphysik der Natur zugrunde, welche die höchsten konstitutiven Prinzipien der Naturlehre selbst bestimmt.
2) Wir behaupten, daß aller Naturlehre eine Metaphysik der Natur zugrunde liegt (gegen BACON von Verulam); 3) daß nur die mathematisch konstruierten metaphysischen Grundbegriffe die Prinzipien der Naturphilosophie enthalten (gegen ARISTOTELES und alle diejenigen, welche die substantiellen Formen oder ähnliche Erklärungsgründe in die Naturwissenschaft einzuführen versuchten, endlich gegen JUSTINUS KERNER und alle, die an Gespenster glauben). Natur, physis, natura, ist nach der ältesten, ursprünglichsten Bedeutung des Wortes die Erzeugung aller Dinge. Die Lehre vom Ursprung aller Dinge war das erste und fast ausschließliche Thema der ionischen Philosophie. Die ersten Anfänge der griechischen Philosophie beschränkten sich also auf Naturphilosophie. SOKRATES erkannte zuerst die Selbständigkeit der sittlichen Prinzipien und ihre Unabhängigkeit von der Physik. Er stellte zuerst die ethischen Überzeugungen den physikalischen Lehren entgegen. Seit dieser Zeit teilte man in der sokratischen Schule die Philosophie in Logik, die Lehre von den Gesetzen des menschlichen Denkens, Ethik, die Lehre von den mensclichen Angelegenheiten und dem Guten, und Physik, die Lehre vom Ursprung der Dinge. Diese letztere hatte die Aufgabe, den Ursprung aller Dinge aus der höchsten Ursache, aus der Gottheit, zu begreifen. Sie vereinigte also die Aufgabe der eigentlichen Naturwissenschaft mit der der Religionsphilosophie. Sie war im wesentlichen Kosmologie und Kosmophysik. Von THALES bis auf DESCARTES herab hat man sich vergebens bemüht, diese Aufgabe aufzulösen. Das Fehlschlagen dieser Unternehmung liegt, wie ich später zeigen werde, an der eigentümlichen Beschaffenheit unserer Erkenntnis. Durch die Entdeckung der Naturgesetze erkannte man die Unmöglichkeit dieser Aufgabe. Die metaphysischen Ansichten erlitten dadurch eine völlige Umgestaltung. DESCARTES, der erste Ordner derselben in neuerer Zeit, war genötigt, das körperliche Wesen der Dinge vom geistigen scharf zu unterscheiden. Man erkannte, daß sich der Kreis der Erklärungen nur auf das erstere beschränke. Das Wort Natur erhielt dadurch eine ganz andere Bedeutung. Gegenwärtig versteht man unter Natur (in formaler Bedeutung) die Abhängigkeit der Dinge von notwendigen Gesetzen. Hier entstehen gleich neue Fragen:
2) Was ist ihr Gesetz und woher stammt es? und 3) Wie besteht die Abhängigkeit der Dinge von Gesetzen? Das Wort "Natur" wird in zweierlei Bedeutung gebraucht: in formaler und materialer.
2) Dann spricht man aber auch von der ganzen Natur und versteht darunter das Ganze der Sinnenwelt. Dieses Ganze steht nämlich ebenso unter notwendigen Gesetzen wie jeder einzelne Gegenstand in ihm. Darin liegt die Befugnis, den Begriff von diesem auf jenes zu übertragen. Für das Verständnis der ganzen FRIESischen Lehre ist vielleicht nichts wichtiger, als jene Lehre von der Verschiedenheit und dem Unterschied der Weltansichten, jene Lehre, welche ich mit einem allgemeinen Namen das Gesetz der Spaltung der Wahrheit nennen will. Die Früheren haben, etwa KANT ausgenommen, allgemein vorausgesetzt, daß das Ganze der menschlichen Erkenntnis sich in ein wissenschaftliches System müsse vereinigen lassen. Allein FRIES hat gezeigt, daß dies unmöglich sei. Die verschiedenartigen Teile der menschlichen Erkenntnis gestalten sich nämlich zu ganz verschiedenartigen Systemen, von denen jedes eine mehr oder minder vollständige wissenschaftliche Entwicklung zuläßt. Diese Systeme hängen nicht theoretisch in einem Prinzip zusammen, sondern sie stehen nur induktorisch nebeneinander; sie sind nicht Glieder eines größeren Ganzen, sondern Stufen, von denen jede eine etwas veränderte Ansicht der Wahrheit gewährt. Die menschliche Erkenntnis gleicht nicht einer ebenen Fläche, die man von irgendeinem hohen Standpunkt herab vollständig und mit einem Blick übersehen könnte; sondern sie gleicht vielmehr einem Hügelland, von dem man sich nur nach und nach ein vollständiges Bild aus teilweisen Ansichten zusammensetzen muß. Es gibt mehrere Höhen, mehrere Standpunkte übereinander, von denen jeder einen anderen Anblick darbietet und wo sich bald das eine zeigt und bald wieder verbirgt.
1) Diese Abhandlung bildet den ersten Abschnitt der von APELT im Wintersemester 1842/43 gehaltenen "Vorlesungen über Naturphilosophie", wie sie uns in der Nachschrift von M. J. SCHLEIDEN vorliegen. Bisher ist nur die Einleitung gedruckt worden. Sie wurde von ERNST HALLIER in seine "Kulturgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts" (Stuttgart 1889, Seite 167f) aufgenommen. Ihm verdanken wir auch das SCHLEIDENsche Kollegienheft. |