cr-4p-4 G. K. UpuesA. DrewsE. BullatyW. WirthJ. Rehmke    
 
JOHANN GOTTLIEB FICHTE
(1762 - 1814)
Tatsachen des Bewußtseins

"Durch das Sein einer bestimmten Freiheit entsteht ein bestimmtes Wissen. Hier ist Freiheit vom Bilden, es müßte daher ein Wissen entstehen vom Bilden als solchem, da vorher in der einfachen äußeren Wahrnehmung bloß ein Wissen vom Ding stattfand und schlechthin nichts weiter. Hier erst wird ganz klar, was ich oben sagte, ein bestimmtes Bewußtsein ist Sein einer bestimmten Freiheit."

Erstes Kapitel

Das Wesen aller Wissenschaft besteht darin, daß von irgendeinem sinnlich Wahrgenommenen durch Denken zum übersinnlichen Grund desselben aufgestiegen werde. Ebenso verhält es sich mit der Philosophie. Sie geht aus von der Wahrnehmung des Wissens durch den inneren Sinn und steigt auf zum Grund desselben. In diesen Vorlesungen haben wir es mit dem ersten Stück dieser Wissenschaft, mit dem Phänomen zu tun: dieses wollten wir systematisch beobachten und mir insbesondere obliegt es, diese Ihre Beobachtung zu leiten.

Wir beobachten das Wissen, heißt freilich auch: wir stellen dasselbe nicht in seinem unmittelbaren lebendigen Sein, sondern nur in einem Bild dieses Seins hin. In der Entwerfung dieses Bildes eben habe ich Sie zu leiten, habe mit Ihnen das Zweckmäßige zu sondern und auf das Merkwürdige hinzudeuten. Sehr oft wird es auch noch einer besonderen künstlichen Vorkehrung bedürfen, damit das Bewußtsein gerade auf diejenige Frage uns antworte, die wir ihm vorlegen: und so wird sich denn die bloße natürliche Beobachtung in ein künstlich anzustellendes Experiment verwandeln.

Die allgemeinen und größeren Teile, in welche diese unsere Beobachtung zerfallen dürfte, lassen sich nicht gleich im Anfang übersehen, sondern müssen sich erst bei fortgesetzter Forschung ergeben. Bis dahin ist es hinlänglich, sich unsere Rede als eingeteilt in Kapitel zu denken und zwar zuvörderst ein erstes:  von den Tatsachen des Bewußtseins in der Wahrnehmung äußerer Gegenstände. Äußerer Gegenstände;  dieser Ausdruck wird hier ganz so gebraucht, wie der allgemeine Menschenverstand ihn nimmt: Gegenstände, welche als außer uns im Raum befindlich wahrgenommen werden.

Es ist die Aufgabe, das uns allen wohlbekannte Faktum dieser Wahrnehmung im Allgemeinen nach seinen Bestandteilen zu zergliedern.

Ich behaupte und fordere Sie auf, hierbei in Ihr eigenes Bewußtsein hineinzusehen und zu erforschen, ob Sie es nicht ebenso finden - Ich behaupte, es findet sich in demselben Folgendes:
    1) Eine Affektion des äußeren Sinnes, welche durch folgende Merkmale ausgesprochen wird: roth, helltönend, bitter, kalt, usw.

    Die Möglichkeit einer solchen Affektion setzt im Anschauenden einen äußeren Sinn voraus: so ist es z. B. unmöglich, daß einer, der kein Gesicht hat, durch Farben affiziert werde: diese Affektion selbst aber ist eine Beschränkung des Sinnes überhaupt auf diese bestimmte Weise, des Empfangens durch den Sinn. Ich nehme diese Blume als rot war, heißt nichts anderes, als: mein Sehen überhaupt und insbesondere mein Sehen der Farbe, ist beschränkt auf dieses bestimmte Farbsehen, welches die Sprache durch den Ausdruck rot bezeichnet.

    2) Ausdehnung im Raum

    Durch diese beiden Stücke, das Empfindbare und die Ausdehnung, ist das Wesen des äußerlichen Gegenstandes vollständig erschöpft, welches anzuerkennen, ich Sie hiermit auffordere.

      a) Ich behaupte, die Ausdehnung ist durchaus keine Empfindung, sondern himmelweit von ihr unterschieden. Um dies einzusehen, bittte ich Sie folgende Betrachtung mit mir anzustellen. Rot z. B. ist ja eine durchaus einfache Empfindung und dieselbe aus dem Gemüt gleichsam abzusetzen, dazu ist auch ein mathematischer Punkt ausreichend.

      Was aber ist es, das Sie nötigt und berechtigt, dieses Einfache und sich gleich Bleibende über eine große Fläche zu verbreiten, die gerade  so  groß ist und nicht größer und auf welcher vielleicht die rote Farbe scharf durch die anstoßende Grenze einer anderen Farbe abgeschnitten wird?

      b) Was also ist die Ausdehnung, da sie offenbar keine Empfindung ist? Es muß doch gar nicht leicht sein, diese Frage zu beantworten, da sie, bis fast auf unser Zeitalter, auf die verschiedenartigsten Weisen unrichtig beantwortet worden und hauptsächlich  ihre  richtige Beantwortung (durch KANT) der philosophischen Forschung auf den rechten Weg geholfen hat.

      Um die richtige Beantwortung derselben in sich selbst zu finden, stellen Sie mit mir folgendes künstliche Experiment an: (hier ist die erste Stelle, wo wir eines solchen bedürfen.) Ich frage Sie, ist denn nun der von ihnen wahrgenommene Körper teilbar ins Unendlich oder würde eines solche versuchte immerfort gehende Teilung irgendwo eine Grenze finden, wo sie nicht mehr fortgesetzt werden könnte? Ich sehe voraus, daß Sie nicht anders antworten können, als so: der Körper sei allerdings teilbar bis ins Unendliche. (So antwortet allenthalben der sich selbst überlassene gesunde Menschenverstand, und wenn irgend ein Philosoph anders antwortet, so geschieht das nicht erst durch den natürlichen und sich überlassengebliebenen Verstand, sondern, weil er durch schon vorausgegangene falsche Voraussetzungen und verknüpfte Lügen zu einer solchen Antwort gewzungen wird.) Ich frage weiter: Steht denn nun doch dieses unendlich Teilbare bestimmt und vollendet und sogar wiederum innerhalb einer anderen Unendlichkeit in seine Grenzen eingeschlossen da?. Sie können nicht anders antworten, als ja. Also Sie schauen an und behaupten an der Ausdehnung eine vollendete und bestimmte Unendlichkeit. (Sie verbinden in ihr Unendlichkeit und Totalität zu einer verschmolzenen und konkreten Einheit.)

      Machen Sie sich diesen höchst bedeutenden Begriff noch an einem anderen, ganz dasselbe sagenden und den Punkt, auf den es hier ankommt, nur noch mehr heraushebenden Beispiel klar. Sie ziehen eine Linie von  A  bis  B.  Ich frage: ist diese Linie nicht teilbalbar bis ins Unendliche? Ist darum nicht von  A  bis  B  ein unendlicher Weg wirklich vollendet worden? Ja. Ist nicht von jedem möglichen Punkt, den Sie in der Linie  AB  annehmen, bis zu jedem anderen möglichen Punkt dieselb Unendlichkeit, so daß Sie durchaus von keinem Punkt zum anderen kommen können, ohne die Unendlichkeit in der Tat zu vollenden? Sie darum in ihr das, was dem Begriff als schlechthin unmöglich und widersprechend erscheint, in der Anschauung des Raumes wirklich vollzogen.

      c) Ich frage weiter: wie und wo ist denn nun die unendliche Teilbarkeit des Körpers, haben Sie denn wirklich ins Unendliche geteilt und durch den gelungenen Versuch die unendliche Teilbarkeit erfahren? Niemals: Sie behaupten nur, Sie  könnten  ihn ins Unendliche teilen und ihr Urteil spricht zu allererst nicht vom Körper etwas aus, sondern es spricht von ihrem eigenen Vermögen etwas aus und zwar hat sich auch dieser Ausspruch keineswegs durch eine gemachte Erfahrung bestätigt, sondern er gründet sich, wenn er wahr ist, auf die unmittelbare, von sich selbst zeugende Selbstanschauung des Vermögens in seinem inneren Wesen, als eines Unendlichen.

      Dieses unendliche Vermögen ist nun wirklich  angeschaut,  es ist als ein bestimmtes im Blick befaßt und mit demselben umfaßt und vor ihn hingestellt und daher die Vollendung und Totalität dieser Unendlichkeit.

      Kurz und mit einem Schlag: soll das Vermögen angeschaut werden, wie es ist, so muß es als unendlich angeschaut werden, denn es ist unendlich. Soll es angeschaut werden, so muß es fixiert und zusammengefaßt werden, denn es ist das Wesen der Anschauung, daß sie fixiert. Und so muß dann auch die Selbstanschauung des Vermögens notwendig eine Zusammenfassung der Unendlichkeit werden.

      Demnach als letztes Resultat unserer jetzt angestellten Untersuchung: die Ausdehnung im Raum ist nichts anderes, als die Sichanschauung des Anschauenden in seinem Vermögen der Unendlichkeit.

    3) Fassen wir jetzt zusammen, was uns durch die unternommene Zergliederung über die äußere Wahrnehmung bekannt geworden ist. Es lag in ihr erstens eine Affektion des äußeren Sinnes. Da dieser äußere Sinn durchaus den Anschauungen selbst angehört und an und in ihnen beschränkt wird, so kann das Anschauende nur an und in sich selbst eine solche Beschränkung wahrnehmen. In Beziehung auf diesen Teil ist die äußere Wahrnehmung demnach eine Selbstanschauung einer bestimmten Beschränkung des äußeren Sinnes. Es lag in ihr zweitens die Ausdehnung, welche sich als eine Selbstanschauung des Anschauenden klar gezeigt hat. Also geht die äußere Wahrnehmung, soviel wir dieselbe bis jetzt haben kennen lernen, aus dem Umkreis des Anschauenden ganz und gar nicht heraus. Und es begreift sich aus der bisherigen Zergliederung zwar sehr wohl, wie im Zustand der äußeren Wahrnehmung das Anschauende werde sagen können: ich fühle mich so und so beschränkt, indem ich zugleich in derselben ungeteilten Anschauung mein unendliches Vermögen fasse. Durachaus aber begreift sich nicht, wie das Anschauende aus dieser bloßen Wahrnehmung herausgehen und sagen kann: es gibt außer mir und durchaus unabhängig von mir, ein  Etwas,  das im Raum ausgedehnt so und so beschaffen ist. Es ist daher klar, daß unsere Zergliederung der äußeren Wahrnehmung noch nicht geschlossen ist und noch eines ihrer wesentlichsten Bestandteile ermangelt.
Unmittelbare Tatsache hierbei ist das eben,  daß  herausgegangen wird aus der Anschauung; ein Herausgehen aber aus der unmittelbaren Anschauung haben wir schon früher  Denken  genannt. (Welches eine bloße Wortbezeichnung ist, damit wir weiterhin kürzer und jedesmalige Beschreibung hinzuzusetzen, uns ausdrücken können.) Wir drücken daher das obige Faktum so aus: es wird in unmittelbarer Vereinigung mit dem, was wir in aller äußeren Wahrnehmung als Anschauen erkannt haben,  auch noch gedacht:  und durch dieses Denken eben und durch die unabtrennliche Vereinigung dieses  Denkens  mit der Anschauung zu einem innig verschmolzenen Lebensmoment des Anschauenden, wird das, was eigentlich in ihm wäre, zu einem Etwas außer ihm, zu einem Objekt.


Anmerkungen.
    1) Dieser Satz, daß das Objekt (denn es ist überall nur eins, und das behauptete Dasein außer uns und unabhängig von uns, das den eigentlichen Charakter eines Objekts ausmacht, kommt allen auf dieselbe Weise zu) nicht etwa empfunden, auch nicht angeschaut, sondern durchaus nur gedacht werde, ist ebenso wichtig, als er unerkannt ist. Wir haben zur Einsicht desselben auf dem sehr leichten Weg geleitet, daß wir anschaulich machen: die Empfindung sowohl, als die Ausdehnung im Raum sei lediglich Sache des Selbstbewußtseins. Wenn daher aus diesem Selbstbewußtsein herausgegangen und die Grenze desselben durch ein neues Wissen überschritten werde, so sei dies durchaus ein anderes, wert mit einer anderen Benennung bezeichnet zu werden, wozu wir die des Denkens vorschlugen. Denken heißt uns nämlich, Herausgehen aus der bloßen Selbstanschauung und was wir dem Zuhörer eigentlich zumuten, ist, daß er diesen Unterschied begreife. Daß es nun aber ein solches Herausgehen schon in der äußeren Wahrnehmung in der Tat gebe, ist uns eine unmittelbare Tatsache, indem wirklich und in der Tat statt der in uns wahrgenommenen Beschränkung des äußeren Sinnes usw. etwas außer uns und unabhängig von uns Existierendes angenommen wird: welche Tatsache nun jeder in seinem eigenen Bewußtsein finden mag.

    2) Schon hier zeigt sich klar, daß das Bewußtsein nicht ein bloßer toter und leidender Spiegel der äußeren Gegenstände, sondern daß es ein in sich selbst Lebendiges und Kräftiges sei. Man denke sich noch einmal jene ruhende Wasserfläche, auf der sich die am Ufer stehenden Bäume und Pflanzen abspiegeln: man gebe auch dieser Wasserfläche das Vermögen, die auf ihr eingedrückten Bilder anzuschauen und sich aus derselben bewußt zu werden: so wird dadurch wohl klar, wie sie zum Bewußtsein eines Bildes und Schattens in ihr kommen werde; wie sie aber aus diesen Bildern jemals herauskommen und zu den in ihnen abgebildeten wirklichen Bäumen und Pflanzen am Ufer hinüberschreiten könne, ist dadurch noch keineswegs erklärt. So mit unserem Bewußtsein; wie die Affektion des äußeren Sinnes und die Anschauung des Vermögens in uns hineinkommen, gehört zur Begründung auf das Gebiet der eigentlichen Philosophie und bleibt aus einer Beobachtung der Tatsachen billig weg. Kurz, jene innere Selbstanschauung  ist.  Dadurch aber ist noch gar nicht erklärt, wie sich diese Selbstanschauung für eine Anschauung außerhalb des Umkreises des Anschauenden liegender, ansich vorhandener Objekte ausgeben könne und es bedarf, um dies als Tatsache aufzufassen, noch der Annahme eines inneren, aus sich selbst herausgehenden Lebens, durch  Denken. 
Zuerst, was nun eigentlich leistet dieses Denken in der äußeren Wahrnehmung? Durchaus nichts weiter, als daß es ihr die Form gibt, die Form des objektiven Daseins. Wir müssen daher im Objekt zwei Hauptbestandteile unterscheiden, die aus sehr verschiedenen Quellen entspringen: die objektive Form, entspringend aus dem Denken, und das, was dieses Objekt selbst sein soll, entspringend aus der Sichanschauung des Anschauenden und zwar die materiale Qualität aus der Bestimmung des äußeren Sinnes die Ausdehnung aus der Anschauung des eigenen unendlichen Vermögens. Das erste die Form, das zweite der Stoff. Sodann ist über die Form des Denkens hier überhaupt zu bemerken, daß das Denken ein Setzen und zwar ein Setzen einem anderen gegenüber, ein Gegensatz ist: aller Gegensatz entsteht demnach unmittelbar und rein aus dem Denken und wird durch dasselbe mitgebracht. Soviel über das Denken im Allgemeinen, inwiefern dasselbe hier klar gemacht werden kann. Beanworten wir nun noch die Frage, von welcher besonderen Art das hier vorkommende Denken sei.

Ich sage, es ist nicht ein Denken zufolge eines anderen Denkens, so wie das in den vorbereitenden Vorlesungen angeführte Denken eines Grundes der Erscheinung: sondern es ist ein absolutes in und auf sich selbst beruhendes Denken. Ich will nicht gerade sagen, es ist das  ursprüngliche  Denken, wiewohl es dasselbe auch, jedoch mit einer gewissen Hülle umgeben, sein dürfte; aber ganz sicher ist es das  erste  Denken auf dem Gebiet der Tatsachen des Denkens: wie denn die äußere Wahrnehmung überhaupt, von der dieses Denken ein unabtrennlicher Teil ist, auch das erste Bewußtsein ist, dem durchaus kein anderes vorausgeht.

Man kann eben darum, nach dem gewöhnlichen Wortverstand vom Ich, in dem dasselbe das Individuum bedeutet, von welchem Sprachgebrauch wir uns hier, auf dem Gebiet der Tatsachen befindend, nicht abweichen, keineswegs sagen, as Ich denke in diesem Denken, indem späterhin sich zeigen wird, daß erst durch die Reflexion auf dieses Denken das Ich zu sich selbst kommt: sondern man muß sagen, das Denken selbst als ein selbständiges Leben denkt aus und durch sich selbst, ist dieses objektivierende Denken.

Und jetzt fassen wir die ganze äußere Wahrnehmung, deren einzelne Teile wir jetzt ersehen haben, zusammen. Sie ist überhaupt ein Bewußtsein, das nicht gemacht wir durch irgendein freies Prinzip, mit irgendeiner Besonnenheit und nach irgendeinem Zweckbegriff dieses freien Prinzips, sondern das sich selbst macht durch sich selbst: ein eigentümlich und selbständig auf sich beruhendes Leben des Bewußtseins.

Ich sage ein selbständiges und auf sich selbst ruhendes Leben. Das Sein und Leben des Bewußtseins geht nämlich in den beschriebenen Bestimmungen auf und durchaus nicht darüber hinaus: wiewohl dasselbige Leben in der späteren Reflexion über diese jetzt beschriebenen Bestimmungen hinausgehen, sein Leben erweitern und neue Bestimmungen desselben hinzusetzen mag. Dieses also in sich aufgehende und einen geschlossenen geistigen Lebensmoment bildende Bewußtsein ist aber nicht einfach, sondern es besteht aus den erwähnten zwei Hauptteilen, dem Denken und der Selbstanschauung welche letztere selbst wieder in zwei sehr verschiedene Bestandteile zerfällt. Und zwar sind diese zwei, oder wenn man will, drei Hauptteile so unzertrennlich verschmolzen und in Eins verbunden, daß der eine ohne den anderen durchaus nicht stattfinden kann, und nur durch die synthetische Vereinigung aller das beschriebene erste Bewußtsein gebildet wird. Das Anschauende kann nicht anschauen sein unendliches Vermögen, ohne daß es zugleich seinen äußeren Sinn auf eine gewisse Weise bestimmt fühle: unmittelbar aber zu diesem Bewußtsein des eigenen Zustandes tritt das Denken, mit jenem zu  einem  Lebensmoment innig verschmolzen und so wird das, was für die Anschauung in  uns  war, zu einem außer uns im Raum befindlichen und mit einer gewissen empfindbaren Qualität ausgestatteten Körper. Wiederum kann von der anderen Seite das objektive Denken nicht eintreten, es sei denn vorhanden eine Anschauung: indem ja das Denken ein Herausgehen ist, für die Möglichkeit eines solchen aber ein Inneres dasein muß, von welchem ausgegangen werde.


Zweites Kapitel

Soviel über die Tatsachen des Bewußtseins in der äußeren Wahrnehmung. Wir könnten, scheint es, ohne weiteres fortgehen zur Zergliederung der inneren Wahrnehmung oder der Reflexion, als einem zweiten Kapitel. Da jedoch, wie es teils bekannt ist, teils auf den ersten Anblick einleuchtet, diese in demselben Bewußtsein vorkommen sollende Reflexion ein von der äußeren Wahrnehmung durchaus verschiedener und ihr zum Teil geradezu entgegengesetzter Zustand ist, so möchte es jemanden Wunder nehmen, wie in demselben  einen  Bewußtsein entgegengesetzte Bestimmungen möglich seien.

Wir hätten daher, ehe wir weitergehen, zuerst diese Frage zu beantworten: wie das Leben des Bewußtseins von einem seiner Zustände zum entgegengesetzten übergehen könne; oder auf welche Weise es uns möglich sein werde, aus unserem ersten Kapitel überhaupt zu einem zweiten herauszukommen?

Um diese Frage zu lösen, bitte ich Sie mit mir Folgendes zu überlegen und innerlich wahr zu finden:
    1) Ich sage, das Wissen schlechthin in seiner inneren Form und Wesen ist das  Sein  der Freiheit. Verstehen  Sie  mich also: Was Freiheit sei, setze ich als bekannt voraus. Von dieser Freiheit nun sage ich, sie sei schlechthin, nicht etwa, wie sichs wohl jemand auf den ersten Anblick denken möchte, als Eigenschaft irgendeines anderen für sich Bestehenden und diesem inhärierend [innewohnend - wp], sondern als ei eigenes selbständiges Sein: und dieses selbständige besondere Sein der Freiheit, sage ich, sei Wissen.

    Das selbständige Sein einer solchen Freiheit trete heraus in sich selbst als Wissen; wer dieses Wissen in seinem Wesen begreifen wolle, müsse es sich als Sein der Freiheit denken.

    Zur Erläuterung Folgendes. Schon hier tritt in unserer Ansicht ein durchaus anderes höheres geistiges Sein heraus, als der gewöhnliche materialisierte Verstand sich denken mag. So etwas wie Freiheit an eine im Hintergrund liegende Substandz, welche, wenn man die Sache recht besieht, doch immer körperlich ist, anzuheften, vermag er wohl noch; aber zu einem nicht erst von irgendeinem Substrat getragenen, sondern selbständigen Sein der Freiheit sich zu erheben, fällt ihm schwer, ja wenn seine Verbildung recht lange gedauert hat, unmöglich. Daß es ein solches Sein reiner Freiheit allerdings gebe, zu  erweisen,  fällt nun freilich der eigentlichen Philosophie anheim: hier wird Ihnen ein solcher Gedanke indessen nur als ein mögliches, problematisches Denken zugemutet.

    Daß aber das Wissen wirklich und in der Tat ein solches Sein und Ausdruck von Freiheit sein möge, läßt sich schon hier in unmittelbarer Anschauung klarmachen. Im Wissen vom wirklichen Objekt außer mir, wie verhält sich denn das Objekt zu mir, dem Wissen? Ohne Zweifel so: sein Sein und seine Eigenschaften haften nicht auf mir und ich bin von beiden frei, darüber schwebend, durchaus indifferent.

    2) In jedem  bestimmten  Wissen ist die allgemeine Freiheit, die da ist und  da  ist, so gewiß überhaupt ein Wissen ist, auf irgendeine besondere Weise beschränkt. Es ist in jedem bestimmten Wissen ein Doppeltes in Eins verschmolzen: Freiheit überhaupt, wodurch es zum  Wissen  wird: ein gewisses Beschränktsein und Aufgehobensein der Freiheit, wodurch es zu einem  bestimmten  Wissen wird.

    3) Aller Wechseln und alle Veränderung der Bestimmungen des  einen  und allgemeinen Wissens ( = der  einen  und allgemeinen Freiheit) kann demnach nur darin bestehen, daß gefesselte Freiheit entbunden oder entbundene gefesselt werde.

    4) Wir folgern noch weiter so: da diese Freiheit eben Freiheit sein soll und das Wissen überhaupt nur das Sein der absoluten Freiheit ist, so kann ein solches Binden und Fesseln derselben nur durch sie selbst, die Freiheit, erfolgen. Sie selbst ist Prinzip aller ihrer möglichen Bestimmungen. Falls ein solches Prinzip außer ihr angenommen würde, so wäre sie eben nicht Freiheit.

    5) Ist die Freiheit in irgendeiner Beziehung gefesselt, so ist sie sodann in derselben Beziehung nicht entbunden und umgekehrt; und so ist es wenigstens im Allgemeinen jetzt begreiflich, wie verschiedene Momente des  einen  allgemeinen Wissens als geradezu entgegengesetzte auseinanderfallen müssen.

    6) Idee einer gewissen Beschränkung und Entbindung: etwa als  Fünffachheit  und  Unendlichkeit. 
Wenden wir diese Prinzipien zunächst im Allgemeinen auf die Reflexion an! In der äußeren Wahrnehmung ist das durchaus einfache, noch auf keine Weise über sich selbst sich erhebende Bewußtsein, dessen Leben nicht um das Mindeste weiter ausgebildet ist, als insoweit es gebildet sein muß, um auch nur Bewußtsein zu sein, gebunden an ein bestimmtes Bilden. Die Freiheit, der es bedarf, damit es auch nur die Form des Wissens trage, erhält es durch das objektivierende Denken, wodurch das Bewußtsein, gebunden zwar an dieses bestimmte Bilden, wenigstens über das Sein hinausgesetzt und von demselben frei gemacht wird. So ist in diesem Bewußtsein gefesselte und entbundene Freiheit vereinigt; gefesselt ist das Bewußtsein an das Bilden, frei ist es vom Sein, welches ebendarum durch das Denken auf ein äußeres Objekt getragen wird. (Darum hebt unser Wissen notwendig an mit dem Bewußtsein eines äußeren Objekts, indem es tiefer gar nicht anheben könnte, wenn es doch ein Wissen bleiben sollte.) In diesem Bewußtsein ist Freiheit lediglich im Sein und dieses ist der tiefste und letzte Grad der Freiheit.
    1) Über diese bestimmte in der äußeren Wahrnehmung stattfindende Gebundenheit soll sich nun durch Reflexion das Wissen erheben. Es war gebunden an das Bilden; es müßte sich daher freimachen und indifferent geradeso in Beziehung auf dieses Bilden, wie es vorher frei war und indifferent in Beziehung auf das Sein.

    Durch das Sein einer bestimmten Freiheit entsteht ein bestimmtes Wissen. Hier ist Freiheit vom Bilden, es müßte daher ein Wissen entstehen vom Bilden als solchem, da vorher in der einfachen äußeren Wahrnehmung bloß ein Wissen vom Ding stattfand und schlechthin nichts weiter. Hier erst wird ganz klar, was ich oben sagte, ein bestimmtes Bewußtsein ist Sein einer bestimmten Freiheit.

    Dasjenige nämlich, in Beziehung auf welches die Freiheit frei ist, ist jedesmal der Gegenstand dieses bestimmten Bewußtseins. So war in der äußeren Wahrnehmung Freiheit lediglich in Beziehung auf das Sein und so entstand denn ein Bewußtsein des Seins und durchaus nichts weiter. In der Reflexion ist Freiheit in Bezug auf das Bilden und darum fügt zu jenem ersten Bewußtsein des Seins sich hier das Bewußtsein des Bildens hinzu. In der Wahrnehmung sagtes das Bewußtsein aus: das Ding ist und damit gut. Hier spricht das neuentstandene Bewußtsein: es ist auch ein Bild, eine Vorstellung des Dinges. Da ferner dieses Bewußtsein die realisierte Freiheit des Bildens ist, so spricht in Bezug auf sich selbst das Wissen: ich kann jene Sache bilden und vorstellen oder auch nicht.

    2) Es finden hier mancherlei neue Schöpfungen des Bewußtseins statt. Zunächst liegt dem neuentstandenen Bewußtsein des Bildes ein reales Sichbefreien zugrunde, ein Sichbefreien des Lebens des Wissens selbst. Das bestimmte Bewußtsein, hier des Bildes, als Sein einer bestimmten Freiheit ist nur Resultat des aus den erst getragenen Banden sich losreissenden freien Lebens, Resultat dieser bestimmten höheren Lebensentwicklung der Freiheit selbst. Das stehende und anhaltende Sein der Freiheit, was nun eben Bewußtsein ist, wird durch die Freiheit gemacht. Dieser Akt erscheint sogar im Bewußtsein als ein sich Zusammennehmen und Anstrengen. Sodann: es entsteht, sagte ich, das Wissen eines Bildes, als eines neuen. War denn nun in der der Reflexion vorausgehenden reinen Wahrnehmung auch ein Bild oder war in ihr kein Bild? Ist das Leben des Bewußtseins durchaus frei, wie wir schon im Vorbeigehen gesehen habe, so konnte eine Wahrnehmung in dasselbe kommen, freilich nur durch seine eigene Freiheit; und so würde auch die Sache selbst doch immer nur für ein durch die Freiheit erschafffenes Bild anerkannt werden müssen. Auf welche Weise sich dieses nun möge denken lassen, dazu fehlt es uns hier sogar am Ausdruck. Soviel ist klar, daß durch ein Freiheit des  wirklichen  Wissens die Wahrnehmung nicht erschaffen wurde, indem bei ihr alles wirkliche Wissen erst anhebt; daß man darum sagen müsse: in der Wahrnehmung war allerdings kein Bild, sondern die Sache.
Das alles nur vorläufig! Gehen wir jetzt an eine tiefere Schilderung der durch diese neue Lebensentwicklung entstandenen Freiheit in Bezug auf das Bild. In der Wahrnehmung war zunächst eine Beschränkung des äußeren Sinnes auf eine bestimmte Qualität, z. B. die der roten Farbe und es war hier lediglich Wahrnehmung des eigenen Zustandes, der da eben ist. Die derselben entgegengesetzte Freiheit, die Lösung aus jener Gebundenheit, müßte darum zunächst darin bestehen, solche Bilder der Qualitäten frei aus sich selbst hervorzubringen: ein Bild auch der gelben Farbe, usw., ohne die Beschränkung des äußeren Sinnes auf diese Farbe zu entwerfen. Freie Einbildungskraft, Einbildungskraft in Bezug auf die sinnliche Qualität. (Da es ein Bild von irgendeiner Qualität durchaus nicht geben kann, ohne vorhergegangene wirkliche Affektion durch den äußeren Sinn, da es ferner zum freien Entgegensetzen mehrerer solcher Bilder schon eines guten Vorrates bedarf: so folgt daraus, daß das Leben schon eine geraume Zeit im Zustand der bloßen Wahrnehmung verharrt haben müsse, um sichzu jener Freiheit der Einbildungskraft erheben zu können.) Ferner kommt in der Wahrnehmung vor die Anschauung der Ausdehnung, und zwar eine gerade auf diese Figur, diese Größe, diesen Ort im allgemeinen beschränkte Anschauung des Körpers. Die Befreiung von dieser Art der Beschränkung müßte sonach darin bestehen, daß die Einbildungskraft, zwar immer an die Ausdehnung überhaupt gebunden, frei Figur, Größe und Ort sich bildete. Endlich lag in der Wahrnehmung das objektivierende Denken. Dieses bliebe im Ganzen also, daß das Produkt der Einbildungskraft zwar aus uns heraus gesetzt würde, aber, weil die Beschränkgung des Sinnes überhaupt weggefallen ist, nicht als wirklich und in der Tat daseiend, sondern ausdrücklich als von uns bloß eingebildet und frei gedacht.

Diese Freiheit der Einbildungskraft ist nun wirklich eine reale Befreiung und Losbindung des geistigen Lebens. Unser äußerer Sinn wird ja, wenigstens so lange wir wachen, immerfort durch die uns noch unbekannte Kraft bestimmt und affiziert. Die Einbildungskraft allein ist es, welche uns über diese Affektion durch den Sinn hinwegsetzt und uns fähig macht, uns den Eindrücken desselben zu verschließen, indem wir unsere Wahrnehmung davon abziehen, um uns allein dem Schaffen durch Einbildungskraft zu überlassen und dadurch eine ganz andere Zeitreihe, die von der Zeitreihe des Fortgangs der sinnlichen Entwicklung durchaus frei ist, zu erschaffen. (Bei Kindern in den ersten Jahren ihres Lebens ist ohne Zweifel dieses Vermögen der Abstraktion vom Sinneseindruck nicht, ebendarum auch nicht das Vermögen der freien Einbildungskraft. Bei Erwachsenen hat die Stärke des Abstraktionsvermögens nach dem Maß ihrer geistigen Ausbildung sehr verschiedene Grade. ARCHIMEDES wurde durch den Tumult einer durch Sturm eroberten Stadt in seinen geometrischen Konstruktionen nicht gestört; ob auch sodann keine Störung eingetreten sein würde, wenn ein Blitzstrahl neben ihm niedergefahren wäre, ist eine andere Frage.

Lassen Sie uns all das noch tiefer durchdringen, indem wir über die bestimmte äußere Gestalt der hier erworbenen Freiheit uns zur inneren Form derselben erheben. Ich sage:
    1) In der äußeren Wahrnehmung hat das Leben (des Wissens) durch sein bloßes Sein Kausalität: überdies noch eine bestimmte Kausalität, indem Kausalität im Allgemeinen nichts Wirkliches, sondern ein bloßer Gedanke ist. (Dadurch erhebt es sich eben über das Objekt; es ist nicht, wie dieses, ein bloß totes ruhendes Sein, sondern es ist ein lebendiges Ursachesein.) Daran nun, an dieses Kausalitäthaben, ist es in diesem Moment der Wahrnehmung gebunden und da es nicht im Allgemeinen gebunden, an eine bestimmte Kausalität gebunden sein kann.

    2) Die nächstfolgende höhere Entwicklung des Lebens macht sich frei von dieser Gebundenheit, heißt deshalb: das Leben erhebt sich über die Kausalität durch das unmittelbare Sein; es hält also an das unmittelbare Sichausströmen des Lebens. Nun aber vernichtet es sich hierbei doch nicht überhaupt als Leben; was also bleibt es? Offenbar ein Prinzip, das nicht unmittelbar durch sein Dasein Ursache ist, sondern das es nur durch die in dieser Lebensentwicklung selbst entstandene freie Tätigkeit werden kann. Kurz, es wird zu einem Prinzip, das als solches sein besonderes, selbständiges Dasein hat; wogegen es vorher nur als eine wirkliche Kausalität Dasein hatte. Es hat in der Tat und realiter seine Kausalität, die vorher nicht in seiner Gewalt war, in diese jetzt erst entwickelte Gestalt gebracht. Es hat statt seines vorherigen einfachen Seins hier ein doppeltes gewonnen: ein über jenem ersten und einfachen Sein darüberschwebendes zweites Sein. Ein Sein, als ruhendes Prinzip, oder, was von seiner Freiheit abhängt, als sich ausströmende Ursache.

    3) Alles Sein bestimmter Freiheit gibt ein bestimmtes Wissen; es entsteht sonach, da das Leben sich zum Prinzip gemacht hat, notwendig ein unmittelbares Bewußtsein von sich, als einem solchen Prinzip. Wie läßt sich dieses neuentstandene Bewußtsein näher charakterisieren? Zunächst hat es sich auch von einem Wissen freigemacht, an das es vorher gebunden war, vom Wissen vom Objekt. Auch durch diese Befreiung entsteht ihm ein Wissen, nämlich ein Wissen vom Wissen. Nun entsteht mit diesem zugleich in diesem ungeteilten Lebensmoment ein Wissen vom Prinzip und so fällt denn das Wissen von diesem Prinzip mit jenem Wissen vom Wissen zusammen zu einem substantiellen Träger des Wissens, einem Wissenden, das mit dem Prinzip Eins sei und ebendasselbe, kurz, zu einem Ich. Ich das Wissende bin zugleich das von der unmittelbaren Kausalität befreite Prinzip. Das Bewußtsein: Ich, geht von der Reflexion auf das Wissen hin zum Prinzip und beide werden Eins durch ihre unzertrennliche Vereinigung im Zustand der Reflexion.

    4) Dieses jetzt erst durch die freie Entwicklung des Lebens erschaffene (so wie ins Bewußtsein eintretende) Ich kann nun entweder in dieser Anhaltung seiner Lebensentwicklung verharren oder es kann sich einem freien Konstruieren durch die Einbildungskraft hingeben und dieser Konstruktion mit seiner Wahrnehmung nachgehen oder es kann sich auch der äußeren Wahrnehmung hingeben.

    5) Ist nun auf dieser Stufe des Lebens die äußere Wahrnehmung ihrer inneren Form nach ganz so, wie sie vorher war oder ist sie nicht ganz so? Ich behaupte, sie ist nicht ganz so und auf die Einsicht in diesen Unterschied kommt hier alles an.

      a) Durch die neue Entwicklung ist eine totale Veränderung und Umschaffnung im Lebens des Bewußtseins vorgegangen. Vorher hatte dasselbe durch sein bloßes Sein Kausalität, jetzt durchaus nicht mehr, sondern nur durch eigene freie Tat kann etwas in ihm entstehen. Zu jenem ersten Zustand kann es durchaus nicht wieder herabsinken, nachdem es sich einmal darüber erhoben hat.

      b) Nun aber besteht das Wesen der äußeren Wahrnehmung darin, daß das Bewußtsein durch sein bloßes Sein Kausalität habe. Wie vermag denn also ein solches Bewußtsein, das nicht mehr durch sein Sein Kausalität ist, äußerlich wahrzunehmen?

      c) Die Lösung der Frage ist: ungeachtet, daß es in jenem ersten Zustand nicht mehr befangen ist, so kann es sich dennoch mit Freiheit in denselben wieder hingeben. Es kann sich  machen  zu dem, was durch sein bloßes Sein Kausalität ist. Ein Hingeben, welches unter der Benennung Attention jedwedem bekannt ist. Zum ersten Sein, das dennoch immerfort bleibt, worin nur das Sein des Bewußtseins nicht aufgeht, ist ein zweites hinzugetreten, welches das erstere in seiner Gewalt hat. Dieses zweite kann nie vernichtet werden, nachdem es einmal ist, aber es kann sich mit bleibender Freiheit der ersten wieder hingeben.

Beispiel.

(So unterscheidet sich die Wahrnehmung einer Pflanze durch das Kind vor der Entwicklung des Selbstbewußtseins in ihm von der Attention des Naturforschers auf dieselbe Pflanze: das Kind kann, wenn es wacht, nicht umhin, diese Pflanze zu sehen, wenn sie in seinen Gesichtskreis kommt: denn sein Bewußtsein ist der Anfüllung durch eine andere Reihe ganz unfähig. Der Naturforscher kann dieselbe Pflanze, obwohl sie in seinen Gesichtskreis kommt, auch nicht sehen: denn er kann dieselbige Zeit mit freiem Bilden und Nachdenken ausfüllen. Entschließt er sich doch, sie sehen und beobachten zu wollen, so geschieht dies durch ein Sichlosreißen von jenem freien Gang seines Denkens, vielleicht mit einer Anstrengung gegen den Hang fortzuphantasieren; er nimmt sich zusammen, um wahrzunehmen, welches alles beim Kind nicht stattfindet, da bei ihm Zerstreuung nicht möglich ist, indem es das Zerstreuende, die Einbildungskraft nicht besitzt. Ferner ist das Kind genötigt, die Erscheinung der Pflanze zu nehmen, wie sie sich ihm gibt, Teile, die durch Ungewohnheit oder Stärke des Ausdrucks hervorstechen, in seiner Wahrnehmung besonders herauszuheben; andere, deren Eindruck weniger stark ist oder zu deren Auffassung sein Sinnesorgan noch nicht ausgebildet genug ist, ganz zu übergehen. Dagegen sieht die freie Wahrnehmung des Naturforschers unter der Leitung eines Zweckbegriffes. Er kann die Beobachtung nach einer gewissen Ordnung anstellen, bei einzelnen Teilen nach Belieben so lange verweilen, bis er sie recht gesehen zu haben sich bewußt ist: kurz, seine Wahrnehmung erhält ihr Dasein sowohl, als ihre Richtung durch besonnene Freiheit; dem Kind wird beides durch sein bloßes Dasein auf dieser Stufe der sinnlichen Entwicklung.)


Anmerkung.

Ich habe die äußere Wahrnehmung also beschrieben, daß in ihr das Bewußtsein durch sein bloßes Dasein Ursache sei und das durch die Reflexion hervorgebrachte Neue also, daß durch sie das Ausströmen der Kausalität angehalten und das Leben zu einem Prinzip werde durch mögliche freie Tat. Als Bild des ersten Zustandes habe ich das Kind in den ersten Momenten seines Lebens dargestellt. Beim erwachsenen Menschen soll bei geistiger Gesundheit dieser Zustand nicht mehr eintreten, noch von ihm an sich selbst beobachtet werden können. Wohl aber tritt ein ähnlicher, dessen wir uns zur Erläuterung bedienen können, in einem kranken Zustand des Geistes ein, der uns als solcher nichts angehen würde, sondern auf das Gebiet der Psychologie gehört. Es kann ein Mensch nämlich an das freie und zwecklose Phantasieren (Konstruktionen durch die oben beschriebene freie Einbildungskraft), besonders wenn er noch dazu durch heftige Leidenschaften getrieben wird, sich also gewöhnen, daß jener Strom der Phantasie ganz durch sich selbst ohne weiteres Hinzutung der Freiheit fortfließt und sich selbst macht; und so sein kranker Zustand durch sein bloßes Sein in der Einbildungskraft Kausalität hat, wie der natürliche Zustand des beschriebenen Kindes in der Wahrnehmung. (Wurzelt die Krankheit so tief ein, daß im Anhalten jenes Stromes ein Wenden der Attention auf die äußere Wahrnehmung und eine Entgegensetzung derselben mit der Einbildung ganz und gar nicht mehr möglich ist, so heißt sie Wahnsinn.) Setzt nun, daß ein solcher doch die Gewalt über sich erhielte, jenem freien Fortgang der Einbildungen Einhalt zu gebieten von nun an auf immer, so hätte er sich zum freien Prinzip gemacht in Beziehung auf die selbsttätige, sein ganzes Sein in sich verschlingende Einbildungskraft, so wie in unserer Beschreibung das natürliche Bewußtsein sich zum freien Prinzip machte über die selbsttätige, vorher sein ganzes Sein verschlingende äußere Wahrnehmung.

Jetzt noch folgende Erläuterung über den Unterschied der freien Attention von der sich aufdrängenden äußeren Wahrnehmung! - Zum Zweck der letzteren hat das Bewußtsein durch sein bloßes Sein Kausalität. Diese Kausalität behält es immerfort und dieselbe wird an sich durch keine Freiheit aufgehoben. Der Strom fließt fort auch für den Freien, auch ihm bleiben die Sinne offen. Jene Kausalität hat nur auf sein Bewußtsein keinen unmittelbaren Einfluß; der Strom, wie er auch fließe, faßt ihn nicht notwendig. Soll er ihn fassen, so muß sich der Freie ihm hingeben, er muß sein Bewußtsein mit Freiheit an jene Kausalität setzen. Nenne die äußere Wahrnehmung  x.  Im ersten Zustand ist dieses  x  die Spitze, der Mittelsitz und das Ende des ganzen Bewußtsein; es kann nicht nichtsein: im Zustand der Attention ist dieses  x  durchaus mit Freiheit durchdrungen; sein Dasein ist Produkt der Freiheit, sein Bleiben, so lange es bleibt, ist Produkt der Freiheit.
LITERATUR - Johann Gottlieb Fichte, Tatsachen des Bewußtseins in Beziehung auf das theoretische Vermögen, Sämtliche Werke 2, Berlin 1845