tb-1ra-2SchirrenSchneiderLowtskyBlochSchlunke    
 
HEINRICH RICKERT
Die Grenzen der
naturwissenschaftlichen Begriffsbildung

[ 1 / 29 ]

Einleitung
Erstes Kapitel - Die begriffliche Erkenntnis der Körperwelt
I. Die Mannigfaltigkeit der Körperwelt
II. Die Bestimmtheit des Begriffs
III. Die Geltung des Begriffs
IV. Dingbegriffe und Relationsbegriffe
V. Die mechanische Naturauffassung
VI. Beschreibung und Erklärung

Zweites Kapitel - Natur und Geist
Drittes Kapitel - Natur und Geschichte
Viertes Kapitel - Die historische Begriffsbildung
Fünftes Kapitel - Naturphilosophie und Geschichtsphilosophie

"Jede quaestio facti wird für uns zu einer quaestio juris, jedes Problem der allgemeinen Welt- und Lebensanschauung verwandelt sich für uns in ein Problem der Logik, der Erkenntnistheorie."

Einleitung

 
Im wissenschaftlichen Leben unserer Zeit nehmen historische Untersuchungen einen breiten Raum ein. Kommt in der Philosophie der Gegenwart diese Tendenz ebenfalls zum ihr gebührenden Ausdruck? Man hat es behauptet. In einer vielgelesenen Schrift unserer Tage, die nicht nur durch ihren Inhalt, sondern auch durch ihren äußeren Erfolg für den heutigen Zustand der philosophischen Wissenschaft in Deutschland recht charakteristisch ist, wird unter den Richtungen, in denen sich diese Philosophie gegenwärtig zu bewegen schein, auch die Richtung auf die Geschichte genannt, ja, es wird diese Richtung sogar als ein Zug bezeichnet, der der ganzen Philosophie des neunzehnten Jahrhunderts, im Gegensatz zur voraufgegangenen mathematisch-naturwissenschaftlichen Periode das Gepräge gibt. (1) Ist wirklich in der Philosophie der Gegenwart schon viel von diesem Zug zu merken? Oder sollte in der angeführten Behauptung nicht mehr ein Wunsch, als eine Tatsache zum Ausdruck gekommen sein?

Für die deutsche Philosophie in den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts trifft zwar das Gesagte gewiß zu. Niemals vielleicht ist eine Philosophie so historisch gewesen, wie die des deutschen Idealismus. Kann man aber sagen, daß es noch weiter zutrifft? Auch in Frankreich entwickelte ungefähr zur selben Zeit, als HEGEL seine Philosophie der Geschichte vortrug, COMTE Gedanken, die vor allem der Geschichte ihren Platz im Ganzen der wissenschaftlichen Erkenntnis anweisen und ihre richtige Behandlung feststellen wollten. Aber ist es hier nicht, trotz manches wertvollen Ansatzes, im Großen und Ganzen beim bloßen Wollen geblieben? Zumindest wird man nicht behaupten können, daß die Wirksamkeit der COMTEschen Gedanken geeignet war, die Richtung auf die Geschichte im Gegensatz zu der voraufgegangenen naturwissenschaftlichen Periode zu stärken. Und darauf kommt doch hier alles an. Bis auf den heutigen Tag sind historische und naturwissenschaftliche Denkart entschiedene Gegensätze. Das übergreifende, sie vereinigende Prinzip hat COMTE gewiß nicht gefunden und da konnte sein direkter und noch mehr sein, hauptsächlich durch englische Autoren vermittelter, indirekter Einfluß nur dazu beitragen, in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts auch in Deutschland wieder völlig den großen historischen Zug zu verdrängen, den die Philosophie des deutschen Idealismus gezeigt hatte. Nur die Geschichtsforschung trat die Erbschaft dieses Idealismus an und nahm einen mächtigen Aufschwung. Die Philosophie selbst aber, soweit sie für das allgemeine Geistesleben in diesen Zeiten überhaupt noch irgendeine Bedeutung hatte, kam wieder ganz und gar unter den Einfluß der Naturwissenschaften. Die Worte weiterblickender Denker verhallten ungehört.

Und nun gar die Philosophie der Gegenwart? Bedürfte es für den absolut unhistorischen Charakter des die weitesten Kreise heute beherrschenden philosophischen Geistes noch eines Beweises, so würde eine Hindeutung auf die Tatsache genügen, daß von den deutschen Philosophen in den letzten Jahrzehnten vor allem der beachtet und gelesen worden ist, dessen Verständnislosigkeit für geschichtliches Leben kaum zu überbieten sein dürfte. Das Erlahmen des historischen Interesses in der Philosophie einerseits, die Vorliebe für die Naturwissenschaft oder für die naturwissenschaftliche Phrase andererseits, waren notwendige Vorbedingungen für den späten Erfolg SCHOPENHAUERs, der Gedanken des deutschen Idealismus nur soweit zu Gehör brachte, als er sie in einer ebenso unglücklichen, wie dem Geschmack der Zeit zusagenden physiologischen Terminologie reproduzierte. Und auch der Erfolg, den die phantastischen und mystischen Elemente der SCHOPENHAUERschen Philosophie gefunden haben, darf am allerwenigsten über die Situation hinwegtäuschen: "Alle Schwärmerei ist und wird notwendig Naturphilosophie", das hat schon FICHTE richtig erkannt. (2)

So mag man es denn beklagen oder sich darüber freuen, der Tatsache wird man sich nicht verschließen dürfen: Die historischen Wissenschaften haben auf die Philosophie der neueren Zeit nur einen geringen Einfluß ausgeübt, von einer Richtung auf die Geschichte im Gegensatz zur Naturwissenschaft findet sich, von wenigen Ausnahmen abgesehen, im philosophischen Bewußtsein gerade unserer Zeit nur sehr wenig. Die Meinung vielmehr, daß alle echte Wissenschaft im Grunde Naturwissenschaft sei, der Glaube an eine "naturwissenschaftliche Weltanschauung" ist wieder einmal allgemein verbreitet.

Allerdings, die unbesonnenste Form, in der eine im Wesentlichen von naturwissenschaftlichen Interessen beeinflußte Philosophie auftreten kann, die Metaphysik des Materialismus, darf wohl als eine schon ziemlich überwundene Episode in der geistigen Entwicklung unseres Jahrhunderts angesehen werden und heute wenigstens hat die Meinung, daß die Welt im Wesentlichen eine Körperwelt sei und alles seelische Leben nur eine besondere Form körperlicher Veränderung darstelle, in Kreisen, die eine ernsthafte Beschäftigung mit philosophischen Problemen anstreben, so gut wie keine Geltung mehr. Im Gegenteil, die Ansichten über das Verhältnis von seelischen und körperlichen Vorgängen werden von einem Dualismus beherrscht, wie DESCARTES ihn nicht schärfer ausgebildet hat, einem Dualismus, der durch den landläufigen Spinozismus doch nur als scheinbar überwunden angesehen werden kann. Die Eigenart des Seelenlebens wird jedenfalls anerkannt, die totale Unvergleichbarkeit der psychischen Vorgänge mit den physischen gilt als völlig selbstverständlich. Der Glaube aber an die unbedingte und ausschließliche Herrschaft der Naturwissenschaften und damit der Glaube an eine naturwissenschaftliche Philosophie ist hierdurch nicht erschüttert und es ist auch nicht einzusehen, wie er dadurch allein erschüttert werden könnte. Er ist von materialistischen Spekulationen ganz unabhängig. Gerade Männer der Naturwissenschaft sind es, die für weitere Kreise zu anerkannten Autoritäten für die Unhaltbarkeit der Metaphysik des Materialismus geworden sind. Je mehr man den Materialismus ablehnt, umso mehr hält man aber zugleich fest an der naturwissenschaftlichen Methode. Die Erfolge, die mit ihrer Hilfe auf dem Gebiet der körperlichen Natur errungen sind, scheinen eine Bürgschaft dafür zu bieten, daß man auch bei der Erforschung aller anderen Vorgänge naturwissenschaftliche verfahren dürfe und müsse. Eine Naturwissenschaft des geistigen Lebens, eine naturwissenschaftliche Psychologie gilt als die einzige wissenschaftliche Psychologie.

Diese Meinung bestimmt nun auch die Auffassung vom Wesen der Geschichtswissenschaft und muß sie bestimmen, denn da man die der Erfahrung zugängliche Wirklichkeit durch die Einteilung in körperliche und seelische Vorgänge für erschöpft hält, so meint man, weil die Psychologie eine Naturwissenschaft geworden ist, mit gutem Grund behaupten zu können, daß es eine andee als die naturwissenschaftliche Methode für die Erfahrungswissenschaften überhaupt nicht geben könne. Nun ist die Geschichte eine Wissenschaft, die zwar, wie man allgemein zugibt, es vor allem mit geistigen Vorgängen zu tun hat, die aber doch auch eine Erfahrungswissenschaft ist. Soll sie daher eine wahre Wissenschaft sein, so wird sie sich ebenfalls endlich der in den Naturwissenschaften erprobten Methode zu bedienen haben. Sie wird es jetzt können, es wird eine wissenschaftliche Behandlung des historischen Lebens ums so sicherer möglich sein, je mehr die Erforschung des menschlichen Seelenlebens nach naturwissenschaftlicher Methode fortgeschritten ist.

Da kann man nun allerdings auch sagen, daß, insofern man in einer naturwissenschaftlichen Psychologie das unfehlbare Mittel zu besitzen glaubt, auch die Geschichte zum Rang einer exakten Wissenschaft zu erheben, eine Erforschung des geschichtlichen Lebens vielleicht noch niemals mit größerer Zuversicht unternommen worden ist, als in unseren Tagen. Aber doch nur deswegen herrscht diese Zuversicht, weil man die Geschichte selbst zu einer Naturwissenschaft glaubt machen zu können und ob das Vorhandensein solcher Überzeugungen mit Recht als eine Richtung der Philosophie auf die Geschichte bezeichnet werden kann, das dürfte doch zumindest als ein Problem behandelt werden. Wer Geschichte und Naturwissenschaft als Gegensätze ansieht, für den wird sich vielmehr gerade hier am deutlichsten zeigen, daß das philosophische Denken unserer Tage unhistorisch ist, auch dort unhistorisch ist, wo ein lebhaftes Interesse für die Erforschung des geschichtlichen Lebens zu bestehen scheint.

Es ist nicht notwendig, die heutige Denkart genauer zu kennzeichnen. Im Allgemeinen hat es für den, welcher über philosophische Probleme zur Klarheit zu kommen wünscht, wenig Zweck, darüber nachzudenken, welche philosophischen Strömungen in seiner Zeit das Bewußtsein weiterer Kreise beherrschen. So ist es auch völlig überflüssig, Vermutungen darüber anzustellen, ob die gekennzeichnete Tendenz der modernen Wissenschaft in der Zunahme begriffen ist oder ob sie ihren Höhepunkt bereits überschritten hat. Was kommen wird, hängt von dem ab, was die einzelnen Männer der Wissenschaft tun werden. Daß der Glaube an einen allgemeinen Zeitgeist, für den das einzelne Individuum nur Organ ist, allein aus einer einseitig naturwissenschaftlichen Auffassung des Lebens entspringen kann, das ist einer der Sätze, die im Folgenden begründet werden sollen. Kein Verständiger wird sich also scheuen, seine Ansichten auszusprechen, auch wenn er glaubt, daß die allgemeine Geistesströmung der Zeit für die Anerkennung seiner Gedanken nur wenig günstig gestimmt ist. Trotz alledem wird in einer Hinsicht auch er von dieser allgemeinsten Geistesströmung beeinflußt werden, insbesondere dann, wenn er den Versuch macht, seine Gedanken für andere niederzuschreiben. Das, was er auszusprechen hat, wird die Form eines Kampfes gegen die herrschenden Meinungen annehmen oder er wird wenigstens einen solchen Kampf sich zum Ausgangspunkt seiner Untersuchungen wählen. Vor allem wird es ihm darauf ankommen, die Schranken der wissenschaftlichen Richtung, die nichts neben sich dulden will, aufzuzeigen. Damit ist dann gewissermaßen das Feld frei geworden. Ist ihm das gelungen, so wird er am ehesten hoffen dürfen, auch für die Gedanken Gehör zu finden, die ihm am Herzen liegen. So wird in unserem Fall auch der zunächst von der Naturwissenschaft sprechen müssen, der meint, daß es für die Philosophie noch wichtigere Dinge, als sie im geistigen Leben gibt.

Solchen Überlegungen verdanken die folgenden Ausführungen die Form, in der sie auftreten. Aus der Überzeugung, daß der Mangel an Verständnis für das Wesen der historischen Wissenschaften zu den folgenschwersten Übelständen in der Philosophie unserer Zeit gehört, sind sie entsprungen. Als der beste Weg, diese Überzeugung anderen mitzuteilen, erschien ein Versuch, auf die Einseitigkeit des naturwissenschaftlichen Forschens hinzweisen und zunächst wenigstens die Lücke aufzuzeigen, die auch eine in höchster Vollendung gedachte, die körperliche und geistige Natur gleichmäßig umfassende, naturwissenschaftliche Bildung notwendig in dem lassen muß, was wir mit einem nicht sehr glücklichen aber schwer zu entbehrenden Ausdruck als unsere Weltanschauung zu bezeichnen gewohnt sind. Den Glauben gilt es vor allem zu zerstören, als sei es möglich, allein mit Hilfe der Naturwissenschaft oder einer naturwissenschaftlichen Philosopie zu dem vorzudringen, was uns allen bei weitem das Wichtigste sein muß. Vielleicht gibt es einen kürzeren Weg, um zum Ziel zu gelangen, das wir im Auge haben. Bei der heutigen Lage der Dinge scheint der eingeschlagene Weg uns der zweckmäßigste zu sein. Daher unternehmen wir, um über Wesen und Wert der historischen Wissenschaften uns Klarheit zu verschaffen, eine Untersuchung über die Grenzen der Naturwissenschaft.

Ein solches Unternehmen ist heute nach zwei Seiten hin Mißverständnissen ausgesetzt, die von vornherein abzuwehren, notweindig erscheint. Wenn für die Naturwissenschaft Grenzen nachgewiesen werden sollen, wenn gezeigt werden soll, daß die Lehre von der allein selig machenden naturwissenschaftlichen Methode, insbesondere in ihrer Anwendung auf die historische Wissenschaften, eine prinzipielle Irrlehre ist, so liegt nichts ferner, als etwa die Absicht, die moderne Naturwissenschaft selbst in ihrer Bedeutung irgendwie herabzusetzen. Gerade unsere Zeit hat auf diesem Gebiet so großartige Erfolge erlebt, daß jedes einschränkende Wort nur den Eindruck verständnisloser Nörgelei hervorrufen könnte. Und wenn die Naturwissenschaft die außerordentlich große Popularität, die sie besitzt, auch wohl mehr den äußerlichen Erfolgen der Technik, als den rein wissenschaftlichen Resultatne verdankt, so bleibt wahrlich, auch abgesehen von jenen praktischen Errungenschaften, immer noch genug übrig, das nicht zu hoch gepriesen werden kann. Ganz unabhängig aber von dieser großen Bedeutung ist der Anspruch der Naturwissenschaft - auch wenn wir das Wort in dem denkbar weitesten Sinn nehmen, den wir später genau festzustellen haben werden - als die einzige wirkliche Wissenschaft angesehen zu werden. Man kann mit staunender Bewunderung die Leistungen moderner Naturforscher verfolgen und doch meinen, daß es eine beklagenswerte Verarmung im geistigen Leben der Menschen herbeiführen muß, wenn die Meinung entsteht, daß durch naturwissenschaftliche Untersuchungen das wissenschaftliche Leben überhaupt erschöpft sein soll, daß die Naturwissenschaft in allen Fragen das entscheidende Wort zu sprechen habe. Also nicht gegen die Naturwissenschaften, sondern gegen die "naturwissenschaftliche Weltanschauung" ist unsere Untersuchung gerichtet.

Ein zweites Mißverständnis liegt in anderer Richtung. Von "Grenzen des Naturerkennens" zu reden, ist unserer Zeit ganz geläufig und gerade von naturwissenschaftlicher Seite aus sein Erörterungen unter diesem Titel populär gemacht worden. Da wird es gut sein, von vornherein zu sagen, daß das Folgende mit Untersuchungen dieser Art so gut wie nichts gemeinsam hat. Es sollen sich, so hat man geglaubt, mit unabweisbarer Notwendigkeit im Zusammenhang naturwissenschaftlicher Untersuchungen Probleme ergeben, von denen sich zeigen lasse, daß sie ebenso notwendig für alle Zeiten unlösbar bleiben müßten und über die zu grübeln, der menschliche Geist daher lieber unterlassen möge. Ein besonnenes Denken sollte sich Problemen gegenüber, die wirklich Probleme sind, zur Behauptung ihrer Unlösbarkeit kaum entschließen. Der viel genannte Ignorabimus [Wir wissen es nicht. - wp] ist für uns das Produkt einer falschen Fragestellung. Er geht aus einer einseitig naturwissenschaftlichen Denkweise hervor, die es nicht zu begreifen vermag, daß für eine weiter blickende Auffassung dort gar keine Probleme vorhanden sind, wo sie Grenzen des Naturerkennens sieht. Es hat keine Zweck, diese Fragen hier näher zu erörtern. Es genügt, wenn wir hervorheben, daß unsere Absicht jedenfalls nicht auf das Konstatieren unlösbarer Probleme gerichtet ist. Nicht daß zuviel, sondern daß zu wenig gefragt wird, ist unsere Sorge. Auf Probleme möchten wir hinweisen, die im Zusammenhang naturwissenschaftlicher Untersuchungen nicht entstehen können, die überhaupt erst für den sichtbar werden und der Lösung wert erscheinen, der sich vom Bann des einseitig naturwissenschaftlichen Denkens befreit hat. Daß sie diese Probleme nicht sehen, geschweige denn etwas zu ihrer Lösung beitragen kann, daß sie daher, an die Stelle einer Weltanschauung gesetzt, das Untersuchungsgebiet des menschlichen Geistes ungebührlich verengt, das ist unser Einwand gegen die Naturwissenschaft, das ist der Gesichtspunkt, unter dem wir von den Grenzen der Naturwissenschaft sprechen. Damit ist unser Unternehmen wohl vor Mißverständnissen geschützt.



Von einer Lücke in unserer Weltanschauung war die Rede. Um diese Lücke aufzuzeigen, stellen wir eine Untersuchung über die wissenschaftlichen Methoden an. Wieder kommen wir damit zu einem Punkt, in dem unsere Gedanken mit vollem Bewußtsein, wenn auch in anderer Hinsicht, vom gegenwärtigen Zustand der Philosophie abhängig sind. Im Grunde handelt es sich im Folgenden um ein die allgemeine Welt- und Lebensauffasuung betreffendes Problem, wie es für die Philosophie in letzter Hinsicht überhaupt nur solche allgemeinen Probleme gibt. Unsere Untersuchung aber ist in allen ihren wesentlichen Teilen eine logische Untersuchung und sie kommt zu den allgemeinen Fragen der Welt- und Lebensauffassung nur da, wo die logische Betrachtung, wie selbstverständlich, in eine weitergreifende übergeht. Also nicht ein Welt- und Lebensauffassung selbst oder auch nur ein Stück davon versucht diese Abhandlung zu geben, sondern die Mittel sucht sie aufzuzeigen und zu kritisieren, mit denen eine allseitige und umfassende, durch keine naturwissenschaftlichen Vorurteile und Einseitigkeiten begrenzte Weltanschauung zu gewinnen ist. Ein solches Verfahren kann sehr leicht den Eindruck einer schwächlichen, unsicheren, entnervten Denkverfassung machen. Wozu dieses Hin- und Her-Reflektieren über den Weg zur Forschung statt eines kühnen Zugreifens? Sollte nicht mancher geneigt sein, dem Philosophen zu raten, was GOETHE dem Künstler zurief, daß er weniger reden und mehr bilden solle?

In der Tat, der erkenntnistheoretische Zug, der die moderne Philosophie charakterisiert und der gerade in vielen ihrer besten Leistungen am deutlichsten hervortritt, hat vielleicht dazu beigetragen, sie dem Interesse weiterer Kreise zu entfremden. Auch dürfte für die Philosophie in Gestalt der Erkenntnistheorie zunächst wenigstens kaum Hoffnung bestehen, einen wesentlichen direkten Einfluß auf weitere Kreise zu erlangen. Diese Art des Philosophierens ist nicht nur schwierig, sondern sie muß auch dem flüchtigen Blick in hohem Maße unergiebig erscheinen. Daß es nun endlich mit den erkenntnistheoretischen Untersuchungen genug sei, das ist ja von verschiedenen Seiten verkündet worden. Ja, vielleicht wird sogar mancher, der selbst eine Lösung philosophischer Probleme nur mit Hilfe einer Untersuchung über das Wissen in Angriff nehmen zu können glaubt, bisweilen von dem Gefühl ergriffen werden, wie matt und farblos und nüchtern solche Betstrebungen sind im Vergleich zu den Gedankensystemen, in denen man zur Blütezeit der deutschen Philosophie ein Bild der Welt zu entwerfen und eine Lebensauffassung darauf zu gründen versucht hat. Welch ein Glanz und welch ein Zauber für Gefühl und Phantasie! Dagegen ist unter allen Theorien die Erkenntnistheorie besonders "grau". Eine Stimmung des Neides mag uns überkommen, wenn wir lesen, wie HEGEL den Mut zur Wahrheit als erste Bedingung des philosophischen Studiums proklamierte und seinen Hörern einschärfte, daß dem Mut des Erkennens Widerstand zu leisten, das verschlossene Wesen des Universums keine Kraft in sich habe. Man wird vielleicht niemandem verdenken dürfen, wenn ihm bei der Erinnerung an diese Zeiten unsere moderne, so sehr vorsichtige Philosophie nicht besonders begeisternd erscheint. Sollen wir daher nicht versuchen, die Vergangenheit wieder zurückzurufen und alle Erkenntnistheorie überspringend uns wieder mutig in das Erkennen des Universums selbst stürzen?

Wer die Geschichte der geistigen Bewegung im 19. Jahrhundert kennt, wird das nicht wollen. Vielleicht kommt einmal für die Philosophie wieder eine andere Zeit. Für heute scheint das erkenntnis-kritische Verfahren ihr ganz unentbehrlich zu sein. Wir wissen, nach wie kurzer Zeit jene stolzen Gedankensysteme des deutschen Idealismus in sich zusammengebrochen sind. Wenn diese Systeme auch vielleicht noch nicht ganz so "historisch" geworden sind, wie man heute vielfach meint, so hatte doch jedenfalls der philosophische Mut die Kraft des Universums damals erheblich unterschätzt und die Folgen davon waren die traurigsten. Eine Zeit der philosophischen Feigheit brach an, unter deren Nachwirkungen wir noch zu leiden haben.

Es gibt gerade in unseren Tagen einen besonderen Grund, in der Philosophie vorsichtig zu sein. Jene Periode des Rückschlags scheint vorüber. Die Teilnahme an allgemeinen Problemen wächst. Die Zeit des reinen Spezialistentums, d. h. eines Wissenschaftsbetriebes, der jede umfassendere Überlegung grundsätzlich als unwissenschaftlich meidet, hat, wenn nicht alles täuscht, ihren Höhepunkt überschritten. Wir wagen uns, wenn auch die Naturwissenschaften noch ganz im Vordergrund stehen, doch auch diesem Gebiet wenigstens wieder an philosophische Fragen heran. Es hat gewiß lediglich eine äußerliche Bedeutung, wenn gerade heute die Unfähigkeit zu weitergreifendem Nachdenken an den Stellen mit Hebeln und Schrauben eifrig herumhantieren darf, wo sonst der menschliche Geist zu energischer Selbstbesinnung sich zu sammeln hatte. Aber gerade weil diese Stimmung, in der eine Philosophie allenfalls gedeihen kann, wieder aufkommt, ist jedes unkritische Drauflosgehen umso bedenklicher. Nur vorsichtig und langsam, jeden Schritt vorher überlegend und rechtfertigend, können wir dauernd vorwärts kommen. Vor jede Behauptung über die Dinge stellen wir eine Untersuchung darüber, inwiefern die Wissenschaft hier das Recht habe, etwas auszusagen. Jede quaestio facti [Tatsachenfrage - wp] wird für uns zu einer quaestio juris [Frage der Rechtfertigung - wp], jedes Problem der allgemeinen Welt- und Lebensanschauung verwandelt sich für uns in ein Problem der Logik, der Erkenntnistheorie.

Der Mut des Erkennens ist uns nun einmal gebrochen, wenigstens der Mut in dem Sinne, wie HEGEL ihn besaß. Erkenntnistheorie ist für uns Sache des guten Gewissens geworden und wir mögen niemanden hören, der eine Rechtfertigung seiner Gedanken durch sie unterläßt. Vielleicht erscheint das späteren - glücklicheren - Zeiten als ein Zeichen der Schwäche. Die heute schon über diese "Schwäche" sich hinauswähnen, haben den Beweis noch nicht gebracht, daß auch auf anderem Weg die Wissenschaft zu fördern ist. Die metaphysischen Konstruktionen des Weltalls, die wir in unseren Tagen erleben müssen, zeigen eine bedenkliche Ähnlichkeit mit älteren, meist viel energischeren und lehrreicheren Gedankengebilden. Die Verächter erkenntnistheoretischer Untersuchungen müssen heute als Schwärmer erscheinen, die der Gewinnung einer umfassenden Welt- und Lebensauffassung gefährlicher sind, als jene allzugenügsamen und bescheidenen Naturen, die mehr als ein Spezialistentum in der Wissenschaft überhaupt nicht wollen. So hat auch die Philosophie unserer Zeit ihre Scylla und ihre Charybdis [zwischen zwei Gefahren - wp]. Zwischen Schwärmerei und Spezialistentum hindurch muß sie ihren Weg machen oder sie wird überhaupt keinen Weg machen. Wir brauchen nicht jenen Mut einer früheren Zeit, der ein Übermut war, wir brauchen Mut, uns immer wieder auf den beschwerlichen und dornenvollen Weg der Logik und Erkenntnistheorie zu wagen. Hier liegen heute die wichtigsten Aufgaben für eine Philosophie, die in bewußtem Zusammenhang mit den großen Denkern der Vergangenheit unbekümmert um die Moden des Tages an den alten Problemen weiterarbeitet.

Andererseits muß natürlich ebenso energisch hervorgehoben werden, daß auch die Philosophie in dieser Gestalt weit davon entfernt ist, jemals die großen Ziele aus dem Auge zu verlieren, die zu erreichen oder denen wenigstens näher zu kommen, stets als der eigentliche Sinn philosophischer Untersuchungen angesehen worden ist. Auch unser Weg soll schließlich zu umfassender Lebens- und Weltauffassung hinführen. Das ist eine Aufgabe, die keine Zeit vernachlässigen darf. Niemals über das Ziel, nur über den Weg kann in einer Philosophie, die diesen Namen verdient, eine verschiedene Meinung entstehen. Und weil nun der Weg, den wir einschlagen, vielleicht längere Zeit über das letzte Ziel, dem wir zustreben, im Unklaren lassen könnte, so wird es gut sein, von vornherein den eigentlichen Sinn dieser Untersuchung wenigstens anzudeuten.

Zunächst noch wenige Worte über den Weg, auf dem unsere Ausführungen sich bewegen. Wir müssen vor allem darauf hinweisen, daß Erkenntnistheorie in unserem Sinne nicht Psychologie ist. Selbstverständlich kann auch die Psychologie das Erkennen zum Objekt ihrer Untersuchungen machen, sie kann fragen, was der Prozeß des Erkennens, als psychisches Gebilde betrachtet, eigentlich ist, wie er zustande kommt und in welchem Verhältnis er zu unserem gesamten psychischen Leben steht. So wertvoll solche, für manche Erkenntnisformen leider noch nicht sehr erfolgreich unternommene, Untersuchungen auch sein mögen, und so unentbehrlich gewisse psychologische Überlegungen sich auch für unsere logischen Untersuchungen erweisen werden, so bleibt Psychologie als die Lehre nur eines Teils der Wirklichkeit unter allen Umständen eine Spezialwissenschaft und es könnte daher eine Psychologie des Erkennens uns niemals zu jenen allgemeinen philosophischen hinführen, die als letztes Ziel uns immer die Richtung geben. Wir gehen hier von den Aufgaben aus, welche das wissenschaftliche Erkennen zu lösen bestrebt ist. Uns interessiert die Bedeutung oder noch genauer gesagt, der Wert, den die verschiedenen Arten und Formen des wissenschaftlichen Denkens zur Erreichung dieser Aufgaben haben. Wir suchen vor allem uns auf das zu besinnen, was eine abschließende Welt- und Lebensauffassung uns geben soll und wir legen unter dem Gesichtspunkt dieses höchsten Zieles der Wissenschaft einen Maßstab an die verschiedenen wissenschaftlichen Methoden, um daraus ihr Wesen zu verstehen. Für uns sind also die Methoden der Forschung nicht Tatsachen, die es zu konstatieren, zu beschreiben oder auch in ihrer naturnotwendigen Genesis zu begreifen gilt, sondern Mittel, deren Zweckzusammenhänge mit den letzten Zielen wissenschaftlicher Tätigkeit wir verstehen wollen. Wir brauchen für Untersuchungen dieser Art am liebsten von FICHTE dafür geprägten Ausdruck der Wissenschaftslehre. Unter den vielen Vorzügen, die dieser Ausdruck hat, befindet sich auch der, daß er das von ihm bezeichnete Arbeitsgebiet für jeden Kundigen von vornherein möglichst energisch von aller psychologischen Spezialistenarbeit abhebt.

Was wir genauer unter Philosophie als Wissenschaftslehre verstehen, muß die weitere Untersuchung selbst zeigen. Hier kam es zunächst nur auf die negative Versicherung an, daß es sich nicht um Psychologie handelt. Ebenso kann erst das Folgende klar machen, welch ein Zusammenhang zwischen der Wissenschaftslehre in unserem Sinne und dem Aufbau einer allgemeinen Welt- und Lebensauffassung selbst besteht, die wir als das eigentliche Ziel aller philosophischen Arbeit bezeichnet haben. Wohl aber möchten wir schon an dieser Stelle noch hinweisen auf den letzten philosophischen Zweck, den wir im folgenden anstreben und zwar in einer Art, die unabhängig ist von der besonderen Form, in die wir später unser Problem zu kleiden und in der wir es zu lösen versuchen wollen. Wir möchten mit anderen Worten andeuten, zu welchen von jenen längst bekannten philosophischen Fragen unsere Arbeit in Beziehung steht, die immer von Neuem das Nachdenken des menschlichen Geistes beschäftigt haben.

Dieses Nachdenken bewegt sich in großen Gegensätzen. Für uns handelt es sich darum, diesen Gegensatz, soweit er die Bedeutung des Historischen für eine philosophische Weltanschauung betrifft, in möglichst bekannter, ja trivialer Form festzustellen. Wir knüpfen daher am besten wieder an die bereits erwähnten Philosophen an, bei denen ihr Verhältnis zur Geschichte für ihre Weltanschauung besonders charakteristisch ist. Von ihnen hat SCHOPENHAUER gewissermaßen gar kein Verhältnis zur Geschichte. Er scheidet daher für unsere Betrachtung aus. HEGEL und COMTE aber mögen uns als Typen gelten für die zwei Richtungen, in denen das große Entweder-Oder der Weltanschauung gerade in der Art, wie die Geschichte behandelt wird, seinen deutlichen Ausdruck findet.

LITERATUR - Heinrich Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung [Eine Einleitung in die historischen Wissenschaften], Freiburg i. Br./Leipzig 1896
    Anmerkungen
    1) Friedrich Paulsen, Einleitung in die Philosophie, Vorwort Seite XI.
    2) Vgl. Fichte, Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, achte Vorlesung: Von der Reaktion eines solchen Zeitalters gegen sich selber durch Aufstellung des Unbegreiflichen als höchsten Prinzips. S. W. Bd. VII, Seite 111