p-3 O. Liebmannvon KirchmannH. RickertFrischeisen-Köhler    
 
FRIEDRICH ADOLF TRENDELENBURG
Über den letzten Unterschied
der philosophischen Systeme


"Die atomistischen Systeme des Altertums erklären die Seele aus dem Kampf innerer und äußerer Atome, die Gedanken als Folge von Sinneswahrnehmungen, welche durch materielle von den materiellen Gegenständen sich ablösende Bilder bewirkt werden; materialistische Systeme Frankreichs im vorigen Jahrhundert erklären den Gedanken als eine Bewegung von Hirnfasern oder gar als eine Aussonderung des Gehirns. Sie verwandeln auf ähnliche Weise den Gedanken in eine glückliche Wirkung materieller Kombinationen, wie es umgekehrt auf der anderen Seite Systeme gibt, welche die Materie in einen Schein des Gedankens umsetzen."

"Bei  Plato  ist die Materie das in sich Zerfallene und Verworrene, wie er sich ausdrückt, ›in den bodenlosen Ort der Unähnlichkeit versunken‹, das in sich Unbestimmte und Maßlose, das Irrationale und insofern das Nicht-Seiende, die Wurzel des Bösen. Im Gegensatz gegen dieses wandelbare Materielle hebt er darum die Wissenschaft der Zahl und Figur so hoch, weil sie in reiner Erkenntnis beständige Gesetze offenbart, ein sich selbst Gleiches und darum Vernünftiges."

Der letzte Unterschied philosophischer Systeme wird ein solcher sein, welcher, in den allgemeinsten Elementen und Beziehungen begründet, die übrigen Unterschiede in sich aufnimmt und beherrscht. Durch den Grundunterschied sind die übrigen bedingt.

Wenn man die philosophischen Systeme aus dem äußeren Zusammenhang des historischen Verlaufs heraushebt und, gleich Formationen der Natur, als abgeschlossene Bildungen des Geistes miteinander vergleicht: so entsteht die Frage, wie sie innerlich verwandt sind. Gleich wie nun die Naturkörper sich nur in einem letzten Unterschied der Sache zu einem bedeutsamen Überblick ordnen, z. B. die Pflanzen im Gesichtspunkt der Kotyledonen [Keimblätter - wp], die Kristalle in den Achsensystemen: so fordern uns auch die philosophischen Systeme auf, ihren letzten Unterschied zu suchen.

Dabei handelt es sich um mehr als um eine Anordnung oder eine Gruppierung der beschreibenden Systematik.

Philosophische Systeme sind lebendige Vorgänge in den Geistern, Kämpfe der Grundbegriffe um die Herrschaft im Denken und Wollen. In den Begriffen, welche den letzten Unterschied bilden, haben sie die Basis und den Stützpunkt ihrer Stellung, und daher fällt in diese Gegend die erste Entscheidung ihres Zusammentreffens und ihres Streites. In den letzten Unterschieden liegen zugleich die letzten Probleme.

In der Mannigfaltigkeit der Systeme bedurfte man charakteristischer Bezeichnungen und sie bildeten sich nach den Richtungen von selbst. In diesem Sinn spricht man z. B. von Nominalismus und Realismus, von Sensualismus und Rationalismus, von Materialismus und Spiritualismus, von Empirismus und Transzendentalphilosophie, von Realismus und Idealismus, von Reflexionsphilosophie und Identitätslehre, von Dualismus und Monismus, von Transzendenz- und Immanenzlehre, von rationalistischer und supernaturalistischer Philosophie, von atomistischen und dynamischen, von deistischen und atheistischen, von theistischen und pantheistischen [Gott in allen Dingen - wp], von primitiven und eklektischen [ohne die nötige Einheitlichkeit - wp] oder synkretistischen [vermischten - wp], von dogmatischen und skeptischen, von kritischen und dialektischen Systemen usw. Es sind dies meistens Stichwörter, bald von einzelnen Ergebnissen oder Voraussetzungen, bald von der Methode, bald von einem theologischen Maßstab hergenommen. Mit solchen Bezeichnungen verknüpft man gemeinhin nur unbestimmte Vorstellungen, aber bestimmte Verurteilungen.

Ob mit solchen Benennungen wirklich die letzten Unterschiede der Systeme getroffen sind, läßt sich im Voraus nicht sagen. Es hat auch wenig Wert, sie blind herauszutasten; und es kommt vielmehr auf den Versuch an, Charaktere aus inneren Verhältnissen der Sache zu entwerfen und an den vorliegenden Systemen zu bestätigen.

Wir stellen die Unterschiede, die in der Methode liegen, einstweilen zurück. Die Methode betrifft nur den Weg, wie wir zu einer Sache kommen, aber der Weg hat immer in der Sache sein Ziel. Die Methode ist um des Gegenstandes willen da, den sie fassen oder verbürgen will. Wenn wir daher die letzten Unterschiede der Systeme suchen, so suchen wir sie in den Elementen der Sache und nicht in den Griffen des Verfahrens oder der Kunst der Darstellung. Diejenigen Systeme, welche durch die Methode charakteristisch sind, wie z. B. das kantische durch die kritische, das hegelsche durch die dialektische, werden, doch, wenn es sich zuletzt um den Ertrag und nicht um die bloße Weise der Bearbeitung handelt, auf wesentliche Unterschiede der Sache zurückgehen und darin ihr Maß haben.

Allenthalben stellen sich uns in dem, was wir  Gegensatz  nennen, die weitesten Unterschiede der Begriffe dar. Innerhalb des Allgemeinen bezeichnet der Gegensatz die entlegendsten Endpunkte. Inwiefern nun das Ganze der Erkenntnis in seinem Ursprung Aufgabe der Philosophie ist, so läßt sich voraussehen, daß der größte Gegensatz unter solchen Begriffen, welche andere Begriffe bedingen und erzeugen und dadurch geeignet sind Mittelpunkt eines Systems zu sein, den letzten Unterschied der philosophischen Systeme bestimmen wird. In den verschiedenen Gestalten der Philosophie liegen Versuche vor, verschiedene Grundbegriffe als die letzten und als die schöpferischen geltend zu machen, und ihre Macht gegeneinander zu erproben. Wäre es möglich, den letzten Gegensatz unter diesen Begriffen zu bestimmen, also diejenigen Begriffe einander gegenüberzustellen, welche am weitesten voneinander abstehen: so würden sich in denselben vermutlich die letzten Unterschiede der Systeme nachweisen lassen. Es ist wahrscheinlich, daß der letzte Kampf zwischen  zwei  entgegengesetzten Grundbegriffen steht. Denn wenn wir mehrere solche Gegensätze annähmen: so würden unter ihnen bei der universellen Aufgabe der Philosophie diejenigen Begriffe, welche in keinem direkten Gegensatz zueinander ständen, alsbald ein Bestreben zeigen, sich gegenseitig anzuziehen und unterzuordnen; und der Erfolg würde kein anderer sein, als daß sich die verschiedenen Gegensätze in zwei letzte Begriffe zusammendrängen und diesen ihre ganze Macht übertragen. So sehen wir es z. B. in der Metaphysik des ARISTOTELES, die mit vier Begriffen oder zwei Gegensätzen anhebt, mit  Materie  und  Form,  mit dem Woher der Bewegung und dem Wohin des Zwecks, und sie zuletzt in der Dynamik und Energie in das Grundverhältnis von zwei Begriffen zusammenzieht, mag nun, wie im Lebendigen, der Zweck und die aus dem Zweck bestimmte Form und Bewegung dem materiellen Grund, oder, wie auf dem höchsten Gebiet, der Zweck als das Unbewegte, das da bewegt, den übrigen Ursprüngen gegenübertreten. Hiernach fragt es sich, welches in den realen Prinzipien der letzte Gegensatz ist.

Seit  Kant  hat die deutsche Philosophie im Subjektiven und Objektiven einen Gegensatz ausgebildet und nach den verschiedensten Seiten versucht, der, inwiefern man auf seine reale Entwicklung sieht, schon in der Natur keimt. Wo sich das Einzelleben in sich zusammenfaßt und dem Leben des Ganzen entgegenstellt, wie schon die Pflanze tut, da beginnt das Subjektive, da ist der Anfang des Gegensatzes mit dem Objektiven. Zunächst ist er beschränkt und löst sich sogleich, indem das Einzelleben aus dem Ganzen, was es bedarf, empfängt, und dadurch besteht. Der Gegensatz des Subjektiven und Objektiven kommt jedoch, wo das Denken der Welt gegenübersteht, zur höchsten Spannung. Denn das Erkennen begehrt nicht mehr bloß, wie das Subjektive in Pflanze oder Tier, einen Atemzug oder Licht oder Nahrung, es will nicht seine Befriedigung in einer einseitigen Richtung der leiblichen Selbsterhaltung, in der nächsten Berührung seines Lebens; es macht vielmehr den höchsten Anspruch an die ganze Welt; es schließt nichts von sich aus, es will alles ergreifen und ergründen; es will die Welt ganz in sich aufnehmen und ganz durchdringen. Die Eine in sich gedrungende Tätigkeit des Denkens, das Subjektive in seiner Intensität, nimmt es mit der unendlichen Fülle des Seienden auf, mit dem Objektiven in seiner unabsehbaren Ausdehnung. Das Subjektive bereitet sich in diesem Sinne in den sich fortsetzenden Geschlechtern der Menschen sein Werkzeug, und sehen wir die Höhe des Subjektiven im erkennenden und bildenden Geist des ganzen Menschengeschlechts, so heißt dann denken ebensoviel wie sich mit dem Weltall messen.

Wir haben hier einen großen Gegensatz, das Erkennen und die Welt, das Denken und das Seiende. Es ist ein in sich klarer Gegensatz, da jede Tätigkeit des Denkens ihn in einer einzelnen Richtung offenbart. Aber es kommt darauf an, ihn so zu fassen, daß er sich in seiner größten Weite darstellt.

Dem Denken ist sein Gegenstand in demselben Maß verwandter, als er selbst vom Denken gebildet oder bestimmt ist. Wenn er vom Denken erzeugt ist, so ist er dem Denken umso erkennbarer. Das Seiende wird hingegen in der weitesten Entfernung vom Denken da stehen, wo es dem Denken fremd gegenübertritt und mit dem Anspruch, aus sich selbst und nicht aus einem Gedanken bestimmt zu sein. Wir bezeichnen das Seiende in diesem Verhalten als blinde Kraft. Wird sie gedacht, wird sie selbst auf Gesetze zurückgeführt, wie z. B. die Kraft in der Erscheinung des freien Falls: so liegt doch nicht im Grund der Sache ein ursprünglicher Gedanke, aus welchem das Gesetz herfließt. Zumindest wird das Gesetz, unabhängig von einer solchen Einmischung, gefunden. Es liegt darin gerade eine Eigentümlichkeit der physischen Betrachtung; und seit BACON ist es oft genug ausgesprochen, daß die Erforschung der Natur erst dann gelingt, wenn man den Zweck, der ein Gedanke ist, aus dem die Kräfte bestimmt werden, wenn man die Idee aus der Physik in die Metaphysik verweist. Die Kraft steht als wirkende Ursache fremd dem erst zu ihr hinzutretenden und sie nachbildenden Gedanken gegenüber. Was wir  Materie  nennen, gibt sich uns in solchen physikalischen oder chemischen Tätigkeiten kund, und wir haben von ihr nur soweit eine Kenntnis, als sie sich darin offenbart. Daher dürfen wir jenes unbekannte Substrat der Kräfte, welches wir Materie nennen, soweit sie von keinem in ihr selbst und ihr zugrundeliegenen Gedanken bestimmt ist, unter denselben Gesichtspunkt der nackten Kraft fassen.

Es wäre möglich, daß sich im Fortgang der Untersuchung die Sache anders herausstellt. Es wäre möglich, daß sich doch im Grunde der für blind gehaltenen Kräfte und Äußerungen ein ursprünglicher Gedanke als das Regierende findet. Aber diese Möglichkeit, vielleicht die Hoffnung alles Erkennens, geht uns hier nichts an. Faktisch haben wir in der Physik, um ihre Sprache beizubehalten, nur Kräfte vor uns, und zwar solche, deren Wesen der Gedanke nachbildet, ohne daß ihr Wesen selbst Gedanke ist. Umgekehrt verhält es sich z. B. in der Ethik, in welcher die Tätigkeiten nicht von ihrem leitenden Gedanken abzuschneiden sind.

Der Gedanke ist allerdings selbst Kraft und die Kraft kann unter einem Gedanken stehen - und insofern ist zwischen beiden kein Gegensatz; aber bewußter Gedanke und blinde Kraft bilden nach dem Obigen einen wesentlichen Gegensatz und nur um des kürzeren Ausdrucks willen stellen wir schlechthin Gedanken und Kräfte in diesem Sinn einander entgegen. Es ist der Gegensatz zwischen  Denken  und  Sein  als vom Denken unabhängig gefaßt - und es gibt keinen größeren Gegensatz. Denn alle Gegensätze fallen, wenn sie nicht durch die Vermittlung oder Vereinigung dieses Einen bestimmt sind, innerhalb des einen Gliedes. Zum Beispiel fallen die Gegensätze, welche sich auf dem Gebiet der Sinne darstellen, z. B. des Hellen und Dunkeln, oder des Lichtes und des undurchsichtigen Stoffes, der Farben untereinander, des Starren und Flüssigen, der Anziehung und Abstoßung, unter das  eine  Glied der wirkenden Kraft. Sie werden als gegeben durch die Erfahrung aufgenommen, und es erscheint darin zunächst kein sie bestimmender und richtender Gedanke. Im anderen Glied erscheinen Gegensätze wie Denken und Wahrnehmen, Allgemeines und Einzelnes. Andere Gegensätze sind nur durch eine, zumindest relative, Vermittlung des Denkens und seines Gegenstandes möglich, z. B. die Tätigkeiten des Wollens, wie Begehren und Verabscheuen. Schwerlich wird sich ein Gegensatz aufweisen lassen, der nicht in diese Grundverhältnisse zurückginge.

Sind nun im angegebenen Sinn Gedankeund Kraft der weiteste Gegensatz, so ist nach Obigem wahrscheinlich, daß zugleich in ihm der letzte Unterschied der Systeme liegt.

Wir könnten denselben Unterschied durch Subjektives und Objektives, Ideales und Reales unterdrücken, wenn es uns nicht darum zu tun wäre, im Realen und Objektiven sowohl den Ausdruck eines ruhenden Gegenstandes zu vermeiden als auch den real und objektiv gewordenen Gedanken auszuschließen. Daher wählen wir statt des Objektiven den Ausdruck der Kräfte und wir verstehen hier darunter die Kräfte, insofern sie unabhängig von einem Gedanken wirken.

Es stehen demnach Kraft und Gedanke einander gegenüber. Der Gedanke ist uns dabei zunächst als menschlicher, als  unser  Gedanke bekannt, ohne daß es nötig wäre, ihn auf uns zu beschränken, und wir schließen ihn von der Kraft aus, insofern wie sie in ihrem Wesen unabhängig von einem darin herrschenden Gedanken auffassen.

Dieser Begriff der nackten Kraft bedarf vielleicht einer Erläuterung. Nehmen wir als Beispiel jene durch die Massen durchgehende Kraft der Anziehung, welche als Schwere auf der Erde, als Gravitation der Weltkörper am Himmel wirkt. Sie wird an Gesetze gebunden wie z. B. in der gleichförmig beschleunigten Bewegung des freien Falles, ohne daß in ihr etwas anderes vorausgesetzt wird, als die bewegende Kraft. Was durch sie vorgeht und aus ihr folgt, wird in der Rechnung bestimmt und nichts weiter. Der nachbildende Gedanke faßt ihre Momente auf und findet dadurch die beständige Weise ihrer Tätigkeit. Aber sie kümmert sich nicht um den auffassenden Gedanken, der nur wie fremd an sie herantritt; sie ist nicht ursprünglich von einem Gedanken regiert; und wenn wir uns allen Gedanken aus der Welt fortdächten, so würde sie ohne Unterschied ihre ewigen Gesetze befolgen. Der menschliche Gedanke hat dieselben gefunden; aber es ist nicht nötig, daß sie aus einem ursprünglichen Gedanken stammen. - Indessen erscheint dieselbe Kraft in eigentümlicher Gestalt und in einem eigentümlichen Zusammenhang, wenn das Lebendige seinen Ort verändert. Der Mensch z. B. regiert im Gang, im Sprung seinen Schwerpunkt. Es ist darin das Gesetz der Schwere durch seine eigene Natur und durch die Gesetze des Festen einem höheren Zweck untergeordnet. Die Herrschaft über den Schwerpunkt war die Aufgabe, die durch eine bestimmte Einrichtung des Leibes erreicht wurde. Die Kraft ist dieselbe geblieben, aber sie hat eine Stellung empfangen, die nicht aus ihr selbst verstanden wird, sondern, wenn der Begriff des Zwecks nicht umgangen werden kann, aus einem richtenden und einrichtenden Gedanken. Die Kraft ist insofern nicht mehr eine blinde Kraft, sondern eine gewollte. Mit der aufsteigenden Reihe des Lebens wächst der Zusammenhang der Kräfte, der sich uns als ein System von Zwecken darstellt. Von der fundamentalen Kraft der Anziehung, die wie ein unsichtbares Band die Körper des Alls zusammenhält, erheben sich die Tätigkeiten bis zum menschlichen Gedanken. In  der  Welt, welche  wir  überblicken, haben wir in beiden zwei Endpunkte, zwei Äußerste vor uns. Wenn wir die Kraft ohnen einen zugrunde liegenden Gedanken aus ihr selbst verstehen konnten, so verstehen wir schwerlich den Gedanken ohne die Kräfte, durch welche er bedingt ist. Wo uns in der Natur, wie in der organischen, Zwecke erscheinen, haben wir einen Antrieb, das Denken nicht auf den Menschen einzuschränken, sondern in einem  allgemeinen  Sinn zu fassen. Daher ist das Verhältnis von Kraft und Gedanke das Grundverhältnis, um welches sich die Betrachtung dreht, sobald es darauf ankommt, in einem letzten Prinzip die Einheit und das Ganze der Erkenntnis zu gründen.

Gegensätze erscheinen in der Betrachtung der ruhig daliegenden Begriffe. Wo die Begriffe in ihre Entstehung zurückgegeben werden, da gehen auch die Sprünge, welche die Begriffe in den Gegensätzen darstellen, in eine stetige Bewegung zurück, die auf eine Einheit hinführt; und wo dies noch nicht geschieht, bleibt ein Widerstand übrig, der noch zu überwinden ist. So bilden z. B. auf der Ebene die parallelen und die sich schneidenden Linien einen Gegensatz; aber der Gegensatz hebt sich auf, wenn sich der Durchschnittspunkt der sich schneidenden Linien ins unendlich entfernt und im Unendlichen, dem wir uns nähern könenn, wird der Sprung, der im Begriff der parallelen und der sich schneidenden Linien vor uns liegt, wie zu einem Übergang. Anders wird es sich auch nicht mit dem Gegensatz der Kraft und des Gedankens verhalten können.

Wenn wir nun im bezeichneten Sinn Kraft und Gedanken (also blinde Kraft und bewußten Gedanken) einander gegenüberstellen und die Richtung auf die Einheit voraussetzen: so ergibt sich eine dreifache Möglichkeit ihres gegenseitigen Verhältnisses.  Entweder  steht die Kraft vor dem Gedanken, so daß der Gedanke nicht das Ursprüngliche ist, sondern Ergebnis, Produkt und Akzidenz der blinden Kräfte; - oder  der Gedanke steht vor der Kraft, so daß die blinde Kraft für sich nicht das Ursprüngliche ist, sondern der Ausfluß des Gedankens; - oder  schließlich: Gedanke und Kraft sind im Grunde dieselben und unterscheiden sich nur in unserer Ansicht.

Nur diese drei Stellungen von Gedanken und Kraft kann es geben; aber von den drei möglichen kann nur  eine  die wirkliche und wahre sein. Daher liegen sie miteinander im Streit.

Jene erste Möglichkeit, in welcher die Kraft als das Ursprüngliche vor den Gedanken gestellt wird, trifft die  materialistischen  Systeme. Sie leugnen nicht den Gedanken, aber sie wollen ihn als etwas, was nur im Menschen wird, aus den materialen Kräften, deren Erzeugnis der Mensch ist, als ein aus den materialen Faktoren zusammengesetztes entstehen lassen. So erklären die atomistischen Systeme des Altertums die Seele aus dem Kampf innerer und äußerer Atome, die Gedanken als Folge von Sinneswahrnehmungen, welche durch materielle von den materiellen Gegenständen sich ablösende Bilder bewirkt werden; materialistische Systeme Frankreichs im vorigen Jahrhundert erklären den Gedanken als eine Bewegung von Hirnfasern oder gar als eine Aussonderung des Gehirns. Sie verwandeln auf ähnliche Weise den Gedanken in eine glückliche Wirkung materieller Kombinationen, wie es umgekehrt auf der anderen Seite Systeme gibt, welche die Materie in einen Schein des Gedankens umsetzen. Blinde Kräfte müssen sich nach dieser Ansicht dergestalt treffen, daß sie sehend werden. Allerdings besteht, um das Beispiel alter Atomiker aufzunehmen, aus denselben Buchstaben eine Tragödie und eine Komödie. Eine beschränkte Zahl verschiedener Atome, wie z. B. 24 Buchstaben, aber sich wiederholend, sich versetzend, sich bald so, bald anders fügend oder trennend, bildet die geschriebene Tragödie und die geschriebene Komödie, also ein geistiges Erzeugnis und noch dazu in so entgegengesetzter Richtung, wie Ernst und Lachen. Aber die Atomiker müssen es folgerecht so denken, daß die durcheinander geworfenen und ausgeschütteten Buchstaben, indem sie zusammenwehen, sich so treffen, daß sie sich als Tragödie oder Komödie, d. h. als Gedanken ablesen lassen. So entsteht ihnen alles, was im Menschen bewußtser Gedanke ist oder in der Welt Gedanken verrät. Sie haben den Vorteil, wenn ihnen diese Erklärungen gelingen, keines Transzendenten zu bedürfen und von Anfang bis Ende mit anschaulichen Elementen zu operieren, welche sie noch dazu, wie sich hoffen läßt, in ihre eigene Gewalt bekommen können.

Die andere Möglichkeit, in welcher der Gedanke als das Ursprüngliche,  vor  die Kraft gestellt, ihr als der dienenden im eigentlichen Sinn vorsteht, erfüllt sich in den  idealen  Systemen. Ein kleiner Teil derselben kennt nur Kräfte des Gedankens und hält die Kräfte der Materie nur für einen Widerschein derselben. Der größere Teil, PLATO an der Spitze und mit ihm die bedeutende Reihe der Philosophen, welche die Welt und ihre Glieder als ein reales Gegenbild göttlicher Gedanken, als Verwirklichung und Darstellung einer Idee betrachten, legt der Richtung der Kräfte, und namentlich dem relativen Ganzen, das im Organischen erscheint, einen bildenden und bauenden Gedanken zugrunde. Allenthalben sehen sie seine architektonische Macht und nur von ihm losgerissen sind ihnen die Kräfte blind.

Die dritte Möglichkeit, welche Gedanken und Kraft nur in der Ansicht und nicht im Grund unterscheidet, findet sich in SPINOZAs Prinzipien vor, da er Ausdehnung und Denken als Attribute der  einen  Substanz faßt, die unter sich in keinem Kausalzusammenhang stehen, weil sie nur die beiden notwendigen Weisen sind, unter welchen sich der Verstand das Wesen der unendlichen Substanz vorstellt. In einer solchen Betrachtung sind eigentlich Kräfte sich dehnende Gedanken und Gedanken sich spannende Kräfte. Es könnte hierher SCHELLINGs intellektuelle Anschauung gezogen werden, welcher als das Ursprüngliche eine Identität, eine Indifferenz des Subjektiven und Objektiven setzte, wenn nicht bei ihm in der Erscheinung, sei es auch unvermittelt, bald das Übergewicht des Idealen (Subjektiven), bald das Übergewicht des Realen (Objektiven) hervorträte, und sich in dieser Differenz ein Analogon jener beiden ersten Ansichten (Kraft vor dem Gedanken und Gedanken vor der Kraft) erzeugte. SPINOZA ist der eigentlich welthistorische Vertreter dieser dritten in diesem allgemeinen Verhältnis von Gedanken und Kraft liegenden Möglichkeit.

Diese drei Stellungen gibt es und keine mehr, wenn man das Verhältnis von Gedanken und Kraft erwägt.

Will man sie mit historischem Namen bezeichnen und sie an ihre hervorragenden Vertreter anknüpfen, so nenne ich die erste Weise  Demokritismus;  denn alle, welche gegen PLATO oder ARISTOTELES streiten, wie z. B. FRANCIS BACON, SPINOZA, erheben DEMOKRITs Ansicht; die zweite Weise nenne ich Platonismus, die dritte Spinozismus. Nur muß man diese Namen in einem weiteren Sinn nehmen und ihre Bedeutung nicht auf die eigentümliche Fassung beschränken, in welche DEMOKRIT, PLATO, SPINOZA das Verhältnis brachten.

Sind die wirklich die letzten Unterschiede der Systeme, so müssen auf der einen Seite  alle  Systeme darunter fallen, sie müssen sich alle in die eine oder die andere Stellung einordnen lassen und auf der anderen Seite muß in diesen allgemeinsten Unterschieden der Keim einer besonderen Entwicklung, die Möglichkeit einer neuen Differenz liegen.

Wir betrachten zunächst die hervorragenden Systeme in der ersten Beziehung und insbesondere diejenigen, deren Verhältnis zu diesen allgemeinen Klassen zweifelhaft erscheinen mag.

Daß die physiologischen Anfänge der  Ionier,  welche in einem materiellen Urgrund die bildende Kraft der Welt zusammendrängten, und die  Atomiker  des Altertums, welche in Gestalt, Lage und Zusammenordnung der Atome das Prinzip aller Mannigfaltigkeit sahen, daß alle, welche in neuerer Zeit der epikuräischen Physik folgten, es sei denn, daß sie, wie GASSENDI tat, die göttliche Weisheit herbeirufen, um die Atome zu einer harmonischen Wirkung der Zwecke zu ordnen, daß namentlich HOBBES, der das Denken nur zu einem Subtrahieren und Addieren machte, daß schließlich solche ausgeprägte Richtungen, wie das  systéme de la nature,  welche auf jeden Gedanken in der Welt, als auf ein unbequemes Göttliches, einen Verruf legten, der ersten Stellung zufallen, braucht nicht ausgeführt zu werden.

Ebenso entschieden sind all die Gestalten der Systeme, welche wir als  Platonismus  im weitesten Sinn bezeichnen möchten, so daß dahin ARISTOTELES gehört mit dem Zweck an der Spitze der Metaphysik und der Entelechie in allem Realen, ferner die  Stoiker,  nach welchen die  physis  im  logos,  das Weltall in einem zugrundeliegenden, sich gliedernden Begriff wurzelt, ferner die  christlichen  Philosophen des Mittelalters, welche die göttliche Ökonomie des Heils mit platonischen Anschaungen und aristotelischen Durchführungen verschmolzen, und Philosophen der neu entstehenden Zeit, welche, wie GIORDANO BRUNO, den aktiven Gedanken des formenden Zwecks und das passive Substrat der Materie in eine ewige Einheit faßten, so jedoch, daß sich die Materie aus einem inneren Mittelpunkt, wie durch einen Künstler von innen gestaltet. Diese und solche Systeme zeigen große Unterschiede. Aber darin kommen sie alle überein, daß sie dem Gedanken als dem Ursprünglichen die Ehre geben.

Bei anderen Systemen kann es zweifelhaft sein, wohin man sie stellen soll.

FRANCIS BACON z. B. leugnet zwar nicht die Vorsehung mit den Zwecken in der Welt, vielmehr scheint er sie sorgsam der Metaphysik vorzubehalten; aber er bekämpft eine solche Betrachtung im Realen, verwirft sie in der Physik, da die Betrachtung der Endursachen, wie das Leben einer Nonne, zwar Gott feiert und preist, aber nichts hervorbringt, und hebt die physische Ansicht eines DEMOKRIT weit über die des PLATO und ARISTOTELES. Wenn einer Betrachtung, wie dem Zweck, die Anwendung verboten wird, so verschwindet sie wie ohnmächtig. Wenn man daher in BACON, wie er bei andern selbst verlangt, weniger auf die Worte als auf die Wirkung sieht: so zieht seine ganze Anschauungsweise das Übergewicht auf die Seite der Kräfte, und er läßt dem Gedanken nur die alt hergebrachte Glorie, während er ihm die Herrschaft genommen hat.

Selbst CARTESIUS wirkt in einer ähnlichen Richtung; denn indem er alle Zwecke in die unergründliche Tiefe des göttlichen Wesens verweist, schließt er von der Betrachtung auch diejenigen aus, die in den Dingen erscheinen. Zwar leugnet er sie nicht; er gesteht sie allenfalls der Ethik zu; aber er will namentlich in der Physik nur physische Ursachen und muß sich selbst von einem Mann wie GASSENDI über Tatsachen der Natur belehren lassen, welche ohne die Providenz des Zweckes nicht verstanden werden können. Bei CARTESIUS überwiegt jedoch sonst die aus der augustinischen Theologie aufgenommene Betrachtung Gottes, überwiegen die eingeborenen Ideen, die von Gott stammen, überwiegt der Wille Gottes in dem, was er ewige Wahrheiten nennt, dergestalt, daß wir von jener Maxime des Physiker diese Grundrichtung des Philosophen unterscheiden und ihn in dieser Hinsicht der zweiten Klasse zuweisen müssen.

Über LEIBNIZ kann man nicht im Zweifel sein. Wir dürfen von seinen eigentümlichen und zum Teil schwankenden Ansichten über Raum und Materie absehen. Er kennt die Feindschaft, die zwischen der Betrachtung einer wirkenden Ursache und der Zwecke, der  causa efficiens  und der  causa finalis  besteht. Aber er will beide Betrachtungen verbinden und seine beste Welt, seine prästabilierte [vorgefertigte - wp] Harmonie gründet sich auf die göttliche Wahl des Besten und ruht zuletzt in der Herrschaft des vollkommenen Gedankens. Seine Monadenlehre hat dieses Zentrum.

Diejenigen Philosophen, welche die Untersuchung des Erkennens zu ihrer eigentlichen und ausschließlichen Aufgabe machen, sind unter die obigen Gesichtspunkte, welche die reale Ansicht der Dinge bestimmen, schwerer unterzubringen. Ihre Frage liegt augenscheinlich auf einem anderen Feld; aber die Auffassung der Erkenntnis und ihrer Möglichkeit führt, man mag es wollen oder nicht, in einen größeren Zusammenhang; und ihre Konsequenz treibt, je nach den Prämissen, nach der ersten oder nach der zweiten Seite.

So sehen wir es z. B. bei LOCKE und KANT.

LOCKE darf nicht nach seiner Auffassung des Christentums gemessen werden, in welcher Beziehung er für seine Person der zweiten Richtung angehört, sondern nach den Gründen und Folgen des Empirismus. Wer, wie LOCKE, den Geist im Menschen zur Tafel macht und die äußeren Dinge zu den Schreibern, wer dadurch, wie LOCKE, den materiellen Kräften die Macht gibt, der wird schwer dazu kommen, den Gedanken, den er im Menschen zu einem Erzeugnis der Dinge macht, in den Dingen zu einem Prius, zu einem ursprünglich Bestimmenden zu erheben. Wenn LOCKEs Prinzipien in HUME zum Skeptizismus und in den französischen Philosophen zuletzt zu einem  Systéme de la nature  führten, so bestätigt die Geschichte den eigentlichen Trieb der lockischen Betrachtungsweise.

Anders ist es mit KANT. Es scheint, als ob wir ihm bei seiner Richtung auf die Untersuchung des Erkenntnisvermögens jene Frage, ob er im Ursprung die Kräfte vor den Gedanken oder den Gedanken vor die Kräfte stellt, gar nicht aufdrängen dürfen. Ist es allenthalben sein Ergebnis, daß wir das Ding-ansich nicht erkennen, so wird er diese Frage für einen transzendentalen Vorwitz halten. Selbst in der Kritik der Urteilskraft, in welcher er durch die Betrachtung des Zwecks zur Idee eines göttlichen intuitiven Verstandes hingeführt wird, bleibt er immer dem Kritizismus treu, indem er den Begriff nur für einen möglichen erklärt, nur für ein bloßes Regulativ der reflektierenden Urteilskraft in der Naturbetrachtung (vgl. "Kritik der Urteilskraft", § 77 und 79). Aber diese Bescheidenheit ist nur eine theoretische Neutralität. Der Mensch steht mit seinem realen Wesen in einem realen Zusammenhang. Daher kommen von der praktischen Seite mitten im Skeptizismus Punkte, wo der Skeptiker nicht umhin kann, positiv zu sein; mitten im Kritizismus Punkte, wo der kritische Philosoph sich - zumindest subjektiv - über die Natur der Dinge entscheiden muß. Da folgt KANT dem Zug seiner Grundansicht mit der ihm eigenen Konsequenz. Wie er theoretisch von Formen, das heißt Gedanken, in uns ausgeht, welche gegenüber der mannigfaltigen Vielheit, die von außen kommt, die mächtige Einheit sind: so setzt er, dieser Macht des Gedankens treu, wenn er die theoretische Abgeschlossenheit, die in sich schwebende Welt des subjektiven verlassen muß, den Gedanken als das Ursprüngliche der Welt, als das Prius der Dinge. Seine Postulate der praktischen Vernunft fordern reale Bedingungen, unter welchen allein das ethisch Gewisse im Zusammenhang der Welt möglich sein und wirklich werden kann. Sie enthalten Voraussetzungen, auf welche als auf reale Elemente, ähnlich wie die Aufgabe der analytischen Geometrie auf Bedingungen der Konstruktion hinweist, das Sittengesetz, die große Aufgabe der Menschheit, notwendig führt. Wenn KANT auf diese Weise intelligible Freiheit und den Glauben an Gott als den denkenden und wollenden Urheber der Welt, durch den allein das Reich der Natur und das Reich der Sitte in Einklang treten kann, zum metaphysischen Grund seiner Ethik macht: so wird eben damit der Gedanke das ursprünglich Setzende und Bestimmende. Nehmen wir hinzu, wie KANT in der Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft den Sohn Gottes als die dem Wesen der Menschheit vorangehende Idee des sittlich Guten faßt: so wird es offenbar, in welcher Weise die Keime auswachsen, welche die Anlage des kantischen Systems in sich trägt. War theoretisch der Zweck nur eine Maxime der Urteilskraft, welche mit den Dingen nichts zu tun hat: so ist dieser praktische Glaube an die Weisheit ein Glaube an die Realität der göttlichen Zwecke, der Einheit und des Gedankens im Ganzen der Welt.

Wer in FICHTE KANT in der Konsequenz aufzufassen gewohnt ist, wird bemerken, wie FICHTE, von ethischem Tiefsinn erfüllt und getrieben, namentlich in der zweiten Gestalt seiner Lehre, Ideen da entwirft, wo in der ersten nur die allgemeine moralische Weltordnung steht, wie z. B. in den Vorlesungen über das Wesen des Gelehrten. Man tut ihm Unrecht, wenn man den inneren Zusammenhang zwischen der ersten und zweiten Fassung seines Systems vergißt und diese entschiedenere Wendung nur für ein geborgtes Gut hält.

Wenn nach HEGEL die Logik und nur das Logische der reale Grundstoff des Wirklichen ist, wenn die Welt und ihre Geschichte nur die Dialektik des reinen Gedankens abspielt: so sollte man nicht zweifeln, daß nach HEGEL der Gedanke das Ursprüngliche, ja das allein Wahrhafte ist. Und doch haben wir in der Historie der hegelschen Schule das merkwürdige Schauspiel gesehen, daß sich innerhalb desselben Systems und im Namen desselben Meisters dieselben zwei Richtungen wieder erzeugten, welche sonst den unversöhnlichen Gegensatz der Systeme bilden, dieselben zwei Richtungen, welche sonst als der Grundunterschied aller Systeme erscheinen. Während ältere Schüler HEGELs in der Idee vor der Natur und vor dem subjektiven Geist den bewußten göttlichen Gedanken auffassen, meint die jüngere Schule es anders. Gott kommt erst im Menschen zum Bewußtsein. Vorher ist er nur die unbewußte Dialektik, welche erst der bewußte Geist des Philosophen durchschaut, vorher ist er also nur ein unpersönliches Naturgesetz und durch den Prozeß der Weltdialektik prozessiert sich das Blinde zum Sehenden glücklich hinauf. In diesen zwei Seiten der hegelschen Schule wird mit denselben Mitteln bewiesen, daß der Gedanke vor den Kräften und wiederum daß die Kräfte vor dem Gedanken stehen; denn die Weltdialektik im zweiten Fall wird nur im Menschen ein Gedanke. Wo die größten Gegensätze der Philosophie aus der Notwendigkeit desselben Begriffs, derselben Methode folgen sollen: da ist es billig, an einer Methode zu zweifeln, welche ihr eigenes Werk entzweit. Äußerlich gibt es keinen größeren Indizienbeweis gegen ihre Aussagen.

Würden wir HERBART untersuchen, so würde sich als ein innerer Widerspruch zeigen, daß seine Metaphysik und Psychologie und selbst seine praktische Philosophie, in welcher die Ideen nur in unserer Auffassung des Harmonischen entstehen, nach der ersten Seite hinübergehen, während seine teleologischen Andeutungen der Religionsphilosophie der andern angehören.

Auf solche Weise erhellt sich, daß kein System gegen die entworfene Grundfrage gleichgültig ist. Alle müssen sich zu ihr in ein bestimmtes Verhältnis stellen und alle entscheiden darin über ihre Grundrichtung.

Diese letzten Unterschiede, die möglichen Verhältnisse von Gedanken und Kraft, sind freilich noch sehr allgemein und dieser allgemeine Grund kann sich, wie die verschiedenen Systeme zeigen, mannigfaltig gestalten. Die Systeme der Kräfte verfahren bald atomistisch, bald dynamisch; die Systeme des Zwecks bald theistisch bald pantheistisch, wie z. B. die Stoa, und konstruieren bald aus dem Absoluten heraus, bald suchen sie die Elemente in der Welt zu einem Gedanken des Ganzen zu deuten. Die Geschichte der Philosophie zeigt diese Unterschiede - und wir lassen sie hier auf sich beruhen.

Wenn wir in jenen drei ursprünglich verschiedenen Weisen einer Weltanschauung philosophische Gedankenreihen erblicken, welche sich wie taktische Ordnungen im Fortgang mehr und mehr gegeneinander kehren müssen; so werfen wir noch auf ihren Kampf einen Blick, ob wir vielleicht schon sehen, wohin sich der Sieg neigt.

Wo sich drei untereinander bekriegen, pflegt es zu geschehen, daß sich nach der Anziehung ihrer Interessen zunächst zwei miteinander verbünden, um später ihre Sache unter sich auszumachen. Etwas Ähnliches ist hier geschehen.

Jene Ansicht, daß Gedanke und Kraft ansich gar nicht und höchstens in der Anschauungsweise verschieden sind, so daß weder die Kraft vor den Gedanken, noch der Gedanke vor die Kraft gestellt werden kann, die dritte Möglichkeit, die wir bezeichneten, hat, wie gesagt, in SPINOZA ihren großen Vertreter. Denken und Ausdehnung sind ihm die beiden Attribute der Substanz. Der Verstand schaut sie notwendig als solche an, welche das Wesen der Substanz ausmachen. Wie diese Substanz nur  eine  ist, so drücken die Attribute ihr Wesen nur verschieden aus. Daher stehen sie in keinem Kausalzusammenhang; denn sie sind nur ein und dieselb Substanz. Weder das Denken bestimmt die Ausdehnung noch die Ausdehnung das Denken. Es kann mithin auch keinen Zweck in der Natur der Dinge geben, keinen determinierenden Gedanken als das Ursprüngliche.

Nach dem Prinzip ist diese Ansicht von jenen Systemen der Kräfte und jenen Systemen des Zwecks und der Idee wesentlich verschieden. Sie folgte aus der Natur der Sache als die dritte Möglichkeit, welche sich neben die beiden andern auf die gleiche Linie stellt. Indessen gibt sie in der Durchführung - vielleicht notgedrungen - diese eigentümliche Stellung auf; und schlägt sich bald zu der einen, bald auf die andere Seite. SPINOZA kennt nur die wirkende Ursache und JACOBI stellte seine Lehre als die konsequenteste Ausführung derselben den Systemen der Endursache gegenüber. Insofern tritt SPINOZA in die erste Ordnung ein. Dessenungeachtet sucht SPINOZA, dessen Lehre in der intellektuellen Liebe Gottes ihren Gipfel erreicht, das Ideale wiederzugewinnen, und insofern ist er mit der anderen Ordnung verwandt. Ob sich beides aufeinander reimt und ob darin der Grundgedanke, um den es sich handelt, festgehalten wird, mag einer anderen Betrachtung aufbehalten bleiben. Im Großen und Ganzen verbindet sich der Determinismus eines SPINOZA mit der ersten Reihe.

Daher wird der Kampf übersichtlicher, indem kein Dritter zwischen die beiden Ordnungen tritt.

Beide Weisen der Betrachtung haben in sich selbst ihre Grenzen und wir werfen sie leicht bis auf diese Schranken zurück.

Wir verlangen von beiden Systemen, daß sie uns die Welt im Vorgang des Werdens zeigen oder zumindest den Weg, auf dem er möglich ist. Denn sonst bleibt der erklärende Grund wie tot und regungslos gegen das, was erklärt werden soll. Wenn wir die beiden Systeme nach diesem Punkt hin in Bewegung setzen, offenbaren sie ihren Mangel.

Wir lassen die Möglichkeit dahingestellt, wie aus  einer  ursprünglichen Bewegung die Mannigfaltigkeit der Kräfte entsteht. Es seien diese gegeben. Sie sind da, blind und bunt. Dann soll gezeigt werden, wie aus dem Blinden das Sehende wird, aus dem Bunten die Einheit der Ordnung, aus dem Ungefähr des Zufalls die Präzision des Organischen, aus dem wilden Spiel der Kräfte die Symmetrie und das Gleichgewicht des Lebens, aus dem Gegeneinander der Bewegungen Bestand und Übereinstimmung. Die Naturwissenschaften zergliedern und finden die Gesetze und das Maß der Kräfte; aber sie zeigen noch nicht, wie ursprünglich das Maß aus dem Maßlosen wird. Die Geschlechter des Lebendigen sind da und in den mannigfaltigsten Gestalten. Jedes Individuum hält die verschiedenen Kräfte in einer eigentümlichen Einheit gebunden. Die Geschlechter des Lebendigen sind die unerklärte Voraussetzung. Sie sind da mit ihrer Harmonie; aber im System der bloßen Kräfte sollte man zeigen, wie sie aus dem werden, was noch keine Harmonie ist.

Es hat ohne Frage seine Schwierigkeit, aus dem nackten Durcheinander von Tönen das Konzert des Universums, die unsterbliche Harmonie des Lebendigen entstehen zu lassen, es sei denn daß ein empfundener Gedanke  über  den Tönen und mitten in den Tönen die Melodie entwirft.

Wer an die Zahl oder Unzahl der möglichen Permutationen [Vertauschungen - wp] und Kombinationen denkt, der wird schwerlich die Wette von Einem gegen Millionen und Billionen Fälle wagen, daß aus zusammengeworfenen und ausgeschütteten Buchstaben eine Tragödie oder Komödie herauskommt. Wirklich verhält sich die Sache so und nicht anders, mag man nun in der Philosophie mit Atomen Verbindungen versuchen oder die Kräfte gegeneinander spielen lassen. Damit wird in dem berechtigten Kreis die Bedeutung der Atome so wenig verkannt, wie etwa geleugnet wird, daß die Wörter der Tragödie oder Komödie aus den Atomen der Buchstaben bestsehen. Aber es wird in demselben Sinn bezweifelt, daß in solchen Atomen oder Kräften der letzte Grund liegt, wie wir bezweifeln, daß der ursprüngliche Grund des Wortes die Buchstaben sind.

Aber auch die andere Ansicht hat ihren Stachel in sich, damit sie nicht rastet.

Es läßt sich der Streit zwischen beiden Ansichten in die Frage zusammenfassen, ob die Folge in der Erscheinung die zeitliche Geschichte, das Letzte ist, die Darstellung des Kausalzusammenhangs, oder ob sich diese Folge in einem vorhergehenden Gedanken, der die Ursache der zukünftigen Wirkung anrichtet, also eigentlich die Wirkung zur Ursache macht, gründet. Dieses Letzte, die Umkehr des Kausalnexus in einem vorausschauenden Blick, ist demjenigen das Anstößige, der in dem mechanischen Druck und Stoß, in der Sukzession der Fortpflanzung, die einzige Weise, die einzige Norm der Tätigkeit erblickt. Freilich lehrt die Beobachtung schon die entgegengesetzte Weise. Die Organismen bauen für die Zukunft und ihre Kausalität faßt die Gegenwart und Zukunft zusammen. Aber man hofft diese Anomalie bei einer tieferen Ergründung in die Sukzession der wirkenden Ursache aufzuheben und will um Alles lieber die Welt als lauter elastische Schwingungen fassen, von denen man doch nicht weiß, woher sie stammen, nur nicht als ein organisches Ganzes, das in einem überschauenden Gedanken seinen Grund hätte.

Die Schwierigkeit läßt sich freilich nicht berge. Alle teleologischen Systeme sind eine erweiterte Analogie; sie denken die ganze Welt nach der Analogie ihrer prägnantesten Teile. Hiergegen kann man streiten. Aber noch mehr. Sie denken die Entstehung des Lebendigen, des Organischen nach der Analogie des bildenden menschlichen Gedankens. Aber diese Analogie reicht nicht aus. Das Bild des menschlichen Gedankens bleibt wie ein Entwurf in ihm selbst beschlossen, es sei denn, daß ihm eine reale Kraft, z. B. die Hand, zu Gebote steht. Eine solche Vereinigung ist daher auch, wenn die Analogie bestehen soll, im ursprünglichen bildenden Gedanken vorauszusetzen. Hier fehlt alles. Wir lesen wohl die Ideen in der Welt z. B. die Zwecke der Sinne, wir glauben den Gedanken zu sehen, der die Welt regiert, aber er regiert unsichtbar, wir sehen nicht die reale Kraft, die ihn trägt und ausführt. Es hilft nichts, den Gedanken vor die Kraft zu stellen. Man soll zeigen, wie es geschehen kann, daß er die Kraft ergreift und regiert. Damit der Gedanke  wird (der Gedanke sprach: "Es werde Licht und es ward Licht."), mß er mit einer Kraft, die ihn ausführt, Gemeinschaft haben. Wie  unser  Gedanke, damit er den Kräften  nachbildet,  mit ihnen ein Gemeinschaftliches teilen muß, z. B. die Bewegung, durch die wir geistig Richtungen und Gestalten entwerfen: so kann auch der ursprüngliche Gedanke, damit er den Kräfte  vorbildet,  nicht schlechthin von ihm getrennt sein. Dieser ursprüngliche Punkt der Gemeinschaft liegt bis jetzt über die Spekulation hinaus. Soll sich einst die genetische Erkenntnis in der Philosophie vollenden, so muß er gefunden werden. Bis dahin bleibt es ihre große Aufgabe, die Tatsache des ursprünglichen Gedankens in seiner universellen Offenbarung zu erkennen und festzustellen, damit die Dinge in einem Gedanken ihre Wahrheit und die Gedanken in den Dingen ihre Wirklichkeit haben.

Es sind schlechthin verschiedene Weltansichten, welche dann entstehen, wenn man sich  entweder  in die Kraft als das Ursprüngliche  oder  in den Gedanken als das Allbedingende stellt und die eine Ansicht läßt sich nicht auf die andere zurückfürhen. Wenn man ihren Kampf in der Geschichte verfolgt und zwar nicht bloß in den geschlossenen Systemen, sondern noch mehr in der Gewalt, die sie in den Köpfen übten: so ist es im Großen und Ganzen ein Kampf zwischen Physik und Ethik. Das System der nackten Kräfte verschlingt die Ethik in die Natur und die Systeme des die Kräfte regierenden Gedankens leihen schon den Bildungen der Natur individuelle Mittelpunkte, wie ein Vorspiel des Ethischen. Die eine Art der Systeme naturalisiert die Ethik, die andere ethisiert in gewissem Sinn die Natur.

Die organische Weltansicht - das System des ursprünglichen Gedankens - tritt gleichzeitig mit der reinen Ethik auf. In SOKRATES liegt sie vorgebildet. PLATO wirft sie als ein kühnes Ganzes in die Geschichte hinein. In der Idee des Guten wurzelt ihm Natur und Staat, Leib und Glied. Zwar hat ARISTOTELES diese Betrachtungsweise insbesondere in der Natur selbst, in der Untersuchung des organischen Lebens, welches sich ohne innere Zweckmäßigkeit nicht denken läßt, begründet und befestigt. Aber das Christentum, die große Erfüllung eines ethischen Bedürfnisses, gibt ihr und zwar wie es der Religion gebührt, in einem  unmittelbaren  Glauben an Gottes Weisheit und Liebe, den eigentlichen Sieg in den Gemütern. Die besonderen christlichen Vorstellungen ruhen auf dieser allgemeinen Grundlage.

Die Physik jedoch erstarkt und bildet ein Gegengewicht. Im Altertum ist sie schwach und ihre Ansichten verbreiten sich, wie im Epikuräismus, größtenteils durch eine ethische Wahlverwandtschaft. Da die Physik in neuerer Zeit - beobachtend und messend, experimentierend und bauend - selbständig und mächtig wird: scheint es, als ob sie der vorausgesetzten Idee, dem ursprünglichen Gedanken, von welchen sie die Kräfte mit Erfolg trennt, das Reich in demselben Maß schmälert, wie sie die Wirkung der Kräfte durch ihre eigenen Gesetze in die Gewalt des Menschen bringt und sie dem fremden Gedanken des Menschen dienstbar macht.

Hier liegt der mächtigste Gegendruck gegen den Platonismus und - es ist nicht zu leugnen - die Geschichte sucht ihn bei seiner Schwäche zu fassen und zu fällen.

Bei PLATO ist die Materie das in sich Zerfallene und Verworrene, wie er sich ausdrückt, "in den bodenlosen Ort der Unähnlichkeit versunken", das in sich Unbestimmte und Maßlose, das Irrationale und insofern das Nicht-Seiende, die Wurzel des Bösen. Im Gegensatz gegen dieses wandelbare Materielle hebt PLATO darum die Wissenschaft der Zahl und Figur so hoch, weil sie in reiner Erkenntnis beständige Gesetze offenbart, ein sich selbst Gleiches und darum Vernünftiges; und in diesem Sinn ist sie ihm der Hebel vom Nicht-Seienden (dem Materiellen) zum Seienden (dem Ewigen).

Die neuere Zeit liebt die Materie, welche PLATO verschmäht, und sie hat an ihr Großes getan. Jene Gesetze der Zahl und Figur, bei PLATO im Gegensatz gegen die Materie, erstrecken nun ihren Halt und Bestand über die Materie selbst. Was sich in ihr widersprach, ihr Wechsel und Wandel, löst sich in ein einstimmiges Wesen auf, das Unähnliche in eine sich selbst getreue Gleichheit, das Verworrene in Ordnung, das Irrationale in ein Notwendiges. Die neuere Zeit hat darin ihre eigentümliche Größe. Von dieser Seite siegt sie über den Platonismus; von dieser Seite wächst die physische Weltansicht. Man sieht, was sich mit der wirkenden Ursache machen läßt und setzt daher alles in ihr Wesen.

Indessen liegt hier ein Wendepunkt der Betrachtung. Wer etwas mit der wirkenden Ursache macht, wer sie benutzt, trägt den Zweck, trägt einen höheren Gedanken auf ähnliche Weise in sich, wie das organische Leben die wirkenden Ursachen den Zwecken des Ganzen unterwirft. Jene Verherrlichung der Kräfte geschieht doch im Namen eines Gedankens, der sie erkennt oder sie benutzt.

Es steht zu hoffen, daß dieses Übergewicht der Physik sich im Fortgang dem ursprünglichen Gedanken nicht widersetzen, sondern ihn mit ihrer Macht ausstatten wird. Die Erkenntnis der Kräfte steht noch mitten in einer mannigfaltigen Vielheit. Wo es gelingen wird, sie zur Einheit eines Ganzen zusammenzubiegen: da wird sich mit dem Ganzen auch der ursprüngliche Gedanke herstellen. Wir wollen es in einem Bild deutlich machen. Wer die Kräfte einer Hand allein betrachtet, sieht darin mechanische Gesetze, z. B. des Hebels, verwirklichkt. Wer das Auge zerlegt, faßt seine Teile unter allgemeine optische Gesetze z. B. der Refraktion. Beide Betrachtungen der Kräfte, solange man sie isoliert, haben nichts miteinander zu tun. Sie gehen ihren eigenen Weg. Im selben Augenblick jedoch, in welchem Hand und Auge zusammen aufgefaßt werden, wie vom Standpunkt des ganzen Lebens, springt der Gedanke hervor, der sie ursprünglich zusammenbindet. Die Hand begehrt vom Auge eine Richtung, damit sie geschickt wird, das Auge eine Ausführung von der Hand, damit sein Blick mächtig wird. Vielleicht läßt sich hoffen, daß einst die Naturwissenschaften die Kräfte zu einer ähnlichen Einheit fügen, und zwar umso mehr, als sie an manchen Punkten mitten in den bloßen Kräften, insbesondere aber im Organischen, durch die Spur der Tatsachen auf die Einheit hingewiesen werden. Dann würden sie am Ende den Platonismus nicht stürzen, sondern nur fester gründen. Dann erst werden sich die Kräfte der Natur wie die Laute der Sprache verhalten; sie werden einen Sinn haben und einen göttlichen Gedanken kund geben, wie diese einen menschlichen. Dann erst kommt die Erklärung, BACONs  interpretatio naturae,  zu ihrem Recht; denn was hilft alles Erklären, alles Dolmetschen, wenn kein ursprünglicher Gedanke herauskommt? Daß sich die blinden Kräfte der Natur von einem hinzutretenden menschlichen Gedanken in gedachte Gesetze haben verwandeln lassen, bezeugt vielleicht ihren Ursprung aus einem umfassenden (objektiven) Gedanken.

Bis dahin wird das höhere menschliche Bedürfnis und in der Natur die Betrachtung des Lebens die Richtung auf das ursprünglich Ideale wach halten. Das Organische und Ethische steht in einem Bund; denn das Ethische ist das sich selbst erkennende, das bewußt und frei gewordene Organische. Dem menschlichen Gedanken erscheint, wenn er sich besinnt, die Alleinherrschaft der nackten Kräfte, die physische Weltansicht öde. Ihr zufolge sind im unendlichen Raum unendliche Welten, unendliche Kräfte, aber der Gedanke blitzt nur im einzelnen Menschen auf, wie zum Schein der Betrachtung; und der menschliche Gedanke ist einsam in der Welt. Der Mensch streckt sein vorwitziges Auge aus dem Meer der Kräfte hervor und zwar in einzelnen philosophischen Lehren nicht viel anders, als der Frosch aus dem Sumpf seinen aufgeblasenen Kopf. "Und es war wüst und leer" hieße es eigentlich noch heute, und zu jenem tröstlichen Wort "und Gott sah, daß es gut war" wäre es noch nicht gekommen.

Weder das Gute noch der Gedanke könnte am Ende und im Einzelnen herauskommen, wenn er nicht im Ursprung und im Ganzen läge.

Es mag zum Schluß gestattet sein, aus der Philosophie in die Dichtung abzuschweifen.

GOETHEs  Faust  erörtert die Stelle der Schrift: "im Anfang war das Wort."
    Wenn ich vom Geiste recht erleuchtet bin,
    Geschrieben steht: im Anfang war der Sinn
Faust  deutet dasselbe hin, was als System des Gedankens bezeichnet wurde.
    Bedenke wohl die erste Zeile,
    Daß deine Feder sich nicht übereile!
    Ist es der Sinn, der alles wirkt und schafft?
    Es sollte stehn: im Anfang war die Kraft. 
Faust  deutet damit auf dasselbe hin, was System der nackten Kräfte genannt wurde.

Die deutsche Philosophie hat zwar seit LEIBNIZ und länger - das ist die Tatsache der Geschichte - das Paradies verloren, zu lehren, was geschrieben steht, nur darum, weil es geschrieben steht. Als Philosophie kann sie nicht anders; ihr Beruf ist allgemeiner und sie muß es der Theologie überlassen, positiv zu sein. Aber die deutsche Philosophie wird mitten in dieser freien Stellung auf dem Spruch beharren: "im Anfang war das Wort" - und zwar zunächst und im Zusammenhang obiger Betrachtungen aus dem einfachen Grund, weil das Wort, unter dessen Bild an jener Stelle das ursprünglich in Gott Schaffende ausgedrückt wird, Sinn und Kraft zumal ist, eine Einheit beider dergestalt, daß die Vorstellung den Laut, also der Sinn die Kraft bestimmt und der Laut nur um des Sinnes d. h. die Kraft nur um des Gedankens willen da ist, aber nicht umgekehrt; und wer lieber sagen möchte: "im Anfang war die  Tat",  der muß sie doch in dieser Weise erklären.
LITERATUR: Friedrich Adolf Trendelenburg, Historische Beiträge zur Philosophie, Bd. II, Berlin 1855