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RICHARD HERBERTZ
Über Wert- und Geltens-Wirklichkeit
[Zusätze zur Heinrich Rickerts "Der Gegenstand der Erkenntnis"]

"Was heißt: gegeben? Wo etwas gegeben wird, da muß ein Gebender da sein und ein Nehmender und ein Übergehendes, das, im mit dem Nehmen zusammenfallenden Akt des Gebens, vom Gebenden auf den Nehmenden übergeht. Nach dem allein möglichen Sinn, den die Rede von Gegebenen in einer erkenntnistheoretischen Zusammenhang haben kann, müssen wir das Wirkliche als dieses Übergehende, als dieses Gegebene ansehen."

"Rickert meint, es sei ein bedenklicher Sprachgebrauch, den Bewußtseinsinhalt nicht als gleichbedeutend mit dem unmittelbar Gegebenen zu setzen. Ich finde gerade den entgegengesetzten Sprachgebrauch - also die Gleichsetzung - höchst bedenklich. Alles übrige Wirkliche mag vielleicht den Zusatz unmittelbar gegeben verdienen - nur allein der Bewußtseinsinhalt verdient es sicher nicht. Wir können geradezu definieren: Bewußtseinsinhalt ist dasjenige Wirkliche, dessen Wirklichkeit nicht unmittelbar gegeben, sondern erlebt ist und erst mittelbar, in der Selbstwahrnehmung, vorgefunden wird, erst in ihr - also erst mittelbar und oft recht unsicher - gegeben ist."

RICKERTs Buch "Der Gegenstand der Erkenntnis" ist in seiner neuen Ausgestaltung ein monumentales Werk von gleich hoher ideengeschichtlicher wie systematischer Bedeutung:  das  Lebenswerk HEINRICH RICKERTs! Der ideengeschichtliche Zusammenhang läßt sich mit wenigen Strichen skizzieren: Von KANTs tief schürfender Lehre von der transzendentalen Einheit der Apperzeption verläuft die historische Entwicklungslinie über FICHTEs absolutes Ich, BOLZANOs Wahrheits- und Sinnlehre, LOTZEs Geltungs- und Wertphilosophie zu WINDELBANDs "Bewußtsein überhaupt". Im Gegensatz zur traditionellen Darstellung, die - zum Teil verleitet durch Äußerlichkeiten, wie z. B. durch die übliche Rede von der "Windelband-Rickertschen Schule" - RICKERTs "Wertphilosophie" ganz nahe an die des Heidelberger Philosophen heranrückt, sehe ich gerade im Unterschied RICKERTs gegen WINDELBAND den bedeutsamsten ideengeschichtlichen Fortschritt seiner "Transzendentalphilosophie". Es wird in der Tat eine grundsätzliche Rechtfertigung der Philosophie als "allgemeiner Wertwissenschaft" erst möglich, wenn man die WINDELBANDsche Antinomie des theoretischen und praktischen Bewußtseins fallen läßte.

In systematischer Beziehung sehe ich die hohe Bedeutung des RICKERTschen Werkes darin, daß sein "transzendentaler Idealismus" alle Schwächen des subjektiven und objektiven Idealismus vermeidet und dadurch die in sich folgerichtigste und am schwersten zu widerlegende Form idealistischer Erkenntnistheorie darstellt. Die erwähnten Schwächen sehe ich vor allem in der Auffassung der "idealen Wirklichkeit" als der "vom Subjekt abhängigen", "bewußtseinsimmanenten", "nur im Bewußtsein gegebenen" oder ähnlich bestimmten Wirklichkeit. Solche auf das Subjekt und das Bewußtsein Bezug nehmende Wirklichkeitsbegriffe lassen sich ziemlich leicht als widerspruchsvoll oder sonst als unzulänglich erweisen. Wir werden sehen, daß dagegen RICKERTs Wirklichkeitsbegriff nicht an solche mehr oder weniger psychologisierende Bestimmungen geknüpft ist.

Der erste, darstellende Teil unseres Referates will zeigen, wie RICKERT seine grundlegende These vom Sollen als Gegenstand der Erkenntnis begründet; der zweite, kritische Teil wird versuchen nachzuprüfen, ob diese Begründungen als stichhaltig angesehen werden können.


A. Darstellender Teil

Aus einer besonderen Schrift unseres Verfassers (1) wissen wir bereits, daß er zwei Wege erkenntnistheoretischer Forschung unterscheidet: den transzendental-psychologischen und den transzendental-logischen. Der erstere geht vom Subjekt, der letztere vom Objekt aus. Beide, Subjekt und Objekt, müssen zu ihrem Recht kommen. Zu Anfang der Untersuchung wissen wir nicht, welcher Weg zu diesem Ziel der bessere ist. Der Weg vom Subjekt aus, der Weg der Selbstbestimmung, liegt uns jedenfalls zunächst näher. Wir beschreiten daher zuerst diesen Weg, in einer  Analyse des Erkenntnisaktes.  Diese Analyse ist aber keine psychologische im gewöhnlichen Sinne, d. h. sie frägt nicht, wie der Erkenntnisakt entsteht und was er ist, sondern sie ist eine transzendental-psychologische, d. h. sie frägt danach, was der Erkenntnisakt - unabhängig von allen Tatsachenfragen - leistet.  Das erste Ergebnis unserer Selbstbesinnung ist die Einsicht, daß Subjekt und Objekt einander fordern. Subjekt und Objekt aber können in dreifachem verstanden werden:
    1. Das psychophysische Subjekt, dem als Objekt (O1) die räumliche Außenwelt gegenübersteht.

    2. Das psychische Subjekt, d. h. das Bewußtsein  samt  seinem Inhalt, dem das bewußtseinstranszendente Objekt (O2) gegenübersteht.

    3. Das immanente Subjekt, das die Vorstellungen vorstellt, die Gefühle fühlt, die Wollungen will usw. Diesem Subjekt stehe die Vorstellungen, Gefühle, Wollungen usw. selbst als Inhalte, d. h. als immanente Objekte (O3) gegenüber.
RICKERTs ganze Transzendentalphilosophie ist nun nur zu verstehen, wenn man sich klar macht, daß er  von vornherein überzeugt ist,  unser erkenntnistheoretischer Zweifel richtet sich gegen  O2  und die Kernfrage der Erkenntnistheorie sei entsprechend: Gibt uns die transzendental-psychologische Analyse des Erkenntnisaktes Anlaß, unseren Zweifel aufzugeben und O2, d. h. eine bewußtseinstranszendente Realität, anzuerkennen? Wir werden nachzuprüfen haben, ob wir die  Gründe,  derentwegen sich unser Verfasser zu jener grundlegenden Voraussetzung berechtigt hält, anerkennen können. Welche Antwort wir auf dem subjektiven Weg auf die erkenntnistheoretische Kernfrage gewinnen werden, ist eigentlich schon am Anfang des Weges klar. Die transzendental-psychologische Analyse analysiert die Bewußtseins-Immanenz und kann daher prinzipiell nicht über diese hinaus zu  O2  gelangen. Jedes Hinausgehen über  O3  wäre eine  metabais eis allo genos  [Sprung in ein anderes Gebiet - wp]. Die sogenannte Immanenzphilosophie ist im Grunde nichts anderes als die zu einer "Weltanschauung" erweiterte Einsicht, daß eine Analyse der Bewußtseins-Immanenz, die sich wirklich innerhalb der Immanenz hält und keine unstatthafte Metabasis begeht, niemals zwingende Gründe zur Annahme von  O2  beibringen kann.  Setzt man von vornherein voraus,  daß die Bewußtseinsimmanenz  O3  das unmittelbar und sicher "Gegebene",  O2  dagegen  nicht  unmittelbar und sicher gegeben, vielmehr in seiner Existenz zweifelhaft und des Beweises bedürftig ist, dann ist freilich der Immanenzstandpunkt durchaus folgerichtig und unwiderleglich. Es kann dann keine andere "objektive Wirklichkeit" als die von  O3  geben. und diese Wirklichkeit ist dann keineswegs eine  realitas imaginaria,  sondern durchaus eine  realitas bene fundata.  RICKERT betont mit Recht, daß die Wirklichkeitslehre des Immanenzstandpunktes keineswegs ein "Traumidealismus" ist. Erkennt sie doch den immanent wirklichen Objekten den höchsten Grad von Wirklichkeit zu, der überhaupt denkbar ist: die Wirklichkeit meines wahrnehmenden, fühlenden, wollenden Ichs selbst!  O3  hat den gleichen Wirklichkeitscharakter und Wirklichkeitsgrad wie  S3  und das ist der höchste mögliche.

Der Immanenzphilosoph darf jedoch - will er sich nicht in unlösbare Widersprüche und Unzulänglichkeiten verwickeln - nicht bei stehen bleiben.  S3  ist ein individuelles oder doch empirisches Subjekt und ein durch  S3  bestimmter Wirklichkeitsbegriff haftet also sozusagen noch am Empirisch-Materiellen. Die auf ein  empirisches  Bewußtsein bezogene Bewußtheit = Wirklichkeit kann also nicht die Wirklichkeit in einem erkenntnistheoretischen Sinne sein. Denn alle erkenntnistheoretischen Probleme sind reine  Form probleme. Die Verschiedenheit von Erkenntnis und Wirklichkeit bezieht sich überall nur auf die  Form,  die der Inhalt in der Erkenntnis angenommen hat. Wir dürfen also nicht sagen: "Alles Wirkliche ist Bewußtseinsinhalt." Denn damit würden wir unseren Wirklichkeitsbegriff mit einer materialen Bestimmung beflecken. Wir müssen vielmehr sagen: Alles Wirkliche trägt die  Form  der Bewußtheit. Und diese Bewußtheit ist nicht auf ein empirisches Bewußtsein zu beziehen, sondern auf das vom Erkenntnistheoretiker zu postulierende transzendental "Bewußtsein überhaupt". Hier greift RICKERT einen WINDELBANDschen Grundbegriff auf und setzt sich damit in einen ideengeschichtlichen Zusammenhang mit der oben erwähnten, bis auf FICHTE und KANT zurückreichenden Tradition. Das, was er aus dem WINDELBANDschen "Bewußtsein überhaupt" macht und die begrifflichen Konstruktionen, zu denen er es als Grundlage verwendet, kennzeichnen den Fortschritt, den seine "Transzendentalphilosophie" innerhalb jener ideengeschichtlichen Entwicklung bedeutet.

Die Wirklichkeit des Wirklichen ist seine, auf ein transzendentales "Bewußtsein überhaupt" zu beziehende Bewußtheit. Damit verschwinden alle die Fragen, an denen der subjektive und objektive Idealismus scheitert: ist die Wirklichkeit bewußtseinsabhängig, bewußtseinsimmanent, subjektiv und dgl.? Die Bewußtheit, die die Wirklichkeit des Wirklichen ausmacht, ist nicht durch  S3  bestimmt, sondern steht, durch ihre Beziehung auf das transzendentale Bewußtsein überhaupt, jenseits von  S3  und  O3 ja überhaupt jenseits jeder S-O-Beziehung. Wir können das auch so ausdrücken: So wie wir beim Fortschritt vom Standpunkt  1)  zum Standpunkt  2) S1  auf die Objektseite geschafft haben, so wie wir dann weiterhin beim Fortschritt vom Standpunkt  2)  zum Standpunkt  3)  auch  S2  auf die Objektseite geschafft haben, so müssen wir nunmehr den letzten Schritt tun und auch  S3  noch auf die Objektseite schaffen. Das immanente Subjekt mit seinen sämtlichen Inhalten, d. h.  also das gesamte Wirkliche  steht jetzt auf der Objektseite. Seine Wirklichkeit ist seine auf ein transzendentales Bewußtsein überhaupt zu beziehende Bewußtheit.

Sind wir hier nun nicht am Ende? Dürfen wir hier nicht stehen bleiben? Sind wir doch auch die letzten Schwierigkeiten losgeworden, die sich aus der S-O-Beziehung ergeben! Wir haben auch  S3  auf die Objektseite gebracht und damit scheinbar einen erkenntnistheoretischen Standpunkt von denkbar höchstem Grad der "Objektivität" erreicht. Wohin könnte der vom Subjekt ausgehende, transzendentalpsychologische Weg der Erkenntnistheorie noch weiter führen? RICKERT erklärt, wer so frägt, hat noch keine Ahnung vom  tatsächlichen  Problem der Erkenntnistheorie.  Dieses fängt vielmehr jetzt erst an.  Das transzendente  O2 das heißt das bewußtseinstranszendente Wirkliche, sind wir los. Unsere Eingangs gestellte Frage nach der Anerkenntnis von  O2  ist endgültig verneinend beantwortet. Sind wir aber damit das Problem des Transzendenten überhaupt los? Durchaus nicht! Im Gegenteil, es gilt: "Das Transzendente ist tot, es lebe das Transzendente!" Nichts ist falscher als zu glauben, wir dürften beim "reinen Objektstandpunkt" stehen bleiben. Denken wir doch daran, daß wir von dem Satz ausgegangen sind, daß  S  und  O  einander fordern. Das psychophysische und das psychische Subjekt freilich müssen auf die Objektseite geschafft werden. Aber damit ist nicht  jedes S  ausgeschaltet. Das eigentliche erkenntnistheoretische  S  bleibt. Wollten wir auch dieses ausschalten, so wäre eine Erkenntnistheorie, ja überhaupt irgendeine Wissenschaft unmöglich. "Wir hätten es überall nur noch mit dem Verhältnis der Objekte zueinander zu tun, und dann müßte ein  Welträtsel  konstatiert werden, wo verstanden werden soll, wie ein  Objekt  es anfängt, ein anderes Objekt zu  erkennen.  Dadurch, daß man das Subjekt  ignoriert  oder es für ein Objekt erklärt, schafft man das in ihm enthaltene Problem nicht aus der Welt. Die erkenntnistheoretische Frage kann man vom reinen Objektstandpunkt aus niemals beantworten." (Seite 126) Das erkenntnistheoretische Subjekt kann nur durch irgendeine nähere Bestimmung des "Bewußtseins überhaupt" gewonnen werden. Der verhängnisvolle Fehler des immanenten Idealismus, durch den dieser nicht über die Immanenz hinauskam, lag nun darin, daß er -  wenn  er ein Bewußtsein überhaupt annahm - dieses als  vorstellendes  Bewußtsein überhaupt bestimmte. Solange man so verfuhr, konnte man prinzipiell nicht über den Immanenzstandpunkt hinauskommen und das transzendente erkenntnistheoretische Objekt niemals gewinnen. Denn einem  vorstellenden  Bewußtsein steht - selbst wenn man es als "Bewußtsein überhaupt" faßt - stets ein  Wirkliches  als Objekt gegenüber. Ein Wirkliches aber kann nicht Objekt im erkenntnistheoretischen Sinn, nicht der gesuchte "Gegenstand der Erkenntnis" sein. Wo ist also dieser Gegenstand zu finden? Wir brauchen den subjektiven Weg nicht zu verlassen, um den "Gegenstand der Erkenntnis" zu gewinnen. Freilich, eine Analyse der  vorstellenden  Erkenntnis wird uns nie zu diesem Gegenstand führen, selbst eine transzendentalpsychologische Analyse nicht. Dagegen führt uns eine transzendentalpsychologische Analyse des  Urteils  zum Ziel. In dieser Analyse überbrückt der transzendentale Idealist die Kluft, die für jede andere Form des Idealismus unüberbrückbar ist, die Kluft zwischen dem Wirklichen und dem "unwirklichen" Gegenstand der Erkenntnis. Das Urteil ist nicht nur eine psychische Funktion wie die Vorstellung, sondern es  leistet  etwas, und diese Leistung vermag keine Psychologie zu erklären. Jedes Urteil hat eine Bedeutung, einen  "Sinn".  Urteile ich:  S  ist  P,  so kommt in dem durch die Kopula ausgedrückten Zusprechen etwas zum bloßen Vorstellen des P-seins von  S  hinzu, das mehr ist als ein bloßes Erkennen. es ist ein  An erkennen, in dem wir ein uns durch den "Gegenstand der Erkenntnis"  aufgegebenes  Sollen erfüllen. Nunmehr ist das Wirklichkeitsproblem gelöst, soweit es überhaupt auf transzendentalpsychologischem Weg gelöst werden kann. Diese Lösung liegt in der Verbindung des Wirklichkeitsproblems mit dem des Urteils sinnes.  "Wir erkennen Wirkliches gerade dadurch, daß wir Unwirkliches anerkennen." (Seite 223) Unwirkliches? Allerdings! Denn die Sphäre des Wirklichen ist ausgefüllt durch all das, was wir in unserem letzten, die Erkenntnistheorie vorbereitenden Schritt "auf die Objektseite geschafft" hatten. Das Wirkliche kann also nicht der gesuchte Gegenstand der Erkenntnis sein. Dieser liegt vielmehr in der  toto genere  [völlig - wp] verschiedenen Sphäre des Unwirklichen. Das wirkliche immanente Sein ist unserem Erkennen "gegeben", das transzendente Sollen, der unwirkliche Gegenstand der Erkenntnis dagegen ist "aufgegeben". Wem aufgegeben? Natürlich nicht irgendeinem  empirischen  Bewußtsein, sondern dem "urteilenden Bewußtsein überhaupt". Dieses ist die letzte und höchste Abstraktion, zu der sich die transzendentalpsychologische Analyse durchzuarbeiten vermag. Aber ist hier nicht ein Widerspruch? Wenn das urteilende Bewußtsein überhaupt das Seiende aufgrund des transzendenten Sollens anerkennt, bejaht, so  antwortet  es doch auf eine  Frage.  Denn alles Bejahen ist doch Antworten auf Fragen. Antworten aber kann - so meinte man zunächst - doch nur ein empirisches, ja im Grunde nur ein individuelles Subjekt. RICKERT entgeht dieser Schwierigkeit durch die sublime erkenntnistheoretische Konstruktion eines "im  fraglosen  Ja anerkennenden, urteilenden Bewußtsein überhaupt". Durch diesen Begriff wird die Position des transzendenten Idealismus gerettet, freilich nur für diejenigen, die dem Verfasser bis zu dieser Abstraktion zu folgen vermögen, bei der alle Analogien psychologischer, ja überhaupt realwissenschaftlicher Begriffsbildung versagen, ohne daß FICHTEs intellektuelle Anschauung oder irgendeine der beliebten modernen Formen der "Wesensschauung" oder Intuition (gegen die RICKERT vielmehr energisch Stellung nimmt) helfend einspringen dürfte und könnte.

Es bleibt uns nun noch der zweite, der  objektive Weg  zu betrachten übrig, der zum gleichen Ziel führen muß. Die transzendentalpsychologische Analyse der Erkenntnis des Gegenstandes der Erkenntnis ergänzt werden. Haben wir doch im Grunde auf dem subjektiven Weg die Begriffe transzendentes Sollen, Anerkennen usw. nicht sowohl aus der psychologischen Analyse des Erkenntnisaktes  abgeleitet  als vielmehr - -  vorausgesetzt!  RICKERT pocht ausdrücklich auf diese den Psychologismus vermeidende  petitio principii  [es wird vorausgesetzt, was erst zu beweisen ist - wp], die auf den objektiven Weg hinweist. Der objektive Weg führt zum  Wert so wie der subjektive zum Sollen führte. Wert und Sollen sind sicher vom Standpunkt des psychologischen Subjekts aus verschieden. Aber auch wenn man von jeder Beziehung auf dieses Subjekt absieht und den "reinen" erkenntnistheoretischen Standpunkt einnimmt, bleiben sie verschieden. Freilich bildet das Erfassen dieser Verschiedenheit eine der schwierigsten Aufgaben, die der Verfasser seinen Lesern stellt.

Sind wir dem Verfasser auf dem subjektiven und objektiven Weg bis zu Ende gefolgt, dann steht das fertige Weltbild seines transzendentalen Idealismus in imponierender Geschlossenheit und Vollendung vor unserem geistigen Auge. Die Philosophie als Wertlehre löst sich von der Seinsforderung der Wissenschaften ab. Eine Auflösung der Philosophie in einen Inbegriff von Einzelwissenschaften, wie sie mancher Forscher aufgrund der gesamten Geschichte der Philosophie und insbesondere auch aufgrund bekannter jüngster wissenschaftlicher Ereignisse und Erkenntnisfortschritte befürchtete, erscheint nunmehr prinzipiell ausgeschlossen. Der Philosoph ist bei der Teilung der Welt nicht zu kurz gekommen. Die Seinsforschung der Einzelwissenschaften hat die Welt des Wirklichen unter sich aufgeteilt. Dem Philosophen aber bleibt die Welt des "Unwirklichen" und der Philosophie fällt wieder ihre alte klassische Rolle als "Mutter aller Wissenchaft" zu, die ihr in jüngster Zeit scheinbar endgültig genommen worden war. Ist doch das unwirkliche transzendente Sollen und der Sinn seiner Anerkennung, den der Philosoph zu ergründen trachtet, das logische Prius zu jener immanenten Wirklichkeit, um deren Erforschung sich die Wissenschaften heiß bemühen.


B. Kritischer Teil

Die immanente Kritik wird RICKERT nur in wenigem zu berichtigen haben. Kann aber auch die transeunte [übergreifende - wp] Kritik mit ihm einverstanden sein? Sind seine grundlegenden Voraussetzungen einwandfrei sichergestellt? Leider nein! Auch der transzendentale Idealismus ist, wie die meisten großen erkenntnistheoretischen "Systeme", eine geniale  petitio principii.  RICKERT ist freilich "voraussetzungslos" in dem einzigen Sinn, in dem ein erkenntnistheoretischer Forscher dies sein kann: d. h. er läßt keine Voraussetzung ungeprüft, er fragt überall, wo überhaupt gefragt werden kann. Aber eben mit dem  Ergebnis  seiner Prüfung der Voraussetzungen können wir uns nicht einverstanden erklären.

Der Kritik bieten sich hier verschiedene Ansatzpunkte. Wir wollen denjenigen wählen, der am offensten zutage tritt. RICKERT vergleicht prüfend die Voraussetzungen des Realismus, der eine bewußtseinstranszendente reale Wirklichkeit  (O2 annimmt, mit denen des Idealismus, welcher  O2  leugnet und von  O3  als dem unmittelbar sicher "Gegebenen" ausgeht. RICKERT findet, daß die letzteren Voraussetzungen die begründeteren sind; daß also der subjektie Weg der Erkenntnistheorie von eben diesen Voraussetzungen ausgehen muß und daß dem  Realismus  die Beweislast für seine Annahme von O2 zufällt.' Dieses Prüfungsergebnis bildet das Fundament, das den ganzen transzendentalen Idealismus RICKERTs trägt. Eben dieses Prüfungsergebnis aber müssen wir entschieden anfechten! Ist uns tatsächlich ein in der Form der Bewußtheit stehendes Wirkliches unmittelbar sicher "gegeben"? Ist dieses Bewußtheits-Wirkliche faktisch das Letzte, Unmittelbarste, auf das wir "stoßen", das wir unmittelbar "vorfinden" usw., während das bewußtseinstranszendente Wirkliche des Realisten erst als wirklich  bewiesen  oder erwiesen werden muß? Ich bin überzeugt, daß nur eine ungenügende transzendental-psychologische Analyse des "Gegebenen" - eine Analyse, die (trotz aller Feindschaft RICKERTs gegen die Psychologismus) unbewußt in psychologistischen Vorurteilen befangen bleibt - zu dieser Ansicht führen kann. Was heißt:  "gegeben"?  Wo etwas gegeben wird, da muß ein Gebender da sein und ein Nehmender und ein Transiens [Übergehendes - wp], das, im mit dem Nehmen zusammenfallenden Akt des Gebens, vom Gebenden auf den Nehmenden übergeht. Nach dem allein möglichen Sinn, den die Rede von "Gegebenen" in einer erkenntnistheoretischen Zusammenhang haben kann, müssen wir das Wirkliche als dieses Transiens, als dieses Gegebene ansehen. (2) Gerade auf ein in der Form der Bewußtheit stehendes Wirkliches passen nun aber alle diese Bestimmungen sicher  nicht,  die der Gegebenheitsbegriff fordert. Ist dieser Begriff überhaupt auf ein Wirkliches anwendbar, so doch sicher  nicht  auf ein Wirkliches, dessen Wirklichkeit  Bewußtheit  ist. Wenn ein empirisches Subjekt ein Bewußtseinserleben, z. B. ein Wahrnehmen erlebt, so ist ihm, im Erleben selbst, die Wirklichkeit dieses Erlebnisses sicher  nicht  "gegeben", weder nach dessen funktionaler noch nach dessen inhaltlicher Seite. Dürfen wir hier überhaupt von einem "Gegebensein" sprechen, so können wir höchstens sagen, daß dem wahrnehmenden Subjekt im Wahrnehmen der wirkliche bewußtseinstranszendente  Gegenstand der wahrgenommen wird, gegeben ist. Damit das Subjekt sein Wahrnehmen selbst als "gegeben vorfinden", auf dieses Wahrnehmen "stoßen" kann, dazu bedarf es eines besonderen Aktes der Reflexion, der über den Erlebnisakt selbst hinausgeht. Wenn ich ein Rosenwahrnehmen erlebe, so ist mir, in diesem Erleben - wenn überhaupt irgendetwas, so allein - die bewußtseinstranszendente  wirkliche Rose gegeben, nicht  dagegen das Rosenwahrnehmen, weder als Rosen wahrnehmen  (funktionale Seite) noch als  Rosen wahrnehmen (inhaltliche Seite). Erst in der Selbstwahrnehmung konstatiere ich, daß ich ein Erlebnis von diesem bestimmten Funktionscharakter und von diesem bestimmten Inhalt gehabt habe.

RICKERT hat vollständig recht: von einer "Realisierung", wie sie der Realist KÜLPE annimmt (d. h. von einem "Verfahren, um in der Erfahrung und aus ihr heraus ein wahrhaft Seiendes oder Gewesenes zu erkennen"), kann eigentlich nur ein Idealist, darf dagegen kein Realist sprechen. Der folgerichtige Realist muß sagen: Ich habe eine Realisierung nicht nötig. Will er durchaus die Termini "Erfahrung" und "gegeben" benutzen - besser wäre es, er würde sie vermeiden, um Problemverschlingungen zu verhüten; vgl. meine "Prolegomena zu einer realistischen Logik" - so kann er sagen: In der Erfahrung ist mir die bewußtseinstranszendente Wirklichkeit unmittelbar sicher "gegeben".

Da die RICKERTsche Lehre von der Bewußtheit als Form des Wirklichen nur durch eine analogische Übertragung von Folgerungen aus der empirisch-psychologischen Gegebenheitsthese aufs Transzendentalpsychologische gewonnen wird, diese These selbst aber unzulänglich ist, so kann auch jene Lehre nicht mehr als zureichend begründet angesehen werden.

Der erkenntnistheoretische Zweifel richtet sich nur dann gegen  O2 die Beweislast fällt nur dann dem  O2  Annehmenden zu, wenn die Gegebenheitsthese im Sinne RICKERTs ausgelegt werden darf. RICKERT setzt voraus, daß man erst  beweisen  muß, das Sein der Objekte sei mehr als ihr O3-Sein. Diese Voraussetzung ist aber nur dann gerechtfertigt, wenn die Analyse uns  O3  selbst als unmittelbar sicher "gegeben" "vorgefunden" oder dgl. ergeben würde. Das ist aber gerade  nicht  der Fall. Das vorstellende, fühlende, wollende Subjekt  erlebt  zwar seine Vorstellungen, Gefühle und Wollungen. Dagegen bedarf es erst einer verwickelten Reflexion, um diese seine Erlebnisse "vorzufinden", um auf sie zu "stoßen". Das real Wirkliche findet das Subjekt vor; dieses allein ist ihm unmittelbar sicher "gegeben", in dem allein möglichen Sinn, den das Wort "gegeben" in einem solchen Zusammenhang haben kann. Die Beweislast fällt dem  O2-Leugnenden, O3  als unmittelbar sicher gegeben" Behauptenden zu, nicht dem O2-Behauptenden. Es ist also zumindest eine  petitio principii ohne weiteres dem Realisten die Beweislast aufzubürden.

RICKERT fragt (Seite 111): Wie will man die Unmittelbarkeit und Gegebenheit von der Bewußtheit scheiden?" So kann nur fragen, wer die Begriffe  Unmittelbarkeit  und  Gegebenheit  ungenügend analysiert hat. Jede tiefer dringende Analyse zeigt vielmehr, daß vielleicht alles Mögliche, sicher aber gerade  nicht  die "Bewußtheit" oder das in der Form der Bewußtheit Stehende als unmittelbar gegeben bezeichnet werden kann. RICKERT meint, es sei "ein bedenklicher Sprachgebrauch", den Bewußtseinsinhalt  nicht  als gleichbedeutend mit dem "unmittelbar Gegebenen" zu setzen. Ich finde gerade den entgegengesetzten Sprachgebrauch - also die Gleichsetzung - höchst bedenklich. Alles übrige Wirkliche mag vielleicht das Epitheton [Zusatz - wp] "unmittelbar gegeben" verdienen - nur allein der Bewußtseinsinhalt verdient es sicher  nicht.  Wir können geradezu definieren: Bewußtseinsinhalt ist dasjenige Wirkliche, dessen Wirklichkeit  nicht  "unmittelbar gegeben", sondern  erlebt  ist und erst mittelbar, in der Selbstwahrnehmung, "vorgefunden" wird, erst in ihr - also erst mittelbar und oft recht unsicher - "gegeben" ist.

RICKERT bekämpft lebhaft den "reinen Objektstandpunkt" und erklärt, daß von ihm aus die erkenntnistheoretische Frage niemals beantwortet werden kann. Das wäre durchaus richtig, wenn die Objekte, deren Inbegriff, von diesem Standpunkt aus, das Wirkliche ausmacht, faktisch in der Form der Bewußtheit ständen, in dieser Form "unmittelbar gegeben" wären. Das ist jedoch nicht der Fall und der reine Objektstandpunkt erscheint somit unwiderlegt, zumal wenn man einsieht, daß nicht die  O3 sondern die  O2  "gegeben" sind und daß "O2-Objektivität" und "Wirklichkeit" Wechselbegriffe sind.

RICKERT betont oft, daß die Einteilung des Wirklichen in Physisches und Psychisches eine solche nach der Art des psychologischen Ursprungs unserer  Erkenntnis  des Wirklichen sei, daß dagegen der  erkenntnistheoretische  Wirklichkeitsbegriff  jenseits  dieser Zweiteilung steht. Ich stimmt mit ihm hierin völlig überein und glaube sogar, daß man diese Jenseitigkeit gegenüber allen, dem Gesichtspunkt der Wirklichkeits erkenntnis  entnommenen Einteilungen geradezu zur  Definition  des "reinen" logisch-erkenntnistheoretischen Wirklichkeitsbegriffs benutzen kann: Das Wirkliche in einem logisch-erkenntnistheoretischen Sinn ist unabhängig vom Ursprung und von der Beschaffenheit unserer Wirklichkeits erkenntnis.  Es ist das logische Prius zu allen solchen Einteilungen. Ich würde dies in meiner (freilich hier vielleicht nicht ganz unmißverständlichen) streng realistischen Sprache kurz so ausdrücken, daß ich sage: das logisch-erkenntnistheoretische Wirkliche ist  ohne  Beschaffenheit (3). Dieser Satz aber läßt sich (als Urteil vollständiger Inhaltsgleichheit) auch umkehren: dasjenige Wirkliche, dem wir keine der psychischen oder physischen Eigenschaften oder Bestimmtheiten zuschreiben dürfen, wie sie dem unter dem Gesichtspunkt unserer Wirklichkeits erkenntnis  gefaßten Wirklichen zukommen, ist - "reines" Wirkliches in einem logischen Sinn. RICKERTs  Gegenstand der Erkenntnis - das Sollen, der Wert - ist  auch  ein solches "Etwas", das keine von den Bestimmungen trägt, die erst dem nach unserer Wirklichkeits erkenntnis  gefaßten Wirklichen zukommen. Die "Reiche" des "Geltenden" und des "Seienden" dürfen daher nicht getrennt werden. Beide stehen in der gleichen Form der Wirklichkeit, die ich erst mit Rücksicht auf unser erkennendes und wertendes  Bewußtsein - also psychologisierend - in Sein und Gelten trenne. Den "Gegenstand der Erkenntnis" als "unwirklich" zu bezeichnen, ist gewiß kein "bedenklicher Sprachgebrauch". Mehr als das! Ich gehe nicht so weit, den "unwirklichen" Gegenstand der Erkenntnis mit VOLKELT "in das Reich der Spinnweben und Seifenblasen" zu verweisen (das wäre - man gestatte den Scherz - schon deswegen "unsachlich", weil ja Spinnweben und Seifenblasen auch "etwas Wirkliches" sind). Ich vermeide auch die Unhöflichkeit eines WILLIAM JAMES, der hier von "unaussprechlicher Trivialität" und von "phantastischer Ideenflucht" spricht. Aber ich meine und wage auszusprechen, daß die These vom "unwirklichen" Sollen und Wert gewaltsam einen unvollziehbaren Gedanken (den an "Unwirkliches") dennoch zu vollziehen sucht, um in der Form des "transzendentalen" Idealismus die Position des Idealismus gegenüber dem sonst unwiderstehlichen Angriff des Realismus zu retten.

Ich muß bei der "Philosophie des Unwirklichen" immer an jenen Berichterstatter denken, der - darauf aufmerksam gemacht, daß seine Aussagen nicht mit den Tatsachen übereinstimmen - kühn antwortete: Umso schlimmer für die Tatsachen! Zeigt es sich, daß sich durch eine Philosophie als Versuch einer wissenschaftlichen Gesamtauffassung des  Wirklichen - wie man sie auch drehen und wenden mag - die Position des Idealismus in keiner Weise retten läßt, nun - "umso schlimmer für das Wirkliche!" Dann wird eben das Sollen und der Wert - "ehrliche Wirklichkeiten", wie VOLKELT sagen würde, wirkliche Sachverhalte, wie ich sage - flugs in eine eigens zu diesem Zweck zu "postulierende" Sphäre des "Unwirklichen" versetzt. Ich meine, daß diese Versetzung ungerechtfertigt ist und daß wir den Namen "Wirklichkeit", den wir dem "Seienden" zugestehen, dem Geltenden nicht versagen dürfen. Dafür kann ich mich sogar auf einen Wertphilosophen selbst berufen, der anscheinend das Unhaltbare der "Unwirklichkeits"-Position halb und halb eingesehen hat, auf die Worte WINDELBANDs:
    "Es bedeutet doch gerade die Unabhängigkeit des  Geltens  von allen psychischen Vorgängen, in denen es anerkannt wird, ein Maß von eigenem Bestand, für das wir kein besseres Wort haben, als  höchste Wirklichkeit  oder  Realität." 
LITERATUR - Richard Herbertz, Über Wert- und Geltens-Wirklichkeit, Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, Bd. 161, Leipzig 1916
    Anmerkungen
    1) HEINRICH RICKERT, Zwei Wege der Erkenntnistheorie, Kantstudien, Bd. 14, Halle/Saale 1909
    2) Während das Bewußtseinssubjekt als Nehmender, irgendein meta-transzendentes "Absolutum" oder "Ding-ansich" als Gebender in Betracht kommt.
    3) Genauer: Das logische Wirkliche ist ohne Beschaffenheit  überhaupt,  das erkenntnistheoretische Wirkliche ohne  besondere  Beschaffenheiten.