p-4ra-3J. BaumannR. WahleTh. ElsenhansG. KerschensteinerP. Schilder     
 
JULIUS BAHNSEN
Beiträge zur Charakterologie

"Als praktische und  realpolitische  Leute verraten sie, welcher Art das  Glück  ist, das sie sich und andern bereiten wollen, erkauft um alles Edle, was die Menschenbrust bewegen kann, mit der schnöden Zumutung:  iß und trink, liebe Seele, denn alles andere ist Torheit!" 

"Mit noch größerer Sicherheit als womit  Leibniz  behaupten durfte, daß in allen Wäldern nicht zwei Blätter einander völlig gleichen, läßt sich sagen, daß unter allen Menschen, die je gelebt haben, jetzt leben oder einst leben werden, nicht zwei einander schlechthin gleich sind."

"Die große Menge der Richtenden wird niemals aufhören, mit einer unglaublich kleinen Anzahl von Begriffen als unbiegsamen Maßstäben zu hantieren."

"Auch für das geistige Eigentum gilt der Unterschied von Eigentum und Besitz. Es gibt Köpfe - das sind die tieferen meist und reichen - die haben viel zu eigen, aber wenig als flüssiges Kapital gleich bar auf der Hand; - und es gibt andere, die oberflächlichen, aber "gewandten", die haben viel entlehnten Besitz, fremdes Eigentum, bequemes Erbgut, die können immer improvisieren - ihnen geht die Münze nie aus - es ist aber auch danach: lauter Kleingeld! Sie brillieren oft im Examen mit Note 1 - auch beim Abfragen der Geschichte der Philosophie - aber nie in der Philosophie selber - einfach, weil sie nicht  Selbstdenker sind. Wer aber so sein bißchen Flitterstaat an sich trägt in weitaufgebauschten Falten: der gilt nun einmal in der Welt als reich, und einen solchen Schein hervorzurufen, darauf allein ist manch vielgepriesene Methode angelegt."


Vorrede

Die Frage QUINTILIANs:  Numquid melius dicere vis, quam potest? [Ist dir nicht danach besser zu sein als du bist? - wp] konnte meine Zweifel beschwichtigen helfen, ob ich das vorliegende Werk so wie es einmal geworden ist der Öffentlichkeit übergeben sollte oder nicht. Ich sagte mir nämlich: was du daran hättest besser machen können, konntest du nicht besser machen, weil du als Sklave des täglichen Brotes auf diejenige Vollendung, welche allein auch dir selber hätte genügen können, verzichten mußtest, da es an jener stetigen Muße gebrach, bei welcher sich Unebenheiten des Stils und der ganze Darstellung leichter vermeiden, als wie sich solche später mit nachträglicher Feile wegschaffen lassen.

Ein Teil seines Inhalts erschien zu  Michaelis  1864 mit der Programm der höheren Bürgerschule zu Lauenburg in Pommern unter der Bezeichnung "Pädagogisch-charakterologische Fragmente" und gleichzeitig in einem Separatabdruck unter dem Titel "Grundzüge zu einer Charakterologie mit besonderer Berücksichtigung pädagogischer Fragen". Diese Bruchstück führten damals nachstehende Sätze beim Leser ein:
    "Wie die Psychologie als Hilfswissenschaft in den Dienst der Pädagogik und deren praktischer Ausübung tritt, so ist die Schule eine reiche Fundstätte psychologischer Beobachtungen, und als Erträge dieses fruchtbaren Wechselverhältnisses wünsche ich das zunächst Vorgelegte aufgenommen zu sehen. So kann es zugleich mitwirken zu einer Berichtigung landläufiger Ansichten über die Stellung der Seelenkunde zur Erziehungslehre, und insbesondere dem Irrtum entgegenarbeiten, als bringe eine Fülle unvergorenen kasuistischen Materials oder ein platter Schematismus für die bequemste Einrubrizierung der Individualitäten den Lehrer sonderlich weiter in der Verfolgung seiner Zwecke. Klares Bewußtseni umd die Schranken, innerhalb welcher allein von einer Einwirkung auf den Zögling überhaupt die Rede sein kann, ist ja die Vorbedingung für ein richtiges Anwendung der dabei zu Gebote stehenden Mittel. Und dieses Thema einmal wieder zu erörtern, dafür liegt ebenso viel Anlaß vor in der häufig begegnenden Überschätzung der Macht, welche der Erziehungskunst wirklich innewohnt, wie in der zumeist durch ein solches Extrem provozierten Verkennung ihrer doch immerhin möglichen Erfolge. Oft genug geht der eine Unverstand unmittelbar in den andern über; dieselben Eltern, welche anfangs geneigt sind,  alle  Verantwortlichkeit für das "Geraten" ihrer Kinder der Schule oder dem in den verschiedensten Formen von außen her an dieselben herantretenden Beispiele abzuwälzen, auch wohl billig genug, sich selber wegen tausendfacher, kleiner oder großer Versäumnisse anzuklagen, - ebendieselben verfallen später leicht voreilig in ein untröstliches Verzagen, das hoffnungsloser Gleichgültigkeit zum Raub wird, alles gehen läßt, wie es eben geht, und in stumpfer Resignation nun als ein unentrinnbares Schicksal hinnimmt und beklagt, ws sich bei mehr Mut und Besonnenheit doch noch recht wohl zum Besseren wenden ließe.

    "Wenn aber eine derartige Ermutigung ihren nächsten Grund im Mangel an richtiger Würdigung derjenigen Individualität hat, welche Objekt der Erziehung ist, so kommt nicht minder manchmal auch auf seiten des erziehenden Subjekts eine Unsicherheit im Selbstvertrauen vor, welche in entsprechender Verkennung des Rechts der  eigenen  Individualität wurzelt; und auch solchen, welche dieser Gefahr ausgesetzt sind, wird die  Charakterologie  manches zur Ermunterung sagen können, indem durch sie ungerechten Selbstanklagen der Boden entzogen wird. Verständigen wir uns also zuerst einmal über Wesen und Aufgabe dieser, hier zum erstenmal unter eigenem Namen auftretenden Wissenschaft!"
Die Aufnahme, welche diese Probe fände, sollte entscheiden über die Herausgabe des Ganzen. Obwohl aber die zu einer solchen ermunternden Stimmen mehr nur die pädagogische Seite daran im Auge hatten, so ist doch seitdem gerade diese in der Ausführung und letzten Redaktion mehr und mehr zurückgetreten und mag nur noch als gelegentliche handwerksmäßige Verbrämung angesehen werden.

Ein Jahr später - im Herbst 1865 - war das Ganze druckfertig gemacht, wurde jedoch im Mai 1866 einer nochmaligen Revision von mir unterzogen und sollte gerade in die Druckerei gegeben werden, als der Ausbruch des Krieges einen neuen Aufenthalt brachte. Seitdem habe ich geglaubt mich jeder eingreifenden Änderung enthalten, solches aber an dieser Stelle nicht unerwähnt lassen zu sollen, um einer falschen Auffassung entgegenzuwirken, wenn es scheinen könnte, daß dieses und jenes darin seitdem von den Ereignissen widerlegt worden ist. Der Schwierigkeiten und der Ungunst der Verhältnisse war schon so genug gewesen und einem gewissenhaften Setzer die Arbeit ohnehin nicht leicht gemacht. Darum unterblieb das Eintragen nicht nur größerer Berichtigungen, sondern auch übersichtlicherer Eingangskapitel, wie ich sie sonst selber für ein paar Abschnitte würde gewünscht haben; und ich suchte mich bei dem Gedanken zu beruhigen, daß die Zwischen zeit meine Anschauungen im wesentlichen nicht hatte erschüttern können, dieselben also wohl auf einem besseren Grund als dem einer bloßen Tagesmeinung stehen würden. Am liebsten jedoch hätte ich dem Ganzen das  Faustwort:
    Bilde mir nicht ein ich könnte was lehren,
    Die Menschen zu bessern und zu bekehren
zum Motto gegeben, um so am kürzesten Erwartungen, die ich nicht erregen wollte, vorzubeugen. Denn insbesondere würden sich alle diejenigen getäuscht finden, welche vermuten möchten, es gebe in diesem Buch viele "praktische Winke", etwa gar eine Anleitung oder doch einzelne Vorschriften zum Unterrichten und Erziehen; und gerade über den Abschnitt, welcher vom Modifikationsproblem und anderen heiklen Dingen handelt und für welchen jenes Bekenntnis vorzugsweise gilt, werden die bloßen Praktiker urteilen, er sei für ihre Bedürfnisse und Zwecke allzu skeptisch ausgefallen. Ebenso habe ich mich des Abschweifens zu direkt legislatorischen Erörterungen enthalten, wiewohl für die  lex ferenda  [künftiges Recht - wp], z. B. künftiger Prüfungsreglements, sich implizit manches Postulat erheben wird, darauf gerichtet, daß nicht fort und fort das Allerungleichartigste nach ein und demselben Maß taxiert wird.

Übrigens denke ich von diesem Buch, wie von allen andern auch: das Aufnahmen fremder Gedanken in unsere Lebensanschauungen und Maximen ist nur da ein lebeniges, wo es so unmerklich vor sich geht, wie die Assimilation der Leibesnahrung, wo also der Niederschlagt aus der Lektüre so wenig wahrnehmbar "ansetzt", wie die Frucht unter dem Welken der Blüte; und nur wer wähnt, es sei auf ein Applizieren [Anwenden - wp] auswendig gelernter Regeln abgesehen, verkennt, was alle pädagogische Theorie in den Verdacht gebracht hat, schlechthin unnütz zu sein. Für das selbsttätige Wachstum der Geistesklarheit und somit für das unreflektierte Handeln bleibt darum nicht unfruchtbar, was beim Einzelfall allerdings nicht mehr als da oder dort empfangene "gute Lehre" vor dem Bewußtsein steht - der Gesamtheit unserer Intellektualtätigkeit kann es ja doch einverleibt sein, wie all der übrige Traditionsgehalt unseres Wesens. Wohl aber ist das allemal ein höchst bedenkliches Symptom, wenn uns sofort nach dem Hören oder Lesen einer Darstellung das Bewußtsein kommt: es sei nichts davon haften geblieben; denn das besagt: das Ganze sei aus bloßen Begriffskonstruktionen aufgeführt; - weil sich nämlich nur das Anschauliche einprägt und als ein Ferment, das man "behält" und bei sich behält, fortwirken kann.

Solche Erwägungen mögen mich auch einer ausführlichen Apologie [Rechtfertigung - wp] entheben, indem ich das Geständnis ausspreche, wie es mir nicht entgeht, daß ich durch den weiten Abstand zwischen den Behandlungsweisen meines Gegenstandes in den verschiedenen Abschnitten mich selber der Anklage ausgesetzt habe, es sei von mir eine ungleichmäßige Methode befolgt worden. Während einige sich an Stellen beschweren werden über eine abstruse Schwerfälligkeit in der breiten Besprechung metaphysischer Fragen, werden andere meinen, man vermisse die schulgewohnte Form "spekulativer" Wissenschaftlichkeit, wo die Diktion geradezu rhetorisch gefärbt ist oder hinabsteigt auf das Niveau eines nüchternen  common sense,  etwa wie die Sprache der Popularphilosophen des 18. Jahrhunderts. Ein Archivar für die  Acta philosophorum  wie RUDOLF HAYM hält schon ein leeres Fach für mich parat: er wird ohne weiteres mich seinen "Theophrasten" (vgl. HAYM, "Arthur Schopenhauer", Berlin 1864, Seite 104, mit Anspielung auf ein von SCHOPENHAUER selbst brieflich gegen JULIUS FRAUENSTÄDT (1) gebrauchtes Wort) einreihen: - das von mir aufgebrachte Titelwort ist gar zu verlockend dazu. Den deskriptiven Stücken wird man absprechen, was LEWES neuerdings das Visionäre am Schriftsteller genannt hat; ,den deduktiven die logische Bündigkeit, und denjenigen, welche als ein mittleres Genre auch die Form der bloßen "Reflexion" nicht verschmähen, alle "wahrhaft philosophische" Tiefe bestreiten. Was soll ich dazu viel anders sagen, als mit
    Herrn Gottfried lobesan:
    "Ich lass' mir's hat gefallen;
    Man richtet mir's nicht anders an,
    Als meinen Brüdern allen."
Mit der Anlage wird allmählich sich befreunden, wer nur erst erkennen will, wie Inhalt und Darstellung immer konkreter werden, je weiter die Betrachtung in das Besondere vorrückt. Und wenn man dann weiter in Betracht zieht, daß der Titel kein geschlossenes System, sondern nur Baumaterial verspricht, so läßt sich nicht füglich der Vorwurf erheben, ich hätte ein Stockwerk in Granit, ein anderes in Sandstein, ein drittes in Backstein, ein viertes in Fachwerk, ein fünftes als Holzbau aufgeführt und wohl gar dem Ganzen noch ein Stück in Eisen- und Glaskonstruktion hinzugefügt. Dafür räume ich dann auch jedem solchen Leser, welchem nicht daran liegt, überall die Anknüpfungen an Frühergesagtes zu verfolgen, willig das Recht ein, nach seinem individuellen Geschmack "Auslese" zu halten in dem, was ihn gerade anziehen mag; - wollte ich doch manche Probleme nicht sowohl lösen, als bloß aufzeigen. Nur bitte ich alsdann, die Anmerkungen nicht unbesehens zu überschlagen; denn dieselben sind keineswegs, wie sonst wohl, lediglich mit jenem "gelehrten" Ballast angefüllt, von welchem mancher vermeint, er könne ohne ihn dem Kiel seines wissenschaftliche Fahrzeugs nicht den rechten Tiefgang und das richtig schwebende Gleichgewicht des unteren Schiffsraumes geben.

Allein gerade Lesern von jener - daß ich so sage - laxeren Praxis gegenüber wird vielleicht der ausgedehnte Gebrauch von Fremdwörtern einer Entschuldigung bedürfen, zumal in einer Zeit, wo die Einschränkung desselben vielerseits zu einer nationalen Pflicht gemacht werden soll. Aber weder bin ich der Meinung, daß wir unsere Muttersprache schänden, wenn wir unsere Fähigkeit zu feineren Unterscheidungen nicht unbenutzt lassen, indem wir entweder von auswärts entnehmen, was uns daheim bei allem Reichtum versagt ist, oder, den Vertretern einer prüden Schulsprache zum Trotz, nicht verschmähen, was im Bereich der Provinzialismen und anderer nicht salonfähiger Ausdrucksweisen an derberen Auskunftsmitteln sich uns darbietet, um Dinge beim rechten Namen zu nennen, denen ihre Natur keinen Anspruch auf eine zart ästhetische Behandlung verleiht; noch halte ich es für ein billiges Ansinnen, daß jemand unberechtigter Volkstümlichkeit zuliebe sich schärferer Bezeichnungen enthalten soll, bloß damit diesem und jenem ein oberflächliches Verständnis erleichtert wird; denn im allgemeinen wird man doch ernsten Leuten zutrauen müssen, sie hätten allemal ihre guten Gründe dazu gehabt, wo sie dem Fremden und Ungewohnten vor dem Einheimischen und Gewöhnlichen den Vorzug gegeben haben. Dennoch will ich hiermit Indemnität [Schadlosigkeit - wp] nachgesucht haben für all die Fälle, wo dahin zu befinden sein sollte, daß nichts als eine gewisse Bequemlichkeit im Beibehalten des gerade mir zufällig Geläufigsten zur Abweichung von sonst üblicherem mich verleitet hat.

Unversöhnlicher Abgunst oder unüberwindlicher Gleichgültigkeit wird freilich dieses Buch begegnen bei all jenen "Gesunden", die sich ihres Glücklichseins schier als einer Tugend rühmen und mit ihrem Naserümpfen unsere Satire provozieren, während sie als praktische und "realpolitische" Leute verraten, welcher Art das "Glück" ist, das sie sich und andern bereiten wollen, erkauft um alles Edle, was die Menschenbrust bewegen kann, mit der schnöden Zumutung: iß und trink, liebe Seele, denn alles andere ist Torheit!

Nur weil es dennoch auf Erden viel zerschlagene Herzen gibt, läßt sich auf einige Empfänglichkeit rechnen für Resultate eines vielgehetzten Lebens, und solche wiegt für das Gemüt mehr als jede Anerkennung derselben als einer bloß geistigen Leistung.

Von dem, was sonst noch in Vorreden gesagt zu werden pflegt, enthält die Schrift selber an geeigneten Orten das Nötige über meine Stellung zu Vorgängern und Meistern. An eine besondere Klasse von Lesern habe ich  in conscribendo  [in schriftlicher Form - wp] nicht gedacht, und die Frauen nicht ausdrücklich abzuschrecken, dazu gab der zufällige Umstand mir den Mut, daß gerade solche des Buches Entstehung mit freundlichem Anteil begleitet haben - der tieferen Beziehung hier nicht zu gedenken, welche die Widmung ausdrückt.

Zwar weiß ich wohl, wie gerade eine außerhalb der Parteien stehende Objektivität leicht viele Gegner und nicht viele Anhänger verschafft; dennoch lebe ich der Hoffnung, daß was ich hier zu bieten habe so wenig der Freunde wie der Feinde Zahl vermindern wird, und deshalb ergeht meine Einladung an beide zugleich unbefangen: "Nehmt es hin!"



Einleitung

Begriff und Umfang der Charakterologie

Als eine "Phänomenologie des Willens" hat die Charakterologie den Willen als in  Individualitäten  überhaupt erscheinenden kennen zu lehren. Insofern ist sie eine deskriptive Wissenschaft und kann sich auch auf die Betrachtung der gesamten Tierwelt ausdehnen. Als Teil der Anthropologie beschränkt sie sich auf die Analyse der  Persönlichkeit  und fällt mit bestimmten Abschnitten der sogenannten Psychologie im engeren Sinne zusammen. Sie kann dabei so wenig wie irgendeine andere philosophische Disziplin der metaphysischen Grundlage entraten, und so oft sie sich auf diese zurückbezieht, muß sie deduktiv verfahren. Deshalb ist von jedem Versuch, sie systematisch darzustellen, ein Ausweis darüber zu verlangen, auf welche metaphysische Voraussetzungen er sich zu stützen gedenkt; auch schon darum, weil nur in der Anlehnung an eine bereits feststehende oder in der Rechtfertigung einer neu aufgestellten Terminologie sichere und volle Verständlichkeit die nötigen Garantien findet. Indem also die hier gelieferten Beiträge auf dem von ARTHUR SCHOPENHAUER gelegten Fundament Fuß fassen, setzen dieselben im ganzen eine Bekanntsacht mit dessen Lehre und Ausdrucksweise voraus. Insbesondere ist es das Problem vom lebendigen Verhältnis zwischen Wille und Motiv, dessen Lösung darin gefördert werden soll; und schon hieraus erhellt sich, daß zwar die  reine  Erkenntnislehre - Dianoiologie - sowie die eigentliche ästhetische Theorie von unserer Wissenschaft ausgeschlossen bleibt, nicht aber überhaupt die Beschäftigung mit dem Intellekt und seinen Eigenschaften; denn soweit diese das Gepräge der Individualität mitbestimmen, fallen sie auch unter jenes Problem, und das Vorwiegen der einen oder anderen Intellektualfunktion auf deren Konnex mit dem Willenskern zurückzuführen, macht gerade eine der Hauptaufgaben der Charakterologie aus, mit welcher sich die Modifikabilitätsfrage in wesentlichen Stücken aufs innigste verbindet, sodaß es zugleich diese Seiten sein werden, an welche sich vorzugsweise das Interesse des Pädagogen als solchen knüpfen muß.

Obliegt es nun dem ersten, daß ich sage, allgemeinen Teil der Charakterologie, die Grundformen und Grundstoffe, welche den individuellen Charakter konstituieren, zu klassifizieren, so wäre eigentlich in diesen auch eine Feststellung in Betreff der intellektuellen Anlagen aufzunehmen - nach Überwiegen je
    1) des Verstandes;
    2) der sinnlichen Anschauung;
    3) der Einbildungskraft;
    4) der Phantasie, als der Geburtsstätte der platonischen Ideen
    5) der Vernunft, als des Vermögens der Begriffe oder des abstrakten
        Denkens
    6) des Gedächtnisses, als der Aufbewahrungsfähigkeit für Begriffe, im
        Unterschied von der Erinnerung, usw.
Allein einerseits ist eben hierfür eine Verweisung auf die Vorgänger am ehesten zulässig, und andererseits wird hierzu Gehörendes entweder schon in der Einleitung zur Sprache kommen, oder es wird Sache des zweiten, "besonderen" Teils sein, das einschlägige Material je an seinem Ort zu verarbeiten; ebenso wie es diesem überlassen bleibt, die nach ihren Objekten sich differenzierenden Spezialneigungen, samt idiosynkratischen [überempfindlichen - wp] Sympathien und Antipathien, Liebhabereien oder Gelüsten und Aversionen in Erwägung zu ziehen. Es hat nämlich der besondere Teil, demgemäß mehr konstruktiv verfahrend, zu seinem Objekt die Mischungen und Mischungsverhältnisse, in und nach welchen jene formalen und materialen Elemente zu einer Individualität zusammentreten.

Somit gewissermaßen zugleich morphologischer [auf die Gestalt beziehend - wp] und ätiologischer Natur [auf die Ursachen der Krankheiten beziehend - wp], ist die Charakterologie sehr wohl geeignet, ein Bindeglied zwischen rein psychologischer und ethischer Betrachtungsweise herzustellen.

Wie der Pädagogik, so hat sie auch der Kriminalistik und Psychiatrie die Prolegomena zu liefern und darf sich gelegentlich der Abschätzung der sittlichen Dignität ihrer Tatsachen nicht entziehen, wenngleich streng zu unterscheiden bleibt, ob ein gegebenes Prädikat charakterologisch, d. h. auf das handelnde Individuum selber, oder nur als auf eine Einzelhandlung bezogen zur Anwendung kommt; denn aus letztere ist der Schluß auf ersteres ohne Mitberücksichtigung sämtlicher charakterologischer Faktoren und der determinierenden Motive allemal voreilig. Wir können z. B. in einem besonderen Fall jemandes Benehmen eigensinnig nennen, sind aber darum noch nicht ohne weiteres berechtigt, Eigensinn für ein Merkmal seines Charakters auszugeben.

Entsprechend nun der angekündigten Absicht, an allen Punkten den pädogogischen Nutzanwendungen die Perspektive freizuhalten, mag sogleich die nähere Begründung des Rechts der Charakterologie auf dem Weg der Induktion ihre Belege ebenfalls vom Feld der pädagogischen Erfahrung auflesen.


Induktorische Vorbetrachtungen

1. Widersprüche in den Äußerungen der Individualität

Mit noch größerer Sicherheit als womit LEIBNIZ behaupten durfte, daß in allen Wäldern nicht zwei Blätter einander völlig gleichen, läßt sich sagen, daß unter allen Menschen, die je gelebt haben, jetzt leben oder einst leben werden, nicht zwei einander schlechthin gleich sind; - mit noch größerer, weil, abgesehen von der geringen Wahrscheinlichkeit, welche für so eine absolute Gleichheit die kleinere Anzahl menschlicher Individuen bietet, beim Menschen die Merkmale, die diese Gleichheit konstituieren müßten, ungleich mannigfaltiger sind als bei einem Blatt. Es gibt ja nichts Oberflächlicheres als das Einreihen der Menschen in so unbestimmte Kategorien, wie gut und böse, klug und dumm, schwach und stark, und dgl. mehr.

Aber seltener pflegt bedacht zu werden, daß schon im Knaben-, ja im Kindesalter diese Diversität sich kundgibt, daß auch kein Säugling, kein Zwilling dem andern in allen Stücken gleich ist; und doch bedarf es weder des Mikroskops, das uns vielleicht erst die Verschiedenheit zweier Blätter vor Augen legt, noch der Schäferweisheit, die jeden Hammel der eigenen Herde vom andern unterscheidet, sondern nur des liebevollen Eingehens auf die kleinsten Äußerungen des Kindeswesens um zu erkennen, daß zwar das  sunt pueri pueri, pueri puerilia tractant  [Knaben sind Knaben, und Knaben machen Knabenhaftes. - wp] sein volles Recht behält, aber die  puerilia  [Knabenhaftigkeit - wp] jedes Einzelnen im Detail gerade ebensosehr nur sich selbst gleich sind, wie die  pueri  selber, einer im Vergleich zum andern. Und eben solange als wir beim Kind noch auf eine Deutung seiner symbolischen Zeichensprache angewiesen sind, solange also auch die Fälschung, in seiner Weise, sich zu geben, durch absichtliche Verstellung noch nicht möglich ist, und Konvenienz [das Schickliche - wp] oder "Anstand" gewisse Gewohnheiten noch nicht zur "zweiten Natur" gemacht haben: gerade so lange läßt sich, sogar ohne besondere Geschicklichkeit und Erfahrung, aus dem ganzen mimischen und sonstigen körperlichen Gebaren desselben ein ziemlich sicherer Schluß auf das Innere - zumal das Temperament und die ethische Anlage - ziehen.

Doch möchten wir uns nicht verirren in die Finessen der  baby-education,  welche neuerdings dem Pedantentum einen so breiten Tummelplatz eröffnet hat, sondern beschränken uns bei vorläufiger Exemplifikation auf das Knabenalter und auf einen Blick in die erste die beste Schulstube, der schon überreichliche Ausbeute gewähren wird. (2)

Das sitzt gleich der "Träumer" neben dem "Windhund" - beide hat der Lehrer in seine Nähe gerückt, den einen zu gelegentlicher Aufrüttelung, den andern, um nötigenfalls der Zerstreutheit und ihren Folgen zu wehren. Wie aber, wenn wir dieselben Knaben dann auf dem Spielplatz wiedersehen und doch kaum wiedererkennen, weil hier aus der "Schlafmütze" ein "Ritter ohne Furcht und Tadel", aus dem ewig "Spielerigen" ein feiger Duckmäuser geworden ist? Oder wir hospitieren bei einem Kollegen und sind voller Verwunderung, unseren durch Regsamkeit und Eifer ausgezeichneten Liebling auf der untersten Bank in dumpfer Teilnahmslosigkeit hinbrüten und unter unablässigem Tade mürrisch und verdrossen zu sehen, während derselbe Junge, der von uns als unverbesserlicher Faulpelz, "zu allgem Guten träge", täglich Schelte bekommt, strahlenden Auges, im Vollgefühl soeben empfangenen Lobes ob bester Leistung, aufhorcht und sich noch extra der längstersehnten Stunde freut, wo er sich auch vor uns in einem günstigeren Licht zeigen könnte. Welcher Lehrer kennt sie nicht, die unerquicklichen Debatten der Versetzungs- und Abiturienten-Prüfungskonferenzen, wo über das Plus hier und das Minus dort fast unvermeidlich ein Feilschen entsteht, solange nicht die individualisierende Gerechtigkeit durchdringt, stark genug, um den Egoismus zu überwinden, der gerade nur das eigene Fach für voll und entscheidend will gelten lassen? - Welches Mitglied eines zahlreicheren Lehrerkollegiums wäre nicht schon erstaunt, wenn auch bei der Festsetzung der Zensur über das Betragen der einzelnen die Urteile zuweilen so weit auseinandergehen, daß von ein und demselben Schüler als Muster der Bescheidenheit gepriesen wird, den der andere als störrisch charakterisiert? Da beruhigen sich dann wohl die Vertreter des mittleren Urteils bei der Annahme: jener habe "verzogen", wo dieser nicht "richtig zu nehmen" verstanden hat - und die wahren Gründe einer solchen Differenz liegen doch noch viel tiefer. Man braucht dafür gar nicht einmal zurückzugehen auf die rätselhaften Motive unerklärlicher Sympathien und Antipathien - obwohl auch solche Geheimnisse mit hineinspielen - und darf sich ebensowenig beruhigen bei einer Berufung auf die Macht vorgefaßter Meinungen: die entscheidenden Faktoren fallen dabei meistens in Gebiete, an welche zunächst niemand denkt, der sich solche Fragen nicht ausdrücklich als Problem gestellt hat.

Die Schabloniersucht ist eine weiter verbreitete Krankheit, als man sich gemeinhin und andern zugestehen will; ihr untrügliches Symptom der alle Tage vernommene Stoßseufzer: "wie haben wir uns doch in dem und dem getäuscht!" und das wird nicht anders werden, weil die große Menge der Richtenden niemals aufhören wird, mit einer unglaublich kleinen Anzahl von Begriffen als unbiegsamen Maßstäben zu hantieren. Wer als gereifter Mann und gereiften Männern gegenüber so leicht mit seinem Verdikt fertig ist, wie will man von dem erwarten, er werde Knaben gegenüber, an denen doch all die ins Auge zu fassenden Kennzeichen gewöhnlich erst in wenig sichtbaren Keimansätzen vorhanden sind, mit mehr Unterscheidungsgabe, d. h. gerechter verfahren? Wer selber wenig oder nichts Markiertes an sich trägt, wo sollen dem die Fühlfäden hervorwachsen, mit welchen er zart und leise die Falten und Fältchen eines fremden Wesens betasten könnte? Wer selber bis ins Schwabenalter ein ewig grüner und ewig glatter Frischling bleibt, woher soll dem das Verständnis kommen für die Natur eines Knaben, um dessen Mundwinkel schon die Spuren zucken von jener Physiognomie, die ihm einst das Aussehen des  Zerlebtseins  geben muß? In so etwas findet dann wohl der ungeduldige Nichtkenner eitel Trotz und Selbstgefälligkeit, während der achtsam Lauschende durch die harte rauhe Kruste das Zittern eines im tiefsten Innern weichen und nur durch eine Scheu verschrumpften Gemüts vernimmt und eben vermöge dieses Verständnisses sich dessen ganze Liebe gewinnt.


2. Über die Fülle der Individualitäten,
namentlich durch Abweichungen vom Mittelmaß,
besonders in intellektueller Richtung

Damit ist natürlich nicht in Abrede gestellt, daß es auch gewisse mehr oder minder feststehende Grundtypen gibt, deren Erscheinungsweise weniger widerspruchsvolle Momente enthält. Aber auch die Zahl dieser pflegt viel zu rasch abgeschlossen, die vorwaltenden Gegensätze viel zu weit gefaßt, die Nuancierungen durch viel zu wenig Farben und Schattierungen verfolgt zu werden. Was an einer Individualität nicht ohne Überschuß und Defizit hineinpaßt in den Rahmen mitgebrachter Forderungen, ist namentlich denen ein Greuel, die sich gern der eigenen "Gesundheit" rühmen, und die vorher am Objekt aufgezeigten Widersprüchen verlegen sich alsdann gern in die Beurteilung, welche das Subjekt aufstellt. Man verlangt z. B. Tüchtiges und Solides; aber sobald dies kaum merklich einen Beigeschmack von "Altklugheit" oder gar "Philisterhaftigkeit" angenommen hat, findet es auch keine Gnade mehr vor den Augen des, selber von "Frische" strotzenden, Richters. Man will, daß der angehende Jüngling "etwas auf sich hält",  point d'honneur  [ehrbaren Standpunkt - wp] habe; aber sobald ein solches Selbstgefühl unbequem wird, sei es gegen Mitschüler oder Lehrer, beschwert man sich über Unverträglichkeit, oder es heißt: "der Junge ist unausstehlich empfindlich". Man stellt an die Spitze des Sittenkodex für die Schule den Satz: "Fleiß ist die Kardinaltugend des Schülers!" Aber wenn einer im emsigen Sammeln und Zusammenstoppeln kein Maß finden kann, wird so eine traurige Parodie des SCHILLERschen "Genie, d. h. Fleiß" auch nur mit einem achselzuckenden Bedauern bespöttelt. Was anders liegt hierin, als das Verlangen, daß mit freier Selbsttätigkeit nach individuellem Beruf gelernt werden soll? - aber gleichzeitig sollen die Fortschritte mit der Elle meßbar, in  allen  Gegenständen das "Pensum" angeeignet sein. Jeder Fachlehre nimmt eben als solcher für seine eigene Person das  non omnia possumus omnes  [Wir können nicht alle alles. - wp] in Anspruch; aber wehe dem armen Burschen, der das Unglück hat, gerade für  diesen  Gegenstand weder Neigung noch Begabung zu besitzen - und HEGEL sagt:  "jeder  kann ein  dieser  sein"; so kann das: "Ja, Bauer, das ist ganz was anderes!" hierbei auch jedem begegnen. - Wenn aber gar eine Erinnerung an die einst selber in allen Fächern prästierte [entrichtete - wp] Durchschnittsleistung (zum Glück ist ja der Ausweis darüber geführter Protokolle gewöhnlich nicht gleich zur Hand) eine solche Forderung unterstützen will, dann liegt der Verdacht sehr nahe, der warme Verfechter der Mittelmäßigkeit plädiere  in propria causa  [in eigener Sache - wp]. - Daß von der hiernach zu fordernden Erweiterung des sogenannten Kompensationssystems für Prüfungen der Aufsatz in der Muttersprache stets unberührt bleiben muß, beruth im letzten Grund gerade auf der Unersetzlichkeit der Individualitätsentwicklung, welcher hier das Wort geredet werden soll. Mag immerhin BÖRNE  suo jure  [rechtlich betrachtet - wp] sich darüber lustig gemacht haben, daß man bereits von Knaben und Jünglingen "Stil" verlange, da die wenigsten Männer einen hätten - die Geltung des  le style c'est l'homme même  [Der Stil ist der Mensch selbst. - wp] steht dennoch nicht ganz außerhalb der Schulzeit; ist der Stil "die Physiognomie des Geistes", so muß sich der Stil des Knaben und Jünglings zu dem des einstigen Mannes genau so verhalten, wie die noch nicht fest gewordenen Gesichtszüge der Jugend zu den ausgeprägtesten Mienen des reiferen Alters. Und wie es Gesichter gibt, denen man mit größter Zuversicht das Prognostikon stellen kann, sie werden zeitlebens schal und fad bleiben, und andere, in denen schon alle Schärfe reicheren Erlebens präformiert ist: so bleibt dem Auge des Kundigen nicht lange verborgen, ob dieser und jener Schüler einst einen Stil haben wird oder nicht. Dabei ist der Regel nach denjenigen die günstigste Prognose zu stellen, welche zur Pubertätszeit wacker "mit der Sprache ringen" und sich wie Maulwürfe so tief in ihre Vorstellungsgänge einwühlen, daß sie den Weg zur lichten Klarheit nicht gleich zurückfinden können: sie bilden den vollen Gegensatz zu jener Art von  kurzatmigen  Geistern, denen gleich "die Luft ausgeht", sobald man einmal mit ihnen die Taucherglocke betreten möchte, ohne welche die Schätze der Tiefe sich nicht heben lassen. (3) Einige von jenen gelangen freilich niemals wieder an die sonnenhelle Oberfläche (4), doch versprechen sie in der Jugend alle, einst als Köpfe mit mehr oder weniger philosophischem Anflug sich zu bewähren, und dürfen, beiläufig bemerkt, den Lehrer veranlassen, hin und wieder absichtlich eine Denkaufgabe als Thema zu stellen, deren Bewältigung Schülerkräfte eigentlich übersteigt:
    Wenn sich der Most auch ganz absurd gebärdet,
    Es gibt zuletzt doch noch 'nen Wein.
Dagegen läßt die Wasserhelle des Ausdrucks in der genannten Periode ein Verharren im Seichten für alle Zeiten erwarten. Neben diesem Gegensatzpaar der Schwerfälligkeit und Gewandtheit steht als  toto genere  [völlig - wp] davon verschieden das der Armseligkeit in Worten und Gedanken des Phrasenreichtums. Letzterem Paar fehlt gänzlich was dem ersteren gemeinsam, aber in verschiedenen Graden der Quantität und Intensität, eigen ist: das Vermögen der Intuition, jenes innere Schauen (nicht bloß abstrakte, superfizielle [oberflächliche - wp] Begreifen, d. h. Betasten) der Vorstellungen, welches auf seiner höchsten Stufe die Phantasie als künstlerisches Vermögen, die Perzeption der platonischen Ideen ausmacht. - Angeschautes aber ist das einzige, was dem Kopf einen wirklichen Inhalt gibt - bloße, von der Anschauung nicht garantierte Begriffe sind nur Hilfen und als solche leer.

Das ist schon tausend- und aber tausendmal ausgesprochen, also ein herzlich trivialer Satz - und dennoch scheint noch niemals rechter Ernst damit gemacht, ihn wirklich der Einteilung intellektueller Anlagen zugrunde zu legen und aus ihm didaktische Folgesätze in aller Strenge der Konsequenz herzuleiten. Im Gegenteil: eine ganze Reihe gesetzlicher Institutionen beruth auf der Nichtachtung desselben. - Selbst die Elementarschule, welche seit PESTALOZZI mit ihrem sogenannten Anschauungsunterricht ihm gerecht zu werden schien, war unleugbar auf den Abweg geraten, die gewonnenen Anschauungen wieder zu Begriffen zu verflüchtigen; und was das intuitive Vermögen wecken, üben und bilden sollte, ist auf dem Weg jener Sublimation, oder recht eigentlich  trockenen  Destillation, ausgemündet in abstrakte  "Denkübungen". - So vollständig wie das Gymnasium konnte sie aber der extremen Einseitigkeit nicht anheimfallen, weil ihr ein Gegengewicht blieb in Bildungsfaktoren von unzerstörbar sinnlicher Natur. Keineswegs jedoch ist den Gegnern der Gymnasialbildung einzuräumen, daß es deren Fundamente wesentlich ist, zu einer rein formalistischer Methode verurteilt zu bleiben. Wahrlich, die Griechen, - dieses Volk reinster, klarster und vollster Anschauung! - haben es am wenigsten zu verantworten, wenn man ihre Geistesschöpfungen mißbraucht zu Exerzitien der Abstraktion; aber nicht einmal den Römern mit ihrem Subsumtions- und Subordinationsgenie in Recht, Sprache und Kriegswesen fällt der Fehlgriff zur Last, wenn von ihnen mehr für Logik, als für praktisch-nüchterne Verständigkeit soll gelernt werden. Was können sie dafür, daß philologische Schulmeister ihren abstraktesten und allerunpraktischsten Schädel - den Ehren-Tullius - zum Geistesrecken, man weiß kaum, soll man sagen: erhöht oder erniedrigt haben? - was gar für die Summe der Torheit, nach welcher die Fehlerzahl lateinischer Extemporalien zum Sprit- und Espritmeter für die  ingenia  unserer Gymnasiasten gewählt worden? Wie gründlich verkehrt das ist, ließe sich nur nachweisen auf weiten Umwegen durch das sprachliche Terrain - hier kommt es nur darauf an, eine Warntafel aufzurichten vor jener zweischneidigen Ungerechtigkeit, welche in demselben Maß die intuitiv Begabten zurücksetzt, wie sie die "schlagfertig" improvisierenden Mosaikarbeiter bevorzugt, deren Musivsteine [schwarz-weiß-Pflaster | wp] die memorierten Paragraphen ihrer lateinischen Grammatik sind. Und weil anderswo (5) von uns versucht ist, nach Anleitung und Maßgabe der von SCHOPENHAUER "zu Ende gedachten" Dianoiologie KANTs den "Bildungswert der Mathematik" auf seinen Barbestand zu reduzieren, so sei hier nur konstatiert, daß die Kehrseite des oben angegebenen Wechselkurses Protest erhebt gegen die Meinung die Mathematik könnte als die Wissenschaft der  reinen  Anschauung das richtige Komplement hergeben zur anschauungslosen Grammatik. Vielmehr sind in der Mathematik exzellierende Köpfe die Milchbrüder der besten Extemporalienschreiber - und weil bei beiden das formale Gedächtnis das gute Beste tun muß, so gesellen sich ihnen meistens noch die Helden der historischen, geographischen und naturwissenschaftlichen Nomenklaturen hinzu, während die  einfachste  Probe der Intuitivtalente die Physik und Chemie sein werden (soweit deren Inhalt nicht in mathematischen Formeln aufgeht, sondern Kausalitätsverhältnisse vorführt), eine  reichere  aber an der Auffassung des pragmatischen Zusammenhangs in der Geschichte sich machen läßt, deren  Charaktere  sich schließlich nur dem nachschaffenden Dichtersinn erschließen.

Damit sind bereits Marksteine für einige Gruppen von Individualitäten fixiert. Sehen wir jetzt zu, wie schon hierfür Koeffizienten charakterologischer Natur im engeren Sinne mit in Betracht kommen.


3. Vorläufiges über den Zusammenhang zwischen den
intellektuellen und den direkt dem Willen angehörenden
Elementen der Individualität

Es sind, wie schon weiter oben angedeutet werden mußte, die intellektuellen Merkmale einer Individualität mitnichten so losgetrennt von der Kerngrundlage der ganzen Persönlichkeit, dem  Willen,  daß jede beliebige Mischung beider Bestandteile denkbar wäre; - und dies mag umso mehr hier betont werden, je mehr der Urheber der Philosophie des Willens aus anderen Gründen sich veranlaßt fand, die  Sonderung  der Welt als Wille und als Vorstellung so scharf durchzuführen, daß zwischen beiden ein nicht zu vermittelnder Dualismus zu klaffen scheint. Vielmehr empfiehlt es sich, dem Brückchen nachzuspüren, welches durch "das Wunder  kat exochen"  [schlechthin - wp] wollendes und erkennendes Subjekt in ein "Ich" verbindet, und die Stellen aufzusuchen, wo der Intellekt dem Willen als die höchste Blüte seiner "Objektivität" entkeimt.

Es gibt ja doch unverkennbar Grenzgebiete zwischen beiden Seiten der Individualexistenz, welche beiden gemeinsam sind: dahin gehören der Wissenstrieb (von der Neugier bis zum metaphysischen Bedürfnis) und jeder Akt der Aufmerksamkeit, dahin auch die Erinnerung im Unterschied vom Gedächtnis, - ja sogar die Fähigkeit ästhetischer Perzeption, sofern sie bedingt ist durch das, was KANT die "Interesselosigkeit", SCHOPENHAUER das zeitweilige Schweigen allen Wollens nennt; denn offenbar könnte doch das ästhetische Objekt nicht als "Quietiv" wirken, wenn schlechthin Gleichgültigkeit gegeneinander das einzige Verhältnis zwischen den Objekten des rein erkennenden Subjekts und dem Willen wäre. - Noch weniger aber kann eine volle Unabhängigkeit voneinander bestehen zwischen bestimmten intellektuellen Anlagen und den Merkmalen des Individualcharakters, der ihr Träger ist. Im Hinblick auf das "Genie" hat SCHOPENHAUER dies schon selbst im einzelnen nachgewiesen und uns damit sehr feste Anhaltspunkte für eine derartige Untersuchung an die Hand gegeben. - Außerdem aber finden sich auch solche Stellen bei ihm, wo er ebendasselbe auf andere Fälle anwendet; z. B. wo er eine gewisse Geduld und stillehaltendes Aufmerken als eine Erfordernis für bedeutendes mathematisches Talent charakterisiert. (Welt als Wille und Vorstellung, Bd. II, Seite 157f) (6) Warum sollte es denn da nicht auch uns zustehen, etwa zu untersuchen, wieviel Teil an einem guten Extemporaleschreiben die Kaltblütigkeit hat? überhaupt, wie weit das Wort von der "Temperamentssache" auch auf Schüler-"Tugenden" Anwendung leidet? Es zählt unter die Ungerechtigkeiten der "Gesunden", von einem Examensfieber nichts wissen zu wollen - sie begreifen nicht, daß nur äußerlich Angelerntes alle Augenblick zur Hand sein kann. Wer gewohnt ist, allen geistigen Inhalt, den er in sich aufnimmt, zu verarbeiten, gerade der wird durch das Gefühl doppelt stark aufgeregt: jetzt gilt promptes Antworten!

Auch für das geistige Eigentum gilt der Unterschied von Eigentum und Besitz. Es gibt Köpfe - das sind die tieferen meist und reichen - die haben viel zu eigen, aber wenig als flüssiges Kapital gleich bar  in promptu  [auf der Hand - wp]; - und es gibt andere, die oberflächlichen, aber "gewandten", die haben viel entlehnten Besitz, fremdes Eigentum, bequemes Erbgut, die können immer improvisieren - ihnen geht die Münze nie aus - es ist aber auch danach: lauter Kleingeld! die verstehen die Kunst nicht, aus einem vollen Schacht zu schöpfen, einheitlich Großes auszubauen - sie brillieren oft im Examen mit Note 1 - auch beim Abfragen der Geschichte der Philosophie - aber nie in der Philosophie selber - einfach, weil sie nicht "Selbstdenker" sind. Wer aber so sein bischen Flitterstaat an sich trägt in weitaufgebauschten Falten: der gilt nun einmal in der Welt als reich, und einen solchen Schein hervorzurufen, darauf allein ist manch vielgepriesene Methode angelegt; denn wie die Ziergärtnerei die Farben- und Formenpracht der Blumen mit Preisgeben jeglicher Befruchtungsfähigkeit künstlich erhöht, so "erzielt" die heutige Brillant- und Forcier-Erziehung das Sichtbar- Abfragbare auf Kosten jeder Verinnerlichung. Wer in vollwichtigem gemünztem Gold einen schweren Beutel mit sich schleppt, der heißt ein  pauvre diable - donec demonstretur contrarium.  Dagegen der "Windbeutel", der ein ganzes Fuder luftiger Faditäten auf seinen breiten Schultern trägt, gilt beim großen Haufen für interessant - wer bedächtig solide Gedanken guten Klangs ausgibt, der muß darauf gefaßt sein, als ein haushälterischer Sparer  aus Not  angesehen zu werden.

Im Kleinen bestätigt jede Extemporalkorrektur dieselbe Erfahrung: die ernster nachdenkenden Naturen wittern Schwierigkeiten, wo keine sind, und vermehren so ihre Fehlerzahl, ohne die wirkliche Qualität ihrer Arbeit zu verschlechtern - und umgekehrt liefern die phlegmatischen Flachköpfe, unbeirrt von Skrupeln und Zweifeln, etwas Korrektes - freilich von jener Korrektheit, deren zweifelhaften Wert schon SCHILLER in einem Distichon denunziert hat.

Selbst das Gedächtnis in seiner ganz mechanischen Tätigkeit des Memorierens steht sichtbar unter der Einwirkung des Willens - nicht nur nach Maßgabe des "Lust und Liebe zum Ding macht alle Mühe und Arbeit gering" - sondern auch sofern eine Furcht die Kraft des Aneignens lähmt: die Vorstellung, daß etwas schwer vom Gedächtnis behalten wird, erschwert das Auswendiglernen selber. Mancher lernt mit großer Leichtigkeit und Sicherheit Vokabeln, aber das verwechslungslose Einprägen von Eigennamen in der Geographie will ihm nicht gelingen - bei andern ist das Umgekehrte der Fall. - Für beide hat die wiederholt gemachte Erfahrung etwas Entmutigendes; sie bilden sich zuletzt ein, das ein oder andere durchaus nicht zu können - und wie eine fixe Idee stört sie zuletzt dieser Wahn bei jedem neuen Anlauf, den sie nehmen; bis schließlich vielleicht ein glücklicher Zufall sie überzeugt, daß es dennoch geht. Und um den Eintritt dieses Gefühls zu beschleunigen, ist für den Lehrenden die Maxime indiziert: nichts forcieren zu wollen, weil dies die Ängstlichkeit nur steigern würde. Man überläßt solche Schüler für dieses Fach besser eine Zeit lang sich selber, stelle an sie keine Fragen, überhöre ihnen noch weniger die ganze aufgegebene Lektion, sondern vertraue zunächst dem  semper aliquid haeret  [Etwas bleibt immer hängen. - wp] - dann wird sich dem ersten dünnen Bodensatz allmählich schon mehr anheften, wenn nicht mehr jeder Versuch, durch den sich eindrängenden Glauben an seine Vergeblichkeit selber, wieder vereitelt wird - und ein ganz unvermerkt bleibendes Einüben wird mehr gewinnen, als die fortgesetzte Qual des "Einpaukens" jemals vermöchte, um so schleuniger, je intensiver das Selbstvertrauen gekräftigt wird. (7)

Wer in einer geistigen Tätigkeit "mit ganzer Seele" dabei ist, wird also vielleicht die Sicherheit vermissen lassen, aber wahrlich an Tüchtigkeit dem nicht nachstehen, welcher die Apathie ihm voraushat. Das praktische Leben stellt deshalb nachher regelmäßig eine andere Rangordnung der Geister her als die Verortung nach improvisierten Prüfungsleistungen; dessen ganz zu schweigen, daß nicht nur die Unzuverlässigkeit bei häuslichen Leistungen durch regelmäßig unter Aufsicht angefertigte Specimina gewissermaßen legalisiert zu werden scheint, sondern auch der Schüler durch solche allzu häufige Hetzarbeiten bald jeder stetigen, gesammelten und mit Ruhe Selbstkontrolle ausübenden Tätigkeitsweise entwöhnt werden kann.

Nicht einmal, wie sich doch erwarten ließe, für die Juristerei sind die bloß schlagfertigen Köpfe besonders tauglich - denn auch da genügt ja nicht das abstrakte Subsumieren, sondern die einzelnen Rechtshandlungen wollen in ihre Akte zerlegt, alle Nebenbezüge beachtet sein - und beides ist weit mehr Sache des anschauenden Verstandes, als des bloßen Regelsinns, und nur die letztere Erfordernis zum "juristischen Kopf" bezeichnet SCHILLERs Ausdruck "tabellarischer Verstand", für dessen Kriterium die Fähigkeit des Einordnens in gewisse Kreise und Begriffssphären gelten muß.

LITERATUR - Julius Bahnsen, Beiträge zur Charakterologie, Bd. 1, Leipzig 1867
    Anmerkungen
    1) ARTHUR SCHOPENHAUER, Von ihm - Über ihn, Seite 498
    2) Auf das frühe Kindesalter zurückgreifend hat SCHEIBERT in einem Vortrag, "Der Kern der Erziehungsfrage", den das Langbein'sche Pädagogische Archiv, 1865, mitteilte (derselbe ist später auch als Separatdruck im selben Verlag erschienen), mit überaus ansprechender Individualisierung eine Reihe von Gegensätzen vorgeführt, wie sie schon in den ersten Lebensjahren zutage treten (a. a. O., Seite 562-565).
    3) Daneben jedoch gibt es einen anderen  modus cogitandi,  den man auch als eine Art geistigen Asthmas bezeichnen möchte, der aber, sowenig wie das körperliche Asthma immer Lungenschwäche, keineswegs allemal Schwäche der Denkkraft indiziert; vielmehr widerstrebt derselbe nur dem raschen Wechsel der Vorstellungen und gewissen Abbreviaturen eines bündigen Schlußverfahrens; für kein noch so schwieriges Problem fehlt ihm das Verständnis, die "Fassungskraft"; nur will er Zeit haben, sonst beklemmt ihn das Gefühl, nicht "mitkommen", nicht "Schritt halten" zu können; das trippelnde Vorwärtsschreiten ist ihm aber auch zuwider; er setzt zwar nur langsam einen Fuß vor den andern, aber nicht in kurzem Abstand, sondern weitausholend und mit Nachdruck; er bietet in rein intellektueller Beziehung das Seitenstück zu dem, was wir später als Form des Phlegmatikers  c  und Anämatikers  c kennenlernen werden, und wird sich oft genug, wo nicht gar immer, mit einer dieser beiden Temperamentsbestimmtheiten zusammenzufinden. Am übelsten sind diese armen kurzatmigen Geister und Charaktere daran, wenn das Leben sie zusammenkoppelt mit dem  Hiddeligen" (trepidi) [Aufgeregten - wp] - mit jener Klasse von Leuten, die nichts von ruhiger Stetigkeit wissen und sich unter "Fleiß" ein atemloses Getreibe vorstellen, welches wie ein Intermezzo das bequeme Nichtstun unterbricht, damit nur das Obliegende beschafft wird. Dann geht es an ein Rennen und Jagen und Überstürzen - nach der Uhr soll alles fertig sein; ob physisches und psychisches Befinden eben jetzt Einspruch erheben möchten, danach wird nicht gefragt - zu jeder anderen Zeit hat man Zeit zum Faulenzen - man fühlt und gebärdet sich als den Sklaven seiner eigenen Arbeit, - karikiert den Stoiker und richtet, wenn auch unbewußt, zuweilen Unheil an, welches keine Zukunft mehr auszugleichen vermag. Wahrhaft Befriedigendes aber wird auf diesem Weg nirgends zustande gebracht, denn alles, was so ausgerichtet wird, behält das Gepräge des Überhasteten. Ein solches Tun bleibt segenlos, weil es seelenlos, d. h. nicht vom innersten Geist herausgetrieben ist, eine bloße Rührigkeit der Glieder, das entschiedenste Gegenstück zum still stetigen Schaffen wahrhaft tüchtiger Naturen. (Vgl. auch Leben und Schriften des M. J. Fr. Flattich, von K. Fr. Ledderhose, vierte Auflage, Seite 86, 205f und 444: über Sommer- und Winterobst; und Seite 347f und über Ingenia tarda, Seite 438.)
    4) Zu ihnen dürfte ein HERBART zu zählen zu sein, der mit eifrigem Forschertum zwar die Probleme aufzuwühlen weiß und in deren entlegendste Seitengänge sich vertieft, aber keins zu einer befriedigenden Lösung führt, weil bei ihm jeder Stollen nur weiter in den nächsten nicht zurück nach aufwärts leitet, während gerade hierin sich SCHOPENHAUERs Größe offenbart.
    5) In der Schulzeitung für die Herzogtümer Schleswig-Holstein und Lauenburg, 1857, Nr. 21, 25 und 26.
    6) Es ist nichts anderes als was in seiner naiven systemlosen Weise der neuerdings ans Licht gezogen FLATTICH (a. a. O., Seite 266f) die Fähigkeit nennt "lange aneinander zu denken". Wir werden diesen intuitionsreichen Pädagogen des vorigen Jahrhunderts noch oft erwähnen; freilich nur in gelegentlichen Nachträgen, denn die Grundgedanken vorliegender Arbeit waren im Ganzen längst festgestellt, ehe ich die Entdeckung machte, in wie frappanten Übereinstimmungen derselbe nicht nur mit SCHOPENHAUER und dessen Prämissen, sondern auch mit mir in den Konklusionen sich begegnet, welche ich an Hand der Erzieherbeobachtung aus diesen zu ziehen gewagt habe. Wer die Schicksale der Werke SCHOPENHAUERs bedenkt, wird es ohnehin begreiflich finden, wenn gerade dessen Verehre mit einer gewissen Sympathie all denjenigen entgegenkommen, deren Verdienste gleichfalls eine schwerbegreiflichen Verschollenheit erst entrissen werden mußten.
    7) Dies ist gleich wieder ein Punkt, an welchem ich mit ähnlichen Ratschlägen FLATTICHs zusammentreffe.