ra-1p-4 E. MallyÜber GegenständePhilosophie des Als-ObWerttheorie    
 
ALEXIUS MEINONG
Über Annahmen
[ 1 / 4 ]

             Vorwort
 § 1. Ein Tatsachengebiet zwischen Vorstellen und Urteilen
 § 2. Das Negative gegenüber dem "bloß Vorgestellten".
 § 3. Zum Begriff des Zeichens
 § 4. Ausdruck und Bedeutung beim Wort.
 § 5. Der Satz als Urteilsausdruck
 § 6. Unabhängige und abhängige Sätze
 § 7. Das Verstehen bei Wort und Satz
 § 8. Die nächstliegenden Annahmefälle
 § 9. Explizite Annahmen
§ 10. Annahmen in Spiel und Kunst
§ 11. Die Lüge
§ 12. Annahmen bei Fragen und sonstigen Begehrungen
§ 13. Aufsuggerierte Annahmen

"Wer urteilt, glaubt etwas, ist von etwas überzeugt; nur eine ganz willkürliche Nominaldefinition kann es ermöglichen, von Urteilen zu reden, wo das Subjekt seine Überzeugung in suspenso läßt."

Vorwort

Was die gegenwärtigen Darlegungen anlangt, so braucht kaum ausdrücklich gesagt zu werden, daß der Versuch, ein bisher theoretisch unbeachtetes Tatsachengebiet zu bearbeiten, eben nur einen ersten Anfang, nicht aber eine abgeschlossene Theorie bieten kann. Das tritt bereits in der Disposition des Stoffes deutlich genug hervor, die nicht aus einem "Prinzip" heraus in den Stoff hineingetragen, sondern mir durch die Tatsachen aufgedrängt wurde. Ich muß berichten, daß dies, wie noch vieles andere in dieser Arbeit, sehr wider meine anfängliche Voraussicht ausgefallten ist. Zur Zeit, da ich die ersten Schritte im neuen Tatsachengebiet unternahm, hatte ich keine Ahnung davon, daß ich auf dem eingeschlagenen Weg so vielen teils aller Welt, teils mindestens mir selbst gar wohl bekannten Problemen begegnen und ihrer dabei von einer Seite ansichtig werden würde, die ihrer Lösung besonders günstig zu sein verspricht. Ist dies, wie nicht zu bezweifeln, der formellen Geschlossenheit dieser Ausführungen abträglich gewesen, so darf ich daraus entnehmen, daß dabei nicht die Empirie im Sinne einer vorgegebenen Theorie umgestaltet, sondern vielmehr ein selbst der Empirie entnommenes Theorem im Sinne der in größter Mannigfaltigkeit von allen Seiten sich herandrängenden Tatsachen ausgestaltet worden ist.

Der Mannigfaltigkeit dieser Tatsachen entspricht einigermaßen die Verschiedenartigkeit der in einigen Kapiteln dieser Schrift auf die Annahmen führenden Voruntersuchungen, deren Daseinsberechtigung indessen hoffentlich nicht nur in ihrer Beziehung zu den Annahmen, sondern auch in ihren eigenen Ergebnissen zur Geltung kommen wird. Es gilt dies inbesondere vom siebenten Kapitel, dessen Thema, wenn ich recht sehe, für das Erkennen und durch dieses hindurch für das ganze psychische Leben eine fundamentale Bedeutung hat, die mir freilich gerade von den Annahmen aus in besonderem Maße deutlich geworden ist, die aber darum keineswegs an den Annahmen mehr hängt als etwa am Urteil. Insofern hätte, was ich in diesem Kapitel unter dem Namen des "Objektivs" einer ersten Bearbeitung unterzogen habe, im Grunde eine von der Sache der Annahmen ganz unabhängige Sonderbehandlung verdient; und es wird unter solchen Umständen kaum ungerechtfertigt erscheinen, wenn dieser erste Versuch, den Grund zur Theorie des Objektivs zu legen, zwar nirgends über die bloße Grundlegung, dafür aber mehrfach über das hinausgegangen ist, was im ausschließlichen Hinblick auf die Annahmen etwa schlechterdings unentbehrlich gewesen wäre.

Auch das achte Kapitel, das es mit der Bedeutung der Annahmen für die Wert- und Begehrungstheorie zu tun hat, ist umfänglicher ausgefallen, als die bloße Berücksichtigung der Annahmen nötig gemacht hätte und dies aus einem Grund, der hier einer kurzen Darlegung bedarf. Die von mir in meinen "Psychologisch-ethischen Untersuchungen zur Werttheorie" aufgestellte und innerhalb angemessener Grenzen auch bereits betätigte Forderung, die Ethik auf Werttheorie, die Werttheorie auf eine psychologische Untersuchung der Werttatsachen zu gründen, hat zu einer Reihe von Publikationen den Anstoß gegeben, in denen ich wohl die hoffnungsvollen Anfänge einer psychologischen Werttheorie und einer werttheoretischen Ethik begrüßen darf, fest überzeugt, daß diese Ethik und keine andere die wissenschaftliche Ethik der Zukunft ist. Unter diesen Publikationen nehmen ohne Frage die zwei Bände "System der Werttheorie" von CHRISTIAN EHRENFELS nicht nur dem Umfang nach die erste Stelle ein, vielmehr muß ich in ihnen auch inhaltlich, ohne den Wert der übrigen Arbeiten gering zu veranschlagen, die weitaus erfolgreichste Weiterführung der von mir angebahnten (1) werttheoretischen Untersuchungen erblicken. Aber, wie selbstverständlich ist oder es doch sein sollte, ist dies eine "Weiterführung" im Sinne freiester Betätigung einer anderen Forscher-Individualität; und diese Betätigung hat in einigen wichtigen Dingen zu einem Dissens zwischen uns geführt, zu dem in ausreichend begründeter Weise Stellung zu nehmen es mir bisher an Gelegenheit gefehlt hat. Sie wird mir nunmehr durch die Tatsache geboten, daß die beiden Arbeitsgebiete, die mein Tun bisher fast ausschließlich in Anspruch genommen haben, das intellektualpsychologisch-erkenntnistheoretische Haupt- und das emotionalpsychologisch-ethische Nebengebiet sich durch den Verbreitungsbereich der Annahmen in ganz unerwartetem Maß eng verknüpft erwiesen haben, so daß, wenn ich recht sehe, den Annahmen ein wesentlicher Anteil an der allfälligen Schlichtung des in Rede stehenden Dissenses zukommen könnte. Es war also am Platz, diesen in der vorliegenden Schrift zur Sprache zu bringen: nur habe ich micht unter den gegebenen Umständen für befugt gehalten. Einschlägiges auch dann aus der Diskussion nicht auszuschließen, wenn es mit der Theorie der Annahmen in keinen direkten Zusammenhang zu bringen war. Auf alle Fälle findet der Leser Eingangs zum achten Kapitel die Paragraphen 47 - 51 ausdrücklich als diejenigen bezeichnet, die vom eigentlichen Gegenstand dieser Schrift relativ am meisten abliegen.

An dieser Stelle aber bietet mir der Hinweis auf die Anfänge der psychologischen Werttheorie den erwünschten Anlaß zu einer Bemerkung in eigener Sache, die ich zunächst an den jüngsten ethischen Literaturbericht des "Archivs für systematische Philosophie" anknüpfe, wo gelegentlich auf mich und EHRENFELS als auf "die Werttheoretiker der Schule BRENTANOs" hingewiesen wird, obwohl BRENTANO an unseren werttheoretischen Arbeiten nicht den geringsten Anteil hat, jene "Schule" sie daher mutmaßlich längst als Irrlehre verworfen haben wird. Nicht lange vorher wurde in einer Art psychologischen Zentennarberichtes der "Zeitschrift für pädagogische Psychologie" mir, diesmal zusammen mit ALOIS HÖFLER, die Stellung von Repräsentanten einer "scholastischen Methode" in der Psychologie unter Bezugnahme auf BRENTANOs Vertrautheit mit der scholastischen Philosophie angewiesen, obwohl ich leider bekennen muß, daß mir eine solche Vertrautheit, aus der sicher vielerlei Gewinn auch für die moderne Wissenschaft zu schöpfen wäre, gänzlich abgeht. Nun kann ich es natürlich nur sachgemäß finden, wenn etwa orientierende Darstellungen des gegenwärtigen Standes der Philosophie, soweit sie es für angemessen halten, auch von mir zu reden, des Zusammenhangs meiner Arbeitsrichtung mit der FRANZ BRENTANOs gedenken. Auch fehlt mir sicher nicht die dankbare Würdigung der Tatsache, daß meinen ersten Versuchen im Bereich philosophischer Forschung BRENTANO in damals wohlwollender Gesinnung fördernd zur Seite gestanden ist: solches zu unterschätzen werde ich umso weniger Gefahr laufen, je größer die Anzahl derjenigen ist, denen ich seither Ähnliches zu erweisen bemüht war und je weniger mir das Andenken gleichgültig ist, das diese meine Schüler aus der Zeit unserer gemeinsamen Arbeit mit sich nehmen. Dennoch müßte ich die Umstände, unter denen ich einst in die wissenschaftliche Arbeit eingetreten bin, fast für eine Art Verhängnis halten, wenn mir auch noch ein Vierteljahrhundert später Gegner wie Freunde BRENTANOs gleich wenig vergeben können, jene,  daß  ich von BRENTANO gelernt, - diese, daß ich nicht  alles  von BRENTANO, sondern im Verlaufe meines wissenschaftlichen Tuns durch redliches Bemühen auch Einiges von mir selbst oder eigentlich von den Tatsachen gelernt habe. Ich meine, ich hätte mir nachgerade den Anspruch erarbeitet, für mich selbst zu zählen und nach Maßgabe dessen eingeschätzt zu werden, was ich durch eigene ehrliche Arbeit zur Habe meiner Wissenschaft etwa beizusteuern imstande gewesen sein sollte. Das ist nicht BRENTANOs Freunden zuleide gesagt und womöglich noch weniger BRENTANOs Feinden zuliebe: so gewiß es aber ein unpersönliches Ziel ist, das bisher meiner Lebensarbeit gesteckt war und ihr auch in Zukunft gesteckt bleibt, so gewiß habe ich ein Recht zu dem lebhaften Wunsch, dabei keinen anderen als sachlichen Schwierigkeiten oder Hindernissen zu begegnen.

So möchte denn auch, was die vorliegende Schrift bringt, unpersönlich aufgenommen und an den Tatsachen, zu deren Kenntnis es beizutragen bestimmt ist, auf seine Brauchbarkeit geprüft sein. Eine eigentliche Literatur hat der hier behandelte Gegenstand, den ich für wenigstens ex professo [von Amts wegen - wp] noch durchaus unbearbeitet halte, meines Wissens nicht: dagegen entspricht der Menge des durch die Annahmen Mitbetroffenen natürlich die Menge des literarisch Einschlägigen, so daß dieses in einiger Vollständigkeit heranziehen zu wollen ein ganz aussichtsloses Unternehmen gewesen wäre. Nur wolle aus der geringen Anzahl von Arbeiten, die im Folgenden ausdrücklich berücksichtigt scheinen, nicht geschlossen werden, daß ich nur diesen Arbeiten für unser Thema Gewinn verdanke oder gar nur ihnen Wert beimesse. Daß mir die Berufung auf Veröffentlichungen solcher Autoren besonders nahe gelegen hat, deren Lehrer zu sein ich vor kürzerer oder längerer Zeit in der glücklichen Lage war, kann ich freilich nicht in Abrede stellen. Aber es ist eben Tatsache, daß gerade sie es gewesen sind, deren Zustimmung oder Widerspruch den bisherigen Fortgang meiner Arbeiten vor allem gefördert hat.


Erstes Kapitel
Erste Aufstellungen

§ 1. Ein Tatsachengebiet zwischen Vorstellen und Urteilen

Daß es kein Geschehnis gibt im Bereich des Geisteslebens, das, falls es nicht selbst eine Vorstellung ist, nicht das Vorstellen zur Voraussetzung hätte, gehört längst zu den Selbstverständlichkeiten, die nicht leicht einem ernst zu nehmenden Zweifel ausgesetzt sind. Umso häufiger konnte man von Alters her der Neigung begegnen, den Anteil des Vorstellens an den Betätigungen des Intellekts zu überschätzen, indem man meinte, alles, was der Vorstellung nicht entraten kann, selbst für Vorstellungen nehmen zu sollen. Und auch heute noch ist trotz des Nachdruckes, mit dem DAVID HUME und JOHN STUART MILL die englische, FRANZ BRENTANO die deutsche Psychologie auf die Eigenart des Urteils hingewiesen hat, hierüber die öffentliche Meinung in Psychologie und Erkenntnistheorie keineswegs zur Einigung gelangt, die der Durchsichtigkeit der Sachlage entsprechen möchte. Es ist indessen nicht die Aufgabe der nachstehenden Untersuchungen, das Urteilsproblem einer neuerlichen theoretischen Bearbeitung zu unterziehen. Nur auf einer Art Umweg möchten sie mit zur Beseitigung der hier oft mehr subjektiven als objektiven Schwierigkeit beitragen, indem sie darzutun versuchen, daß das Urteilen, weit davon entfernt ist, selbst ein Vorstellen zu sein, an das Gebiet des Vorstellens nicht einmal angrenzt, vielmehr von diesem Gebiet noch durch eine Gruppe gleichsam dazwischen liegender Tatsachen getrennt ist, die den Vorstellungen wie Urteilen gegenüber ausreichend scharf zu charakterisieren, sich der Erkenntnis des einen wie des anderen der beiden Tatsachengebiete gleich fruchtbar erweist.

Dabei denke ich natürlich nicht daran, hier in Sachen  Urteil  eine völlig neutrale Stellung einzunehmen. Was ich darzulegen habe, geht zu sehr auf das direkte anschauliche Erfassen der durch die innere Wahrnehmung dargebotenen Wirklichkeit zurück, als daß es durchführbar wäre, einem Teil des sich da bietenden Tatsachenbildes gegenüber bei einer Unanschaulichkeit stehen zu bleiben, die noch für recht weit auseinanderliegende Meinungen über die Natur des Urteils Raum ließe. Andererseits aber scheinen jene charakteristischen Züge am Urteil, die mir für das Folgende von entscheidendem Belang sind, doch so naheliegend bis zur Handgreiflichkeit, daß ich mich der Hoffnung nicht entschlagen kann, in der Anerkennung derselben unvoreingenommene Beobachter mit sonst wie immer gearteten Vormeinungen auf meiner Seite zu haben.

Zwei Dinge nämlich sind es, von denen meines Erachtens jedermann zugeben kann, daß das Urteil sie hat, wogegen sie dem Vorstellen fehlen. Wer urteilt, glaubt etwas, ist von etwas überzeugt; nur eine ganz willkürliche Nominaldefinition kann es ermöglichen, von Urteilen zu reden, wo das Subjekt seine Überzeugung in suspenso [zweifelhaft - wp] läßt. Jedem Urteil kommt ferner seiner Natur nach eine bestimmte Stellung zu innerhalb des Gegensatzes von Ja und Nein, von Affirmation und Negation. Habe ich in bezug auf ein  A  oder in bezug auf seine Verbindung mit  B  eine bestimmte Ansicht, eine Überzeugung, so geht diese ganz unvermeidlich entweder dahin, daß  A  ist, bzw.  AB  ist oder dahin, daß  A  nicht ist, bzw.  A  nicht  B  ist. Und das gilt nicht nur im Falle eines gewissen, sondern nicht minder im Falle eines ungewissen Urteilens: auch wenn ich bloß vermute, hat diese Vermutung unvermeidlich affirmativen oder negativen Charakter. Diese beiden Momente also, Überzeugtheit und Position innerhalb des Gegensatzes von Ja und Nein, finde ich ausnahmslos bei allem, was Anspruch darauf hat, Urteil zu heißen und ich kann mich der Meinung nicht entschlagen, daß keine Theorie irgendjemanden daran hindern könnte, sie gleichfalls anzutreffen. Nur habe ich diese beiden Momente vor noch nicht allzulanger Zeit für bloß  eines  gehalten oder wenigstens das zweite für eine Art Determination des ersten und zwar für eine jener Determinationen, die ohne das, was sie determinieren, nicht vorkommen können. Daß jede Überzeugung affirmativ oder negativ sein müßte, hatte mir stets als selbstverständlich geschienen; aber ich hätte nie erwartet, Affirmation oder Negation irgendwo zu finden, wo die Überzeugung fehlt. Daß dies nun gleichwohl möglich, ja nichts weniger als selten verwirklicht ist, dies, nebst den Konsequenzen daraus, macht ungefähr das Wichtigste aus, was durch die folgenden Darlegungen erwiesen werden soll. Das erwähnte Zwischengebiet zwischen Vorstellen und Urteilen ist dadurch sofort mitgegeben, sobald ausgemacht ist, daß nicht nur die Überzeugtheit, sondern nicht minder auch der Gegensatz zwischen Affirmation und Negation eine wesentlich vorstellungsfremde Tatsache ausmacht.

Doch dürfte sich empfehlen, ehe in eine genauere Untersuchung hierüber eingetreten wird, irgendeinen der mancherlei diesem Zwischengebiet angehörigen Fälle einer möglichst unmittelbaren Betrachtung zu unterziehen. Das ist bei den Tatsachen der hier in Rede stehenden Art leichter als bei vielen anderen psychischen wie physischen Geschehnissen, indem die Herstellung geeigneter Tatbestände bei einigem guten Willen hier bis zur Unfehlbarkeit leicht gelingt, so wie sich auch die suggestive Kraft des gehörten oder gelesenen Wortes hier fast ausnahmslos bewährt. Ich versuche, von dieser Kraft Gebrauch zu machen, indem ich den Leser dieser Zeilen auffordere, sich etwa zu denken, die Buren hätten der englischen Übermacht nicht weichen müssen oder sie hätten seitens der Völker des europäischen Kontinents nicht nur Bewunderung und Sympathie, sondern auch politisch wirksame Unterstützung erfahren. Das begründete Befremden darüber, daß in diesem Zusammenhang ganz plötzlich Dinge der Tagespolitik zur Sprache gebracht werden, wird den Leser schwerlich gehindert haben, meiner Aufforderung Folge zu leisten; und er wird diese hoffentlich auch nicht ununangebracht halten, wenn ich nun beifügen kann, daß er, indem er meinem Verlangen nachgekommen ist, in sich eine jener Tatsachen hergestellt hat, die uns im Folgenden zu beschäftigen haben.

Das, wozu dieses erste Beispiel uns nun zunächst verhelfen soll, ist einmal ein angemessener Name für die Gegenstände dieser Untersuchung, - außerdem eine erste Charakteristik dieser Gegenstände. In ersterer Hinsicht kommt uns der Umstand zustatten, daß wir es mit einer Sache zu tun haben, die der Praxis des täglichen Lebens ungefähr in demselben Maße geläufig ist, als die Theorie sie bisher vernachlässigt hat. Jedermann versteht es, wenn ich die Zumutung, die eben an den Leser gestellt worden ist, dahin kennzeichne, es habe sich darum gehandelt, den Leser zu veranlassen, eine bestimmte  Annahme  zu machen. Und was sich nun zweitens in bezug auf die Bedeutung dieses Wortes vor allem herausdrängt, das ist ohne Frage die Gegensätzlichkeit zum Urteil, soweit das Moment der Überzeugtheit in Betracht kommt. Wie könnte ich auch den Leser dazu auffordern, etwas zu glauben, von dem er nur zu gut weiß, daß es falsch ist? Dieses "Annehmen" ist eben augenscheinlich etwas, das durch das Vorliegen einer gegenteiligen Überzeugung ganz und gar nicht beeinträchtigt wird. Ein anderes charakteristisches Moment ist vielleicht nicht ganz ebenso handgreiflich, indem es doch schon etwas mehr an psychologischem Blick voraussetzt: aber doch auch nicht allzuviel davon, wenn ich recht sehe. Denn in aller nur wünschenswerten Deutlichkeit scheint mir bei Betrachtung dessen, was man in so einer "Annahme" vor sich hat, zunächst das hervorzutreten, daß die Sachlage hier mit der beim Urteilen zwar nicht identisch, aber doch in irgendeiner Weise verwandt, ihr ähnlich ist, - dann aber, daß es hier doch wieder ganz anders zugeht, als wenn man einfach etwas vorstellt, etwa eine Farbe, einen Ton oder auch eine Melodie, eine Landschaft oder was anderes, falls es nur nicht etwa eine unanschauliche Vorstellung ist, ein Vorbehalt, dessen Begründung in späteren Ausführungen zu finden sein wird. (2) Immerhin mag nun trotz der Deutlichkeit der Sachlage gerade dieser letzte Punkt, die Verschiedenheit gegenüber den Vorstellungen, nicht sofort jedem überzeugend sein: es soll daher sogleich unten versucht werden, den förmlichen Beweis hierfür anzutreten, der nur eine etwas ausführlichere Untersuchung verlangt, weshalb es angemessen sein wird, ihn, bzw. diese Untersuchung, zum Gegenstand eines besonderen Paragraphen zu machen.

Das Wort "Annahme" soll im Folgenden als technischer Ausdruck für alle Tatsachen gebraucht werden, von denen ich zu zeigen hoffe, daß sie jenem Zwischengebiet zwischen Vorstellen und Urteilen angehören. Es soll nicht verschwiegen werden, daß dieser technische Ausdruck und dergleichen, sobald es dem Sprachschatz des täglichen Lebens entnommen ist, den Übelstand teilt, seinem überkommenen Anwendungsgebiet nach nicht völlig mit dem zusammenzustimmen, was er nun im theoretischen Gebrauch zu bezeichnen haben soll. Daß er dies oder jenes "annehme", sagt man auch von dem, der urteilt, aber seine Überzeugung oder Meinung bewußt und daher einigermaßen willkürlich aus unzureichenden Gründen schöpft. In diesem Sinne kann einer "annehmen", daß der Gewährsmann, auf den er zu seiner Orientierung praktisch angewiesen ist, sich ausreichend genau unterrichtet haben wird; ähnlich mag der Kaufmann sich oft genug begnügen müssen, "anzunehmen", daß der neue Kunde, dem er seine wertvolle Ansichtssendung ins Haus stellt, ihn nicht bloß zu Schaden kommen lassen werde und dgl. Zwar wird sich zeigen, daß das Moment der willkürlichen Beeinflußbarkeit, das sonst gerade dem Urteil besonders fern steht, den "Annahmen" in diesem zweiten Sinne eine gewisse Verwandtschaft mit dem sichert, wofür im Folgenden das Wort ausschließlich vorbehalten bleiben soll. Übrigens aber sind diese "Annahmen" im zweiten Sinne eben Urteile und es hieße die hier vertretene technische Bedeutung des Wortes um einen ihrer charakteristischsten Züge bringen, ja die ganze hier vertretene theoretische Konzeption verwischen, wenn man den Ausdruck weit genug gebrauchen wollte, um auch Fälle dieser zweiten Art einzubegreifen. Durch ausdrücklichen Ausschluß dieser Fälle wird die Theorie von dem ihr zustehenden Recht, die verfügbaren Ausdrucksmittel ihren Bedürfnissen unterzuordnen, wohl keinen unerlaubten Gebrauch machen.
LITERATUR - Alexius Meinong, Über Annahmen, Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, Ergänzungsband 2, Leipzig 1902
    Anmerkungen
    1) Wie gleichwohl die wichtigsten Positionen, die das "System" bringt, bereits etwa ein Jahr vor meinen "Untersuchungen zur Werttheorie" in der "Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie" zur Veröffentlichung gelangen konnten, darüber vgl. EHRENFELS im Jahrgang 1894 der genannten Zeitschrift, Seite 96, übrigens auch mein Vorwort zu den "Untersuchungen".
    2) In Kapitel VI unten, wird sich herausstellen, daß möglicherweise auch schon die von den anschaulichen Vorstellungen genommenen Beispiele nicht frei von Ungenauigkeit sind. Doch dürfte dies der Brauchbarkeit dieser Beispiele, namentlich für den Anfang, keinen Eintrag tun.