cr-2ra-2Das UrheberrechtAdam SmithDie Physiokraten    
 
SIEGMUND FEILBOGEN
(1858-1928)
Smith und Turgot

"In einer pseudo-evolutionären Auffassung entwickeln sich die Ideen nicht im Kopf desjenigen Individuums, welches eine für diesen Gegenstand besonders günstige Begabung mitbringt und überdies mit Anspannung all seiner Kräfte, vielen Lebensfreuden entsagend, nach Wahrheit ringt; sie entspringen nicht aus der Arbeit desjenigen, der mit Verzicht auf wohlfeile Scheinerfolge, mit einem Leben des Zweifels, der Sorge und vielleicht der Not, mit seinem Herzblut und mit seiner Lebenskraft seine Überlegenheit über seine Zeitgenossen erkauft und dann diesen ein Licht aufsteckt, während ohne ihn die  Zeit  rat- und hilflos jedem zuversichtlichen Schwindler und Schwätzer auf den Leim zu gehen pflegt."

"Kopernikus soll zum Gedanken von der Kugelgestalt der Erde durch die Nachricht von einer ähnlichen Ansicht des Aristarchos von Samos angeregt worden sein. Vor ihm hatten Tausende von kenntnisreichen und scharfsinnigen Männern dieselbe Stelle gelesen, ohne die Ansicht zu rezipieren. Was war in diesem Fall origineller, das  Abschreiben  oder das Nichtabschreiben?"


Vorwort

Die Frage nach dem Eigentümlichen und Wertvollen an SMITHs "Wealth of Nations" (1) oder das SMITH-Problem ist für die Beurteilung fast jeder literarischen Erscheinung und für die Auffassung der gesamten Literaturentwicklung auf dem Gebiet der Wirtschaftswissenschaften von geradezu grundlegender Bedeutung. Aber auch für die meisten Grundprobleme der ökonomischen Methodologie, der theoretischen und der praktischen Nationalökonomie bildet die gerechte und gründliche Würdigung des tiefdurchdachten Hauptwerks der Nationalökonomie einen trefflichen Ausgangspunkt. So erscheint das Problem, zu dessen Klärung ich durch den vorliegenden Vergleich SMITHs mit seinem fortgeschrittensten Vorgänger beizutragen bemüht bin, gleichsam als ein Brückenkopf, der den Zugang zu den wichtigsten Fragen der politischen Ökonomie beherrscht. Kein Geringerer als ADOLF WAGNER hat in den Vorreden zu den früheren Auflagen seiner "Grundlegung" seine Stellungnahme zum Smithianismus als historischen Ausgangspunkt seiner Forschung und beherrschendes Motiv seines Unternehmens einer "neuen Grundlegung" dargestellt; in der neuesten Bearbeitung der letzteren, welche mir erst nach fast vollendeter Drucklegung dieses Buches zugekommen ist, bildet das Smith-Problem den § 1 der gesamten politischen Ökonomie.  Sapienti sat! [Dem Klugen reicht es jetzt! - wp]

Auch seinem Inhalt nach trifft WAGNERs § 1 vielfach mit meinen Grundanschauungen zusammen, und zwar im Gegensatz zu den augenblicklich vorherrschenden Tendenzen der Spezialforschung.

Bei aller wohlverdienten Anerkennung der geistreichen und gelehrten Arbeiten HASBACHs, welcher auch in der üblichen Herabsetzung SMITHs besonnen Maß hält, kann der berühmte Nationalökonom nicht die Bemerkung unterdrücken, daß Professor HASBACH das Verdienst SMITHs um die "angemessene Form" der Doktrin nicht genug hervorgehoben hat (WAGNER, Grundlagen der Volkswirtschaft, Seite 8, Note 3). Vielleicht ist es der vorliegenden Arbeit vergönnt, in ihrem vierten Abschnitt ("Smiths formale Überlegenheit"), namentlich im Kapitel über "Die Form in der Wissenschaft" (Seite 90f), sowie im früheren Kapitel über "Scheinwissenschaft und echte Wissenschaft" (Seite 58f) diesem Desideratum gerecht zu werden.

Mit dem wissenschaftlichen Takt des bedeutenden Denkers hält WAGNER an ROSCHERs "schönem und gerechten" Ausspruch fest, daß SMITHs Ruhm durch solche Nachweise (nämlich betreffs gleichgesinnter Vorgänger) nicht verkleinert wird; er schließt ferner aus SMITHs "unendlich viel größerem Erfolg", daß der berühmte Schotte zumindest "ein größerer Nationalökonom", wenn auch vielleicht kein "größerer Geist und tieferer Denker" gewesen sein müsse als ein STEUART, ein HUME, ein TURGOT, ein JUSTI und andere Vorgänger, "auf deren Schultern er stand". Daß der Nachweis solcher Vorgänger den Ruhm eines Denkers nicht verkleinert, wird vielleicht durch § 5 und § 7 dieses Buches klarer werden, als dies in der knappen Darstellung eines umfassenden Lehrbuchs möglich war. Warum ADAM SMITH - wenn auch TURGOT vielleicht ein noch größerer (umfassenderer) Geist und ein (philosophisch) tieferer Denker gewesen sein mag - gerade als Nationalökonom unvergleich größer gewesen sei, glaube ich in meinen Ausführungen über TURGOTs Eigenart (Seite 67 - 81) und über seine Unfähigkeit zur Beseitigung der Scheinwissenschaft (Seite 82 - 87) im Gegensatz zu "Smiths formaler und materialer Überlegenheit" (namentlich Seite 108 - 112, 114 - 116 und 165f) gründlicher analysiert zu haben, als dies bisher geschehen ist. Auch bezüglich des wichtigsten Grundes von SMITHs formaler Überlegenheit, den ich in seiner Sorgfalt und Vielseitigkeit in Anwendung der verschiedensten Methoden und Berücksichtigung der verschiedensten Vorgänger erblicke, dürften meine Ergebnisse mit WAGNERs Standpunkt harmonieren.

Eine  crux interpretum  bildet gewöhnlich auch die Frage, ob der "Wealth of Nations" ein "neues System" gewesen ist. WAGNER verneint dies und erblickt in der Theorie SMITHs nur eine zweite, höhere Phase des physiokratischen Individualismus, gibt aber schon zu Anfang des Paragraphen zu, daß SMITH "für fast ein Jahrhundert den Grund gelegt hat". Ich folge den Spuren KARL MENGERs, indem ich im Anschluß an die Publikation dieses berühmten Forschers "Über die Sozialtheorien der klassischen Nationalökonomie und die moderne Wirtschaftspolitik" (2) die Identifikation des Smithianismus mit dem Individualismus verwerfe, so daß nach der in diesem Buch vertretenen Auffassung der Individualismus bei SMITH allerdings nur eine Fortbildung - und zwar eine mäßigende Fortbildung - des physiokratischen Individualismus ist, aber keineswegs jenen Kern von SMITHs Hauptwerk bildet, der für Wert und Selbständigkeit desselben maßgebend ist. Dieser Kern liegt vielmehr in der Arbeit als Prinzip der politischen Ökonomie, also darin, daß die Arbeit bei SMITH unablässig als die maßgebende Ursache der Gütererzeugung, als der wertbestimmende Regulator des Umsatzes und als der gerechteste Verteilungsgrund hervorgehoben wird. Das Prinzip der Arbeit wird freilich gelegentlich als Kern des "Wealth of Nations" von denselben Schriftstellern anerkannt, welche an anderen Stellen SMITH als unselbständigen Kopf behandeln, weil - sein Individualismus physiokratischen Ursprungs ist. Wenn andere auch das Arbeitsprinzip auf SMITHs Vorgänger zurückführen, so hoffe ich, durch meine Darlegungen über den Unterschied zwischen einem vereinzelten Theorem und dem Prinzip einer Synthese (§ 30a und öfter) zur Beseitigung dieser Unklarheit mitzuwirken. Ferner habe ich mich bestrebt, zur Würdigung der Schriftsteller in einem wahrhaft historischen Geist durch meine Erörterungen über die Methode der Vergleichung mit dem kontingenten Vorgänger (Seite 33f) und dadurch beizutragen, daß ich einen SMITH nicht einfach aufgrund seines Arbeitsprinzips den Physiokraten vorgezogen habe, sondern aufgrund objektiver Kriterien - nicht subjektiven Fürbesserhaltens - die Überlegenheit dieses Prinzips darzutun versuchte. Mein Nachweis, daß in SMITHs Motivierung seiner Abweichungen von der individuellen Freiheit nicht weniger als neun Motive einer sozialpolitischen Intervention des Staates als berechtigt anerkannt werden, welche selbst heute noch für eine zeitgemäße Sozialpolitik ausreichen dürften, beruth vornehmlich auf den zitierten Artikeln KARL MENGERs. Ich habe mich besonders bemüht, eine vollständige Übersicht der Entscheidungsgründe zu gewinnen, welche SMITH zu Abweichungen vom  laisser aller [Nichteinmischung - wp] bewogen haben, weil ich glaube, daß in den Wissenschaften von den rasch wandelbaren Verhältnissen der Menschen die Entscheidungsgründe eines Denkers aus vergangenen Jahrhunderten oft anwendbarer, daher wichtiger sind als die rasch veraltenden Entscheidungen. Durch eine Bloßlegung von SMITHs Entscheidungsgründen ist es möglich, die nur für seine Zeit berechneten Entscheidungen der einzelnen Streitfragen von den wesentlichen und dauernden Bestandteilen seines Systems zu unterscheiden. Dadurch kann der Verjüngung des Smithianismus vorgearbeitet werden, welcher wir entgegenzugehen scheinen.

Einen ähnlichen Stanpunkt, wie jetzt bezüglich TURGOTs, habe ich bereits in früheren Jahren in der "Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft" bezüglich STEUARTs (1889) und bezüglich HUMEs (1890) begründet.



Problem und Methode dieser Untersuchung

I. Kapitel
Orientierende Analyse des Gegenstandes

§ 1. Einleitung

Vor jeder wissenschaftlichen Untersuchung bedarf es einer orientierenden Analyse des Gegenstandes. Es muß möglichst scharf hervorgehoben werden, was am Untersuchungsgegenstand bisher zweifelhaft geblieben ist, und womöglich auch, warum diese Zweifel selbst für verständige Denker bestehen konnten. Dabei wird es sich nicht selten herausstellen,  daß der Untersuchungsgegenstand nur teilweise zu den wissenschaftlichen Problemen gehört, teilweise aber auch zu den bloßen Meinungsfragen,  d. h. zu den unzähligen Fragen, deren wissenschaftlich zuverlässige Entscheidung entweder nicht möglich ist oder nicht der Mühe lohnt, so daß über sie nur subjektive Meinungen bestehen können, nicht aber objektiv denknotwendige, d. h. wissenschaftliche Urteile. An die orientierende Analyse des Untersuchungsgegenstandes wird sich in diesem Fall die Einschränkung der Untersuchung auf die wissenschaftlich wertvollen Bestandteile des Gegenstandes anschließen, wobei noch vorsichtshalber klarzulegen sein wird, daß die wissenschaftlich wertvollen Bestandteile unabhängig von den unwissenschaftlichen untersucht werden können.

Ist das Erkenntnisziel auf diese Weise exakt begrenzt worden, so mag es auch noch durch die Darlegung seiner Reichweite gerechtfertigt werden. Auf diese Begrenzung und Rechtfertigung des Erkenntniszieles folgt naturgemäß die Prüfung des einzuschlagenden Erkenntnisweges, also die logische Untersuchung der Methode sowie ihrer etwaigen Fehlerquellen und Richtigkeitsproben.

Demgemäß zerfällt dieser Abschnitt in vier Kapitel, in welchen die orientierende Analyse des Gegenstandes, die Einschränkung der Untersuchung, die Darstellung ihrer Tragweite und die Prüfung ihrer Methode versucht werden soll.


§ 2. Orientierung über den Gegenstand

Den Gegenstand dieser Untersuchung bildet das Verhältnis zwischen ADAM SMITH und ANNE ROBERT JAQUES TURGOT, Baron de l'Aulne, also das Verhältnis zwischen jenem schottischen Forscher, welcher ganze Menschenalter hindurch als Schöpfer der Nationalökonomie gefeiert wurde, und seinem nächst- und höchststehenden wissenschaftlichen Vorgänger, als dessen bloßer Schüler und Popularisator SMITH gegenwärtig mitunter hingestellt wird.

Über das Verhältnis dieser beiden hervorragenden Männer ist soviel sicher, daß sie einander persönlich nicht ganz fern und sachlich überaus nahe standen. Über ihre Beziehungen findet sich gleichwohl in ihren eigenen wissenschaftlichen Werken nicht die leiseste Andeutung; was wir überhaupt darüber zu wissen glauben, beruth auf ziemlich unbestimmt gehaltenen Mitteilungen von zweifelhafter Verläßlichkeit. Sachlich stehen ihre Gedanken einander so nahe, daß annähernd alles, was als "Smithianismus" bekämpft zu werden pflegt, schon bei TURGOT zu finden ist, wie sich im Laufe dieser Untersuchung ergeben wird.

Diese Tatsache stellt die Wissenschaft vor ein bisher ungelöstes Rätsel. Wenn SMITH wirklich im Wesentlichen nicht über TURGOT hinausgekommen sein sollte, wie hat es geschehen können, daß der weltentrückte Forscher von Kirkcaldy die ganze gebildete Welt mit sich fortriß, während der weltbekannte Sensationsminister LUDWIG XVI. trotz unzweifelhaft überlegener Eleganz seiner Darstellung mit angeblich denselben Gedanken auf die Entwicklung der Wissenschaft keinen nennenswerten Einfluß auszuüben vermochte?

Das Rätsel einer so verschiedenen Wirkungskraft bei inhaltlischer Identität der Meinungen oder selbst gelegentlicher Superiorität des einflußlos gebliebenen Denkers hat bisher keine befriedigende Erklärung gefunden. Auch HANS von SCHEEL, der Verfasser der einflußreichsten deutschen Abhandlung über TURGOT, ist von einer ausreichenden Erklärung dieser auffälligen Erscheinung, ja selbst von einem ernstlichen Erklärungsversuch weit entfernt. Seine Behauptung, es sei ein bloßer Zufall, und zwar ein unglücklicher Zufall, daß sich die Nationalökonomie von SMITHs "Untersuchung" und nicht von TURGOTs Werken aus entwickelt hat, bedeutet wohl eher einen Verzicht auf jede Erklärung als einen wissenschaftlichen Erklärungsversuch. Ein derartiger Zufall könnte angenommen werden, wenn die Sachlage die entgegengesetzte gewesen wäre. Dieselben Ideen hätten zufälligerweise, vom Einsiedler von Kirkcaldy wirkungslos ausgesprochen, dennoch viele Jahre später durch den Einfluß des auffälligsten Ministers des damaligen Frankreich die Reise um die Welt antreten zu können.

Daß aber dieselben Ideen bei einem TURGOT neun Jahre lang und noch länger unbemerkt geblieben sind und bei SMITH sofort durchschlagend gewirkt haben, muß wohl tiefliegende Ursachen haben. Sonst würde nicht mehr ein bloßer Zufall, sondern geradezu ein Wunder vorliegen.

Von dieser Empfindung ist wohl auch der Nestor der deutschen Literaturhistoriker geleitet worden als er seine Meinung dahin abgab, "SMITH werde wohl von den Physiokraten nicht mehr gelernt haben, als ein bedeutender Mann von seinen Vorgängern zu lernen pflegt". Diese Meinung wird vermutlich auch heute noch von den unbefangendsten und bedeutendsten Fachmännern geteilt. Aber macht eine unbestimmt formulierte und unbewiesene Meinung eine gründliche Untersuchung entbehrlich? Wie viel "ein bedeutender Mann von seinen Vorgängern zu lernen pflegt", das eben ist es, was wir nicht wissen und u. a. aus dem Fall SMITH-TURGOT erfahren möchten; und wenn man in TURGOT allein schon den ganzen "Smithianismus" nachweisen kann, so scheint eben wenigstens  ein  "bedeutender Mann" von seinen Vorgängern  alles  gelernt zu haben.

Die Ursache, wegen deren auch verständige Denker in dieser Frage über einen Zweifel nicht hinausgekommen sind, liegt offenbar in der Schwierigkeit und anscheinenden Unwichtigkeit des Themas. Inmitten endlosen Streits über die Grundfragen und wichtigsten Anwendungen der Wissenschaft drängen sich dem Nachdenken bedeutender Fachmänner wichtigere Fragen auf als das vielleicht unlösbare Problem, genau festzustellen, ob und was SMITH von TURGOT oder TURGOT von SMITH gelernt haben kann, zumal das Interesse für beide Denker von Tag zu Tag abzunehmen scheint. "Was ist uns Hekuba?" Was bedeutet der "naive Optimist" SMITH oder gar der "verbohrte Ideologe" TURGOT für unser Zeitalter, von dessen Maschinenlärm, Weltverkehr und Sozialpolitik beide Schriftsteller noch keine Ahnung gehabt haben können?" So mögen wohl viele unserer Zeitgenossen denken.

Aber obgleich das persönliche Interesse für SMITH und seine Vorgänger durch die Sorgen der Gegenwart geschwächt werden mag, so birgt ihr Verständnis doch auch Elemente in sich, welche von dauerndem und selbst aktuellem Interesse sind. Nur eines davon sei schon bei dieser vorläufigen Kennzeichnung hervorgehoben, vorbehaltlich einer ausführlichen Erörterung. Wie in der Politik und Philosophie, so scheint auch in der Nationalökonomie die periodische Wiederkehr des Zweifels an den traditionellen Theorien ein Grundsatz der Entwicklung zu sein. Tradition und Häresie entwickelns sich zu "Wissenschaften", die sich gegenseitig negieren, und von denen deshalb mindestens die eine nur den äußeren Schein der Wissenschaft haben kann. Meist aber werden beide nur Scheinwissenschaften sein, da die echte Wissenschaft jede bloße Scheinwissenschaft in der Regel bald verdrängen muß. SMITH hat es verstanden, an die Stelle der Scheinwissenschaften seiner Zeit eine echte Wissenschaft zu setzen. Damals war die Tradition durch den Merkantilismus (Kommerzialismus), die Häresie durch die Physiokratie vertreten; heute heißt die Tradition "orthodoxe Nationalökonomie", und die Häresie "Sozialismus", "Protektionismus", "Bimetallismus" etc. Die entgegenstehenden Meinungen sind andere geworden; das wissenschaftliche Bedürfnis ist dasselbe geblieben. Nach wie vor handelt es sich um den Ersatz unvereinbarer und sich gleich unfehlbar dünkender Scheinwissenschaften durch eine unzweifelhafte echte Wissenschaft. Wiese SMITH dieses wissenschaftliche Bedürfnis befriedigen konnte und TURGOT dazu unfähig war, ist daher eine Frage von dauerndem Interesse für die Wissenschaft und sogar von aktuellem Interesse für ihre augenblickliche Entwicklungsphase.

Das Verhältnis von SMITH und TURGOT umschließt somit sowohl Fragen von täglich schwindendem Interesse als auch solche von dauernder und selbst aktueller Bedeutung für die höchsten Aufgaben der Wissenschaft. Um diese verschiedenen Elemente genau zu sondern, müssen wir die Faktoren feststellen, von welchen das wissenschaftliche Interesse einer Untersuchung überhaupt abhängt.


§ 3. Die Erfordernisse eines wissenschaftlichen Systems

Nicht jede Frage, über welche Bücher geschrieben werden, ist in Wirklichkeit ein wissenschaftliches Problem. Gerade die Wissenschaftsgeschichte ist in beständiger Gefahr, an dieser Klippe zu scheitern und mit großem Aufwand von Gelehrsamkeit und Scharfsinn Personalfragen zu behandeln, deren wissenschaftlicher Wert mit den gelehrten Diskussionen über das Verhältnis GOETHEs zu Frau von STEIN auf derselben Stufe steht. Klatsch bleibt Klatsch, auch wenn er "wissenschaftlich" betrieben wird. Soll sich die Wissenschaftsgeschichte nicht in unwissenschaftliche Geschichtchen auflösen, so muß sie die beiden Anforderungen streng im Auge behalten, welche an jedes wissenschaftliche Problem gestellt werden müssen.

Das wissenschaftliche Interesse einer Untersuchung steigt und fällt mit der Anwendbarkeit ihrer Ergebnisse; Es hängt daher von der Zuverlässigkeit und Tragweite derselben ab. Diese beiden Faktoren des wissenschaftlichen Wertes führen zu den beiden Anforderungen an ein wissenschaftliches Problem. Es muß mit zuverlässigen Beweisen erforschbar und zur Begründung anderer wissenschaftlicher Urteile verwendbar sein.


§ 4. Analyse des Untersuchungsgegenstandes

Die Analyse des Gegenstandes wird die Aufgabe haben, diejenigen Teil desselben genau zu bezeichnen, welche den Verdacht erregen, daß sie wegen Mangel an zuverlässiger Erforschbarkeit oder wissenschaftlicher Tragweite nicht als wissenschaftliche Probleme gelten können.

Die Beziehungen zwischen SMITH und TURGOT, wie überhaupt zwischen zwei Denkern, bieten dem Nachdenken eine persönliche und eine sachliche Seite. Man kann nämlich einerseits über die persönliche Beeinflussung, welche durch den mündlichen oder brieflichen Gedankenaustausch zwischen beiden Denkern stattgefunden haben mag, nähere Aufklärungen suchen. Man kann aber auch andererseits statt der persönlichen Beziehungen  zwischen den Denkern  die sachlichen Beziehungen  zwischen ihren Werken  untersuchen.

Zunächst kann man die Übereinstimmung oder Verschiedenheit derselben prüfen, wozu freilich das bloße Exzerpieren ähnlich oder entgegengesetzt lautender Sätze ohne Rücksicht auf die beabsichtigte Bedeutung und erzielte Überzeugungskraft derselben nicht genügen wird. Man kann ferner die Verschiedenheiten der Werke als Ursachen ihres verschiedenen wissenschaftlichen Wertes würdigen, wozu vor allem eine klare Vorstellung von der Tragweite derselben für den Fortschritt der Wissenschaft erforderlich ist. Man kann auch versuchen, aus diesen Verschiedenheiten die Eigenart der Schriftsteller und aus ihren gemeinsamen Elementen die Eigenart ihrer Zeit zu erkennen, ohne freilich aus den Augen zu verlieren, daß bedeutende Männer gewöhnlich nur dasjenige veröffentlichen, worin ihre Zeitgenossen die individuelle Eigenart des Autors und seinen Fortschritt über die Zeit hinaus erkennen sollen; deshalb sind die nachdrücklich hervorgehobenen Sätze eines bedeutenden Schriftstellers selten aus dem Gemeingut seiner Zeit entlehnt, sondern sie erscheinen meist nur den späteren Geschlechtern als Entlehnungen aus dem Zeitgeist oder geistigen Gemeingut eines bestimmten Zeitalters; in Wirklichkeit sind sie in der Regel gerade umgekehrt aus wenigen bedeutenden Werken ins Gemeingut ihrer Zeit übergegangen. Die bedeutenden Männer sind die Erreger des Zeitgeistes, nicht umgekehrt, da ein ungewöhnliches Talent zwar hinreissende Ideen, aber die hinreißendste Idee kein ungewöhnliches Talent erzeugen kann.

Die persönliche und die sachliche Seite des Verhältnisses zwischen zwei Denkern wird eine sehr verschiedene Anziehungskraft für das menschliche Denken haben, je nachdem dieses von naiver Neugierde oder von einem bewußten Nachdenken über den Wert des Erkenntniszieles geleitet wird.

Das naive Denken richtet sich am liebsten auf die Erlebnisse von Persönlichkeiten, welche unser Mitgefühl erregen. Wo es sich mit Büchern beschäftigt, wird es weniger am Wesentlichen als am Überraschenden haften bleiben. Es hat einen natürlichen Reiz, überraschend gelungene Gelegenheitsäußerungen hervorzusuchen, aus denen hervorgehen soll, daß ihr Urheber schon in irgendeiner unglaubglich frühen Epoche einen großen Gedanken ausgesprochen habe, der bisher als das weltgeschichtliche Verdienst eines viel späteren Denkers gegolten hat, und daß der letztere, der viel gefeierte "Entdecker", nur ein Nachfolger oder gar Plagiator jenes verkannten Vorläufers gewesen ist. Dagegen ist es für das naive Denken wenig verlockend, auf alle pikanten Personalfragen und Enthüllungen zu verzichten, und selbst dort, wo der kleinere Geist den größeren erraten oder gar geführt zu haben scheint, sich möglichst angestrengt in die wahre Tragweite gleichlautender Äußerungen hineinzudenken, um auch für derartige Fälle nachzuweisen, daß der als minder bedeutend anerkannte Denker hinter dem als epochal anerkannten Forscher wesentlich zurückgeblieben ist, was scheinbar alle Welt ohnehin weiß.

Die wahrhaft wissenschaftliche Forschung aber, welche nicht jeder lockenden Frage nachgeht, sondern ihre Anstrengungen nach der Aussicht auf wertvolle Ergebnisse reguliert, sollte sich in erster Linie der sachlichen Vergleichung zuwenden, für welche wir nicht auf zufällig erhaltene, mehr oder minder ungenaue und parteiische Mitteilungen angewiesen sind, sondern in den beiderseitigen Werken eine solide Forschungsbasis und in der empirischen Feststellung der wahren Ursachen wissenschaftlicher Überlegenheit ein würdiges Forschungsziel haben. Dem genaueren Nachweis dieses wissenschaftlichen Wertverhältnisses sind die beiden nächsten Kapitel gewidmet, in deren erstem die Unverläßlichkeit und Entbehrlichkeit der Forschungen über die persönliche Beeinflussung eines Denkers durch einen anderen mit besonderer Rücksicht auf den Fall SMITH-TURGOT dargetan werden soll, während im folgenden Kapitel die Tragweite der sachlichen Vergleichung ihrer Werke ausführlich erörtert werden wird.


II. Kapitel
Einschränkung der Untersuchung

§ 5. Der wissenschaftliche Wert der Prioritätsforschung

Die Untersuchung der Frage, welcher von zwei Denkern den anderen beeinflußt hat, mag einem Bedürfnis der Neugierde, der Pietät oder der Impietät entsprechen. Ihr wissenschaftlicher Wert ist ein überaus geringer. Eine einzelne derartige Frage ermangelt immer der allgemeinen Tragweite und in der Regel der zuverlässigen Erforschbarkeit. Die ganze Forschungsrichtung aber hat sogar eine Art negativer Tragweite für die Erforschung der Wahrheit, da sie ihrer Natur nach geeignet ist, gewissen falschen Annahmen über das Werden der Wissenschaft durch eine oberflächliche Beobachtung scheinbarer Kausalzusammenhänge einen Schein von Wahrheit zu verleihen.

Zunächst ist die allgemeine Tragweite jeder einzelnen derartigen Untersuchung eine recht dürftige. Welche Folgerung von allgemeinem Wert ließe sich selbst an eine zuverlässige Entscheidung der Frage knüpfen, ob ein uns sehr mangelhaft bekanntes Individuum A ein wissenschaftliches Theorem "aus sich selbst" geschöpft hat oder nicht? Die Tragweite aber wird geradezu eine negative, d. h. die Untersuchung führt zu Irrtümern, wenn sie über die nächsten Voränger hinausgeführt wird, da sie bei fortgesetztem Regress aus dem Dämmerlich annehmbarer Vermutungen immer tiefer in das Dunkel gewagter Hypothesen hineingeraten muß. Was ist damit gewonnen, wenn eine bestimmte Lehre von  A  auf  B,  von  B  auf  C  und schließlich auf einen soeben entdeckten "großen Denker"  X  zurückgeführt wird? Schließlich stehen wir vor der Frge: Woher hatte  X  seine Idee, und warum tat sie bei ihm keine Wirkung? Die Annahme, daß die Idee dem  X  eingefallen sein könnte, und daß er nur nicht fähig oder geduldig genug gewesen wäre, um sie überzeugend darzustellen, würde völlig gegen den Geist der an Äußerlichkeiten haftenden Prioritätsforschung verstoßen. Wenn man ohne weiteres glauben wollte, daß es Menschen gibt, denen etwas einfällt, auch ohne daß sie es bei einem Vorgänger gelesen haben, so würde es viel einfacher sein, anzunehmen, daß die in Frage stehende Idee dem  A,  der sie wirkungskräftig dargestellt hat, auch ohne den Beistand der minder überzeugungskräftigen Vorgänger  B, C ... X  eingefallen sein dürfte. Auf diesem Weg könnte man sogar zu der Annahme gelangen, daß ein überlegener Kopf annähernd sein ganzes Werk auch ohne seine Vorgänger zuwege gebracht hätte. Dies scheint aller geschichtlichen Erfahrung zu widerstreiten, da noch kein Denker ohne Vorläufer existiert hat. Es können vielmehr die Bausteine zu jedem Gedankengebäude bei zahlreichen älteren Schriftstellern nachgewiesen werden; daraus scheint hervorzugehen, daß ein großer Denker nur auszusprechen pflegt, was schon vor ihm "in der Luft gelegen" war. Jeder Mensch erscheint dem oberflächlichen Beobachter auf diese Weise als ein Kind seiner Zeit. Und doch konnte ein GOETHE denken, daß "bedeutende Männer durch - eine Schwachheit mit ihrem Jahrhundert zusammenzuhängen pflegen". Wir wissen dies freilich besser. Jeder von uns glaubt zu wissen, daß große Denker gerade ihr Bestes ihrer Zeit verdanken.

Früher oder später pflegt daher als  deus ex machina  der pseudo-evolutionistischen Geschichte des Denkens der "Zeitgeist" oder der "Volksgeist" aufzutauchen, diese mystischen Väter aller "in der Luft" oder "in der Rasse" liegenden Ideen.

Woher  X  seine Idee hatte? Sehr einfach! Sie lag im "Geist seines Jahrhunderts", "in der Luft". Er war z. B. ein Sohn des achtzehnten Jahrhunderts; damit ist entschieden, welche Ideen er haben mußte, denn bekanntlich gab es im achtzehnten Jahrhundert nur Gesinnungsgenossen von VOLTAIRE und ROUSSEAU, ihre Gesinnungen sind der Geist des achtzehnten Jahrhunderts, und diese Gesinnungen haben offenbar den Geist eines VOLTAIRE und ROUSSEAU erzeugt, beileibe nicht umgekehrt! Oder die Idee des  X  lag in seinem "Volksgeist", in seiner "Rasse", in seinem "Blut". War er doch z. B. ein Schotte, und "der Schotte" ist ein geborener Nationalökonom, wie sich dies an nicht weniger als sechs unter unzähligen Schotten gezeigt hat. Warum fiel die Idee des  X  zu seiner Zeit keinem anderen Schriftsteller ein? Der Laie könnte glauben, die anderen hätten vermutlich zu wenig darüber nachgedacht, oder  X  wäre eben gescheiter gewesen. Wie oberflächlich! Der tiefsinnigere Betrachter erkennt in  X  ein "echtes Kind" seiner Zeit und seine Volkes.  X  fühlte, "was in der Luft" lag, die anderen merkten noch nichts davon. Warum hat aber seine Idee dennoch keine Wirkung getan? Weil "seine Zeit" noch nicht reif dafür war.

Die Ideen entwickeln sich nämlich nach dieser pseudo-evolutionistischen Auffassung nicht im Kopf desjenigen Individuums, welches eine für diesen Gegenstand besonders günstige Begabung mitbringt und überdies mit Anspannung all seiner Kräfte, vielen Lebensfreuden entsagend, nach Wahrheit ringt; sie entspringen nicht aus der Arbeit desjenigen, der mit Verzicht auf wohlfeile Scheinerfolge, mit einem Leben des Zweifels, der Sorge und vielleicht der Not, mit seinem Herzblut und mit seiner Lebenskraft seine Überlegenheit über seine Zeitgenossen erkauft und dann diesen ein Licht aufsteckt, während ohne ihn die "Zeit" rat- und hilflos jedem zuversichtlichen Schwindler und Schwätzer auf den Leim zu gehen pflegt. Nach dieser Auffassung liegen die Idee ielmehr "in der Zeit", "in der Luft", "im Jahrhundert", "in der Volksseele", wie ja auch für die Verbrechen bekanntlich nicht der Verbrecher, sondern "die Gesellschaft", "das Milieu", "die Vererbung" in erster Lnie verantwortlich ist, sowie ferner am Unternehmensgewinn der Unternehmer selbst völlig unschuldig ist, indem vielmehr "das Kapital", getreu dem ihm von KARL MARX vorgezeichneten Gesetz, schon von selbst aus "G" (Geld) "W" (Ware) und aus "W" mehr "G" macht etc. etc.

Vielleicht hat sich unsere, mit jedem Vorurteil gerne liebäugelnde Zeit in kein anderes Vorurteil so eifrig hineingeredet wie in diese Überschätzung des Einflusses der "Gesellschaft" und die damit zusammenhängende Unterschätzung des Individuums, dessen Eigenart ja doch in Wahrheit die Hauptursache seiner Erfolge oder Mißerfolge, seines Ruhms und seiner Schuld ist. Diese ganze Richtung unserer Zeit führt aber vielleicht auf keinem Gebiet zu irreführenden Ergebnissen wie in der Wissenschaftsgeschichte. Die entscheidenden Fortschritte des menschlichen Denkens sind nun einmal das Werk der epochalen Denker, d. h. der unvertretbaren Individuen und nicht ihrer mittelmäßigen Vorläufer, dieser Repräsentanten der vertretbar begabten "Gesellschafts"-Mitglieder, also der allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklungsstufe. Eine wahrheitsgemäße Darstellung der tatsächlichen Entwicklung der Wissenschaft muß sich daher in erster Linie mit der möglichst verständnisvollen, historischen Würdigung der Hauptwerke befassen und die Darstellung der einflußlosen Vorläufer an die Bibliographie abgeben. Die historische Würdigung der Hauptwerke aber besteht in der möglichst genauen Feststellung der Tragweite des durch sie bewirkten Fortschritts. Dazu gehört ein so feinfühliges Verständnis für jede geistige Individualität und jeden wissenschaftlichen Standpunkt, daß auch der begabte und geübte Literaturhistoriker und Nationalökonom mit dem intensiven Studium der Hauptwerke und der wissenschaftlichen Lehren, in welche sie eingreifen, reichlich zu tun haben wird. Sobald aber die Aufmerksamkeit des Historikers von den einflußreichen Werken, für deren historische Würdigung bisher nicht einmal die Methode klargestellt wurde, auf die überraschenden Vorläufer abgelenkt wird, so verliert die Geschichtsschreibung über der vielgepriesenen "Andacht zum Unbedeutenden" (GRIMM) die Andacht zum Bedeutenden. An die Stelle des ehrerbietigen Studiums der epochalen Denker treten die voreingenommenen, oberflächlichen Kritiken nebst lebens- und seelenlosen Notizen über ihre und ihrer Vorläufer Namen, Titel, Geburts- und Todesjahr, Anstellungs- und Publikationsdaten etc. etc. Bei einer folgerichtigen Ausbildung schreitet diese auf die Aufhellung der Ideenpriorität gerichtete Forschung von Gewinn zu Gewinn, dem glorreichen Resultat entgegen, daß der durch einige Buchstaben und Ziffern gekennzeichnete  A  seine Grundideen nicht aus sich selbst geschöpft, sondern dem ebenso seelenlosen Schatten  B, C, D ... X  entlehnt hat, alle zusammen aber ihre Ideen dem Zeitgeist verdanken, d. h. allen zusammen.

Da die Prioritätsforschung bei einer konsequenten Fortsetzung in Sophismen ausläuft, so ist es klar, daß schon in jedem einzelnen Fall ihre Methode eine unzuverlässige, mit der Gefahr sophistischer Schlüsse behaftet sein muß. In der Tat ist nicht nur die Tragweite jeder Einzelforschung über die zwischen zwei Schriftstellern etwa stattgefundene Beeinflussung eine überaus dürftige, sondern auch ihre Zuverlässigkeit muß der Natur der Sache nach sehr zweifelhaft bleiben.

Diese Methode leidet nämlich am bedenklichsten Fehler menschlichern Überlegungen: ihre Mittel stehen in einem auffallenden Mißverhältnis zu ihren Aufgaben. Sie will Gedanken zu ihrem Ursprung zurückverfolgen. Dies ist eine psychologische Aufgabe. Die Mittel der Prioritätsforschung sind aber philologisch-historischer Natur, es sind die uns erhaltenen Äußerungen dieser Gedanken oder Nachrichten über dieselben. Die Prioritätsforschung will also immer Denkprozesse des Individuums aus ihren äußeren Spuren feststellen, indem sie die Einwirkung der individuellen Äußerungen auf das kollektive Denkens auf das Individuum studiert, staat die Einwirkung der individuellen Äußerungen auf das kollektive Denken zu beobachten, worin die eigentliche Aufgabe der Wissenschaftsgeschichte besteht. Dadurch wird diese Wissenschaft von der Menge und Vertrauenswürdigkeit der uns erhaltenen Mitteilungen über Leben, Umgang und Lektüre der bedeutenden Denker abhängig, also vom Zufall. Sie kann sich daher nur sehr ungleichmäßig entwickeln, und zwar nicht selten am mangelhaftesten dort, wo sie uns am meisten interessieren würde. Je größer nämlich ein Denker ist, desto weniger Aufmerksamkeit schenkt er selbst in der Regel seinen äußeren Erlebnissen, desto dürftiger werden wir daher durch ihn selbst informiert; zugleich aber wächst infolge seines umfassenden Gedankenkreises die Wahrscheinlichkeit eines zufälligen Zusammentreffens mit den Äußerungen früherer Autoren und die Schwierigkeit seiner eigenen Rückbesinnung auf das erste Auftauchen jedes einzelnen Gedankens sowie die Unverläßlichkeit der Nachrichten von Zeitgenossen, weil diese bald seine Verehrer, bald Verehrer seiner Rivalen, bald seine Gegner sind. Gerade angesichts bedeutender Denker und entscheidender Gedanken pflegen die Prioritätsforschungen in ein Gezänke von Anhängern und Gegnern auszuarten, dessen Ergebnis für den unparteiischen und vorsichtigen Forscher zweifelhaft bleiben dürfte. Die zufällige Mangelhaftigkeit der Nachrichten verstärkt in diesem Fall nur die natürliche Unzuverlässigkeit einer Methode, welche die geheimnisvollen Denkprozesse aus ihren Äußerungen beurteilen möchte, obgleich diese bei gleichem Wortlaut sehr verschiedenen Denkprozessen entsprechen können.

Bei den ungemein verwickelten inneren Denkprozessen, welche einer entscheidenden Umgestaltung eines ganzen Gedankenkreises vorausgehen müssen, hat nämlich eine bestimmte Äußerung eine sehr verschiedene Bedeutung, je nachdem sie eine subjektive Denkmöglichkeit, eine objektiv gesicherte Denkmöglichkeit, eine subjektive Denknotwendigkeit oder eine objektiv gesicherte Denknotwendigkeit ausspricht. Ihr Wortlaut kann dabei völlig derselben bleiben. Bei gleichlautenden Äußerungen verschiedener Denker bleibt es also vorläufig zweifelhaft, ob sie demselben Reifestadium des Denkens entsprechen.

Auch in diesem günstigsten Fall wäre nur bewiesen, daß beiden Individuen das Gleiche gedacht, aber nicht, daß sie voneinander entlehnt haben. Welcher Forscher hat nicht schon seine geheimsten wissenschaftlichen Gedanken und selbst stilistische Ornamente seines Vortrags gelegentlich bei unabhängigen Schriftstellern wiedergefunden? Es ist ein plumpes  post hoc ergo propter hoc  [danach also deswegen - wp], bei gleichlautenden Äußerungen ohne weiteres anzunehmen, daß der spätere Denker vom früheren "abgeschrieben" habe. Selbst ein Geständnis durch den späteren Denker ist kein absolut zwingender Beweis. Wer hat nicht schon manche, ihm selbst scheinbar völlig neuen Gedanken anderer Schriftsteller in seinen alten Tagebüchern etc. als eigene längst vergessene Einfälle erkannt? Was der Schriftsteller selbst für entlehnt hält, kann somit ebenso gut ein längst vergessener eigener Einfall sein, wie das, was er für originell hält, eine unbewußte Reminiszenz [Analogie - wp] sein kann.

Wenn aber der Prioritätsforscher mit seinem mangelhaften Material wirklich den beiden Denkfehlern der Verwechslung gleichlautender Äußerungen mit gleich gedachten Gedanken und des  post hoc ergo propter hoc  entgangen sein sollte, so harrt seiner eine noch gefährlichere Klippe. Nichts scheint sicherer als der Schluß vom "Abschreiben" der entscheidenden Gedanken auf die Unselbständigkeit des Abschreibers. In Wirklichkeit aber gehört zum richtigen Abschreiben aus einer teilweise falschen Vorlage oft mehr Selbständigkeit als zum Schreiben ohne Vorlage; oft liegt der entscheidende Grund für die Übernahme eines fremden Gedankens in den äußeren Erfahrungen und inneren Meinungskämpfen vieler Jahre, während die Kenntnisnahme der älteren Äußerung nur den allenfalls ersetzbaren letzten Anlaß zum Innewerden der gleichen Gesinnungen geboten hat; oft auch geschieht die Übernahme eines fremden Gedankens mit Formveränderungen, die vielleicht eine kraftvollere Individualität voraussetzen als die Erfindung des Gedankens selbst.

Wer ist weniger originell als ein Übersetzer? Und doch - war LUTHERs Bibelübersetzung nicht originell? Hat uns nicht GOETHE im  Faust  gezeigt, wie originell der Übersetzer des "logos" zu denken bemüßigt ist? Nehmen wir an, daß BELLAMY seinen sozialistischen Roman nach SCHÄFFLEs  Quintessenz  gearbeitet hat, war er dabei originell oder rezeptiv? Und SCHÄFFLE selbst, als er die zerstreuten Ideen des Sozialismus nicht erfand, aber zu einer greifbaren Anschaulichkeit konzentrierte, oder LASSALLE, als er denselben Sozialismus nicht erfand, nicht einmal für die Deutschen entdeckte, sondern nur mit den Flammenworten seiner Beredtsamkeit vor dem begeisterungsfähigsten Publikum aufleuchten ließ, war er originell oder rezeptiv? Und wenn nichts Originelles an ihm war, wieso hat er zustande gebracht, was andere entweder nicht einmal versuchen oder doch nicht vollbringen konnten, nämlich die Verwandlung des Sozialismus aus einem Traum in eine Macht? Vom Übersetzer, der vielleicht einen Gedankenkeim erst in seinen besten Boden pflanzt, bis zum Techniker oder Staatsmann, der wissenschaftlichen Ideen völlig neue Wirkungen abgewinnt, verläuft eine ununterbrochene Kette von kleineren und größeren Formveränderungen bei gleichzeitiger Identität des Gedankeninhalts. Sind alle diese tatkräftigen Nährväter wissenschaftlicher Ideen nichts als unselbständige Abschreiberköpfe?

KOPERNIKUS soll zum Gedanken von der Kugelgestalt der Erde durch die Nachricht von einer ähnlichen Ansicht des ARISTARCHOS von Samos angeregt worden sein. Vor ihm hatten Tausende von kenntnisreichen und scharfsinnigen Männern dieselbe Stelle gelesen, ohne die Ansicht zu rezipieren. Was war in diesem Fall origineller, das "Abschreiben" oder das Nichtabschreiben? Die Eigenart des Kopernikus dürfte wohl kaum in seiner größeren Leichtgläubigkeit gegenüber gewagten Hypothesen bestanden haben; man weiß, daß er mit der Publikation seines Hauptwerkes bis zum Herannahen seines Todes gezögert hat. Gegen seine sonstige Vorsicht rezipierte KOPERNIKUS gerade diesen abenteuerlichsten aller Gedanken, daß das scheinbar Festeste - denn was ist fest wie der Erde Grund? - gar nicht feststeht. Wie sicher muß er vom scheinwissenschaftlichen Charakter der damals traditionellen Astronomie überzeugt gewesen sein, wie viele Jahre muß er die Gewohnheit geübt haben, auch die abenteuerlichsten Erklärungsversuche rastlos zu durchdenken, bis sein Kopf so vorbereitet war, daß jene Notiz über die Lehre des ARISTARCHOS sein Denken blitzartig erhellen konnte, während sie auch minder besonnenen Denkern bis dahin als abenteuerlicher Unsinn zu erscheinen pflegte!

Die Jahre des ruhelosen Zweifels und ihre auf Zerreißung von Scheinzusammenhängen abzielenden geistigen Tätigkeiten und Gewohnheiten waren die entscheidende Ursache für die Entstehung seines Weltsystems, nicht aber jene Stelle eines alten Griechen, an welcher vorher so viele Kenner kopfschüttelnd vorübergegangen waren.

Die entscheidenden Wandlungen der Wissenschaft vollziehen sich überhaupt nicht durch einzelne Urteile, wie sie mit etwas Glück gelegentlich auch mittelmäßigen Köpfen gelingen können, ohne die anderen zu überzeugen. Die entscheidenden Wandlungen der Wissenschaft vollziehen sich dadurch, daß ein übermächtiger Kopf den Schein, der die anderen gefangenhält, gründlich entlarvt, nachdem er ihn in sich gründlich überwunden hat. Ob er die einzlnen dazu nötigen Erkenntnisse anderen oder sich selbst verdankt, kann er selbst nicht mit Sicherheit wissen, weil er höchstens die äußeren Anlässe, aber nicht die psychischen Mächte kennt, die bei jedem seiner Urteile die Entscheidung herbeiführen, weil er ferner das ursprünglich übernommene Material kaum mehr wieder zu erkennen imstande ist, wenn es im Streben nach wirksamster logischer und sprachlicher Ausgestaltung und Einfügung in den individuellen Gedankenkreis vielleicht Jahrzehnte lang einer beständigen Umwandlung unterworfen worden ist. Aber da die einzelnen Äußerungen nie den entscheidenden Fortschritt in sich enthalten, da das Entscheidende vielmehr immer die Einsicht in ihre wissenschaftliche Tragweite ist, so ist auch die Provenienz [Wurzel - wp] der einzelnen Urteile, der Bausteine nie maßgebend für die Beurteilung eines ganzen Gedankengebäudes. Es gibt eben nirgends ein Gebäude, das aus seinen Bausteinen herausgewachsen wäre; der Zweck erzeugt den Plan; wären gewisse Bausteine nicht zur Hand, so würde eine hervorragende Intelligenz sich ähnliche anderweitig verschaffen. Die Wissenschaft "wächst" nicht viel natürlicher als die Häuser, nur schwerer, weil der Baumeister sich nur wenig durch Handlanger entlasten kann.

Die Forschung nach den Quellen der einzelnen Urteile eines großen Denkers hat somit in jedem einzelnen Fall eine geringe positive Tragweite. Sie ist vermöge der möglichen Ungleichheit des Gedachten bei Gleichheit der Äußerungen, vermöge der Möglichkeit eines zufälligen Zusammentreffens, vermöge des originellen Charakters vieler Entlehnungen und vermöge der Unwesentlichkeit des einzelnen Bausteines für das ganze Gebäude so vielen Denkfehlern ausgesetzt, daß sie bei einer konsequenten Fortführung zu einem falschen Entwicklungsbild führen dürfte. Sie ist überdies wegen mangelhaften Materials meistens unverläßlich. Das letztere Gilt noch besonders für die Frage nach dem Beeinflussungsverhältnis zwischen SMITH und TURGOT.


§ 6. Das persönliche Verhältnis zwischen
Smith und Turgot

In der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts wurde die Entstehung des SMITH'schen Systems meist so dargestellt, als wären dem großen Denker seine entscheidenden Ideen schon bei der Vorbereitung der berühmten Vorträge, welche er im Alter von noch nicht 35 Jahren in Glasgow hielt, durch die Wunderkraft seines unbeeinflußten jugendlichen Genies zugeflossen. Dagegen empfängt man bei der Lektüre der neuesten Werke über ADAM SMITH mitunter den Eindruck, als hätte der Erreger der vielleicht wichtigsten Gedankenbewegung unserer Zeit sich  proprio motu [aus eigenem Antrieb - wp] überhaupt gar nichts gedacht, sondern wäre zu seiner Weltanschauung gelangt, indem er als gelehriger Schüler von HUTCHESON zu HUME und von diesem zum QUESNAY, TURGOT, HELVETIUS etc. wanderte, von allen diesen so heterogenen Denkern als ein gelehrtes Sonntagskind, fast immer das Beste und Richtigste aufschnappend und aus PETTY, PUFENDORF etc. fast immer nur das Richtige dazu abschreibend. Die Wahrheit dürfte wohl auch in diesem Fall nicht ganz auf der einen Seite liegen und schwerlich selbst genau in der Mitte zwischen den entgegengesetzten Meinungen. das Wahrscheinlichste mag wohl sein, daß ADAM SMITH erst durch das teilweise Zusammentreffen vieler in ihm anscheinend originell entstandenen Ideen mit bedeutenden und doch der Prüfung anhand seines Prinzips nicht gewachsenen Vorgängern den Antrieb erhielt, seiner - nach seiner eigenen Äußerung ("I have done so little.") ziemlich energielosen und leicht abgelenkten - Natur jene Arbeitssumme abzuringen, die im "Wealth of Nations" niedergelegt ist. Jedenfalls dürfte man weniger fehlgehen, wenn man sich den Schöpfer des einflußreichsten Lehrgebäudes origineller vorstellt, als er uns beim Vergleich mit seinen Vorgängern erscheint; ist doch auch ein geringerer Schriftsteller in der Regel tatsächlich origineller, als er dem Leser scheint, dem angesichts der fertig dargebotenen Entscheidungen nebst den überzeugend dargelegten Gründen nur die homogenen Vorgänger ohne die Gegengründe der entgegengesetzten Meinungen vorzuschweben pflegen.

Über derartige Vermutungen und annähernde Schätzungen dürfte man in der Frage nach SMITHs Ursprünglichkeit des Denkens schon wegen des dürftigen Materials nicht hinauskommen. Dieselbe Unsicherheit, wie bezüglich der persönlichen Originalität SMITHs überhaupt, herrscht in Bezug auf seine Originalität oder Abhängigkeit gegenüber seinem nächststehenden Vorgänger unter den französischen Physiokraten.

Es steht fest, daß SMITH in den Jahren 1765 und 1766, also etwa ein Jahrzehnt vor der Veröffentlichung seines Hauptwerkes, geraume Zeit in Paris und vorher noch länger in Südfrankreich gelebt hat. Der schottische Forscher hat also Gelegenheit gehabt, die französische Volkswirtschaft und ihre rührig aufstrebende Literatur zum Gegenstand seines Nachdenkens zu machen, noch bevor er die bedeutendsten Physiokraten in Paris persönlich kennen lernte. Bekanntlich erwähnt DUPONT de NEMOURS SMITH als seinen "Mitschüler" bei QUESNAY; MOVELLET teilt mit, daß "TURGOT, welcher die Metaphysik liebte, SMITH sehr geschätzt habe." CONDORCET erzählt, daß der Verkehr zwischen beiden Denkern nach SMITHs Abreise brieflich fortgesetzt wurde, und daß erst der Tod TURGOTs der Korrespondenz ein Ende machte. Nach der bekannten Mitteilung DUGALD STEWARTs ließ SMITH vor seinem Tod alle seine nicht druckreifen Papiere verbrennen, worin man wohl nicht mit FRIEDRICH LIST ein Anzeichen irgendeines Schuldbewußtseins, sondern einfach einen Akt gerechter Notwehr gegen die Indiskretion taktloser Nachlaßschnüffler und Herausgeber erblicken mag. Dabei scheinen auch Briefe TURGOTs den Flammentod gefunden zu haben. Von ihrem Inhalt fehlt uns jede Kenntnis, ebenso vom Inhalt des mündlichen Gedankenaustauschs der beiden Forscher.

Bei diesem Mangel an zuverlässigen Spuren und genauen Nachrichten ist dem Scharfsinn des Historikers ein weites, aber unfruchtbares Feld eröffnet. Gewöhnlich vermutet man, daß SMITH als der Verfasser des später erschienenen Werkes von TURGOT beeinflußt worden ist. Da aber der persönliche Verkehr beider Denker noch vor der Veröffentlichung von TURGOTs "Reflexionen" stattgefunden hat, so könnte auch umgekehrt die vielfältige Berührung dieses letzteren Werkes mit SMITHs Ideen als Nachwirkung der mündlichen Äußerungen SMITHs aufgefaßt werden. Endlich ist es auch möglich, daß beide Forscher längst eine gewisse Reserve in der Mitteilung unfertiger Lieblingsideen angenommen hatten und miteinander lieber "metaphysische" als ökonomische Gespräche führten. Die Wahrscheinlichkeit spricht für ein kühles Achtungsverhältnis ohne auch nur die Prätention [Anmaßung - wp] einer wissenschaftlichen Beeinflussung. Denn im Falle wahrhaft inniger Freundschaft würde SMITH, der seinen Freund HUME in warmen Worten als den "bei weitem berühmtesten Philosophen und Historiker der Gegenwart" preist, auch von TURGOT schwerlich ganz geschwiegen haben; im Fall einer starken Gedankenbenützung ohne  nominatio auctoris [Nennung des Autors - wp] hätte die Korrespondenz der beiden Schriftsteller vermutlich nicht noch fünf Jahre nach dem Erscheinen der beiderseitigen Hauptwerke fortgedauert. Doch ist auch diese Annahme nur die wahrscheinlichste, subjektive Vermutung ohne wissenschaftliche Zuverlässigkeit. Mit Bestimmtheit kann nur behauptet werden, daß alle Hypothesen, welche aufgrund von Gesprächen unbekannten Inhalts und nicht existierenden Briefen aufgestellt werden, jeder wissenschaftlichen Begründung entbehren. Das persönliche Verhältnis zwischen SMITH und TURGOT ist daher gegenwärtig schon wegen des mangelnden Tatsachenmaterials kein geeigneter Gegenstand wissenschaftlicher Forschung.

Es ist uns nun völlig klar, warum Zweifel über dieses Verhältnis bestehen müssen. Es ist vorläufig schon wegen mangelnden Materials eine bloße Meinungsfrage, kein wissenschaftliches Problem. Aber selbst wenn das Unwahrscheinliche sich ereignen sollte, wenn neues authentisches Materials entdeckt würde, so dürfte diese Forschungsrichtung leichter zu Sophismen als zur Entdeckung der wahren Ideenfiliation [-abstammung - wp] führen, weil diese ein fast unkontrollierbarer innerer Vorgang ist, daher aller Wahrscheinlichkeit nach für alle Zeiten eine bloße Meinungsumfrage bleiben muß. Und selbst wenn es gelänge, die wahre Ideenfiliation darzustellen, so ist die wissenschaftliche Tragweite der Erforschung eines solchen individuellen Vorgangs viel zweifelhafter als jene der sachlichen Vergleichung der Werke und der darin zutage tretenden Mittel wissenschaftlichen Fortschritts. Erst durch die klare und scharfe Loslösung des persönlichen Beeinflussungsverhältnisses der Forscher und des sachlichen Verwandtschafts- und Wertverhältnisses der Werke ist der Boden gewonnen, auf welchem die wissenschaftliche Arbeit zu Ergebnissen von objektiver Zuverlässigkeit und allgemeiner Tragweite gelangen kann.


§ 7. Unabhängigkeit der objektiven von der
subjektiven Originalität

Aus der Unerforschlichkeit des perönlichen Verhältnisses zwischen SMITH und TURGOT ergibt sich jedoch eine naheliegende Einwendung gegen unser ganzes Problem. Es kann die Besorgnis entstehen, daß die Frage nach den Beziehungen ihrer Werke zueinander von der Frage nach ihren persönlichen Beziehungen als entscheidender Vorfrage abhängig sein könnte. Wie soll man die Originalität oder den Eigenwert der Werke beurteilen, wenn die Originalität ihrer Verfasser im Unklaren bleibt? Damit würde zugleich eine in unseren früheren Ausführungen scheinbar verkannte Tragweite der Erforschung persönlicher Beziehungen aufgedeckt. Die Personenfragen der Literaturgeschichte mögen unmittelbar geringen Anlaß zu allgemein wichtigen Folgerungen bieten; wenn sie die unentbehrliche Grundlage für die historische Würdigung der Werke bilden, so sind sie gleichsam wissenschaftliche Wahrheiten entfernter Ordnung, analog den wirtschaftlichen Gütern entfernter Ordnung, welche zwar selbst kein menschliches Bedürfnis zu befriedigen vermögen, aber zur Erzeugung von bedürfnisbefriedigenden Gütern verwendet werden können und dadurch an Wert oft die köstlichsten Genußmittel übertreffen. So gibt es auch Hilfswahrheiten, welche, selbst kein Gegenstand von allgemeiner Tragweite, doch anderen Wahrheiten, die allgemein interessieren, als unentbehrliche Voraussetzung dienen. Gilt dies für die Erforschung der persönlichen Beeinflussung zwischen zwei Denkern? Ist dieselbe für die Würdigung der Werke eine unentbehrliche Voraussetzung? Oder gibt es eine Originalität der Werke, welche auch unabhängig von der Originalität ihrer Verfasser untersucht werden kann?

Wir verbinden mit dem Wort "Originalität" nicht immer dieselbe Vorstellung. Wir denken dabei meist an die subjektive Originalität als Eigenschaft des Denkers, oft aber auch an die objektive Originalität als Eigenschaft des Gedachten, oder richtiger des Mitgeteilten. Die subjektive Originalität als eine Eigenschaft des Denkers ist seine Ursprünglichkeit, seine Unabhängigkeit von seinen Vorgängern, seine Kraft zu selbstgeschaffener Gedankenentwicklung aus eigenen Einfällen. Daß dieser Begriff von Originalität eine unklare Vorstellung von einer ewig unsicheren Tatsache ist, haben wir bei der Besprechung der wirklich originellen Rezeptionen und der scheinbar originellen Reminiszenzen gezeigt. Viel brauchbarer ist die zweite Vorstellung von Originalität, die objektive Originalität des Werkes, die Eigenkraft des Gedachten, oder richtiger des Mitgeteilten; denn nur dieses hat überhaupt Wirkungskraft, nicht schon das innerlich Gedachte, so subjektiv-originell es auch sein mag. Die objektive Originalität eines Werkes ist die von ihm der Menschheit mitgeteilte Kraft zu geistigem Fortschritt; sie ist der erst durch dieses Werk bewirkte geistige Gewinn. Die objektive Originalität des Werkes hängt also nicht von der Menge oder Wichtigkeit derjenigen Gedanken ab, welche der Urheber niemandem entlehnt hat, auf welche zweifelhafteste aller Paternitätsfragen [Vaterschafts- / wp] sich eine ernste Wissenschaft schwerlich einlassen kann, sondern von der Menge der Gedanken, welche erst durch dieses Werk wirksam geworden sind. Der Gedanke, dessen Wahrheit die Menschheit aus dem Werk des  A  erkannt hat, ist bezüglich seiner objektiven Originalität oder Eigenkraft unzweifelhaft ein Werk des  A,  und wenn er auch von  B, C  und einer ganzen Legion von Vorläufern längst vorher innerlich gedacht oder in Gesprächen oder in privaten Aufschreibungen oder in ungelesenen oder an dieser Stelle ungelesenen oder wirkungslosen Druckwerken geäußert worden wäre. Weder das Denken noch die Äußerung des Gedankes genügt zur "Mitteilung" der Überzeugung als einer lebendigen, das künftige Denken beeinflussenden Kraft. Der Grad dieser Fähigkeit zur Beeinflussung der künftigen Gedankenentwicklung oder die objektive Originalität entscheidet über den wahren Wert eines wissenschaftlichen Werkes. Derselbe bemißt sich nach der Menge und Wichtigkeit der erst durch dieses Werk zum sicheren Besitz der Wissenschaft gewordenen Erkenntnisse, ohne Rücksicht darauf, ob deren Inhalt vorher von anderen gedacht oder selbst wirkungslos geäußert worden wäre.

Die objektive Originalität eines Werkes ist daher mit der Entlehnung früher wirkungslos geäußerter Gedanken durch den Urheber des Werkes völlig verträglich. Nur mit einer bei seinen Zeitgenossen  allgemein  üblichen Entlehnung kann sie sich nicht vertragen, weil es sich in diesem Fall nicht mehr um wirkungslos geäußerte Gedanken handeln würde, sondern um Gedanken, welche bereits vermöge der Eigenkraft früherer Werke lebendig fortwirken. Die Entlehnung herrschender Meinungen in einer nicht sehr ungewöhnlichen Form zeugt daher allerdings von einem Mangel an objektiver Originalität. Dagegen bildet die Wiederbelebung er dem Bewußtsein der Menschheit abhanden gekommenen Gedanken, diese Beteiligung an der beständig stattfindenden Renaissance, an der Auferstehung der den Tod nicht verdienenden Toten ein Werk von hoher objektiver Originalität. Dasselbe wie von dieser ewigen Renaissance der scheintoten Gedanken gilt vom ewigen Hellenismus, d. h. dem ebenfalls unaufhörlich erneuten Geistesprozeß, durch welchen, analog dem Hellenismus, die Produkte höherer Geistesentwicklung an Orte verpflanzt werden, denen sie bisher fern lagen und doch ihrer Natur nach eine geistige Wiedergeburt bringen können. Auch aus dieser lokalen Gedankenübertragung folgt oft eine objektive Originalität. Ein einzelner, besonders folgenreicher Fall origineller Wirkung durch Gedankenübertragung ist der Hussitismus. Um die Gedanken WYCLIFFEs trotz des allgemeinen Vorurteils zu entlehnen und mit Heldenmut zu verfechten, mußte HUSS vielleicht ein originelleres Individuum sein, als um sie selbst zu erfinden. So ist die objektive und die subjektive Originalität ein und desselben Gedankens oft an verschiedene Personen verteilt. Ob sie überhaupt je in derselben Person vereinigt gewesen ist, ob je ein wichtiger, der Menge fernliegender Gedanke demjenigen zuerst eingefallen ist, dem es beschieden war, ihn bis zur Wirksamkeit für die Menge auszureifen, läßt sich bei der Ungewißheit des ersten Auftauchens einer Idee kaum feststellen, aber mit Grund bezweifeln, weil zum Ausreifen eines Gedankes bis zur Überzeugungskraft meist eine andere Individualität gehört als zum Reichtum an originellen Einfällen, an bloßen Überzeugungskeimen. Zum Ausreifen gehört die Stetigkeit, zu Einfällen die Beweglichkeit des Denkens; in der Regel aber ist die Stetigkeit mit einer gewissen Schwerfälligkeit, die Beweglichkeit mit einer gewissen Sprunghaftigkeit des Denkens verbunden.

Täglich werden in der wundervollen Gedankenfabrik des Menschengeschlechts objektiv bereits vollwirksame Gedanken subjektiv neu erzeugt. Begabte Kinder sind oft ungemein reich an solchen subjektiv neuen, objektiv längst als Gemeinplätze wirkenden Gedanken. Begabte Praktiker produzieren mit instinktivem Takt hunderte von richtigen Einfällen, ohne auch nur einen einzigen überzeugend begründen zu können oder zu wollen; sie haben also subjektive Originalität ohne eine objektive Eigenkraft. Für den umgekehrten Fall objektiver Eigenkraft ohne subjektive Originalität bietet die Religionsgeschichte viele auffallende Beispiele. Sie bietet auch die besten Beweise dafür, daß in letzter Linie sogar die subjektive Originalität des lebendigen Individuums durch die lebendige Kraft der von ihm ausstrahlenden Gedankenprozesse viel richtiger bemessen wird als durch die neuen Aussprüche, welche von ihm erhalten sind. Die kraftvollste Individualität kann ihre größte Wirkung vielleicht durch ein Werk erzielen, welches von ihren vielleicht zahllosen, subjektiv originellen Einfällen gar nichts, dafür aber eine mit tiefsinniger Weisheit den Bedürfnissen des Menschengeistes angepaßte Auslese von gemeinsamen Vorstellungen und Urteilen aller enthält. Ein solches Werk würde denjenigen, welche die subjektive Originalität nach dem Mangel von Vorläufern engherzig abmessen, als das Werk eines "Abschreibers", eines rezeptiven, mittelmäßigen Individuums erscheinen. Wenn es aber eine große, historisch erwiesene Eigenkraft hätte, so würde diese für die kraftvolle Individualität des Urhebers einen weit verläßlicheren Maßstab gewähren als die Menge oder Wichtigkeit der mitgeteilten neuen Einfälle. Wer will der Individualität eines MOHAMMED gerecht werden, wenn er sie nach den sonderbaren Zutaten des Koran zum Judentum und Christentum beurteilt? Wer könnte dagegen dem Schöpfer der arabischen Geistesbewegung seine Bewunderung versagen, wenn er aus der gewaltigen Eigenkraft seines Werkes einen Schluß auf das gleichsam prophetische Feingefühl zieht, mit welchem dieser große Geist seinen Arabern gerade das bot, was sie am meisten begeistern konnte! Selbst demjenigen, dessen Ziel nicht die Einsicht in die Geschichte des menschlichen Denkens, sondern die Würdigung der Individualität des Denkers ist, bietet daher die objektive Originalität einen verläßlicheren Anhaltspunkt als die subjektive, die so leicht unterschätzt wird, wo sie gerade am größten ist, nämlich bei gründlichen Denkern, welche ihre glänzendsten oberflächlichen Einfälle verschweigen, um lieber die richtigsten unter den längst bekannten und bestrittenen Ideen mit überlegener Selbständigkeit des Urteils und Originalität des Beweises einer endgültigen Entscheidung zuzuführen.

Die im Vorhergehenden angestrebte scharfe Trennung der Begriffe von subjektiver und objektiver Originalität ermöglicht nunmehr die Entscheidung der Frage, ob man das sachliche Verhältnis der Werke auch unabhängig vom persönlichen Verhältnis ihrer Urheber prüfen könne. Gewiß nicht, wenn es sich um eine Feststellung der subjektiven Originalität, der gegenseitigen Unabhängigkeit oder Abhängigkeit handelt, da eine gelegentliche Übereinstimmung der Werke auf einem bloß zufälligen Zusammentreffen beruhen kann, während andererseits durch die scheinbare Unabhängigkeit der veröffentlichten Werke eine bloß private Beeinflussung noch nicht ausgeschlossen ist. Daß dagegen die vergleichende Untersuchung der objektiven Originalität oder Wirksamkeit der Werke von der Frage der zwischen ihren Urhebern stattgefundenen Beeinflussung unabhängig ist, läßt sich für unseren Fall dadurch beweisen, wenn wir wir uns die extremsten Annahmen über die subjektive Originalität SMITHs und TURGOTs vergegenwärtigen und ihre Einflußlosigkeit bei der Beurteilung von objektiver Originalität dartun. Die Untersuchung der subjektiven Originalitätt kann, um gleich den allerextremsten denkbaren Gegensatz ins Auge zu fassen, doch selbst im Zeitalter der BACO-SHAKESPEARE-Hypothese kaum in den "Nachweis" auslaufen, SMITHs Meisterwerk sei in seinen Hauptzügen nicht sein Werk, sondern eine Inkognito-Arbeit TURGOTs oder umgekehrt, TURGOTs Hauptwerk sei ein apokryphes [unechtes - wp] Werk von SMITH. Aber nehmen wir selbst einen Augenblick eine dieser extremsten Hypothesen über die zwischen SMITH und TURGOT stattgehabte Beeinflussung als erwiesen an, so würde man doch die "Reflexionen" als ein fast wirkungsloses, die "Untersuchung" als ein ungeheuer wirksames Werk des angeblich identischen Autors anerkennen und zugeben müssen, daß ihre vergleichende Analyse einige Einsicht in die Eigenschaften gewähren müsse, welche ein wissenschaftlich wirksames von einem unwirksamen nationalökonomischen Werk unterscheiden. So bleibt die Vergleichung der objektiven Originalität oder Wirksamkeit zweier Werke auch bei den denkbar verschiedensten Meinungen über die subjektive Originalität oder Ursprünglichkeit ihrer Urheber ein Werk von annähernd derselben Tragweite und Zuverlässigkeit. Die sachliche Vergleichung der Werke ist also von allen denkbaren Ergebnisen der Untersuchung über die persönlichen Verhältnisse ihrer Urheber unabhängig, und wir können uns ohne die Vernachlässigung einer wesentlichen Vorfrage auf die wissenschaftlich weitaus bedeutsamere Vergleichung der Werke zwecks Ermittlung der Ursachen ihrer verschiedenen Wirksamkeit beschränken.

Es wird nun unsere Aufgabe sein, in den beiden nächsten Kapiteln das auf die sachliche Vergleichung der Werke eingeschränkte Problem seiner Tragweite und seiner Erforschbarkeit nach zu prüfen.
LITERATUR Siegmund Feilbogen, Smith und Turgot, Wien 1892
    Anmerkungen
    1) Den Zitaten in diesem Buch wurde für SMITH die MacCULLOCH'sche Ausgabe von Ward, Lock & Company (London), für TURGOT die bekannte Ausgabe von E. DAIRE in der "Collection des principaux économistes" zugrunde gelegt. Bezüglich der Bibliographie vgl. COSSA, "Introduzione allo studio dell'Economia Politica", 1892, Seite 286 und 308.
    2) "Neue Freie Presse" vom 6. und 8. Januar 1891 (Nr. 9470 und 9472).