tb-2 L. NelsonH. RickertH. Cohen    
 
WILHELM SCHUPPE
Grundriß der
Erkenntnistheorie und Logik


"Wenn auch Denken als konkreter, d. h. zeiterfüllter Vorgang immer das Denken eines Individuums ist, so meinen doch die Fragen der Erkenntnistheorie und Logik immer das Denken überhaupt, niemals das individuelle Denken als solches. Zu diesem gehören gewisse Determinationen, welche eben nur als Determinationen von jenem denkbar sind und von all demjenigen herkommen, was überhaupt ein Individuum ausmacht. Die zeitliche Entwicklung des Denkens im einzelnen von Kindheit an mit allen ihren möglichen Wegen und Abwegen und die vielen Umstände, welche befördernd oder störend, immer irgendwie modifizierend wirken, die Methoden des Fortschreitens, welche sich auf die Natur des Menschenindividuums gründen, gehören nicht in die Erkenntnistheorie und Logik sondern in die Psychologie. Alles was über jene ausgemacht werden kann,  hat immer schon einen Begriff vom Denken überhaupt und der Wahrheit zur Voraussetzung." 

Einleitung

1. Wenn eine Reflexion des Denkens auf sich selbst möglich sein soll, muß schon eine reiche Betätigung desselben, eine Welt von Gedanken vorliegen, in welcher es sich selbst gegenständlich werden kann. Gefunden wurde es zuerst nur in der sinnfälligeren Form der Sprache. Aber es ist das dringendste Bedürfnis der Logik, die reinen Gedankenelemente von der sprachlichen Einkleidung genau zu unterscheiden.

Das Urteil, welches den Dingen ihre unbestreitbaren Eigenschaften beilegt, war kein Gegenstand der Aufmerksamkeit. Erst im Zweifel, im Streit der Meinungen und im erwiesenen Irrtum trat das Denken als ein beachtenswertes Etwas hervor. Der nachfolgende Sinnenschein macht manche Erwartung zuschanden und so ergabe sich die Aufgabe, richtige und falsche Schlüsse, Schein und Wahrheit zu unterscheiden. Doch lag eine grundlegende Untersuchung der Begriffe Wahrheit und Irrtum außerhalb des Gesichtskreises.

2. Ist der entscheidende Augenschein unabhängig vom Denken des Einzelnen, welches eben durch ihn seiner Irrtümlichkeit überführt wird und ist das Denken zunächst im Suchen und Zweifeln und im Streit der Meinungen aufgefunden worden, so ist selbstverständlich
    1) die Wirklichkeit, welche das Denken erreichen oder treffen will, etwas vom denkenden Subjekt Unabhängiges, es ist die Welt der wahrnehmbaren Einzeldinge (sie  sind,  gleichviel ob ich sie denke oder nicht),

    2) das Denken etwas, was in den einzelnen Subjekten vor sich geht und nur in einem solchen existieren kann, und

    3) das vom Sinnenschein bestätigte, d. i. das wahre Denken ein mit dieser Wirklichkeit übereinstimmendes.
Also schon das erste Aufdämmern der logischen Reflexion setzt einen erkenntnistheoretischen Standpunkt voraus - den naiven Realismus. Die Schwierigkeiten traten erst beim Versuch hervor, Regeln oder Normen zu finden, deren Befolgung die Wahrheit des Denkens verbürgt.

3. Wie unklar der vage Begriff einer subjektiven Tätigkeit des Denkens auch ist, es weiß doch jeder aus seiner eigenen Erfahrung, daß es der Willkür entzogen ist. Worauf wir jedesmal unsere Aufmerksamkeit richten wollen, kann von ihr abhängig gedacht werden, aber Schlußfolgerungen drängen sich unwiderstehlich auf. Wir kennen auch gar nicht verschiedene Denkarten (Verschiedenheiten der rein subjektiven Arten des Denkens) von denen die eine oder andere je nach Vorschrift beliebig als die zweckdienlichere ausgewählt werden könnte.

Welcher Art die Regel sein und wie sie befolgt werden könnte, ist völlig unklar. Normen und Regeln auf den Gebieten der Praxis sprechen die naturgesetzliche Abhängigkeit eines gewollten Erfolges von bestimmten Maßnahmen, Handlungen, Gliederbewegungen aus; grammatische Regeln knüpfen eine bestimmte Form oder Konstruktion an einen bestimmten sinn als dessen Ausdruck; Rechtsnormen sagen, welche bestimmten Wirkungen der Rechtswille an einen bestimmten Tatbestand geknüpft hat. Nichts hiermit Vergleichbares läßt sich bei den subjektiven Denkarten und deren beabsichtigtem Erfolg d. i. der Wahrheit denken. Welcher naturgesetzliche Zusammenhang sollte zwischen den einzelnen Denkarten und der Wahrheit d. i. der Übereinstimmung des Denkens mit dem außerhalb des Subjekts befindlichen Wirklichen stattfinden? Der Geber der Regel müßte immer schon im Besitz der Wahrheit sein.

Wer an evidente Schlußregeln denkt, z. B. wenn es wahr ist, daß alle Menschen sterblich sind, so ist es unwahr, daß einige Menschen nicht sterblich sind, übersieht, daß der zwingende Grund gar nicht in der Besonderheit des subjektiven Denkaktes liegt, sondern im gedachten Inhalt, dem gedachten Begriff "alle", welcher "nur einige, andere aber nicht" ausschließt.

Bei dieser unklaren Fassung der Grundbegriffe Denken, Wahrheit und Wirklichkeit sind Normen des Denkens unmöglich. Die trotzdem aufgestellten widersprechen dem Grundprinzip und, worin ihr Normcharakter besteht, ist verkannt worden.

4. Man wollte, da ja Regeln selbstverständlich eine abstrakt allgemeine Fassung haben, abstrahieren, wußte aber nicht, wovon eigentlich abstrahiert werden sollte.

Geht man von den einzelnen Gedanken aus, welche Dinge und Ereignisse zu ihrem Inhalt haben und begibt sich ans Verallgemeinern, so sind alle die inneren Zusammenhänge, um welche es der Logik zu tun sein muß, unerklärt und unbewiesen vorausgesetzt, Dinge mit Eigenschaften und deren Verhältnisse - ein noch heute beliebter Standpunkt.

Was eigentlich das Denken ist, was das Objekt dieser Tätigkeit, was sie ihm antut, bleibt im unklaren und das Einzelding, von dem ja der Ausgang genommen wird, wird gar nicht zu den Problemen gerechnet, sondern einfach wie ein Gegebenes vorausgesetzt. Wie dann Art- und Gattungsbegriffe von Dingen zustande kommen, ist nicht mehr erklärbar, es sei denn, daß man sich mit der alten Regel durch Komparation [Vergleich - wp], Abstraktion und Reflexion zufrieden gibt. Es handelt sich aber gerade um die Frage, wovon abstrahiert werden soll.

Andererseits schien es, um einen Begriff vom Denken als der rein subjektiven Tätigkeit zu gewinnen, nötig, vom Inhalt oder dem Objekt zu abstrahieren. Aber dann bleibt nichts übrige, auch nicht die Einheit, welche die Bestandteile des Urteils ausmachen.

5. Die speziellen Aufgaben der Logik führen immer wieder auf die Grundfragen: was ist das Denken? was ist das wirkliche Sein, welches sein Objekt werden soll?

Wenn auch Denken als konkreter, d. h. zeiterfüllter Vorgang immer das Denken eines Individuums ist, so meinen doch die Fragen der Erkenntnistheorie und Logik immer das Denken überhaupt, niemals das individuelle Denken als solches. Zu diesem gehören gewisse Determinationen, welche eben nur als Determinationen von jenem denkbar sind und von all demjenigen herkommen, was überhaupt ein Individuum ausmacht. Die zeitliche Entwicklung des Denkens im einzelnen von Kindheit an mit allen ihren möglichen Wegen und Abwegen und die vielen Umstände, welche befördernd oder störend, immer irgendwie modifizierend wirken, die Methoden des Fortschreitens, welche sich auf die Natur des Menschenindividuums gründen, gehören nicht in die Erkenntnistheorie und Logik sondern in die Psychologie. Alles was über jene ausgemacht werden kann,  hat immer schon einen Begriff vom Denken überhaupt und der Wahrheit zur Voraussetzung. 

6. Gelingt es, zunächst auch nur ansatzweise, eine befriedigende Antwort auf jene Fragen der Erkenntnistheorie zu geben, so muß sich auch zeigen, was das Denken seinem Objekt tut; dann läßt es sich sozusagen in seiner Arbeit beobachten und Schritt für Schritt in immer zunehmender Komplizierung ein System von Denkakten d. i. von Urteilen erkennen, dessen Ergebnis das System von Begriffen ist, welches diese Welt darstellt.

Der Sinn des Urteils und seine Arten lassen sich nur finden, wenn man das Denken in seinen einfachsten Betätigungen an seinen Objekten kennen gelernt hat und die Kontrolle und Berichtigung, namentlich die berühmte Analyse der Begriffe ist nur möglich, wenn man die Entstehung jedes Begriffs, aus welchen einfachsten Ansätzen, durch welche Reihe von Urteilen er zustande kommt, erkennen gelernt hat. Das ist analytische Logik, zugleich Methodenlehre.

7. Vor allem müssen auf diesem Weg die verschiedenen Arten von Einheit, d. h. die obersten Begriffe selbst vor unseren Augen entstehen; das ist Erkenntnis der Grundzüge des Wirklichen; von dieser Seite ist die Logik materiale Logik, zugleich Ontonlogie. Die Trugschlüsse, welche sich an die Begriffe Existenz, Wahrheit und Wirklichkeit, Notwendigkeit und Möglichkeit und an die Negation knüpfen, erledigen sich auf diesem Weg von selbst. Was Stoff und Kraft, was subjektiv und objektiv, was das Ding mit seinen Eigenschaften ist (ob das Kapital ein Ding ist, worin die Existenz der Obligation besteht und dgl. mehr), ergibt sich auf dem geraden Weg der Untersuchung.

Die Logik lehrt also keine subjektive Verfahrensweise des bloßen Denkens (ohne Objekte), - die ist gar nicht denkbar - sondern gibt inhaltliche Erkenntnisse, natürlich allgemeinster Art, vom Seienden überhaupt und seinen obersten Arten. Das sind die Normen des Denkens. Jede allgemeine Erkenntnis (z. B. was Sein, was Einheit, was ein Ding, was Tätigkeit oder dgl. ist), wird (durch Subsumtion) für alles spezielle Denken zur unverbrüchlichen Regel.

8. Wie diese Erkenntnisse gefunden werden? Ob so wie die empirischen Gattungsbegriffe, Hund z. B. oder Eiche? Nur die Ausführung kann es zeigen. Alles hängt davon ab, ob wirklich die Reflexion des Denkens auf sich selbst, sich natürlich, wie es in der Gedankenwelt vorliegt, möglich ist.

Der Einwand, welcher prinzipiell gegen alle Erkenntnistheorie erhoben worden ist, wer erst sein Erkenntnisinstrument prüfen wolle, noch es er es anwendet, um es dann mit größerer Sicherheit anwenden zu können, gleiche demjenigen, der schwimmen lernen wolle, noch ehe er ins Wasser geht, paßt nicht auf die oben gestellte Aufgabe. Nach ihr gibt es kein Erkenntnisinstrument, welches abgetrennt von den Objekten, auf welche es gelegentlich angewendet werden könnte, existierte.

Und aus demselben Grund ist auch der Einwand, daß das Denken, welches das Erkenntnisinstrument prüfen soll, doch eben nur dasselbe unzuverlässige Denken sei, welches erst auf seine Treffsicherheit geprüft werden soll, hinfällig. Außerdem ist dieser alte Zweifel des Denkens an sich selbst bekanntlich ein Widerspruch in sich und setzt einen völlig  dogmatischen  Wahrheitsbegriff voraus. Dieser macht erst den Gedanken möglich, daß das menschliche Denken überhaupt durch seine Grundnatur ein irrtümliches sei.

Hiervon ist der Irrtum zu unterscheiden, welcher aus der Individualität stammt.

Ob die Reflexion des Denkens auf sich, d. h. auf seine Gedankenwelt möglich ist, fällt im Prinzip mit der Frage zusammen, ob Bewußtsein möglich ist.

9. Diese Reflexion findet nur Gedanken, welche einen Inhalt haben, d. h. Erkenntnisse. Denken und Erkennen wird oft so unterschieden, daß Denken die sogenannte subjektive Tätigkeit in Abstraktion von ihrem Objekt sei, während in der Anwendung auf das Objekt oder der Ergreifung des Objekts von ihr die Erkenntnis bestehe. Allein jene subjektive Tätigkeit ohne Objekt ist eine Fiktion und einen Akt der Anwendung davon kennen wir nicht. Wer Denken als Instrument und Erkenntnis als das damit Hergestellte bezeichnet, hat zu sagen, was jedes von ihnen ohne das andere ist, wie sie sich unterscheiden und vor allem, wie das Instrument gebraucht wird. Er spielt mit Worten. Meint man mit dem Denken das Grübeln und Nachdenken, so ist zu beachten, daß die bei letzterem stattfindende Anstrengung entweder ganz undefinierbar ist, also auch in der logischen Theorie nicht als das Erkenntnisinstrument qualifiziert werden kann oder daß sie wesentlich in der Konzentration der Aufmerksamkeit und dem willkürlichen Eingriff in den Gedankenverlauf, welcher gewisse früher schon gemachte Erkenntnisse als Vorbedingung für die gesuchte reproduzieren und festhalten, alle Seiten einer Sache, alle Möglichkeiten, welche in Frage kommen können, betrachten läßt, besteht. Aber dann besteht doch auch dieses Nachdenken in lauter Gedanken, welche selbstverständlich einen Inhalt haben, also schon Erkenntnisse sind, wenn auch nicht diejenige, welche gesucht wird und deren Eintreten aus dem Bewußtmachen und Festhalten jener erhofft wird.

Auch wer in der bloßen Phantasietätigkeit, der Anwesenheit ihrer Bilder im Bewußtsein, Denken findet, soll nicht vergessen, daß diese Bilder etwas sagen und bedeuten. Dergleichen sind z. B. spielende Kinder, kämpfende Krieger oder ein Schiff im Wogendrang. In diesen Begriffen sind viele Urteile eingeschlossen und Urteile sind immer Erkenntnisse. Nur sind sie in unserem Fall nicht bestimmt und nicht geeignet, unsere Erkenntnisse von der objektiven Wirklichkeit zu erweitern und das Interesse, welches die Bilder festhält, ist ein Gefühl.

10. Was das Denken ist, läßt sich nicht aus einer Voraussetzung ableiten. Wir können zunächst nur auf unbezweifelbare Beispiele von Gedanken oder Denkakten reflektieren, etwa: die Erde ist rund, der Löwe ist eine Katze, 2 mal 2 ist 4 usw.

Es ist gleichgültig, ob wir die Worte, ich denke oder urteile usw. davor setzen oder nicht. Ihre Setzung kann zuzugestehen scheinen, daß das Gesagte bloß eine sogenannte "subjektive Ansicht" sei, während ihre Weglassung den Anspruch bedeutet, daß jeder so denken muß. Aber auch wenn wir letzteren machen, haben wir es doch immer nur mit (wenn auch übereinstimmenden) Gedanken einzelner zu tun.

Und es ist gleichgültig, ob man sagt "es ist so" oder "es ist wirklich so". Die Behauptung kann in keinem Fall einen anderen Sinn haben, als daß ihr Inhalt etwas wirklich Seiendes ist. Der Irrende hat eben irrtümlicherweise wirklich Seiendes zu denken geglaubt. Und wer seinen Zweifel äußert, spricht doch auch vom wirklich Seienden, zweifelnd, ob es in Wirklichkeit so oder anders ist. Daß es möglicherweise so ist, heißt, daß möglicherweise das wirklich Seiende so ist und der Behauptende will doch diese Möglichkeit als eine wirklich vorhandene hinstellen.

Zum Begriff und Wesen des Denkens gehört es, daß es einen Inhalt oder Objekt hat und gehört der Anspruch, daß dieser Inhalt ein wirklich Seiendes ist. Dem "wirklich Seienden" steht ein nur "scheinbar Seiendes" gegenüber. Aber durch welche Merkmale sich dieser Schein, der doch immer eine Wirklichkeit voraussetzt und diese Wirklichkeit unterscheiden, ist nicht angebbar. Und sollte sich das Objekt als nur scheinbar Seiendes erweisen, so wäre doch dieses nur scheinbar Seiende als Objekt des Denkens etwas Wirkliches. Was eine rein subjektive Denktätigkeit ohne oder noch ohne Objekt (nach Analogie der Arm- und Handbewegungen noch ehe sie ein Objekt erreicht haben) sein könnte, ist absolut unerfindlich. Unterscheiden wir sie dennoch von ihrem Inhalt als dem Gedachten, so haben wir offenbar die abstrakten Momente eines Ganzen vor uns, welche jedes für sich allein nicht existieren können. Das des Denkens wird völlig leer und das des Inhaltes ohne sein Gedachtwerden zeigt sich auch wider Wissen und Wollen bei jedem Versuch seiner Feststellung als gedachtes.

11. Demnach ist auch dieses Objektsverhältnis völlig undefinierbar und unbeschreiblich - das ursprüngliche Objektsverhältnis - und es ist unmöglich zu sagen, wie das bloße Denken zu diesem seinem Objekt kommen kann oder wie selbiges es anfangen möge, es zu ergreifen oder sich seiner zu bemächtigen. Das Ergreifen und ähnliche Ausdrücke sind Bilder, welche immer schon das Verständnis des Gemeinten aus der eigenen Erfahrung voraussetzen. Soll dieses nicht vorausgesetzt werden, so würde das Ergreifen des Objektes oder das Zu-ihm-kommenn, also ein Aneinandergeraten von Denken und Inhalt immer nur ein räumliches Verhältnis (Nebeneinander) bezeichnen, welches mit dem genannten Objektsverhältnis absolut nichts zu tun hat. Wie die beiden zueinander kommen können, kann also nicht gefragt werden, da vielmehr feststeht, daß sie ohne einander überhaupt nicht existieren können. Wer jedes von ihnen für sich denken zu können vorgibt, hat die Abstraktion nicht vollzogen, sondern denkt jedes, ohne es zu merken, mit heimlichem Einschluß des anderen.

Ein mißverständlicher Einwand wäre der, daß man doch angeben könne, wie das Denken zu dem und dem bestimmten Inhalt kommt. Das Kommen meint dann das notwendige Hervorgehen des Gedankens aus anderen vorhergehenden Gedanken; das ist etwas anderes, als dasjenige, wovon die Rede war, nämlich das Kommen des vorerst noch ohne Objekt existierenden Denkens zu seinem Objekt oder Inhalt. Diese Frage ist immer schon als erledigt vorausgesetzt, wenn Logik und Psychologie die Gesetze ergründen, nach welchen die Gedanken wechseln und Gedanken bestimmten Inhalts in Abhängigkeit von irgendwelchen anderen eintreten.

12. Was ist nun das Sein, welches in jedem Fall das unentbehrliche Objekt des Denkens ist? und welches Objekt muß das Denken haben, um wahres Denken zu sein?

Wenn die eigenen Regungen des Fühlens und Wollens Objekt oder Inhalt des Denkens sind, so zweifelt kein Verständiger an der Wirklichkeit dieses Seins und niemand fragt, wie das Denken es zu seinem Objekt machen kann. Offenbar liegt die Meinung zugrunde, daß diese Objekte ja selbst im Subjekt seien und eben deshalb, wie sie Objekt des Denkens sein können, keine Schwierigkeit macht. Sind Erinnerungs- und Phantasiebilder Objekt oder Inhalt des Denkens, so sind ja auch diese vorausgesetztermaßen im Subjekt, nur begnügt man sich nicht mit ihrer subjektiven Wirklichkeit, sondern fragt, sicher bei ersteren, zuweilen auch bei letzteren, ob sie richtig sind und erwartet die Bestätigung von der unmittelbaren Wahrnehmung. Und nun muß, da ja das wirkliche Sein der Voraussetzung nach außerhalb des Subjekts und unabhängig von ihm sei, die Frage entstehen, wie das Denken, welches doch nur im Subjekt vor sich geht, so etwas zu seinem Objekt machen kann.

Gelten die wahrnehmbaren Dinge für dieses Wirkliche, so kann nur Naivität die Frage übersehen lassen, wie der bloße Denkakt, zunächst im Subjekt noch ohne Objekt, sich erheben und dieses außerhalb Befindliche zu seinem Objekt machen kann. Es ist aus den zugrunde gelegten Begriffen unmöglich. Also  mußte  schon die früheste Reflexion die Wahrnehmungen (als Empfindungszustände) in das Subjekt verlegen. Vieles schien noch dafür zu sprechen; nicht nur eine wenn auch nicht klare Einsicht, so doch eine dunkle Ahnung, daß alles Wahrnehmuen doch als Bewußtes ein geistiger Akt sei, sondern am lautesten die handgreifliche Abhängigkeit der Wahrnehmungen von den selbst wahrnehmbaren Sinnesorganen, ihren differierenden Beschaffenheiten, überhaupt von leiblichen Vorgängen, auch von geistigen Stimmungen und Zuständen. Daran schließen sich die neuen Fragen: wie kann der Empfindungsinhalt den Raum zu erfüllen scheinen und in welchem Sinn kann noch von wahrem Denken, d. h. nach der Voraussetzung von einem Denken des außer dem Subjekt befindlichen Wirklichen die Rede sein?

13. Wesentlichen Anteil an diesen Schwierigkeiten hat der Begriff der Seele. Alles was den Lebendigen vom Leichnam unterscheidet, schließt sich als Inbegriff des Lebens dadurch, daß es im Tod immer zugleich verschwindet, zur Einheit zusammen, und wie, was vom Körper wahrnehmbar ist, z. B. Farbe und Gestalt, nur als Eigenschaft eines ihm zugrunde liegenden, eines Substrates gedacht werden zu können schien, so auch alles, was zur Lebendigkeit gehört. Wurde auch ein Teil dieser Erscheinungen später dem Leib zugerechnet, so ändert das an der Entstehung und Bedeutung dieses Seelenbegriffs zunächst nichts. Der Begriff der Substanz ist leer und "immateriell" ist eine bloß negative Bestimmung. Die Anlagen und Fähigkeiten (Bewußtsein in sich entstehen zu lassen und zu denken usw.), welche den Inhalt des Begriffes Seelensubstanz ausmachen sollen, sind nur formale Begriffe und das Postulat des Trägers oder Zugrundeliegenden ist absolut unklar. Und endlich wurde diese Seele, nicht nur, wenn sie irgendwo im Körper anwesend schien, sondern auch schon in der Vorstellung, daß sie im Tod den Körper verläßt und sich an einen anderen Ort begibt und vor allem durch die Bestimmung, daß die materielle Welt außer ihr ist, räumlich gedacht. Das In und Außer hat seinen ganzen Sinn aus der Raumanschauung. Sind die körperlichen Dinge "außer" der Seele, so sind die Gedanken, Gefühle, Entschlüsse in der Seele, die Seele ist von jenen, sowie von den anderen Seelen, durch eine räumliche Grenze geschieden, also neben ihnen. Die Seelenlehrer pflegen diese Konsequenzen nicht immer zu ziehen, aber sie sind unausweichlich. Schon die Meinung, daß die Erinnungs- und Phantasiebilder, weil sie in der Seele sind, leicht vom Denken als sein Objekt ergriffen werden können, nicht aber die Dinge, von welchen die Sinne Kunde geben, weil letztere außerhalb der Seele sind, daß also schon bloß um diese Schwierigkeit zu heben, das Wahrgenommene zur Empfindung, welche auch in der Seele sei, umgedeutet werden muß, beruth auf ihnen.

14. Der Materialismus scheint zur Lösung der Frage zu verhelfen, weil er die Seelensubstanz leugnet. Aber die Identifizierung des Bewußtseins und Denkens mit räumlicher Bewegung von Stoffteilen ist einfach Unsinn und außerdem setzt der Begriff der Materie immer Empfindung und Denken voraus. Läßt der Materialist aber Bewußtsein und Denken (als "Funktion") aus der Materie entstehen, so ist einerseits nicht nur wieder der Begriff der Materie, sondern im Entstehen auch das Kausalprinzip, welches in seinem Sinn und seiner Geltung der Erklärung bedarf, vorausgesetzt, und andererseits wäre das Verhältnis des Denkens zu der von ihm zu ergreifenden Wirklichkeit doch noch zu erklären. Der Materialist bleibt entweder bei der alten oben besprochenen Unklarheit des Subjektbegriffs oder muß, um vom Standpunkt des Bewußtseins aus den Begriff wahrer Erkenntnis zu erklären, seinen Voraussetzungen widersprechen.

BERKELEYs subjektiver Idealismus hebt die "außerseelische" Wirklichkeit auf, ohne doch den Seelenbegriff zu berichtigen. Einwände, wie der, daß sich der Hungernde doch nicht von bloßen Ideen sättigen kann, beruhen auf einem Mißverständnis. Wenn man in BERKELEYs Sinn wirklich alles, nicht nur die Speise, sondern auch das Hungern und auch das Sättigen als Ideen in die Seele versetzt, so ist kein Widerspruch da. Aber unmöglich bleibt dieser Idealismus trotz seiner inneren Durchführbarkeit deshalb, weil er den überkommenen Seelenbegriff, welcher in der Abgrenzung von der außerseelischen Wirklichkeit ein wesentliches Moment hat, beibehält und dabei diese Wirklichkeit aufhebt, ohne ihren Begriff zu berichtigen. Ihr Platz war noch da, aber nur unbesetzt - was unerträglich ist. Zudem widerstrebt auch der Raum, den wir aus der Anschauung kennen, der Auffassung als einer Idee. Endlich mußte, den innerseelischen Gebilden selbst (den Ideen) für die Erkenntnis dieselbe Bedeutung der Wirklichkeit zuzusprechen, welche die außerseelische charakterisiert hatte, schon deshalb untunlich erscheinen, weil jene nicht eine und dieselbe für alle erkennenden Individuen ist, sondern in jedem einzelnen, also so vielfach vorhanden ist, als Individuen da sind, welche diese Idee in sich haben.
LITERATUR: Wilhelm Schuppe, Grundriß der Erkenntnistheorie und Logik, Berlin 1910