tb-1RiehlRickertDrewsLeserNeudecker    
 
ALOIS RIEHL
Die kritische Philosophie
[ 1 / 2 ]

"Das Wesen der Substanz als solcher ist unbekannt, denn die Substanz ist die Annahme von etwas Unbekanntem."

Weniger glanzvoll als die moderne Wissenschaft und die ihrer Bahn folgenden philosophischen Systeme hat sich die kritische Philosophie, wie wir sie nach dem Vorgange KANTs nennen, in die Geschichte eingeführt. Ihre Fragen sind nicht geeignet, Sinn und Einbildungskraft gefangenzunehmen, sie erscheinen wie dem Leben abgewandt und der Wirklichkeit fremd.

Diese Philosophie verheißt uns weder, uns in die Weiten kosmischer Räume zu führen, noch uns einen Einblick in das Wesen der Natur zu eröffnen. Sie richtet die Betrachtung auf das erkennende Subjekt, und indem sie es der Wissenschaft überläßt, die Dinge zu erforschen, untersucht sie den Verstand, der die Dinge begreifen will.

Sie bereichert nicht den Inhalt unserer Erkenntnisse; sie sucht Form und Wert der Erkenntnis als solcher zu bestimmen. Darum ist sie auch nicht eigentlich forschend, sondern beurteilend, das heißt eben kritisch.

Die sokratische Weisheit des Nichtwissens, in Fragen, die den Umkreis der Erfahrung überschreiten, ist ihre Maxime. Sie will das Wissen von der Beimischung metaphysischer Konzeptionen reinigen, von seinem Bereich diese überschwenglichen Begriffe ausschließen. Und wie die Einsicht in das Nichtwissen nach SOKRATES, den ersten Schritt zur Selbsterkenntnis für den einzelnen bedeutet, so bedeutet die kritische Philosophie den ersten entscheidenden Schritt zur Selbsterkenntnis für die Vernunft im allgemeinen.

Das Erkennen erkennen wollen! Ist dies nicht widersinnig, widerspricht dieses Vorhaben nicht sich selbst? Es scheint, wir müßten einen anderen, höheren Verstand voraussetzen, um unseren Verstand untersuchen zu können. Oder, soll der Verstand in seiner eigenen Sache Richter und Partei zugleich sein? Der Verstand, sagt LOCKE, gleicht dem Auge, das, während es alle anderen Dinge für uns sichtbar macht, sich selbst nicht sieht; daher erfordere es eine besondere Kunst und Mühe, ihn sich selbst gleichsam gegenüberzustellen und zum Objekt seiner Untersuchung zu machen.

Auch das Auge sieht sich selbst, wenn es sein Bild im Spiegel betrachtet. Der Spiegel des Verstandes aber ist das Werk des Verstandes: die menschliche Erkenntnis und Wissenschaft. Hier wird der Verstand, ein inneres Vermögen, offenbar, und in dem, was er bewirkt, lassen sich seine Fähigkeiten erkennen. Doch einem begründeten Bedenken ist nicht mit einem Gleichnis zu begegnen; an dem Werke der Kritik der Erkenntnis selbst soll gezeigt werden, wie diese Kritik möglich ist, was sie soll und was sie vermag.

Wir gehen dabei von der gewöhnlichen Anschauung aus, die uns allen natürlich ist: dem Bewußtsein der unmittelbaren Gegenwart des Objektes in der Wahrnehmung der Sinne. Dieses sinnliche Bewußtsein, mit dem die Erfahrung beginnt, kennt keinen Unterschied zwischen Wahrnehmung und Gegenstand; es weiß nur vom Gegenstand und nichts von seiner Wahrnehmung. Die Anschauung der Sinne ist nach außen, nicht auf uns selbst gerichtet. Wie wir die Sonne auf- und untergehen sehen, die Bewegung der Erde aber nicht fühlen, weil wir uns mit ihr bewegen, so erscheinen uns, solange wir wahrnehmen, unsere Wahrnehmungen selbst als die Dinge, und wir werden uns der Tätigkeit unseres Wahrnehmens nicht bewußt. So natürlich uns jene erste Auffassung ist, die von der Bewegung der Sonne, welche die Wissenschaft berichtigt hat, so zwingend und natürlich erscheint uns die zweite, die wir nun zu prüfen haben.

Es bedarf nicht vieler Vorbereitungen dazu; schon die alltägliche Beobachtung überzeugt uns, daß die Gleichheit von Wahrnehmung und Wahrnehmungsgegenstand nicht richtig sein kann. Mag in der einzelnen Wahrnehmung der Gegenstand noch so leibhaftig enthalten, ja mit ihr eins zu sein scheinen, - die Wahrnehmung ändert sich, auch wenn wir nur unsere Lage zum Gegenstand oder die Entfernung von ihm ändern. Wir erlangen dann neue Wahrnehmungen, die von den früheren mehr oder minder verschieden sind. Und doch sagen wir in diesem Falle nicht: der Gegenstand hat sich geändert, oder er ist aus einem vieles geworden, weil die Wahrnehmung sich geändert und vervielfacht hat, - was wir sagen müßten, wenn Wahrnehmung und Gegenstand wirklich ein und dasselbe wären.

Wir beginnen vielmehr, die erste Wahrnehmung durch die folgende zu berichtigen und zu ergänzen, und endlich erklären wir: der Gegenstand ist nicht gleich dieser oder irgendeiner einzelnen Wahrnehmung, er ist auch nicht gleich der Summe der Wahrnehmungen, die wir von ihm erlangen, richtiger: auf ihn beziehen; er ist die gemeinschaftliche Ursachen, der Grund aller durch ihn gegebenen und möglichen Wahrnehmungen, oder von uns aus betrachtet die Regel, aus welcher sie alle sich mit anschaulicher Folgerichtigkeit entwickeln lassen.

Ich wähle ein Beispiel, wo dies besonders deutlich wird. Wir sprechen von der wahren Gestalt, der wahren Größe der Sonne und wissen, daß diese Gestalt und Größe nie zur Wahrnehmung kommen, daß kein Auge sie sieht oder je sehen könnte; wir wissen, daß ihre Kenntnis durch Vorstellungsprozesse vermittelt wird, durch Berechnung und Schlußfolgerung, und sie selbst bleiben für uns nur Vorstellungen. Wir nennen sie aber die  wahre  Gestalt und Größe der Sonne, weil mit ihrer Annahme allein alle unsere Erfahrungen über die Sonne, die direkten wie die daraus hergeleiteten wissenschaftlichen, übereinstimmen.

Was in diesem Beispiel offenkundig ist, gilt in ähnlicher Weise von jedem beliebigen Gegenstand unserer Anschauung. Der Tisch vor uns: - was unserer Anschauung wirklich von ihm gegeben wird, ist eine Reihe je nach unserem Standpunkt unterschiedener perspektivischer Bilder, deren genauere Beschaffenheit in Farbe und Modellierung überdies abhängig ist von der Umgebung des Tisches und den wechselnden Verhältnissen seiner Beleuchtung. Diese Bilder fassen wir durch ein unwillkürliches, der bewußten Verallgemeinerung und Begriffsbildung verwandtes Verfahren unseres Geistes zur Vorstellung der Gestalt des Tisches zusammen.

Jeder Mensch hat in seiner sinnlichen Erscheinung eigentlich unzählige Gesichter, unzählige Nasen; der Künstler, der ein Porträt machen will, hebt durch eine Art von Abstraktion aus dieser unbestimmbaren Mannigfaltigkeit die eindrucksvollste Erscheinungsform hervor, die als solche das Gesetzliche sämtlicher Wahrnehmungsbilder enthält, und ebendaher in keiner einzelnen Wahrnehmung gegeben ist, und seine Darstellung erscheint um so wahrer, je vollkommener sie das Abbild der Vorstellung der Form ist, im Unterschied von ihrer bloßen Wahrnehmung.

Dieses künstlerische Verfahren der Auslese und Konzentration auf das Wesentliche ist nur die Weiterbildung der natürlichen Vorstellungstätigkeit, die wir jedem Komplexe von Wahrnehmungen gegenüber absichtslos ausüben. Stets entwickeln wir durch Verschmelzung und Zusammenfassung der Wahrnehmungen die Vorstellung des Gegenstandes und diese Vorstellung selbst ist nicht mehr rein anschaulicher Natur. Sie ist nach der richtigen Bezeichnung von HELMHOLTZ ein Begriff, denn sie umfaßt alle möglichen einzelnen Wahrnehmungen, die das Objekt in uns hervorrufen kann.

So hat sich der Gegenstand immer weiter von dem sinnlichen Bewußtsein entfernt, mit welchem er anfänglich verflochten zu sein schien; aus einer Wahrnehmung ist er zur Vorstellung geworden, zum Begriff, der als Regel dient, die einanderfolgenden Wahrnehmungen zusammenzuhalten und einheitlich zu verknüpfen. Dies soll aber  nicht  heißen: der Gegenstand selbst ist ein bloßer Begriff; es bedeutet nur: ein Begriff vertritt für unser Bewußtsein die Stelle des Gegenstandes.

Kehren wir zur Wahrnehmung zurück, um sie noch in anderer Hinsicht zu betrachten. - Die Wahrnehmung ist zusammengesetzt, und wie sie als Ganzes für das sinnliche Bewußtsein den Gegenstand bildet, so erscheinen diesem Bewußtsein ihre Bestandteile als Teile und Eigenschaften des Gegenstandes. Blätter und Blüten einer Pflanze z.B. nennen wir Teile der Pflanze, während das Grün der Blätter, das Rot der Blüten zu ihren Eigenschaften gehören.

Nun entdecken wir bald einen Unterschied unter den Eigenschaften eines Objektes, wonach einige unmittelbarer und beständiger dem Objekte anzuhaften scheinen als andere, die wir daher auch statt als Eigenschaften lieber als Wirkungen des Objektes bezeichnen. Das Rot scheint uns der Rose viel unmittelbarer eigen zu sein als ihr Duft; wir sagen daher aktiv: die Rose duftet, sie verbreitet Wohlgeruch, nicht sie ist Duft, wie wir sagen: sie ist rot. Bei tieferer Betrachtung sehen wir freilich diesen Unterschied verschwinden. Wie der Duft der Rose in der Fähigkeit der Rose besteht, gewisse Riechstoffe zu entsenden, so besteht ihre Farbe in der Fähigkeit, bestimmte Lichtstrahlen zu reflektieren.

Und wie der Duft der Rose entsteht, nicht an sich besteht, so wird auch ihr Rot unter gewissen Bedingungen nur beständig wiedererzeugt. Alle Eigenschaften eines Objektes erscheinen uns jetzt als Wirkungen, und das, worauf gewirkt wird, ist jedesmal das Sinnesorgan eines empfindenden Wesens. Was wir laut dem Zeugnis der Wahrnehmung Eigenschaften des Objektes nennen, sind zunächst Empfindungen von Sinneseindrücken, die durch das Objekt erregt werden. Von dieser wahren Natur ihrer Bestandteile verrät uns die bloße Wahrnehmung nichts, und auch nachdem wir sie entdeckt haben, fahren wir fort, unsere Empfindungen als Eigenschaften der Dinge selbst anzuschauen.

Auch würden wir bei der Unmöglichkeit, die Empfindungen in uns von den Eigenschaften der Objekte außer uns wirklich zu trennen, nie dazu gelangt sein, beides zu unterscheiden, hätten wir nicht eine Mehrheit von Sinnen. Dadurch sind wir in den Stand gesetzt, dasselbe Objekt auf mehrfache Weise zu untersuchen und die Aussage eines Sinnes an der Aussage eines anderen zu prüfen. Wir können einen Gegenstand betasten, ohne ihn zu sehen, oder ihn sehen, ohne ihn gleich zu betasten. Wenden wir das Auge von ihm ab, so verschwinden seine optischen Eigenschaften: Farbe und sichtbare Gestalt; ziehen wir die Hand zurück, so verschwinden wieder die Beschaffenheiten seiner Oberfläche aus der Empfindung und der Widerstand, den er dem Druck der Hand entgegensetzt.

Indem wir so mit unseren Wahrnehmungen experimentieren, erproben wir die Abhängigkeit der Eigenschaften des Objektes, so wie wir sie wahrnehmen, von der Empfindungsweise unserer Sinne; wir erkennen, daß zu ihrer Verwirklichung wesentlich die Tätigkeit der Sinne gehört. Was ist das Rot, ehe es durch ein Auge gesehen wird und nachdem es aufgehört hat, gesehen zu werden? Ätherwellen von bestimmter Länge und Schwingungszahl mögen fortfahren, vom Gegenstand zurückgeworfen zu werden; erst ihre Wirkung auf das Auge ist Licht und Farbe. Eine Empfindung kann sich ändern, auch wenn sich nichts im Objekte selbst geänder hat; dasselbe Licht, das auf die Netzhautgrube fallend farbig empfunden wird, erscheint farblos, wenn es auf den Rand der Netzhaut fällt.

Schon allein die Tatsachen, daß zwischen den Dingen und Empfindung und Wahrnehmung der Dinge die Sinneswerkzeuge und Zentralorgane eines empfindenden Wesens eingeschaltet sind, macht es unmöglich, in den Empfindungen etwas anderes zu sehen als Wirkungen der Dinge. Diese nächstliegende Betrachtung genügt bereits, den naiven Glauben an die unmittelbare Wirklichkeit der Elemente unserer Wahrnehmung zu zerstören. Wir bleiben dabei auf dem Standpunkte des  common sense,  der gemeinen, naturwüchsigen Anschauungen stehen, - und es ist immer mißlich, sich zu weit von diesem Standpunkte zu entfernen.

Diese Dinge vor uns, die den Raum erfüllen und im Raume ihre Bewegung verbreiten, sollen die wahren Dinge sein, die Dinge selbst; gewiß aber ist, daß zwischen ihnen und uns, ehe wir zu ihrer Wahrnehmung gelangen, ein sehr verwickelter Prozeß sich abspielt, dessen Hauptstadien und Stufen die Physiologie beschreibt.
    Das erste sind Bewegungen von bestimmter Form und Beschaffenheit, Schallwellen, Lichtwellen und dgl., die vom Objekte ausgehen, wir nennen sie Reize, -

    die dadurch ausgelösten Veränderungen in den peripherischen Sinnesorganen, z.B. der Ausbreitung des Sehnerven auf der Netzhaut, sind das zweite;
diese Veränderungen, die bei einigen Sinnen sicher, und wahrscheinlich bei allen, chemischer Natur sind, werden durch die Sinnesnerven zu den primären Sinneszentren (in den subkortikalen Ganglien) geleitet und von da zu den Endstätten in der Großhirnrinde, mit deren Erregung erst bewußte Empfindung und Wahrnehmung verknüpft sind. Muß nicht auf diesem weiten und verschlungenen Wege die Beschaffenheit der Ursache, mit der der Vorgang beginnt, eine tiefgreifende Umwandlung erfahren?

Allgemein hängt die Beschaffenheit einer Wirkung nicht von der Natur des einwirkenden Faktors allein ab, sie wird immer zugleich durch die Natur des Gegenstandes mitbestimmt, auf welchen gewirkt wird. Mit HELMHOLTZ werden wir daher sagen: die Sinneseindrücke und Empfindungen sind nicht Bilder der Objekte, sondern Zeichen derselben, mit SPINOZA erklären: die Vorstellung, die wir von äußeren Körpern haben, zeigen  mehr  die Konstitution unseres Körpers an, als die Natur der äußeren Körper selbst.

Wir sind von verhältnismäßig einfachen Erwägungen ausgegangen, um Sinn und Berechtigung des kritischen Nachdenkens über die Erkenntnis anschaulich zu machen; den tieferen Fragen müssen wir uns erst noch zuwenden.

Da ist es nun eine Tatsachen unseres Denkens, daß wir einen weit größeren Zusammenhang unter den Gegenständen der Wahrnehmung annehmen, als es durch die Wahrnehmung selbst gerechtfertigt erscheint. Wir nehmen an, daß es in den Dingen etwas schlechthin und durch alle Zeit Beharrliches gebe, oder in der Sprache der Philosophie: daß ihre Eigenschaften und Zustände in der Einheit der  Substanz  zusammenhängen.

Wir setzen ferner voraus, daß die Veränderungen der Dinge in notwendiger Abhängigkeit voneinander stehen; wir sagen, daß sie einen Zusammenhang durch  Kausalität  besitzen. Wird auch der erste Ausdruck wenig in der positiven Wissenschaft gebraucht, die statt von Substanz von Materie redet, so ist der zweite: Kausalität auch in ihr allgemein üblich. Kausalität, oder was dasselbe bedeutet, ein zureichender Grund der Veränderung, ist ein Postulat der Wissenschaft, eine Forderung, welche die Forschung an die Vorgänge in der Natur stellt und stellen muß, um Forschung zu sein.

Mit beiden Annahmen, die sich nur in der Anwendung, nicht im Wesen unterscheiden, geht das Denken ohne Zweifel über die in der Wahrnehmung gegebenen Tatsachen hinaus, eine "Substanz" kann nicht gesehen werden; auch die Materie, die Substanz des Physikers, wird nicht gesehen, sondern gedacht. Was die Beobachtung allein zeigen kann, ist die Wiederkehr einer gleichen Erscheinung, der Raumerfüllung, oder einer gleichen Größe, der Masse, nicht die Erhaltung desselben Dinges oder ein und derselben Größe, der Masse, nicht die Erhaltung desselben Dinges oder ein und derselben Größe.

Und ebensowenig läßt sich Kausalität sinnlich wahrnehmen; die Ursächlichkeit als solche ist weder in dem Vorgang, der vorangeht, noch in dem, welcher nachfolgt, noch endlich in dem Folgen selbst den Sinnen gegeben. Und doch sind diese Annahmen nicht bloß, wie es sich beinahe von selbst versteht, Grundbegriffe der wissenschaftlichen Erkenntnis, schon die gewöhnliche Erfahrung richtet sich nach ihnen. Wir können dies leicht an dem Begriffe der Substanz zeigen.

So oft wir etwas als Gegenstand der Wahrnehmung auffassen, glauben wir, so wollen wir uns bescheiden zu sagen, daß der Gegenstand nicht erst durch die Wahrnehmung entsteht, oder mit ihr vergeht und von neuem geschaffen wird, wenn die Wahrnehmung sich erneuert. Wir glauben an die Unabhängigkeit des Gegenstandes von der Wahrnehmung und sein unverändertes Fortbestehen nach ihr, wenn er nicht durch äußere Ursachen verändert wird; und wir glauben dies nicht bloß oder hauptsächlich aus dem Grunde, weil er fortfährt, den Sinnen anderer Menschen gegenwärtig zu bleiben und wir uns durch ihr Befragen davon überzeugen können.

Die Objekte in der Umgebung des Nordpols hatte bis auf unsere Tage noch kein menschliches Auge erblickt; niemand aber zweifelte an ihrer Existenz. Dieser Glaube an die Unabhängigkeit der Objekte von ihrem Wahrgenommenwerden und an ihre Beständigkeit, ungeachtet des Wechsels der Wahrnehmungen, ist der Glaube, den wir mit dem Begriffe der Substanz ausdrücken. Ohne diesen Glauben - keine Erfahrung, denn ohne ihn würde das Objekt fehlen, von dem irgend etwas ausgesagt werden könnte, das Objekt für ein Urteil über die Wahrnehmung, und weil keine Erfahrung, auch keine Wissenschaft, keine Möglichkeit der Übereinstimmung der Urteile aller in bezug auf ein und dasselbe Objekt.

Kein Chemiker, der eine bestimmte Menge Wasser in Wasserstoff und Sauerstoff von bestimmten Gewichtsverhältnissen zerlegt und durch Wiedervereinigung dieser Elemente eine gleiche Menge Wasser erhält, zweifelt im geringsten, daß es dieselben Elemente sind, die er erst im verbundenen, dann in getrenntem Zustande vor sich hatte. Wollte er seine Überzeugung lediglich auf Beobachtung stützen, so wäre sie nicht zu begründen; denn seine Wahrnehmungen sind zeitlich getrennt und verschieden, und sie können ihm immer nur  gleiche,  d.i. in ihren Eigenschaften übereinkommende Objekte zeigen; gleiche Objekte aber sind nicht  dieselben  Objekte.

Dennoch bleibt er bei seinem Glauben an das Fortbestehen  derselben  Elemente, oder um es ohne atomistische Hypothese zu sagen, an das Fortbestehen von etwas, das diesen Elementen entspricht, und er muß an diesem Glauben festhalten, weil allein durch ihn seine Beobachtungen mit dem Gegenstande und dadurch auch untereinander verknüpft werden können. Eine rein "phänomenologische" Physik oder Chemie, an die man etwa denken könnte, müßte für ihre "Beschreibungen" der Tatsachen mindestens Allgemeingültigkeit in Anspruch nehmen, das heißt, sie müßte fordern, daß ihre Beschreibungen von einem uns und dem Forscher gemeinschaftlichen Objekte gelten sollen.

So können wir das Denken nicht entbehren, auch nicht bei unseren alltäglichen Erfahrungen. Das Denken ergänzt die Wahrnehmung. Immer wieder setzen wir einen weit größeren Zusammenhang voraus, als in den bloßen Tatsachen gegeben ist. Nennen wir den Inbegriff der Tatsachen in der Wahrnehmung:  reine  Erfahrung, so kommen wir schon hier zum Schlusse, daß reine Erfahrung keine Wissenschaft begründen kann, daß sie ungeeignet ist, Erkenntnis eines Objektes zu werden. Schon hieraus erhellt die Notwendigkeit einer  Kritik der Erfahrung der Prüfung und des Beweises der Annahmen, von denen, wie wir gezeigt haben, Erfahrung und Wissenschaft tatsächliche ausgehen.

In weniger abstrakter Weise läßt sich diese Notwendigkeit durch ein Gleichnis anschaulich machen. Was für den Physiker die genaue Kenntnis seines Instrumentes bedeutet, mit welchem er messen und experimentieren will, bedeutet für die Forschung überhaupt die Kritik der Erkenntnis. Das Instrument aller Erfahrung ist der menschliche Geist selber, und wer den menschlichen Geist nicht kenn, kennt sein Produkt: die Erfahrung, nicht; er weiß nicht, was dazu die Wahrnehmung hergibt, und was dafür der Verstand zu leisten hat. Den Verstand, das Instrument der Instrumente, wie DESCARTES ihn genannt hat, kennen zu lernen und so der Wissenschaft den Maßstab ihrer Forschung zu geben, ist die Aufgabe der kritischen Philosophie. Die Gewißheit der Dinge kann nie größer sein als die Gewißheit der Erkenntnis.

Die kritische Philosophie ist eine Schöpfung der Aufklärungszeit. Indem sie deren Tendenzen auf klare und bestimmte Begriffe brachte, wurde sie selbst zur wesentlichsten geistigen Macht jener Zeit. Das "Zeitalter der Vernunft, das philosophische Zeitalter", so bezeichntet VOLTAIRE die Epoche der Aufklärung. Es ist die Zeit "des Ausganges des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit", der Befreiung seines Denkens von dem Druck der Gewohnheit und aus den Fesseln der Überlieferung: das "sapere aude!" - wage zu denken! - ist nach KANT ihre Maxime.

Erst durch uns selbst geprüfte Erkenntnis ist lebendige Erkenntnis, sie erst kann mit unserem ganzen Wesen eins werden; auch geistiges Erbe müssen wir erwerben, um es zu besitzen. Wir sind heute gewohnt, über die Aufklärung etwas vornehm zu denken. Wir sehen ihren Mangel an historischem Sinn. Zwar kannte die Aufklärungszeit die Geschichte, sie begann sie sogar in großem Stile darzustellen; aber sie abstrahierte von ihr; sie wollte die Geschichte durch Vernunft ersetzen, die Geschichte "neu anfangen". Im Grunde widerspricht diese geringe Bewertung des Historischen in Staat und Gesellschaft, die zu hohe der individuellen Vernunft dem Prinzipe der Aufklärung selbst. Es liegt oft mehr Kritik und aufklärende Kraft im Gang der geschichtlichen Tatsachen als in den Begriffen des Rationalismus, vorausgesetzt, daß die Geschichte mit freiem Geiste betrachtet wird.

Wie jede Kulturepoche ist auch die Aufklärungszeit ein Moment in der Erziehung des Menschengeschlechtes und ebendarum auch in der Erziehung des einzelnen Menschen. Einmal im Leben muß jeder eine Zeit der Aufklärung erfahren, einmal im Leben die überkommenen Anschauungen in Frage stellen. Er wird sonst nicht wahrhaft zum Vernunftwesen, sondern bleibt ein Automat der Erziehung und der ihn in Bewegung setzenden autoritativen Meinungen anderer. Freilich, die Aufklärung ist kein Standpunkt, sie ist ein Durchgangspunkt, ihre Bestimmung ist, den Menschen zur Selbstgesetzgebung, zur Selbsttätigkeit und Selbständigkeit zu führen, worauf die Würde seiner Natur beruht.

LOCKE, der erste kritische Philosoph, stellt in seiner Person auf das schlichteste und, wie wir sagen können, als etwas Selbstverständliches den Geist der Aufklärung dar. Wie seine Freunde von ihm berichten, ließ er sich ebenso in allen Angelegenheiten des Lebens wie in seinen wissenschaftlichen Ansichten allein von der Vernunft leiten und war beständig willig und fähig, ihren Ratschlägen zu folgen. Das Recht der freien Prüfung zunächst religiöser, dann aber auch der wissenschaftlichen Anschauungen, wie er es für sich selbst in Anspruch nimmt, gesteht er auch jedem anderen zu, und wie er ein Selbstdenker ist, so wünscht und fordert er, daß auch die anderen, auch die Leser seiner Schriften, selbst denken sollen.

In Dingen, worüber allein der eigenen Vernunft die Entscheidung zusteht, sich an anderer Meinung zu halten, hieß ihm soviel als mit dem Verstande anderer denken wollen, was nicht weniger töricht sei, als zu meinen, man könne mit den Augen eines anderen sehen. Ein sokratischer Zug geht durch LOCKEs ganze Philosophie und Persönlichkeit. "Unsere Aufgabe", erklärt er, "ist nicht, alle Dinge zu kennen, sondern die, welche unser Handeln angehen. Wir brauchen, um die Zwecke unseres Lebens zu erreichen, keine andere Erkenntnis als die der natürlichen, erfahrungsgemäßen Wirkungsweise der Dinge und die Erkenntnis unserer Pflicht; jene in bezug auf unser Verhältnis zu den Dingen, diese für unsere Handlungen."

Wir wundern uns nicht, daß dieser klare, maßvolle Denker, bei dem der Verstand zum Charakter geworden, alle Aufklärungsideen bereits ausgesprochen hat. Seine Schriften, außer dem Essay über den menschlichen Verstand, besonders die Toleranzbriefe, die Schrift über die Vernünftigkeit des Christentums, die beiden Abhandlungen über die Regierung, die Gedanken über die Erziehung geben das vollständige Programm der Philosophie der Aufklärung. Sie enthalten alle wesentlichen Gedanken, die durch die großen französischen Schriftsteller des achtzehnten Jahrhunderts, VOLTAIRE an der Spitze, als kurante Münze durch die Welt verbreitet wurden. VOLTAIRE brachte zugleich mit der Naturwissenschaft NEWTONs die Philosophie LOCKEs nach Frankreich. J.J. ROUSSEAU nahm in seinen "Emile" LOCKEsche Erziehungsgedanken herüber.
LITERATUR - Alois Riehl, Zur Einführung in die Philosophie der Gegenwart - Acht Vorträge, Leipzig 1919