cr-4 P. RéeF. RittelmeyerW. EggenschwylerG. BrandesNietzscheM. Stingelin    
 
RUDOLF EISLER
Nietzsches Erkenntnistheorie
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"Es wird gedacht; folglich gibt es Denkendes: darauf läuft die Argumentation des  Cartesius hinaus. Aber das heißt, unseren Glauben an den Substanzbegriff schon als  wahr a priori ansetzen: - daß, wenn gedacht wird, es Etwas geben muß,  das denkt, ist einfach eine Formulierung unserer grammatischen Gewöhnung, es wird hier bereits ein logisch-metaphysisches Postulat gemacht - und nicht nur  konstatiert. Durch den sehr starken Glauben an die Existenz eines Ich ist dessen Realität nicht im Geringsten dargelegt."

"Bei der Entstehung der  Sprache geht es nicht logisch zu, sie macht aus Vielheiten Einheit durch das Wort, aus dem Fließenden, Werdenden ein Festes, Seiendes, aus dem Zustand, Verhältnis ein Ding, kurz sie prägt der Wirklichkeit einen künstlichen Charakter auf. Die  Worte sind nur Symbole für die Relationen der Dinge untereinander und zu uns und berühren nirgends die absolute Wahrheit."

"Wir besitzen heute genau soweit Wissenschaft, als wir uns entschlossen haben, das Zeugnis der Sinne  anzunehmen ... Der Rest ist Mißgeburt, Theologie, Psychologie, Erkenntnistheorie. Oder Formalwissenschaft, Zeichenlehre: wie die Logik und jene angewandte Logik, die Mathematik. In ihnen kommt die Wirklichkeit gar nicht vor, nicht einmal als Problem."


Vorwort

Bei dem großen Reichtum an NIETZSCHE-Literatur fehlt doch bisher eine ausführlichere, zusammenfassende und kritische Darstellung der  theoretischen  Philosophie NIETZSCHEs. Ich hielt es daher für angebracht, eine solche Darstellung zu versuchen. Trotz der Lückenhaftigkeit der NIETZSCHEschen Ausführungen, trotz der nicht selten darin zutage tretenden Widersprüche glaube ich eine wenn auch nicht ganz streng "systematische", so doch einheitliche Verbindung der Grundgedanken hergestellt zu haben. Daß dieselben, bei allem Wechsel zwischen "dionysischer" und "appolinischer" Lebensanschauung in der Entwicklung des philosophischen Denkens NIETZSCHEs, einen festen Kern enthalten, dürfte aus der vorliegenden Darstellung hervorgehen. Eine kritische Untersuchung der Erkenntnistheorie und der Metaphysik NIETZSCHEs erschien mir umso interessanter, als ich bemerkte, daß manches in dessen Lehre mit dem "Positivismus" von Denkern wie ERNST MACH, WILHELM OSTWALD u. a., sowie mit dem "Voluntarismus" moderner Philosophen wie WILHELM WUNDT u. a. gemein hat. In NIETZSCHEs Deduktion der Kategorien fand ich in Wahrheit und Irrtum gemischt. Einerseits war mir die Ableitung der inneren Erfahrung sympathisch, andererseits konnte ich die daraus gezogenen subjektivistischen Konsequenzen nicht teilen; im Gegenteil meine ich, daß es gerade die Funktion der Kategorien ist, aus den Objekten des Erkennens Subjekte, d. h. uns analoge, selbständige, bewußtseins-transzendente Wirklichkeiten zu machen. Die  biologische  Auffassung des Erkennens, die in NIETZSCHE einen entschiedenen Anhänger hat, erscheint mir zwar von ihm überschätzt, insofern er nicht gerechtfertigte Schlüsse aus ihr zieht, hat aber im allgemeinen eine Bedeutung, die neuerdings von englischen und deutschen Forschern (auch von RICHARD AVENARIUS) anerkannt wird.

Manchen wird es befremden, von einer "Metaphysik" NIETZSCHEs zu hören, da doch bekanntlich die Metaphysik keinen größeren Gegner gehabt hat als NIETZSCHE. Nun ist es wahr, daß dieser alle wirklichkeitsfeindliche, auf ein Jenseits von "Dingen ansich" hinzielende Metaphysik perhorresziert [ablehnt - wp]. Nichtsdestoweniger finden sich bei ihm Ansätze zu einer "immanenten" Metaphysik, zu einer allgemeinen, die Tatsachen der Erfahrung zusammenfassenden und einheitlich deutenden Weltanschauung. Seine metaphysische Erkenntnis unterscheidet sich von älteren Formen derselben nur darin, daß diese alle Erfahrung zu überschreiten versuchen, während die "reine" Erfahrung durch die Elimination aller hypothetischen Zutaten herstellen will. Hierbei kann sie aber nicht umhin, die "äußere" Erfahrung, die uns nur Objekte zeigt, durch die "innere" zu ergänzen, die uns selbst als Subjekte vorfinden läßt. So wird schließlich die äußere Erfahrung doch überschritten, ohne aber ins Nebelreich des "Absoluten" vorzudringen. NIETZSCHEs philosophisches "System" ist eine Art  naturalistischer Pantheismus [Gott ist überall. - wp] Meine von NIETZSCHE abweichende Auffassung der Kategorien und des Geistigen führt zu einem voluntaristischen, aber nicht antilogischen Panentheismus [das Universum als Teil Gottes - wp]. Als Unterbau für diesen scheint mir die Metaphysik NIETZSCHEs in mancher Hinsicht nicht ungeeignet. Selbstverständlich konnte in der vorliegenden Schrift nur in knappester Weise auf die eigenen Anschauungen Bezug genommen werden. Wer aber trotzdem noch zu viel von diesen findet, möge bedenken, daß mir nicht bloß an der Darstellung der Gedanken NIETZSCHEs, sondern auch an meiner Auseinandersetzung mit diesen, die für eine gewissen philosophische Strömung typisch sind, lag. (1)



A. Erkenntnistheorie

I. Methode und Voraussetzungen
der Erkenntnistheorie

In zwei Formen ist die Erkenntnistheorie aufgetreten: als Erkenntnispsychologie und als Erkenntniskriti. Die psychologische Methode finden wir besonders bei den englischen Philosophen von LOCKE an bis auf unsere Tage, die kritische, "transzendentale" vorzugsweise bei deutschen Erkenntnistheoretikern, wenigstens bei jenen, welche von KANT mehr oder weniger beeinflußt erscheinen. Es kommt vor, daß beide Arten des Verfahrens einander feindlich gegenüberstehen, aber auch eine Vereinigung der beiden Methoden ist zu verzeichnen. Und es ist sicher, daß dies das Richtige ist. Denn eine bloße Psychologie des Erkennens, d. h. Beschreibung, Analyse der Erkenntnisfunktionen sowie die genetische Ableitung der allgemeinen Erkenntnisprodukte ist noch nicht Erkenntniskritik. Andererseis bedarf das "transzendentale" Verfahren, das in der Aufzeigung der Bedingungen des Erkennens sowie in der Prüfung von dessen Gültigkeit, Umfang und Grenzen besteht, einer festen Grundlage von Tatsachen. Die einzig rationale Methode der Erkenntnistheorie besteht somit zunächst in der auf innerer Erfahrung und Analyse dieser beruhenden Konstatierung der Erkenntnistatsachen, dann aber in der Kritik der so gewonnenen Ergebnisse, d. h. in der Scheidung dessen in der Erkenntnis, was wirklich unmittelbar vorgefunden, erfahren wird, von dem, was in unserem Ich, im erkennenden Subjekt seine Quelle hat, was Zutat seitens des Denkens, seitens des geistig-körperlichen Organismus überhaupt ist. Will man die Leistungsfähigkeit unserer Erkenntnisorgane feststellen, will man den wahren, ursprünglichen Sinn und Inhalt aller das Erkennen konstituierenden Begriffe entdecken, so ist vor allem eine genaue Reflexion darauf nötig, was eigentlich seelisch in uns vorgeht, wenn wir mit Bewußtsein diese Begriffe gebrauchen. Darum handelt es sich, die "Meinung" der auf die Erkenntnistätigkeit bezüglichen Worte, das Motiv, das uns zu ihrer Prägung und Verwendung veranlaßte und noch veranlaßt, durch wiederholte Besinnung, durch eine Art Rückversetzung in den "naiven", vorphilosophischen Zustand klarzulegen. Durch den häufigen Gebrauch der Worte, die sich auf das Erkennen beziehen, ist deren Urbedeutung aus dem Bewußtsein geschwunden. Bestimmten Bewußtseinsfunktionen verdanken diese Worte und die zu ihnen gehörigen Begriffe ihren Ursprung, allmählich werden sie unbewußt, "mechanisiert", jetzt aber sollen sie zu etwas Gewußtem gemacht, sie sollen "apperzipiert", klar und deutlich erfaßt werden.

Beschreibung, Ableitung, Wertung des Erkenntnisprozesses in allen seinen Phasen, Momenten und Grundgebilden, das ist die Aufgabe der Erkenntnistheorie. Der Zweck dieser Disziplin ist die Einsicht in die Möglichkeit und die Grenzen unserer Erkenntnis. Was können wir alles erkennen, und welche Bedeutung haben die Grundbegriffe, die sich in jeder Wissenschaft finden? Ist unser Wahrnehmen, unser Denken auf das Erfassen der Wirklichkeit eingerichtet oder nicht? Welchen Charakter hat diese Wirklichkeit: ist sie etwas für sich, unabhängig vom Erkennen Seiendes oder ist sie nur wirklich als Gegenstand wirklichen und möglichen Erkennens, d. h. ist sie transzendent, jenseits allen Wissens existierend, oder immanent, im Bewußtsein als solchem eingeschlossen? Ferner: sind unsere Empfindungsqualitäten, dann unsere Anschauungsformen (Zeit und Raum, Bewegung) sowie die Denkmittel oder Kategorien (Kausalität, Substantialität, Finalität) von objektiver oder nur von subjektiver Gültigkeit oder subjektiv und objektiv zugleich? Erst nach einer Beantwortung all dieser und weiterer aus ihnen sich ergebenden Fragen darf man daran denken, die Ergebnisse der Einzelwissenschaften zu einer einheitlichen, begreiflichen Weltanschauung zu verknüpfen, also Metaphysik zu treiben.

Daß NIETZSCHE kein systematischer Denker, kein "geschulter" Philosoph ist, das braucht wohl nicht erst begründet zu werden. Schon der aphoristische Charakter der meisten seiner Schriften läßt dies deutlich erkennen. Von der starren Formalphilosophie mit ihrer dialektischen oder ontologischen Methode ist NIETZSCHEs Philosophieren weit entfernt. Ihm kommen die Gedanken als geniale Einfälle, Lichtblitze, hervorgerufen durch einen ganz außerordentlich gesteigerten Assoziationsprozeß, der aber nicht in mechanischer, geistloser, zufälliger Form funktioniert, sondern der getragen und bewegt wird von jenem System von Triebkräften, die in ihrem Zusammenhang das Ich, die Persönlichkeit bilden. Nicht derart philosophiert NIETZSCHE, daß er aus einem Begriff einen anderen, aus diesem wieder einen anderen und so fort entwickelt, oder Schluß auf Schluß fügt, Urteil auf Urteil, sondern immer wieder taucht sein Denken unter in den tiefen Schacht persönlichen Fühlens und Wollens, um Einsicht auf Einsicht zu schöpfen, große und kleine, wahrhaft erhellende und auch solche, die nur blenden, Gares und Halbgares, Dauerndes und Flüchtiges. Wie die Stimmung und der gemütliche Untergrund überhaupt bei NIETZSCHE oft so veränderlich waren, wie die allmählich errungenen Einsichten auf die alten modifizierend einwirkten, so stellen sich auch seine philosophischen Gedanken nicht immer freundlich und verträglich zueinander, an Widersprüchen fehlt es nicht, an wirklichen, oft freilich auch nur an scheinbaren Gegensätzen der Ansicht. Vergleicht man aber alles, was NIETZSCHE auf dem Feld der Erkenntnistheorie und Metaphysik gedacht hat, untereinander, weiß man den roten Faden, der sich durch das Ganze hindurchzieht, festzuhalten und zu verfolgen, so findet man bald heraus, daß nicht bloß eine stattliche Menge Bausteine zu einer Erkenntnistheorie und zu den Anfängen einer Metaphysik vorhanden sind, sondern auch feste Grundanschauungen, streng logische Argumente, kurz innerer Zusammenhang in der bunten Mannigfaltigkit der Aussprüche.

Im Einzelnen denkt NIETZSCHE impulsiv, intuitiv, was er gerade an einem Stück des Lebens, des Denkens, des Seins bemerkt, das formuliert er, oft in schroffster Weise, mit Übertreibung. Das geniale Durchdringen des Charakteristischen der Dinge und Vorgänge, besonders der geistigen, ist seine starke, aber freilich auch seine schwache Seite. Denn es macht ihn oft blind für vieles ebenso Wichtige, das er aber nicht, oder nicht so wie das andere, sieht. So gelangt er zu Ergebnissen, die man durchaus nicht anzuerkennen braucht, wiewohl man vielfach genötigt ist, vieles in den Prämissen zuzugeben. Ein "objektiver" Denker war NIETZSCHE nur in dem Sinne, daß er sich möglichst frei von menschlichen Vorurteilen aller Art zu machen suchte; er will überall den Dingen auf den Grund gehen, nicht bloße "Vordergrundsansichten" gewinnen. Aber die Objektivität der Wissenschaft, die kühle Ruhe des Betrachtens und der Reflexion, die alle Momente als Momente zur ihrem Recht kommen läßt, die sorgsam prüft, erwägt und wieder erwägt, sich von verführerischen Analogien nicht zu voreiligen Induktionen verleiten läßt, die besaß NIETZSCHE nicht. Er kämpft auch nicht selten gegen Meinungen, die er selber teilt, nur, weil sie andere anders formulierten, er sieht manchmal nicht, daß er die Irrtümer, die er bei anderen zurückweist, selbst begeht.

Ein "Skeptiker" ist NIETZSCHE durch und durch. Sein Grundsatz ist, nichts als gegeben hinzunehmen, nichts zu glauben, was nicht einem energischen Prüfen standhält. (2) Allerdings ist ihm die Skepsis nicht Endpunkt des Denkens, er will sich nur durch die Negierung aller "Dogmen" durchringen zu einem positiven Weltbild. Da aber dieses Positive auszubauen NIETZSCHE nicht ganz vergönnt war, so tritt in seinen Schriften das Negative, Negierende, Zweiflerische übermäßig hervor. Er bewährt sich stets als ein glänzender Zergliederer des Vorgefundenen in Natur und Geist, er führt die Analyse gern so weit, daß ihm schließlich zuweilen nichts mehr in den Händen bleibt. Geradezu zerstörerische erscheint er oft angelegt, man merkt ihm die Lust an, die ihm das Durchschneiden aller Gewebe des "Seienden" bereitet. Er selbst gesteht dies wiederholt. Die Erkenntnis als Ergebnis des Denkens ist ihm Nebensache, das Forschen, Ergründen, Erschauen, das liegt ihm am Herzen. Erkenntnistheorie ist für ihn im Grunde nur ein Feld, wo sein analytischer Trieb sich frei und ungehemmt betätigen kann.

NIETZSCHEs Methode ist im Grunde die des  Kritizismus.  Aufgrund beständig geübter Selbstbeobachtung hat NIETZSCHE eine ungemein hohe Feinfühligkeit, eine eminente Spürkraft für alle  Motive  des Erkennens erlangt. Die transzendentale verbindet sich bei ihm innigst mit der psychologischen Methode. Die Urfakta, die Grundlagen, Quellen unserer Begriffe durch Analyse zu finden, den Inhalt dieser Begriffe auf das hin zu prüfen, was dem Subjekt, dem Ich entstammt, den Zweck zu ergründen, dem das menschliche wie alles Erkennen dient, das ist das Ziel, das er beständig im Auge hat. Er geht hierbei nicht, wie KANT und andere Erkenntnistheoretiker, Schritt für Schritt vor, Begriff mit Begriff verbindend, mit vollem Bewußtsein jedes zurückgelegten Wegstücks, sondern mehr intuitiv, in der Weise, daß ihm der Sinn der Begriffe in Form einer Gesamtvorstellung aufgeht, die er uns so vorführt, wie er sie konzipiert. Er denkt mehr konkret, mehr nach Art der künstlerisch schöpferischen, erratenden, antizipierenden Phantasie als in abstrakter und stetiger Weise. Er versenkt sich gleichsam in jeden Begriff und läßt ihn so zum Bewußtsein seiner selbst kommen. Indem NIETZSCHE überall nach dem Ursprung und der Urbedeutung der Grundbegriffe des Erkennens fragt, von jedem verlangt, er solle sich vor ihm rechtfertigen, seine echte Natur enthüllen, verfährt er kritisch, scheidet er die subjektiven Bedingungen der Erkennetnis von derem nackten Inhalt. Er sucht alles auf seinen wahren Wert zurückzuführen, "Umwertung" auch hier die Hauptsache. So erhalten die Begriffe ihre Schranken und Grenzen; das Maß ihrer Gültigkeit, Brauchbarkeit wird festgesetzt. Auflösung der Begriffe in ihre Elemente, "Chemie der Begriffe" (3), die ihm als Mittel hierzu.

Voraussetzungen, die an der Spitze der Erkenntnistheorie als unbedingte Wahrheiten zu stehen hätten, kann es nach NIETZSCHE nicht geben. Absolut gewiß ist nichts als die Existenz eines  vorstellenden Seins.  Dies ist eine Tatsache, ein Erlebtes, Vorgefundenes, nichts Angenommenes, Erdachtes. Daher erklärt NIETZSCHE den Satz des DESCARTES:  cogito ergo sum [Ich denke, also bin ich. - wp] für unbewiesen. Sicher ist nur: "ich stelle vor, also gibt es ein Sein:  cogito, ergo est [Ich denke, also ist es. - wp] "Daß  ich  dieses Vorstellen des Seins bind, daß eine Vorstellung eine  Tätigkeit des Ich  ist, ist nicht mehr gewiß: ebensowenig alles,  was  ich vorstelle. - Das einzige Sein, welches wir kennen, ist das  vorstellende  Sein." (4) An das "Ich", das denkt, wird nur geglaubt, die innere unmittelbare Erfahrung zeigt nichts von einem solchen seienden, beständigen, substantiellen Ich. "Es wird gedacht; folglich gibt es Denkendes: darauf läuft die Argumentation des CARTESIUS hinaus. Aber das heißt, unseren Glauben an den Substanzbegriff schon als  wahr a priori  ansetzen: - daß, wenn gedacht wird, es Etwas geben muß,  das denkt,  ist einfach eine Formulierung unserer grammatischen Gewöhnung, es wird hier bereits ein logisch-metaphysisches Postulat gemacht - und nicht nur  konstatiert".  Durch den sehr starken Glauben an die Existenz eines Ich ist dessen Realität nicht im Geringsten dargelegt (5).

NIETZSCHE hat darin Recht, daß durch das Bewußtsein des Denkens von sich selbst noch nicht die Existenz eines vom Denken verschiedenen, für sich bestehenden und substantiellen Ichs im Sinne eines geistigen Wesens gegeben ist. Aber er übertreibt entschieden seine Polemik gegen den "ich denke, also bin ich" Satz. Im und mit dem Denken erfahren wir unmittelbar ein inneres (nicht körperliches) Sein oder besser eine innere Tätigkeit, die sich von anderen Tätigkeiten dadurch unterscheidet, daß sie nicht auf andere Wesen, sondern auf sich selbst bezogen wird. Die Ichheit, das Subjektsein ist dem Denken immanent. Wir bringen nicht einen irgendwoher genommenen Ich-Begriff an unser Denken heran, sondern das Denken selbst erzeugt aus sich selbst heraus das Ichbewußtsein. Denken ist, rein subjektiv genommen, eine Willensfunktion, eine wählende, "apperzeptive" Tätigkeit, die in allen Modifikationen sich selbst als die gleiche, gleichartige weiß. Das Ich ist die Einheit, Stetigkeit und Einerleiheit in allem Denken, die Permanenz der wollend-denkenden Bewußtseinstätigkeit. Da aber niemals ein Denken ohne einen Inhalt, ein Objekt vorkommt, ist der Tatbestand der, daß Ich- und Objektbewußtsein zugleich als Produkte einer Zerlegung des "ursprünglich" ungetrennten Erlebnisses entstehen. Ich und Objekt (Vorstellungsinhalt) sind im primitiven Bewußtsein implizit gegeben, allmählich sondern sie sich voneinander und treten einander immer deutlicher und abgegrenzter gegenüber. Das primitive, dumpfe Ichgefühl differenziert sich zum Selbstbewußtsein. Das Ich ist auf keiner Stufe des Bewußtseins eine besondere Substanz, aber durch seine Einheit und Einerleiheit, durch sein Permanieren wird es zur Quelle des Substanzbegriffs und hat damit selbst substantiellen Charakter. Es "ist Substanz" heißt aber nur: es hat Eigenschaften, derentwegen wir es "Substanz" nennen. "Substanz" ist der beharrende "Träger", der konstante Faktor in einem Geschehen, das braucht aber kein starrer, träger Klotz zu sein, auch ein durch und durch lebendiges, in allen Einzelzuständen wechselndes, der Form nach aber bleibendes, einheitliches Wesen, eine permanente Tätigkeit, die sich selber als tätig weiß, ist in gewissem Sinne "Substanz". Doch davon später. -

Gern wird von den Philosophen die Überzeugung ausgesprochen, daß der Mensch fähig sei, die Wirklichkeit zu erkennen. Wie und was wir zu erkennen vermögen, wollen sie dahingestellt sein lassen, aber die Voraussetzung müsse gemacht werden, daß es ein wahres Erkennen gibt, daß dieses auf die Wirklichkeit angelegt ist, daß ein Erkenntnistrieb ursprünglich im Menschen vorhanden ist, daß eine Korrespondenz zwischen den Formen des Erkennens und denen des Seins besteht, und dgl. NIETZSCHE gibt zu, daß wir den Glauben hegen, daß unsere Urteile die "Wahrheit" treffen könnten, hält diesen Glauben aber für ein Vorteil. (6) Keine Kongruenz zwischen Denken und Wirklichkeit darf vorausgesetzt werden. (7) Einen Eigenwart hat das Erkennen nicht. Es dient nicht dem Erfassen der Wirklichkeit, sondern einem ganz anderen Zweck. Darum liegt NIETZSCHE nur an den  Motiven  des Erkennens, ist ihm das objektive Bestehen der Erkenntnis "ein Greuel". (8)

Kurz: für NIETZSCHE ist Bewußtsein, Erkennen nichts Primäres, es ruht vielmehr auf etwas Tieferem, dessen Funktion es ist. NIETZSCHEs Erkenntnistheorie ist  biologisch  und dies bis zum Extrem. Seine Grundvoraussetzung ist, daß alles Erkennen eine Lebensfunktion ist, dem Leben dient und nur für die Zwecke des Lebens eingerichtet und passend ist. Nur faßt NIETZSCHE das Leben nicht materialistisch auf, als Funktion der Materie, sondern das Leben ist ihm eine Betätigung des "Willens zur Macht". So erfährt die biologische Wertung des Erkennens eine metaphysische Deutung. Beiden Gesichtspunkten, dem biologischen wie dem metaphysischen, verdankt NIETZSCHE eine Fülle treffender Einsichten. Die Umwertung des Begriffs "Wahrheit" ist hier von größter Wichtigkeit, sie bildet den Kern und Angelpunkt von NIETZSCHEs Erkenntnistheorie. In seinen Anschauungen über den Wert der Wahrheit hat er vieles teils mit der (von HERAKLIT beeinflußten) griechischen  Sophistik teils mit der  evolutionistischen  Erkenntnistheorie unserer Zeit gemein.Im übrigen nähert er sich dem Standpunkt des  idealistischen Positivismus  mit seiner skeptischen Kritik der Grundbegriffe unseres Erkennens. Direkt beeinflußt ist NIETZSCHE in erkenntnistheoretisch-metaphysischer Beziehung von HERAKLIT, den er sehr hoch schätzt, (9) von den vorsokratischen Philosophen Griechenlands überhaupt, dann aber besonders von SPINOZA, GOETHE, SCHOPENHAUER, dessen Anhänger er anfangs war, über den er aber bald hinausging, wiewohl er immer die voluntaristische Weltanschauung verfochten hat. Durch seinen Optimismus steht er in schroffstem Gegensatz zu SCHOPENHAUER, an dessen Lehren er übrigens schon als Anhänger Kritik übte (9).


II. Der Begriff "Wahrheit".

Die gewöhnliche und auch von den meisten älteren Philosophen rezipierte Ansicht bezüglich der Natur der Wahrheit ist, sie sei die "Übereinstimmung des Vorstellens oder Denkens mit der Wirklichkeit". Ein Urteil ist demnach wahr, wenn es ein Sein, ein Geschehen in der Wirklichkeit richtig, getreu abbildet in Vorstellungen oder Begriffen. Eine solche Auffassung der "Wahrheit" geht von der Voraussetzung aus, daß es eine vom erkennenden Subjekt unabhängig existierende Welt von Dingen und Geschehnissen gibt und daß unser Bewußtsein imstande ist, die Eigenschaften und Verhältnisse der Dinge mehr oder weniger korrekt abzuspiegeln. Der Glaube an eine "absolute Wahrheit", die durch die Sinne oder durch das begriffliche Denken oder durch die Vereinigung beider Funktionen erreicht werden soll, wird stets von den Skeptikern in Frage gestellt. Sie weisen auf die Abhängigkeit allen Erkennens vom Subjekt, welches erkennt, hin, auf die Subjektivität und Relativität aller Erkenntnisse, sie betonen, daß alle Aussagen, die wir über die Dinge fälle, nichts über deren eigenes Sein berichten, sondern nur dartun, in welchen Beziehungen wir, d. h. dieser und jener, zu ihnen stehen. Eigentlich urteilen wir als nicht über die Dinge, sondern über jeweilige Zustände in uns, die von den Dingen hervorgerufen sein mögen. "Der Mensch ist das Maß aller Dinge" sagt bekanntlich der Sophist PROTAGORAS.

Der Idealismus wiederum betont: alles Sein ist Bewußtsein, was wir Dinge nennen, das besteht insgesamt aus wirklichen oder möglichen Vorstellungskomplexen, die natürlich nicht ohne ein vorstellendes Subjekt Bestand haben. Sagt der skeptische Subjektivismus, es gibt keine absolute Wahrheit, alles ist falsch, auf die Dinge-ansich bezogen, wahr, auf das Einzelsubjekt bezogen, so erklärt der erkenntnistheoretische subjektive Idealismus: Wahrheit besteht im richtigen Urteilen, d. h. in Sätzen, welche die tatsächlichen konstatierbaren Verhältnisse der Vorstellungswelt zum Ausdruck bringen. Wenn wir unsere Vorstellungen, Gedanken so verknüpfen, wie sie kraft der immer mehr sich vervollkommenden, wissenschaftlichen Erfahrung verknüpft werden sollen und müssen, so sind die so entstandenen Urteile wahr. Wahrheit bedeutet hier also nicht mehr die Kongruenz des Vorstellens oder Denkens mit dem Sein ansich, sondern teils die richtige Nachbildung der vorgestellten, erfahrenen aber immanenten Wirklichkeit (die nicht außerhalb des Bewußtseins liegt) in Erinnerungsvorstellungen oder Begriffssynthesen, oder auch die der wissenschaftlichen Norm entsprechende Beziehung eines Ausschnittes der immanenten Wirklichkeit auf einen anderen. So ist z. B. das Urteil: "Wien liegt an der Donau" wahr, weil einerseits die gedankenhafte Synthese Wien-Donau der wahrnehmbaren wirklichen Verbindung entspricht, andererseits die Beziehung Wien-Donau schon primär, d. h. bei der unmittelbaren Wahrnehmung von allen normal Wahrnehmenden und Denkenden hergestellt werden muß. Dessenungeachtet sind "Wien" und "Donau" zunächst mindestens nur Komplexe wirklicher und potentieller objektiver Bewußtseinsinhalte, nicht "Dinge-ansich". Denn alle Eigenschaften, die wir von ihnen aussagen können, sind solche, die an ein erfahrendes Subjekt überhaupt gebunden sind.

Während der naive und dogmatische Realismus unter Wahrheit die Übereinstimmung des Denkens mit einer transzendenten, selbständig existierenden Wirklichkeit versteht, der Subjektivismus jede allgemeingültige Wahrheit leugnet, führt der Idealismus, besonders der von KANT begründete "transzendentale", die Wahrheit auf Übereinstimmung der logisch und wissenschaftlich Denkenden untereinander und damit auf Allgemeinheit und Allgemeingültigkeit, d. h. Objektivität des Erkennens zurück. Was wir nach den Postulaten des wissenschaftlich-philosophischen Denkens und Anschauens verknüpfen müssen, das ist wahr und objektiv, zum Unterschied vom jeweiligen, beliebigen, individuell bedingten Urteil. Da die Objekte nichts anderes sind als Synthesen von Bewußtseinsinhalten, so kann man nicht von einer "Jllusion" und dgl. sprechen. Die Objekte und ihre Eigenschaften werden "erkannt", d. h. sie werden so verknüpft, wie es die Konstanz und Regelmäßigkeit unserer Erfahrungen in Verbindung mit den Gesetzen der Anschauung und des Denkens fordert.

Weil die allgemeingültig ausgeführten Synthesen auf allgemeinen Erfahrungen und allgemeinen Denkgesetzen beruhen, stimmt die Wirklichkeit mit unserem Denken überein, und dies umso mehr, je fortgeschrittener diese ist. Daher kann, mit Ausnahme der mathematischen, logischen und vielleicht noch einiger anderer Axiome, von einer absoluten Wahrheit nicht die Rede sein. Die Wahrheit ist niemals und nirgends ganz und ungetrübt, sie wird und wächst beständig als Folge des Hinwegräumens von Irrtümern, d. h. falschen Schlüssen, mangelhaften Erfahrungen, Vorurteilen und dgl.

Also nur dann ist alle Wahrheit Jllusion, wenn man die Subjektivität unseres Erkennens behauptet, aber dabei die Dinge und ihre Eigenschaften als transzendent, jenseits allen Bewußtseins und Erkennens bestehen läßt. Sieht man aber, wie die KANT getan hat, ein, daß die Gegenstände der Außenwelt samt ihren Eigenschaften als solche "Phänomene", objektive, allgemeine, gesetzmäßig verknüpfte Bewußtseinsinhalte und nichts anderes sind, dann gibt es eine "wahrhafte" Wahrheit. Alle Urteile, deren Aussagen in der Erfahrung eintreffen, werden bestätigt oder vorläufig bzw. immer als empirisch konstatierbar gedacht werden müssen, sind wahr. Es bleibt hierbei jedem unbenommen, transzendente Faktoren, ein Ansich-Sein der Dinge (das nicht wieder aus "Dingen" besteht) anzunehmen. Es wird dann einfach der erkenntnistheoretische Begriff der Wahrheit den metaphysischen Zusatz erhalten, daß die gesetzmäßige, objektive Verknüpfung von Bewußtseinsinhalten, wie sie von den transzendenten Faktoren der Dinge veranlaßt wurde, so auch Bestimmtheiten, festen Beziehungen derselben untereinander und zum Erkennenden gerecht wird. Unsere Erkenntnisse bilden dann ein System objektiver Zeichen für transzendente Verhältnisse. Davon wird weiter unten die Rede sein.

NIETZSCHEs Theorie der "Wahrheit" ruht auf einer idealistischen Grundlage, weicht aber in der ganzen Fassung sowie in den mannigfaltigen subjektivistischen und relativistischen Einschlägen nicht unbeträchtlich vom transzendentalen Idealismus KANTs und der modernen Erkenntnistheorie ab. In vieler Beziehung nähert er sich den Philosophen des griechischen Altertums, soweit dieselben den Subjektivismus und Relativismus vertraten. Den  homo-mensura-Satz (11) des PROTAGORAS macht er sich ganz zu eigen; der Mensch ist ihm "das Maß aller Dinge", alles Erkennen ist ihm menschlich bedingt, durch und durch anthropomorph, alle Wahrheit Menschen-Wahrheit und nichts anderes. Ein Wahn ist ihm der Glaube an eine absolute, eine Wahrheit ansich, an ein "reines" Erkennen. Auf "Satzung"  (thesei,  wie die Alten sagten), Übereinkommen beruth alle Wahrheit. Es ist interessant zu sehen, was aus der kantischen "Allgemeingültigkeit" bei NIETZSCHE wird, wie er das gattungsmäßige Erkennen ins Psychologische, Biologische, Physiologische wendet, im Gegensatz zu KANT, der alles logisch, transzendental, rationalistisch deutet. NIETZSCHE folgt damit jenen Philosophen, die wie F. A. LANGE, HELMHOLTZ, HERBERT SPENCER u. a. das kantische "a priori" im psychologischen Sinne nehmen, das menschliche, nicht bloß das "transzendentale Subjekt" in aller Erkenntnis betrachten und damit in gewissem Maße zu den Alten und zu den Empiristen des 18. Jahrhunderts, besonders aber hin zum gemäßigten Rationalisten LEIBNIZ zurückzukehren.

Bisher fragte man: wie ist Wahrheit möglich, wodurch ist wahre Erkenntnis erreichbar? NIETZSCHE geht auf den "Willen zur Wahrheit" zurück, der den Philosophen als etwas Ursprüngliches, Absolutes erscheint, und stellt ein neues Problem auf: was ist die eigentliche  Ursache  des sogenannten Wahrheitswollens, worin besteht der  Wert  desselben. Warum zieht man die Wahrheit der Unwahrheit vor und wählt nicht lieber die letztere? Er forscht also nach dem Motiv, das uns nach Wahrheit streben läßt. Indem er aber dieses Motiv erkennt, glaubt er schon den Wahrheitsbegriff umwerten zu müssen. Er findet, daß Wahrheit und Falschheit keine absoluten Gegensätze sind, daß die "Wahrheit" nicht an und für sich Wert besitzt, sondern daß dasjenige, was sie wertvoll macht, auch der Falschheit (dem Irrtum, der Jllusion) gemeinsam ist oder sein kann (12). Von dem so gewonnenen Standpunkt ist die Wertung der Urteile eine andere, eine solche, die sich auf die ursprüngliche Art des Wertens besinnt und einsieht, daß "wahr" eigentlich nichts anderes ist als was den Zwecken des Lebens dient, das Lebenerhaltende, Lebenfördernde, Arterhaltende, Art-Züchtende, kurz das biologisch Nützliche und Wertvolle (13). Das Kriterium der "Wahrheit", das Motiv zugleich, aus dem heraus ein Urteil ursprünglich als "wahr" charakterisiert wird, ist ein biologisches. Mit dem Erkennen der Dinge selbst hat also die "Wahrheit" nichts zu tun. Im Gegenteil: NIETZSCHE ist "grundsätzlich geneigt zu behaupten, daß die falschesten Urteile (zu denen die synthetischen Urteile a priori gehören) uns die unentbehrlichsten sind, daß ohne ein Geltenlassen der logischen Fiktionen, ohne ein Messen der Wirklichkeit an der rein erfundenen Welt des Unbedingten, Sich-selbst-gleichen, ohne eine beständige Fälschung der Welt durch die Zahl der Mensch nicht leben könnte, - daß ein Verzichtleisten auf falsche Urteile ein Verzichtleisten auf Leben, eine Verminderung des Lebens wäre. (14) So kann NIETZSCHE erklären: "Die Falschheit eines Urteils ist uns noch kein Einwand gegen ein Urteil." (15) Der Glaube an "synthetische Urteile a priori" z. B. ist nötig, weil ohne ihn die Menschen sich nicht im Dasein erhalten könnten, d. h. nehmen wir nicht a priori an, daß alle Umgebung, die antreffbar ist, räumlich-zeitlich-kausalen Charakter hat, daß alles Sein sich den Axiomen der Anschauung und des Denkens fügen muß, so könnten wir nichts ordnen, nichts berechnen, nichts abwehren. Also die Notwendigkeit, apriorische Urteile zu gebrauchen, die eine rein biologische ist, läßt die Möglichkeit zu, daß sie ganz  falsch  sind, d. h. daß ihnen die Wirklichkeit ansich nicht im Geringsten entspricht. (16) Das Leben schafft sich und wählt die Form des "Erkennens", die es braucht. Der Begriff einer Wahrheit ansich ist widersinnig, da die "Wahrheit" sich nicht auf das Verhältnis des Erkennens zum Sein, sondern nur auf die Beziehungen der "Erkennenden" zueinander und zu ihrer Vorstellungswelt erstreckt. (17)

Eigentlich, und das ist NIETZSCHEs Meinung, gibt es keine Wahrheit, diese im philosophisch-metaphysischen Sinn als Übereinstimmung des Erkennens mit der Wirklichkeit genommen. Nun haben wir aber doch den Begriff "Wahrheit". Was bedeutet dieser? Nichts als die Nützlichkeit einer Erkenntnis, eines Urteils für das Leben des Einzelnen, der Art, der Gattung. (18) Was dem Leben schädlich ist, das ist für uns "falsch". Alles Fürwahrhalten beruth demnach auf einer  Wertschätzung. (19) Alles Leben ist nach NIETZSCHE "Wille zur Macht", und auch alles Werten geht von diesem Willen aus. So ist dann alles "wahr", was dem Machtwillen dienlich ist. Die Erkenntnis arbeitet als Werkzeug der Macht. (20) Was für die Existenz des Menschen zweckmäßig ist, was seine Macht erhält und fördert, wird als wahr gewertet. Die Entscheidung über wahr und unwahr ist nur auf den  Erfolg  zu gründen. "Woran  ich  zugrunde gehe, das ist  für mich  nicht wahr, das heißt es ist eine falsche Relation meines Wesens zu anderen Dingen. Denn es gibt nur individuelle Wahrheiten, - eine absolute Relation ist Unsinn." (21)

Neben den rein individuellen unterscheidet NIETZSCHE die  gattungsmäßigen  Wahrheiten, die durch Konvention entstehen. Er betont hier den  sozialen  Faktor des Erkennens. Nachdem er ausgeführt hat, daß der Intellekt hauptsächlich der Verstellung im Kampf mit anderen dient, bemerkt er, daß in einem späteren friedlichen Status all das  fixiert  wird, was von nun an "Wahrheit" sein soll, das heißt, "es wird eine gleichmäßig gültige und verbindliche Bezeichnung der Dinge erfunden und die Gesetzgebung der Sprache gibt auch die ersten Gesetze der Wahrheit: denn es entsteht hier zum ersten Mal die Kontrast von Wahrheit und Lüge". (22) "Wahr" heißt also gattungsmäßig jeder Satz, der für die Dinge die allgemein eingeführten Namen gebraucht. Da nun die "Wahrheit" als soziales Bedürfnis erscheint, wird sie durch eine Metastase [Tochtergeschwulst - wp] nachher auf alles angewandt, wo sie nicht nötig ist. "Wahrhaft" sein bedeutet: nicht bewußt, willkürlich täuschen; die Wahrheit ist nur ein intersubjektives Phänomen, nicht mehr (23). Sie ist auch nicht als absolute Wahrheit notwendig, sondern nötig für das Leben ist nur der Glaube, daß man Wahrheiten besitzt; das Leben brauch Jllusionen. Der Mensch ist von Natur aus nicht zum Erkennen da, sein Intellekt ist nur ein Hilfsmittel zur Erhaltung des Daseins. (24)

Die alte Wertung, die von NIETZSCHE bekämpft wird, ist: "wahr" = "der Wirklichkeit - entsprechend". NIETZSCHEs Umwertung: "wahr" = "lebenerhaltend", "den Willen zur Macht dienend". Nach ihm besteht kein absoluter Gegensatz zwischen wahr und falsch, denn was wir Wahrheiten nennen, sind in Wirklichkeit nur gattungsmäßig fixierte, als brauchbar, notwendig anerkannte Irrtümer. Alle Wahrheit ist relativ und subjektiv. Was an "absoluter" Wahrheit existiert, ist rein negatier, absprechender Art, Erkenntnis, daß die Wirklichkeit nicht das und nicht so ist, als was wir und wie wir sie wahrnehmen und denken. Aus unserem menschlichen Bewußtsein und seinen Wertschätzungen und Vordergrundansichten kommen wir nicht hinaus. Sobald wir über eine Sache denken und sprechen, tun wir etwas zur Wirklichkeit hinzu, verfälschen wir die Welt. Das Erkennen des Einzelnen wie auch der Wissenschaft und der Metaphysik ist durch und durch anthropomorphistisch. Der einzige Fortschritt, den der "freie Geist" über die gewöhnliche Erkenntnis hinaus machen kann, besteht in der  Einsicht  in die Natur unseres Erkennens und seiner Irrtümer und in der daraus resultierenden möglichsten (völlig nicht durchführbaren)  Elimination  der fälschenden Zutaten in aller Erkenntnis. (25) Gründlichste Skepsis und Pessimismus der Erkenntnis müssen den Weg zu einer freieren, vernünftigeren, aufgeklärteren Auffassung und Wertung der Erkenntnistatsachen und der Wirklichkeit anbahnen. Für die praktische Lebensführung hingegen braucht und kann der fest eingewurzelte Glaube an die überkommenen allgemeinen "Wahrheiten" des Erkennens nicht aufgegeben zu werden, denn sein Wert besteht ja in der hohen lebenerhaltenden Kraft (26). Hier gilt es, "jeden Würfel so zu gebrauchen, wie er bezeichnet ist", wahrhaft zu sein, d. h. "herdenweise zu lügen". Beruhen ja alle "Wahrheiten" auf einem willkürlichen Abgrenzen, einseitigem Bevorzugen von Eigenschaften durch die Sprache, Verallgemeinern, Vereinfachen, Abstrahieren, Schematisieren, wodurch schließlich eine pyramidale Ordnung nach Kasten und Graden, eine neue Welt von Gesetzen, Festigkeiten, Regelmäßigkeiten, kurz ein festes Begriffssystem entsteht, in welches sich alles Einzelne einzufügen hat. (27)

Unstreitig steckt in den Ausführungen NIETZSCHEs ein haltbarer Kern, der freilich, wie dies bei diesem so impulsiven, temperamentvollen Denker nur allzuoft der Fall ist. Sicher ist erstens, daß alles Erkennen im engsten Zusammenhang mit dem Leben steht, daß es stets im Dienst desselben arbeitet; zweitens ist die Relativität der meisten Wahrheiten zuzugeben, und es ist anzuerkennen, wie wir ja bereits oben es dargelegt haben, daß die "objektiven" Wahrheiten zwar nicht mehr in einem individuellen Sinn "subjektiv" sind, wohl aber insofern, als sie in letzter Linie doch allgemein subjektiv bedingt, d. h. vom Standpunkt des Denkens und Erkennens überhaupt abhängig sind. Eine "Verfälschung" der Wirklichkeit aber findet nur dann statt, wenn wir vermeinen, daß unsere Wahrheiten durchweg und großenteils von den Dingen-ansich gelten oder auch daß die Erscheinungen ihnen unmittelbar entsprechen. Gegen allen Dogmatismus des Erkennens, der vergißt, daß das Meiste von Grundwahrheiten, die er für aus den Dingen heraus entnommene oder aufgrund der Erfahrung apodiktisch [mit Sicherheit - wp] erschlossene Wirklichkeitsverhältnisse hält, zunächst nichts anderes bedeutet, als die Formen, in welchen er, der Erkennende, das "Gegebene" gestaltet und gliedert, ist NIETZSCHE im Recht. Es fragt sich nur: erschöpft sich der Begriff "Wahrheit" mit der Bedeutung des "Lebenerhaltenden" oder liegt doch mehr darin; und ist das Formen, Gliedern, Vereinheitlichen, Festigen des Vorgefundenen zu einer Welt von Dingen mit Eigenschaften und Wechselwirkungen wirklich ein Fälschen der Wirklichkeit? Den "Anthropomorphismus" zugegeben: verhindert er durchaus ein Erkennen des Wirklichen? Vielleicht stellt es sich heraus, daß gerade das "Anthropomorphistische" in unserem Erkennen den einzigen Schlüssel zur Erfassung des "Wesens" der Welt gibt.

Sehen wir nun zu, was NIETZSCHE über das Erkennen im allgemeinen, sowie über dessen Funktionen, Bedeutung und Bedingungen lehrt.


III. Das Erkennen

Woher die Lust am "Erkennen", fragt NIETZSCHE; weist sie vielleicht auf einen ursprünglichen Erkenntnistrieb hin? Darauf lautet die Antwort: Lust am Erkennen empfinden wir:  1.  weil wir uns im Erkennen unserer Kraft bewußt werden,  2.  weil wir dadurch Sieger über ältere Vorstellungen werden oder es zu werden glauben,  3.  weil wir uns durch eine neue Erkenntnis über alle erhaben fühlen, die die von uns gewonnene Einsicht nicht besitzen. (28) Es gibt keinen Trieb nach Erkenntnis ansich, die reine Erkenntnis wäre trieblos. (29) Sondern die Erkenntnis arbeitet als Werkzeug der Macht; die Nützlichkeit der Erhaltung des Lebens und der Macht steht als Motiv hinter der Entwicklung der Erkenntnisorgane, um über die Realität Herr zu werden. (30) Wir haben gar kein Organ für das reine Erkennen, für die "Wahrheit", wir "wissen", "glauben", "fingieren" gerade so viel, als es im Interesse der menschlichen Gattung  nützlich  sein mag. (31) Erkennenwollen heißt, das Unbekannte auf Bekanntes zurückführen wollen; der Instinkt der Furcht zeitigt das Erkennen, ein "Sicherheitsgefühl" wird angestrebt. (32) Um der Realität besser Herr zu werden, um uns leicher zu verständigen, um Ordnung zu machen in diesem Chaos von Empfindungen aller Art, um gerüstet zu sein auf das Kommende, kurz: um leben und zwar machtvoll leben zu können, verknüpfen, vereinfachen, fingieren wir Seiendes und Dinghaftes, Regel und Gesetz, infolge einer rein  biologischen  Nötigung. (33) Unsere "Erkenntnis" ist nichts als eine Verarbeitung der Erlebnisse zu subjektiven Zwecken in rein subjektiven Formen und Schematen. Was wir später und jetzt für "wahr" halten, ist eben nur das als nützlich Erwiesene, Bewährte, Gewohnte und Ererbte. Das Wesen der Wahrheit ist also Wertschätzung, und das Vertrauen zur Vernunft beweist nur die erfahrungsmäßig erhärtete Nützlichkeit derselben zum Leben. (34)
    "Damit eine bestimmte Art sich erhält und wächst in ihrer Macht, muß sie in ihrer Konzeption der Realität so viel Berechenbares und Gleichbleibendes erfssen, daß daraufhin ein Schema ihres Verhaltens konstruiert werden kann." (35)
Es ist der  Wert  einer Erkenntnis, der ihre Wahrheit verbürgt.

Was ist nun die Erkenntnis, wenn man vom einzigen Zweck, dem sie dient, absieht? Ist sie da noch Erkenntnis, d. h. treue Wiedergabe der Wirklichkeit, wahrhaftes Wissen, um deren eigene, von uns unabhängige Natur? Das kann sie nach NIETZSCHE nicht sein, denn gerade durch unser "Erkennen", d. h. durch unser Schematisieren, Ordnen, Formen verfälschen wir den Charakter der Wirklichkeit. Abgesehen von den Irrtümern, die durch die Schwäche des Gedächtnisses, durch Vorurteile, Gewohnheiten, ererbte Anschauungen, Leidenschaften und dgl. entstehen, ist unser Erkennen nicht der Wirklichkeit adäquat, weil es durch und durch metaphorisch ist. Unsere "Wahrheit" ist
    "ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien [Namensvertauschung - wp], Anthropomorphismen, kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt werden, und die nach langem Gebrauch einem Volk fest, kanonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Jllusionen, von denen man vergessen hat, daß sie welche sind". Wahrhaft sein heißt nur "die usuellen Metaphern zu brauchen". (36)
Schon die Empfindung ist eine Metapher, die Übertragung eines Nervenreizes in ein Bild. Die Nachformung des Bildes (der Vorstellung) in einem Laut ist eine zweite Metapher. (37) Bei der Entstehung der  Sprache  geht es nicht logisch zu, sie macht aus Vielheiten Einheit durch das Wort, aus dem Fließenden, Werdenden ein Festes, Seiendes, aus dem Zustand, Verhältnis ein Ding, kurz sie prägt der Wirklichkeit einen künstlichen Charakter auf. Die  Worte  sind nur "Symbole für die Relationen der Dinge untereinander und zu uns und berühren nirgends die absolute Wahrheit." (38) In der Sprache stellte der Mensch eine eigene Welt neben die andere, einen Ort, welchen er für fest hielt. Sie enthält Voraussetzungen, denen nichts in der Wirklichkeit entspricht; das gleiche gilt von der Logik und Mathematik (39). Wir müssen, um leben zu können, das Fließende fest machen, dem Wirklichen Eigenschaften andichten. (40) So ist der Irrtum der Vater des Lebendigen, das Leben braucht Jllusionen. Die Menschen "sind tief eingetaucht in Jllusionen und Traumbilder, ihr Auge gleitet nur auf den Oberflächen der Dinge herum und sieht  Formen ihre Empfindung führt nirgends in die Wahrheit, sondern begnügt sich, Reize zu empfangen und gleichsam ein tastendes Spiel auf dem Rücken der Dinge zu spielen." (41) Die empirische Welt ist die anthropomorphisierte Welt; der Trieb zur Metaphernbildung ist ein Fundamentaltrieb des Menschen, der Organismen überhaupt. (42) Daher ist die Erkenntnis der Dinge wesentlich Schein; nur durch die Vergleichung vieler Scheine entsteht Wahrscheinlichkeit, eine Summe von Graden des Scheins (43). "Die Menschen sehen allmählich einen Wert und eine Bedeutung in die  Natur  hinein, die sie ansich nicht hat. " (44) Bevor wir Einsichten in die Dinge gewinnen, werten wir sie; dies verhindert den Zugang zur wirklichen Erkenntnis. Man müßte also "durch eine radikale Skepsis der Werte erst einmal alle Werturteile umwerfen, um freie Bahn zu haben." (45)

Der Mensch, das Maß aller Dinge, vergißt, daß er die Wirklichkeit nach sich selbst mißt, er vergißt sich als künstlerisch schaffendes, umformendes Subekt, und nur so lebt er mit einiger Ruhe, Sicherheit und Konsequenz; denn "alles, was lebt, lebt am Schein." (46) Von einer "richtigen Perzeption" der Welt zu reden ist Unsinn, denn zwischen zwei absolut verschiedenen Sphären, wie zwischen Subjekt und Objekt, gibt es weder Kausalität, noch Richtigkeit, noch Ausdruck, sondern höchstens ein  ästhetisches  Verhalten, "ein andeutende Übertragung, eine nachstammelnde Übersetzung in eine ganz fremde Sprache." (47) Alles Erkennen ist "ein Widerspiegeln in ganz bestimmten Formen, die von vornherein nicht existieren" und die nur für uns gelten, es ist ein Messen an einem Maßstab, daher "absolute" Erkenntnis soviel wie Erkennenwollen ohne Erkenntnis. Ziehen wir das Maß weg, bleibt nichts, was wir über die Dinge aussagen können. Der Spiegel aber, in dem sich die unbekannten  X die Dinge-ansich, darstellen, ist selber langsam entstanden. Von den niedersten Lebewesen, die alle genötigt sind, von sich aus als Kraftzentren die Dinge zu deuten, bis hinauf zum höchststehenden Menschen führt eine Stufenfolge von Entwicklungen, als deren Resultat sich eine immer deutlichere, reinere Widerspiegelung der Dinge ergibt. Eine Befreiung vom allzu Anthropomorphischen ist erreichbar, und diese strebt ja die Erkenntniskritik durch ein Aufzeigen der subjektiven Zutaten und der Schwächen der natürlichen Erkenntnisorgane schließlich an. (48) Durch die Entmenschung der Natur den reinen Begriff "Natur" gewinnen - das ist die Aufgabe, die NIETZSCHE sich in erkenntnistheoretischer Beziehung steckt. (49) Entgegen der durch Auslese, Ausscheidung und Vererbung entstandenen gattungsmäßigen Gestaltung des Weltinhalts will er neue Erkenntniswerte stellen. Dies gehört mit zu den großen, reformatorischen Aufgaben des Philosophen, des geborenen Gesetzgebers.

Das Prinzip des Relativismus wird hierdurch, durch die Elimination allzu menschlicher Irrtümer, nicht durchbrochen. Nur um die Herstellung möglichst reiner, eindeutiger Relationen, aus denen alle Erkenntnis entsteht und besteht, handelt es sich. Damit aber, daß, wie NIETZSCHE nachzuweisen sucht, unsere Vernunftkategorien und Seinsbegriffe als Imaginationen auftreten, gewinnt die Relationswelt, in der wir leben und weben, umso viel an Realität und Wert, wie die erdichtete transzendent-metaphysische Welt daran einbüßt.  Die kritisch gereinigte Idealwelt als die für uns einzig wertvolle und daher wahrhafte Realität aufzufassen, dazu müssen wir gelangen.  Denn so wird dem Leben am meisten gedient, so vereinigt sich alles dahin, unseren Willen zur Macht auf die fortschreitende Ausgestaltung des Lebens, der Kultur hin zu bestimmen. Der erkenntnistheoretische Pessimismus und Nihilismus ist bei NIETZSCHE demnach nur eine notwendige Durchgangsstufe, ein Moment im philosophischen Erkenntnisprozeß. Es ist der Wille zum Leben, der alle auf eine jenseitige, transzendente Welt seiender Dinge hinweisenden Erkenntnisse als falsch wertet, er darf es von dem Standpunkt aus, daß das Lebenerhaltende und Lebenfördernde der Maßstab aller Wahrheit ist.

Die Formen unseres Denkens, erklärt NIETZSCHE, sind keine Abdrücke der Wirklichkeit, sie dienen nur dazu, das Chaos unserer Erlebnisse zu ordnen. Weit entfernt, Verhältnisse der Wirklichkeit wiederzugeben, sind sie geeignet, den Inhalt unseres Erlebens zu verfälschen. Die Kategorien des Verstandes sind nichts als Vermenschlichungen der Erfahrung. Sie stammen nicht aus der Erfahrung, sind nicht durch diese veranlaßt und motiviert, und sind auch keine "angeborenen" Begriffe. die auf übersinnlichen Erkenntnissen beruhen. Sondern sie entstehen in und mit der Erfahrung, sind bedingt durch psychophysische Mängel, durch die Schwäche der Sinnesorgane, des Gedächtnisses, der Sprache. Die Phantasie ist die eigentliche Ursprungsstätte der Kategorien. So entstanden, werden sie durch Auslese und Vererbung fixiert, allgemeingültig und sind in diesem Sinne, im Verhältnis zu jeder Einzelerfahrung, a priori. Als Bedingungen der Lebenserhaltung sind sie auch Bedingungen allen "Erkennens". Einverleibte gattungsmäßige Irrtümer sind sie. Die Welt, die sie fingieren, wird nicht erfahren; weiß man aber, wie die Kategorien entstanden sind, dann hat es keinen Sinn mehr, ihre Gültigkeit für die Wirklichkeit selbst auch nur denkend anzunehmen.

NIETZSCHEs Auffassung der Kategorien mußte schon hier kurz erwähnt werden, weil erst damit völlig verstanden werden kann, was seine Erkenntniskritik bedeutet. Später kommen wir ausführlicher auf das Kategorienproblem zurück. Zunächst einige Worte über NIETZSCHEs Ableitung der Wahrheit und seine Ansicht vom Erkennen.

Man sieht jetzt immer deutlicher ein, daß eine Beleuchtung des Erkenntnisprozesses von einem  biologischen  und  evolutionistischen  Standpunkt zu Einsichten führt, die der bloß logisch-transzendentalen Behandlung der Erkenntnistatsachen unerreichbar sind. Hierzu kommt noch der Umstand, daß die moderne  voluntaristische  Psychologie viel geeigneter ist, das Erkennen in Verbindung zu den emotionalen und aktiven Bewußtseinsvorgängen zu setzen und alles auf eine einheitliche Wurzel zurückzuführen, als die frühere intellektualistische und die noch herrschende Assoziationspsychologie. Die drei Momente: das biologische (physiologische), evolutionistische und voluntaristische, finden sich bei NIETZSCHE vereint vor, und ihnen verdankt er unstreitig viel Gutes.

Ursprünglich gibt es kein Erkennen um seiner selbst willen, das ist nicht zu leugnen. Die Not des Lebens treibt den primitiven Menschen und schon das Tier, allerhand Kenntnisse zu erwerben, die der Erhaltung der Existenz dienen. Schon die Entstehung und Ausbildung, die Differenzierung und Entwicklung der Erkenntnisorgane, der Sinneswerkzeuge, Nerven, Ganglien, des Cerebrospinalsystems, ist das Produkt der Wechselwirkung zwischen der Umgebung der Lebewesen und des Lebenstriebes in diesen. Nur durch Erkenntnisorgane, welche befähigen, die Wirkungen der Umgebung zu kennen, voneinander zu unterscheiden, sie, wenn schädlich, abzuwehren, wenn aber nützlich aufzusuchen und anzueignen, konnte eine organische Existenz, ein Wachstum des Lebens erzielt und behauptet werden. Das Leben erfordert objektiv Erkenntnis, sei sie noch so primitiv, und die Lebenskräfte, Lebenstriebe (als die "Innenseite" der physikalisch-chemischen Konstitution der Wesen, nicht als geheimnisvolle Agentien) schaffen sich, von außen genötigt, Organe für die Erkenntnis. Sind diese aber einmal entstanden, so arbeiten sie zunächst nur im Dienst des physischen Lebens. Sie sind Hilfsmittel zum Aufsuchen, Herbeischaffen der Nahrung, Schutzmittel gegen Feinde aller Art, gegen die tote und lebende Natur, schließlich sollen sie auch das Leben verbessern: sie dienen der Entwicklung. Die Erkenntnis (nebst ihren Organen) ist also sowohl ein Produkt wie auch ein Faktor der Evolution.

Nun findet eine Wechselbeziehung zwischen Erkenntnisorganen und Erkenntnisfunktionen statt: die Ausübung der Erkenntnistätigkeit wirkt fördernd auf die Erkenntniswerkzeuge ein, und diese wiederum ermöglichen durch ihr Erstarken und ihre Verfeinerung bessere Erkenntnis. Das gilt für das individuelle Leben, ontogenetisch, besonders aber für das Leben der Gattung, phylogenetisch. Auf diese Weise erfolgt eine immer größer werdende Anpassung des Erkennens an die Umgebung. Diese wird in ihren Bestandteilen immer genauer, vollständiger perzipiert und immer vollkommener apperzipiert, d. h. geistig verarbeitet. Die Sinne lernen allmählich feinere Reizunterschiede wahrnehmen, was erst als eine Einheit erschien, zerlegt sich dem schärferen Blick, der durch künstliche Apparate verstärkt wird, in eine Mannigfaltigkeit von Qualitäten. Andererseits lernt das Denken Zusammenhänge da zu finden, wo früher alles isoliert erschien, wie es auch das scheinbar Feste, Kompakte immer weiter zu zergliedern versteht. Kurz, die Fähigkeit der Analyse und Synthese, der richtigen Beziehung und Vergleichung der Tatsachen ist in einem beständigen Wachstum begriffen. Der Weg zur Wahrheit führt durch eine Unsumme von Irrtümern, Fehlgriffen, Borniertheiten, Einseitigkeiten. Wie zwischen den Lebewesen findet auch zwischen den Ideen, Urteilen ein Kampf ums Dasein statt, in welchem die kräftigsten, d. h. dem Erkenntniswillen am besten entsprechenden schließlich die Oberhand gewinnen. Aber immer wieder macht sich die Beschränktheit der menschlichen Natur mit ihren individuellen und sozialen Gebundenheiten, Vorurteilen, Wünschen, Forderungen usw. geltend. Schwer ist es, sich von den subjektiven Erkenntnisbedingungen ganz loszumachen, nie kommt es zu einer Stabilität der Meinungen. So erscheint die (empirisch erreichbare) Wahrheit als ein Ideal, dem wir uns mehr oder weniger annähern, das aber niemals erreicht werden kann.

Soviel aber muß doch allmählich gewonnen werden, daß unser Wahrnehmen und Denken mit der Wirklichkeit zumindest in dem Maße übereinstimmt, daß wir uns in derselben zu orientieren vermögen, daß wir den Verlauf der Naturphänomene einigermaßen berechnen und dadurch auch beeinflussen können. Sonst hätte die Erkenntnis ihren Zweck verfehlt. Während wir nun "anfangs" alles, was wir über die Dinge aussagen, implizit für wahr halten, sehen wir, durch Erfahrung klug geworden, ein, daß vieles vom vermeintlich Wahren ein Irrtum war. Im Gegensatz zu diesem, zum falschen, der Wirklichkeit nicht gerecht werdenden Urteil, bilden wir jetzt den Begriff der  Wahrheit.  Wahr ist uns jedes Urteil, mit dem der tatsächliche, d. h. entweder wahrnehmbare oder denkend anzunehmende Verlauf der Tatsachen übereinstimmt. Da alle unsere Urteile und Begriffe aus der Verarbeitung erfahrbarer Tatsachen, also physischer und psychischer Erlebnisse hervorgehen, so bedeutet die Wahrheit dieser Urteile nichts anderes, als daß sie  richtig,  d. h. auf der Grundlage eindeutiger Erfahrungen und zwingender Schlußfolgerungen, gebildet worden sind. Da die Sinne beschränkt sind, das Denken aus sich heraus nichts Positives über die Wirklichkeit bestimmen kann, so ist wahre Erkenntnis das immer reifer werdende Produkt des Zusammenwirkens von Erfahrung und Denken oder von denkender, logischer Verarbeitung des Erfahrungsinhaltes, immer treuer werdende Anpassung des Denkens an die Erfahrung und wiederum der Erfahrung an die Gesetzmäßigkeit des Denkens.

Denn zugegeben, das Erkennen steht von Anfang an im Dienste des Lebens, und Wahrheit sei alles, was und sofern es lebenserhaltend ist: kann eine Erkenntnis, ein Urteil, eine Deutung des Wirklichen dem Leben dienen, wenn das Erkannte nicht mit der Beschaffenheit und Ordnung des Seienden wenigstens annähernd übereinstimmt? Von den im Kampf miteinander begriffenen Erkenntnissen erhalten sich nur diejenigen, die sich als lebensfördernd erweisen, die andern verschwinden vom Schauplatz. Warum dient aber die eine Erkenntnis dem Leben, die andere aber nicht oder schadet diesem sogar? Vielfach sicherlich, weil sich diese und jene Anschauungen allein oder besonders gut mit dem Charakter des Individuums, des Stammes, des Zeitalters vertragen - das gilt hauptsächlich von Dingen, wo "Objektivität" nicht ganz oder überhaupt nicht erreichbar ist, weil da wirklich die Wertung, die subjektive Auffassung im Vordergrund steht. Aber die allgemeinen, die eigentlich wissenschaftlichen Erkenntnisse sind bloß wahr, weil sie lebenserhaltend sind, sondern das Leben erhalten und fördern sie, weil sie wahr sind. Wir können uns doch wohl nur in der Welt orientieren, den Eintritt der Ereignisse berechnen, von den Eigenschaften der Dinge Gebrauch machen usw., weil das, was wir von den Objekten erwarten, immer wieder durch die Tatsachen, durch die Erfahrung bestätigt wird.

Gewiß: der Umstand, daß unere geistige Verarbeitung der Erfahrungen ein Beherrschen dieser, ein Antizipieren von Ereignissen, ermöglicht, zwingt durchaus noch nicht zu der Annahme, daß die Wirklichkeit genau so ist, wie wir sie wahrnehmen und denken. Unsere Erkenntnis ist zunächst qualitativ durchaus subjektiv, wir fassen die Wirklichkeit auf und deuten sie gemäß unserer eigenen Natur. Gelingt es nun aber damit, zu leben und im Leben, im physischen wie im geistigen vorwärts zu kommen, so deutet schon dies zumindest darauf hin, daß die Gesetzmäßigkeit und das Verhalten der Wirklichkeit selbst nicht ganz anders geartet sein kann als wie sie uns erscheint und sie von uns gedeutet wird. Ist unser Erkennen in letzter Linie aus der (subjektiven und objektiven) Wirklichkeit heraus geboren, so mag es das wahrscheinlich machen, daß unsere Erkenntniswerkzeuge zwar den "Stoff" der Erkenntnis in ihrer Art formen, daß sie aber nichtsdestoweniger auf die Wirklichkeit angelegt sind. Verlangt man von der Wahrheit, sie müsse eine  Abbildung  des Seienden im Bewußtsein bedeuten, dann gibt es keine oder nur eine "empirische" (phänomenale) Wahrheit (Übereinstimmung des Erinnerungsbildes, des Gedankens mit der Wahrnehmung). Praktisch und vielleicht auch einzelwissenschaftlich kommen wir mit einem solchen Wahrheitsbegriff aus. Stellt man aber fest, daß Wahrheit im transzendent-metaphysischen Sinn nur den Sinn einer  Korrespondenz  der Erkenntniswelt mit dem Reich des  Ansich,  der transzendenten Faktoren - einer möglichst getreuen Wiedergabe von deren Aktionen und Beziehungen in logisch-ästhetischen Formen - haben kann, dann wird bei aller Anerkennung der subjektiven Momente und der unaufhebbaren Relativität unseres Erkennens dem Objektivitätsprinzip sein Recht gewahrt.

Um eine solche Annäherung an die Wahrheit, an die Wirklichkeit zu erreichen, ist stets eine erneute Kritik des Erkennens, in der Einzelwissenschaft und in der Philosophie nötig. Eine genaueste Darlegung des Tatbestandes in allem Erkennen, die gründlichste Besinnung auf alles, was nicht tatsächlich erlebt, sondern von uns in die Erfahrung hineingelegt wird, also reinliche Trennung der Vorkommnisse von der Deutung, die wir denselben geben, ist das einzige Mittel, einen Fortschritt in unserer theoretischen Stellungnahme zu den Dingen zu erzielen.

NIETZSCHE forscht überall, wo ihm allgemeine Verstandesbegriffe begegnen, die wir an die Dinge heranbringen, ob sie auf Erfahrung oder Weiterdenken im Sinne der Erfahrung beruhen. Er findet hierbei, daß unsere sämtlichen Kategorien, weit entfernt, uns der Wirklichkeit näher zu führen, uns von ihr entfernen, uns eine zweite Welt vortäuschen, eine Seinswelt, die es doch, genau erwogen, gar nicht anders gibt als in unserem Denken und Sprechen. Ähnlich einigen Denkern der Gegenwart (z. B. ERNST MACH) ruft er den Erkennenden zu: Zurück zur Natur, zur Empirie, aber nicht zur rohen, mit allerlei Zutaten vermischten und unvollkommenen, sondern zur kritisch gereinigten, zur reinen Erfahrung! Was in der Erkenntnis (relativ) wahr ist, verdanken wir der, durch Apparate und Methode verbesserten und kontrollierten Sinnestätigkeit, nicht der "Vernunft". Diese ist vielmehr die Quelle aller "allzumenschlichen" Irrtümer, sie und ihr Werkzeug, die Sprache, haben die Erkenntnis verfälscht. Denn auf einer niedrigen Stufe des Lebens entstanden Vernunft und Sprache, und nur den Lebensuntüchtigen, Dekadenten, leistet die Vernunft mit ihren Kategorien, mit ihrer Erdichtung einer Welt des Seienden, Dienste. Die Kritik des Erkennens, die von dem starken Willen zur Macht, zum Leben ausgeht, muß umwerten: die verachteten Sinne kommen zu Ehren, die gepriesene Vernunft wird entthront. Die metaphysische Welt wird als Hirngespinst erkannt, die lebensvolle, empirische, wahrnehmbare Realität restituiert [wiederhergestellt - wp]. Dem Rationalismus in jeglicher Form stellt NIETZSCHE so einen kritischen Empirismus, der aber geradezu schon  kritischer Sensualismus  ist, entgegen. Die Kategorien haben keinerlei Erkenntniswert: weder für die metaphysische Welt, denn die existiert ja nicht, noch für die empirische, denn diese wird ja durch die Kategorien verfälscht. NIETZSCHEs Erkenntnistheorie ist anti-rationalistisch, was die Wertung der "Vernunft" anbelangt. Hingegen unterscheidet sich diese Erkenntnistheorie von allem dogmatischen Empirismus darin, daß sie wie der Rationalismus und Apriorismus den wahrhaft empirischen Ursprung der Kategorien des Erkennens leugnet. Die reine, geläuterte Erfahrung enthält nichts, was die Anwendung der Kategorien auf die Objekte logisch rechtfertigt. Die Ansicht, daß die Kategorien einer verfälschenden Phantasietätigkeit entspringen, kann man als (illusionistische)  Imaginationstheorie  bezeichnen. Nach ihr sind die Grundbegriffe unseres Erkennens durchaus subjektiven Ursprungs und sie haben keinerlei objektive Gültigkeit; dagegen sind sie biologisch, für die Lebensführung wertvoll.


IV. Wahrnehmung und Denken

NIETZSCHE glaubt nicht, daß die Sinne eine unbedingte Wahrheit liefern, er ist nicht naiver Sensualist oder naiver Realist; nicht unbedingtes Vertrauen gebührt der Sinneswahrnehmung. Aber entgegen allem Rationalismus ist er geneigt, die Partei der Sinnlichkeit einzunehmen, er verteidigt die Sinne vor dem oft erhobenen Vorwurft, daß sie "lügen". Das tun sie nicht, weder in der Art, wie die Eleaten es glaubten, noch wie HERAKLIT es behauptete. Die Lüge und Fälschung kommt in die Sinneswahrnehmung erst durch die  Deutung,  die wir ihr geben, z. B. die Lüge der Einheit, der Dinglichkeit, der Substanz. Die "Vernunft" ist die Ursache, daß wir das Zeugnis der Sinne fälschen. "Sofern die Sinne das Werden, das Vergehen, den Wechsel zeigen, lügen sie nicht." (50) Allerdings reicht die zufällige isolierte, passive, unvollständige Wahrnehmung nicht aus, um die Eigenschaften der Objekte kennenzulernen.

Wir müssen in der Richtung der Sinneswahrnehmung weiter denken, zu Ende denken, die Sinne schärfen, bewaffnen. "Wir besitzen heute genau soweit Wissenschaft, als wir uns entschlossen haben, das Zeugnis der Sinne  anzunehmen ... Der Rest ist Mißgeburt, Theologie, Psychologie, Erkenntnistheorie. Oder Formalwissenschaft, Zeichenlehre: wie die Logik und jene angewandte Logik, die Mathematik. In ihnen kommt die Wirklichkeit gar nicht vor, nicht einmal als Problem." (51)

Streng müssen wir in der Wahrnehmung das wirklich Empfundene von dem durch die Einbildungskraft Hineingelegten unterscheiden. Der größte Teil der Wahrnehmungsbilder ist nicht Sinneseindruck, sondern reines Phantasie-Erzeugnis. (52) Auch die Sinneseindrücke bilden die Wirklichkeit nicht so ab, wie sie ansich existiert, aus der Relation, die zwischen dem Erkennenden und Erkannten besteht, kommt man nicht heraus. Aber die Sinneseindrücke und das diese richtig verarbeitende Denken stehen zumindest in der  natürlichen  Beziehung zum Objekt, und es ist die Aufgabe der Erkenntniskritik, uns zur Besinnung auf den natürlichen, unverfälschten Erkenntniszustand zu bringen.

Infolge unserer  Beschränktheit  sehen wir das  beständige Werden  nicht, wir sehen dagegen das Gleiche und Beharrende, dieses allein bleibt in der Erinnerung; ohne ein Festes, Entgegenstehendes, Gegenständliches vermögen wir nicht vorzustellen, zu denken. Weil wir das Sein, das Beharren der Dinge zu unserer Existenz benötigen, so erdichten, glauben wir es. Die Veränderungen sind oft zu allmählich, zu fein für uns, daher können wir sie nicht wahrnehmen, und nun stellt uns unsere  Phantasie  die Objekte als beharrend, als seiend, als Substanzen vor. (53)

So arbeitet schon in der Sinnestätigkeit der Lebenstrieb, ein  praktischer Instinkt,  der uns veranlaßt, die Erlebnisse so umzudeuten, wie wir sie brauchen, um uns zu erhalten, unsere Macht durchzusetzen und zu erweitern. Bewältigen, Ordnen, Schematisieren, Festmachen des Flusses des Geschehens - darauf hin arbeitet unsere Phantasie, unsere, von dieser nur graduell verschiedene "Vernunft", deren Ursprung aus "Bildern" offenbar ist. Das Vertrauen zur Vernunft und ihren Kategorien, die Wertschätzung der Logik beweist nur die durch Erfahrung bewiesene Nützlichkeit derselben für das Leben, nicht deren Wahrheit.
    "Damit eine bestimmte Art sich erhält und wächst in ihrer Macht, muß sie in ihrer Konzeption der Realität so viel Berechenbares und Gleichbleibendes erfassen, daß daraufhin ein Schema ihres Verhaltens konstruiert werden kann." (54)
Wir müssen unsere Erfahrungen kapitalisieren können, sie für unser Verhalten verwerten können, daher bringen wir sie unter konstante Begriffe, knüpfen sie an feste Zeichen, vereinfachen und vereinheitlichen die Mannigfaltigkeit des Geschehens. Die Notwendigkeit, alles zu ordnen, zu vereinfachen, zurechtzumachen, zu schematisieren, dem Chaos Regularität und Formen aufzuerlegen ist rein  biologisch - von einem "Erkennen" der Wirklichkeit ist hierbei keine Rede (55). "Die Logik war als  Erleichterung  gemeint: als  Ausdrucksmittel, - nicht  als Wahrheit ... Später  wirkte  sie als  Wahrheit."  Die "psychologische Optik", die subjektive Betrachtungsweise der Wirklichkeit, ist dadurch bedingt, daß  Mitteilung  nötig ist, und daß zur Mitteilung etwas fest, vereinfacht, präszisierbar sein muß.
    "Das Material der Sinne vom Verstand zurechtgemacht, reduziert auf grobe Hauptstriche, ähnlich gemacht, subsumiert unter Verwandtes. Also: die Undeutlichkeit und das Chaos des Sinneseindrucks wird gleichsam  logisiert." (56)
Wenn uns die Welt logisch, gesetzmäßig, vernünftig erscheint, so ist dies nur deshalb so, weil  wir  sie erst logisiert haben; schließlich erkennen wir in der Wirklichkeit nur das, was wir in sie hineingelegt, projiziert haben. (57)

Eins ist für NIETZSCHE sicher: daß sich alle wissenschaftliche Erkenntnis der Sprache der Sinne bedient oder höchstens ein Phantasieprodukt ist. Was z. B. die Mechanik lehrt, ist schon eine "Übersetzung des Originalvorgangs in die Zeichensprache von Auge und Getast." (58)  Gedanken  sind nichts als die "Schatten unserer Empfindungen - immer dunkler, leerer, einfacher als diese." (59) Sie sind nur Zeichen, Symbole für die Wirklichkeit, Gebärden, Ausdrucksformen, Wirkungen und Folgen von Trieberregungen. Das bewußte Denken ist nur die Oberfläche des unbewußten triebhaften, instinktiv einem Ziel zueilenden Denkens. Das Denken entspringt aus unserem Charakter, es ist ein Vorgang des  Wählens Auslesens, ein  moralisches  Ereignis. Die  logischen Formen  sind nichts als der allgemeinste Ausdruck unserer Triebe, Zuneigungen, unseres Widersprechens. Unser  Wissen  erscheint so als die abgeschwächtestes Form unseres Trieblebens, dessen Werkzeug der, nie freie, Intellekt ist. (60) Der größte Teil des Denkens ist zu den Instinkthandlungen zu zählen; hinter aller Logik stehen Wertschätzungen, physiologische Forderungen zur Erhaltung einer bestimmten Art von Leben (61).

In der  Sprache  sind alle Irrtümer verdichtet, die der "Vernunft" und ihren Kategorien entstammen. Unser Glaube an die Wahrheit der Vernunfterkenntnisse ist Glaube an die Grammatik. (62) Man vergißt, daß die Entstehung unserer Sprache in die Zeit der rudimentärsten Form der Psychologie gehört, in der wir zu allem Tun einen Täter, einen Willen, einen Fetisch fingierten. Unsere Vernunft ist nichts als "Sprach-Metaphysik" (63). Das bewußte Denken ist nichts als Vergegenwärtigung, Verknüpfung von Sprachsymbolen, das Metaphorische und Relativistische, die Inadäquatheit haftet ihm wie diesen an. (64)

So führt unser Denken nimmermehr über die Erfahrung hinaus. Es ist keine selbständige, Wahrheit zeugende, das "Wesen" der Dinge umfassende Tätigkeit, sondern nur die Fortsetzung der Sinnesarbeit, mit dieser von Trieben getragen. Unsere Sinne sind "entwickelte Empfindungszentren mit starken Resonanzen und Spiegeln", ein Produkt des Lebens und des in diesem sich bekundenden Machtwillens, sodaß die Grundlage der Erkenntnispsychologie NIETZSCHEs eine  voluntaristische  ist. Unser Denken aber ist nichts als ein "sehr verfeinertes zusammengeflochtenes Spiel des  Sehens, Hörens, Fühlens",  die logischen Formeln sind "die physiologischen Gesetze der Sinneswahrnehmungen". Die Dinge rühren unsere Saiten an, aber wir machen die Melodie dazu. das "spielende Verarbeiten des Materials" ist unsere geistige Grundtätigkeit, das Denken also eine Übung der Phantasie, der Einbildungskraft (65). Das Treibende in allem Denken liegt aber im Un- oder Unterbewußten, in einer zentraleren Region als der der Bewußtheit. (66)

Die Logik ist aus der Unlogik entstanden. Lange Zeit hindurch hat der Intellekt nur Irrtümer erzeugt; einige derselben ergaben sich als nützlich und arterhaltend, sie wurden immer weiter vererbt und schließlich fast zum menschlichen Art- und Grundbestand (67).
    "Aber unzählig viele Wesen, welche anders schlossen, als wir jetzt schließen, gingen zugrunde: es könnte immer noch wahrer gewesen sein! Wer zum Beispiel das  Gleiche nicht oft genug aufzufinden wußte, in Betreff der Nahrung oder in Betreff der ihm feindlichen Tiere, wer also zu langsam subsumierte, zu vorsichtig in der Subsumption war, hatte geringere Wahrscheinlichkeit des Fortlebens als der, welcher bei allem ähnlichen sofort auf Gleichheit riet. Der überwiegende Hang aber, das Ähnliche als gleich zu behandeln, ein unlogischer Hang - denn es gibt ansich nichts Gleiches -, hat erst alle Grundlage der Logik geschaffen."
An und für sich ist schon jeder skeptische Hang eine Gefahr für das Leben, daher ist den Menschen der entgegengesetzte Hang, lieber zu bejahen als das Urteil abzuwarten, stark angezüchtet worden (68). Die Wahrheit, als die unkräftigste Form der Erkenntnis, trat erst sehr spät auf. Die feinere Redlichkeit und Skepsis entstand überall da,
    "wo zwei entgegengesetzte Sätze auf das Leben  anwendbar erschienen, weil sich beide mit den Grundirrtümern vertrugen, wo also über den höheren oder geringere Grad des  Nutzens für das Leben gestritten werden konnte; ebenfalls dort, wo neue Sätze sich dem Leben zwar nicht nützlich, aber wenigstens auch nicht schädlich zeigten, als Äußerungen eines intellektuellen Spieltriebes, und unschuldig und glücklich gleich allem Spiel."
Es entstand nun ein Kampf um die Überzeugungen, dieser intellektuelle Streit wurde Beschäftigung, Reiz, Beruf, Pflicht, Würde, "das Erkennen und das Streben nach dem Wahren ordnete sich schließlich als Bedürfnis in die anderen Bedürfnisse ein". "Die Erkenntnis wurde also zu einem Stück Leben selber und als Leben zu einer immerfort wachsenden Macht: bis schließlich die Erkenntnisse und jene uralten Grundirrtümer aufeinanderstießen, beide als Leben, beide als Macht, beide in demselben Menschen. Der Denker: das ist jetzt das Wesen, in dem der Trieb zur Wahrheit und jene lebenserhaltenden Irrtümer ihren ersten Kampf kämpfen, nachdem auch der Trieb zur Wahrheit sich als seine lebenserhaltende Macht  bewiesen  hat." (69) - NIETZSCHE gibt also hier zu, daß ein Wahrheitstrieb, ein Trieb nach Erkenntnis, nach dem Logischen existiert, nur betrachtet er ihn als sekundär entstanden. Richtig ist es, daß der primitive Mensch zunächst nur den Trieb hat, sich zu erhalten, und nur darum erkennen will. Aber schon frühzeitig erweckt das Erkenntnisorgan, wenn es nicht im Dienste des Lebens beschäftigt wird, ein funktionelles Bedürfnis; der Intellekt verlangt nach Betätigung, versucht sich die Erscheinungen der Umgebung und am Menschen selbst verständlich zu machen, zu deuten. Allerdings bedarf es schon einer ziemlich hohen Kultur, eines Freiseins von allzugroßer Not des Lebens, einer glücklichen Anlage, um die Widersprüche, die im primitiv-naiven Denken stecken, zu entdecken. Indem dem Erkennenden Dinge mit wechselnden Eigenschaften gegeben sind, kommen in ihm zwei Auffassungsweisen in Konflikt miteinander: die Wahrnehmung der Mannigfaltigkeit von Qualitäten und die synthetische, vereinheitlichende Funktion des denkenden, apperzipierenden Bewußtseins. Und nun beginnt das Erkennenwollen seinen Weg einzuschlagen, die Frage nach dem "Prinzip", dem Wesen, dem Sein, der Substanz der Dinge wird aufgeworfen, und so gelangt der Mensch vom Mythos zur Philosophie und von dieser zur empirischen Wissenschaft. Eine Menge von Irrtümern muß hierbei in Kauf genommen werden, nie wird ein absoluter Ruhepunkt erreicht, aber der Denker geht doch bewußt darauf aus, sich der Wirklichkeit durch sein Denken, durch ein empirisch gestütztes Urteilen und vernünftige, den Denkgesetzen gemäße Schlußfolgerung möglichst zu nähern. Wohl verschafft ihm das intensive Denken Lust, Machtgefühl, aber es kann das Denken viel mehr sein als eine Betätigung der Macht oder spielerisches Tun, es kann von Anfang an dem reinen Willen zur Wahrheit entspringen, d. h. dem Willen, die Wirklichkeit, wie sie ist, zu erfassen. In diesem Fall hat sich der Wahrheitswille selbständig gemacht, von den ursprünglichen Instinkten und Trieben emanzipiert. Wir können jetzt nicht denkend leben, ohne beständiges Bemühen, Wahrheit zu erlangen, d. h. zunächst, objektiv,  durchgängige Übereinstimmung in allem unserem Denken,  die immer wieder hergestellt werden muß, wo sie erschüttert wird. Eine solche Übereinstimmung aller unserer Denkakte untereinander, erhärtet durch das  Zeugnis der Mitdenkenden  und die die an der  Erfahrung wiederholt gemachten Proben  gilt uns dann als Beweis oder Zeichen, daß unser Denken die Anpassung an die Wirklichkeit soweit wie möglich erreicht hat. Wir kommen schließlich zu der, zwar nicht mathematisch beweisbaren, aber "wohl fundierten" Überzeugung, daß die  Gesetze unseres Erkennens dem Wesen nach auch die Gesetzes des Seienden sind.  (70) Dies beruth im Grunde darauf, aß an aller wahren Erkenntnis Erfahrung und Denken zusammenarbeiten: die Wahrnehmung zeigt uns ein bestimmtes Verhalten der Dinge, das uns nötigt, einen ebenso bestimmten Zusammenhang des Geschehens nach unserer Art zwar, aber in einem harmonischen Zusammenklang mit dem erlebten Verhalten herzustellen. Die Subjektivität des Denkprozesses ist, wie WUNDT richtig bemerkt, noch kein Einwand gegen die Objektivität, die objektive Geltung der durch das Denken gewonnenen Ergebnisse.

Die Sinne drücken in den ihnen eigenen Empfindungen Relationen aus, in welchen wir zur Wirklichkeit stehen. Alles, was wir von den Dingen empirisch aussagen können, beruth in letzter Linie auf Sinnestatsachen oder aber auf Tatsachen des Bewußtseins als solchen, der "inneren" Erfahrung. Während aber der naive Verstand, weil er nicht darauf achten gelernt hat, daß die Objekte der Außenwelt uns direkt nur in Komplexen von Sinnesqualitäten und räumlich-zeitlichen Beziehungen gegeben sind, glaubt, die Objekte existieren ansich, unabhängig von uns, so, wie sie sich uns darstellen, verstrickt er sich, sobald er anfängt, über die Gegensätze der Qualitäten an ein und demselben Ding nachzudenken, in  Widersprüche,  aus welchen er nur herauskommt, wenn er nach und nach alle Qualitäten, die ihm die Sinne zeigen, als nur in Beziehung zum erlebenden Subjekt existierend annimmt. Dies zu tun nötigt ihn dann auch die Erkenntnis der  Abhängigkeit  der sinnlichen Data vom psychophysischen Subjekt, vom Ich. Die Dinge nebst ihren Eigenschaften bleiben auch jetzt, was sie waren, als vom Willen des Erkennenden unabhängige, ihnen Widerstand leistende, aufgezwungene Wesenheiten sind sie Objekte nach wie vor; nur weiß man jetzt, daß sie ihren Qualitäten nach durch das Subjekt mitbedingt sind. Der Idealismus meint sogar, auch die Existenz der Dinge sei keine selbständige, alle Wirklichkeit sei "immanent", Inhalt des vorstellend-denkenden Bewußtseins und  sonst nichts.  Aber zu dieser Annahme ist, wie weiter unten gezeigt werden soll, keine Nötigung vorhanden. Die "naive" Weltanschauung muß kritisch bearbeitet werden, aber sie umzustürzen ist nicht einmal konsequent durchführbar.

In den Behauptungen NIETZSCHEs liegt viel Wahrheit, aber die Subjektivität der Erkenntnis wird um so viel übertrieben wie die Leistung des Denkens unterschätzt wird. Recht hat NIETZSCHE gegenüber allem unkritischen Urteilen über die Dinge; tatsächlich sind wir immer wieder nur allzugeneigt zu schematisieren und zu formen, und zwar nicht wie es sein soll, d. h. in möglichster Nachkonstruktion der Wirklichkeit, sondern mehr oder weniger willkürlich, subjektiv Einheiten setzend, wo sie nicht zu konstatieren sind, oder wo wir uns bewußt sein müßten, daß die Dinge als solche feste Einheiten, wie wir sie annehmen, nur im und für unser Denken und nur zum Zweck der Orientierung und Berechnung, als Abbreviaturen [Abkürzungen - wp] des Wirklichen, existieren. Da die Sprache nicht oder nur zum kleinsten Teil das Erzeugnis wissenschaftlichen Denkens ist, so hat sie an der unvollkommenen Auffassung der Tatsachen sicherlich großen Anteil. Aber man darf ihr nicht zu viel in die Schuhe schieben, denn sie spiegelt nur wieder, was unser Denken an den Tatsachen gestaltet. Die Kategorien der Vernunft sind nicht bloße Sprachformen, die das Denken verfälschen, sondern entstammen schon dem  Denken selber,  und das Denken wiederum bringt sie nicht willkürlich und grundlos hervor, sondern durch die Erfahrung, äußere und innere veranlaßt, um die Wirklichkeit zu begreifen. Weil aber die Namen von Dingen auch auf Tatsachen übertragen werden, die nicht als Dinge, Substanzen, Einheiten im  eigentlichen  Sinn des Wortes aufzufassen sind, besteht so oft die Gefahr, von der Einheit des Begriffs und Wortes auf die Einheit und sogar Einfachheit des Wirklichen zu schließen. (71) Nur die fortgesetzte schärfste  Analyse  der Tatsachen ist da imstande der synthetischen Funktion des Denkens und Sprechens das Gleichgewicht zu halten. Die Wissenschaft und die Philosophie unserer Zeit werden sich dessen immer mehr bewußt, und so richtet sich NIETZSCHEs Skepsis gegen eine Art zu denken, die immer mehr ausstirbt. Denn das hat der  Positivismus wie er von den  englischen  Philosophen des 18. und 19. Jahrhunderts und von COMTE sowie den  deutschen  Positivisten verschiedener Schattierung verbreitet wurde, doch bewirkt, daß nun seitens der Philosophie mit Strenge die Forderung erhoben wird, zu jedem Begriff das  tatsächliche Erlebnis  aufzusuchen und so wenig wie möglich über die "Beschreibung" des Vorgefundenen hinauszugehen. Anstelle von allerhand metaphysischen Entitäten und "qualitates occultae" heißt es jetzt, den Wahrnehmungsstoff selbst so zu verarbeiten, daß in den  Begriffen  nichts enthalten ist, was nicht mindestens nach Analogie äußerer oder innerer Erfahrung gedacht wurde. NIETZSCHE selbst erkennt diesen positivistischen Charakter der modernen Wissenschaft an, er sagt:
    "Erklärungen nennen wir's: aber  Beschreibung ist es, was uns vor älteren Stufen der Erkenntnis und Wissenschaft auszeichnet. Wir beschreiben besser, - wir erklären ebensowenig wie alle früheren ... Es ist genug, die Wissenschaft als möglichst getreue Anmenschlichungen der Dinge zu betrachten, wir lernen immer genauer uns selbst zu beschreiben, indem wir die Dinge und ihr Nacheinander beschreiben." (72)
Natürlich gehört zu dieser "Beschreibung" auch die der Kausalzusammenhänge, der notwendigen Abfolge von Vorgängen, die zu einer Art des Geschehens gehören und in bestimmter Weise, aufgrund der Regelmäßigkeit der Erscheinungen, einander koordiniert werden müssen.

Elimination aller "metaphysischen" Zutaten aus der Wissenschaft, das ist das Ziel, dem die heutige Physik und Psychologie nebst den von ihnen abhängigen Wissenschaften zusteuern. Methodologisch ist dagegen nichts einzuwenden, immer vorausgesetzt, daß die Einzelwissenschaften mit der "Beschreibung" der "Tatsachen" auskommen. Wer aber nun meint, die Metaphysik dadurch als überflüssig und schädlich erwiesen zu haben, befindet sich im Irrtum. Denn was für die Einzelwissenschaft als solche berechtigt ist, gilt noch nicht von der Metaphysik, von der allgemeinen Wissenschaft und Theorie des Seins und Geschehens. Es zeigt sich vielmehr, daß die "Vernunftkategorien", die "Zutaten" des Denkens zum Erlebten für eine allgemeine, harmonische, die logischen Bedürfnisse befriedigende Weltanschauung nicht zu entbehren sind. Es stecken in den Kategorien zwei Elemente: ein empirisches, dem unmittelbar Erlebten entnommenes, und ein "apriorisches", dem Ich entstammendes. Die Kategorien haben ein empirisches "Fundament", sie sind durch die objektive Erfahrung motiviert. Die Einzelwissenschaft darf und kann sich mit diesem empirischen Element der Grundbegriffe (Ding, Substanz, Kausalität etc.) begnügen; die Metaphysik hingegen kann nicht umhin, nach Revision und Kritik der Kategorien auch deren apriorischem Faktor eine Bedeutung zuzuerkenne. Es wird sich uns später ergeben, daß die Kategorien zwar auf die Tatsachen der Erfahrung, also auf Bewußtseins-Immanentes,  Anwendung finden, daß sie aber zugleich transzendente  Gültigkeit beanspruchen und beanspruchen dürfen, weil eine solche, weit entfernt unlogisch zu sein, ein Begreifen des Erkannten und des Erkennens erst ermöglicht. NIETZSCHE hat ganz richtig gefunden, daß sich die Kategorien aus der Erfahrung  allein nicht erklären lassen, daß wir in und mit ihnen etwas in die Objekte  hineinlegen, projizieren, aber er hat nicht recht bedacht, daß zwingende  Motive in der Erfahrung selbst zu einer solchen Projektion veranlassen und nicht bloß das biologische Moment die Schuld daran trägt. Denn selbst auf der Stufe höchster theoretischer Reflexion, ganz unabhängig vom praktischen Leben, rein infolge des Erkenntnistriebes, sind wir genötigt, die Gültigkeit der Kategorien aufrechtzuerhalten. Gerade weil wir in der Einzelwissenschaft uns mit dem Objektiven, dem Vorstellbaren, Denkbaren begnügen, bedürfen wir zwar nicht der Annahme einer zweiten metaphysischen Welt von Dingen, wohl aber  transzendenter Faktoren der empirischen Dinge. Denn davor müssen wir uns heute hüten, den leider so lange begangenen Fehler der Philosophen nochmals zu begehen, nämlich zu glauben, daß es außer der Welt objektiver Dinge noch "Dinge ansich" mit ähnlichen Eigenschaften wie die empirischen Objekte gäbe. Die Verdoppelung der Objekte beruht auf einer  Hypostasierung [Vergegenständlichung - wp] von Momenten, die den Dingen immanent sind; der Eigenschaft der Dingheit usw. Von Anfang an sind die Gegenstände der Außenwelt  nicht transzendente Wesenheiten, die das Vorstellen abbildet, sondern die Objekte sind eins mit den Vorstellungsinhalten, nur daß man noch nicht ihren Vorstellungscharakter, ihre Abhängigkeit vom Subjekt erkannt hat. Das "Ding", das dem naiven Denken gegeben ist, ist, wenn wir genau darauf achten, nichts als eine zur Einheit verknüpfte Mannigfaltigkeit von Sinnesqualitäten, an deren Stelle später gedachte, hypothetisch angenommene Eigenschaften treten. Zugleich schreibt aber das naive Denken schon auf primitivster Stufe den Objekten  transzendente Faktoren, Willenskräfte zu, damit werden die Objekte erst vollständig zu Dingen, zu Analoga des Ichs, zu Subjekten wie wir selbst; selbständig, machtvoll, wirkend, beharrend. Durch eine unzulängliche Metaphysik und Erkenntnistheorie wurde man verhindert einzusehen, daß das, was den Objekten den Charakter und den Wert der Dingheit gibt, nicht selbst wieder ein Ding, ein Objekt, sondern ein transzendenter Faktor, ein das Objekt setzendes, zur Existenz für unser Bewußtsein bringendes Wirken, eine Kraft ist. Die idealistische Philosophie wiederum beachtete nicht, daß die Setzung transzendenter Faktoren schon dem "naiven Realismus" eigen ist, und glaubte vielfach, den "natürlichen" Standpunkt erreicht zu haben, wenn sie alle Transzendenz leugnet. Andere wieder meinen, der subjektive Ursprung der Kategorien verhindert deren transzendente Gültigkeit. Ob dies der Fall ist, wird sich bald herausstellen.

LITERATUR - Rudolf Eisler, Nietzsches Erkenntnistheorie und Metaphysik,Leipzig 1902
    Anmerkungen
    1) Zitiert wird nach der Gesamtausgabe von NIETZSCHEs Werken, Leipzig 1895f, teilweise auch nach der Ausgabe von 1893f. Die arabischen Ziffern beziehen sich auf die Teile und die Aphorismen der Bände.
    2) "Der Glaube an die Wahrheit beginnt mit dem Zweifel an allen bis dahin geglaubten Wahrheiten." (Werke II, 20, Seite 25)
    3) Werke III, 1, Seite 19f. Eine Psychologie als "Entwicklungslehre des Willens zur Macht" erscheint ihm als der "Weg zu den Grundproblemen" (Werke VI, 1, Seite 23)
    4) Werke XII, 1, Seite 6.
    5) Werke XV, 3, Seite 260. Es gibt nach NIETZSCHE keine "unmittelbaren Gewißheiten". Ohne Rückbeziehung auf anderweitiges Wissen ist Gewißheit nicht möglich. Dies ist NIETZSCHE zuzugeben, nur für die Bedingungen und allgemeinsten Grundlagen des Erkennens ist dieser Satz nicht gültig. Wenn NIETZSCHE meint, das Formulieren der inneren Erfahrung in  "ich denke oder auch nur "es denkt" beruhe auf der "grammatischen Gewohnheit", so ist dies vielleicht nicht unrichtig, aber mit dem Zusatz, daß die Grammatik selbst auf psychologischen ursprünglichen Erlebnissen und Deutungen sich aufbaut. Vgl. Werke VII, 1, Seite 16f.
    6) Werke XV, 3, Seite 271
    7) Werke XI, 6, Seite 250
    8) Werke XI, 1, Seite 5
    9) ELISABETH FÖRSTER-NIETZSCHE, Das Leben Friedrich Nietzsches, Leipzig 1897, Bd. II, 1, Seite 105
    10) Vgl. die angeführte Biographie. Trotzdem NIETZSCHE so viel über KANT schimpft, zeigt er sich doch in manchem von ihm abhängig. Aber er  subjektiviert die Erkenntnis noch viel mehr als der Begründer des Kritizismus. Auf NIETZSCHE haben auch EMPEDOKLES und die  Stoiker eingewirkt.
    11) DIOGENES LAERTIUS XI, 51; PLATO, Theaet. 152A, 157E; ARISTOTELES, Metaphysik VIII, 4, 1047a, 6.
    12) Werke VII, 1, Seite 1; 1, Seite 2
    13) Werke VII, 1, Seite 3; 1, Seite 4
    14) Werke VII, 1, Seite 4
    15) Werke VII, 1, Seite 4
    16) Werke VII, 1, Seite 11
    17) Werke XV, 302
    18) Ähnliches lehrt auch GEORG SIMMEL, Philosophie des Geldes, Leipzig 1900, Seite 61f. "Wahr" nennen wir jene Vorstellungen, "die als reale Kräfte oder Bergungen in uns wirksam, uns zu nützlichem Verhalten veranlassen". "Darum gibt es so viel prinzipiell verschiedene Wahrheiten, wie es prinzipiell verschiedene Organisationen und Lebensanforderungen gibt" (a. a. O. Seite 66). Durch  Selektion haben sich gewisse Vorstellungen als nützlich-wahr erhalten und eingebürgert.
    19) Werke XV, 268
    20) Werke XV, 270
    21) Werke XI, 6, Seite 208
    22) Werke X, 2, 1, Seite 161
    23) Werke X, 3, 2, Seite 185
    24) Werke X, 3, 2, Seite 186; Werke X, 2, 1, Seite 161.
    25) Werke III, 1, Seite XIV (Vorwort des Herausgebers).
    26) Werke X, Seite 183
    27) Werke X, Seite 165f, 170.
    28) Werke III, 1, Seite 252, 231f
    29) Werke III, 3, 1, Seite 183. Erkenntnis ist immer nur ein Werkzeug für einen anderen Trieb (Werke VII, 1, 6).
    30) Werke XV, 270
    31) Werke V, Seite 294; XV, Seite 289
    32) Werke V, Seite 295
    33) Werke XV, Seite 272, 273, 274.
    34) Werke XV, 268
    35) Werke XV, 270
    36) Werke XV, 2, 2, Seite 168
    37) Werke X, 2, 1, Seite 166.
    38) Werke X, 1, 11, Seite 57; Werke XI, 6, 264
    39) Werke III, 1, 11, Seite 28f
    40) Werke XII, 1, 6
    41) Werke X, 2, 1, Seite 163
    42) Werke X, Seite 176; Werke XII, 1, 8; 1, 9.
    43) Werke XI, 6, 209
    44) Werke XI, 6, 40.
    45) Werke XI, 6, 1.
    46) Werke X, Seite 171; Werke IX, Seite 164
    47) Werke X, Seite 172
    48) Werke X, Seite 189f
    49) Werke XII, 1, 106.
    50) Werke VIII, 2, Seite 77
    51) Werke VIII, 2, Seite 78
    52) Werke XII, 1, Seite 45
    53) Werke XII, 1, 6; 1, 7; 1, 8; 1, 9; 1, 15; 1, 46. Die Gesetze der  Zahlen  beruhen auf dem Irrtum, daß es gleiche Dinge gebe, auf einem Finieren von "Einheiten". Auch  Raum und  Zeit, die Bedingungen der Erfahrung (Werke X, Seite 29) sind "falsch", denn sie führen, konsequent geprüft und für objektiv gehalten, auf logische Widersprüche (z. B. in der Atomlehre) (Werke III, 1, 2, 19, Seite 40. Vgl. Werke X, Seite 174).
    54) Werke XV, 270; Werke XV, 268.
    55) Werke XV, Seite 272f
    56) Werke XV, Seite 274f
    57) Werke XV, 275 und 279. Die Logik ist nur der Versuch, nach einem von uns gesetzen Seinsschema die wirkliche Welt zu begreifen; sie gilt nur von fingierten Wesenheiten (Werke XV, 271).
    58) Werke XV, 302
    59) Werke V, Seite 187
    60) Werke XI 6, 250, 254f, 258; Werke X, Seite 194f. - Der  Verstand ist "wesentlich ein  Hemmungsapparat gegen das Sofort-Reagieren auf das Instinkt-Urteil: er hält auf, er überlegt weiter, er sieht die Folgenkette ferner und länger. (Werk XV, 356)
    61) Werke VII 1, 3
    62) Werke VII 2, 5, Seite 80
    63) Werke VIII 2, 5, Seite 30
    64) Werke IX, 2, Seite 67; Werke X, Seite 165f.
    65) Werke XI, 6, 233-235.
    66) Werke XI, 6, 238; Werke XII, 1, 32
    67) Werke V, 110.
    68) Werke V, 111
    69) Werke V, 110.
    70) Vgl. WILHELM WUNDT, Logik I, Seite 5 und 307; Über naiven und kritischen Realismus, Philosophische Studien XIII, Seite 177.
    71) Vgl. FRITZ MAUTHNER, Beiträge zu einer Kritik der Sprache I, Stuttgart 1901, wo gegen die Sprache ähnliche Vorwürfe wie bei NIETZSCHE erhoben werden, und  meine Besprechung dieses Buches in Nr. 36, Jahrgang 1901 der Zeitschrift "Die Wage".
    72) Werke V, 112. Vgl. die ähnlichen Ausführungen bei KIRCHHOFF, ERNST MACH, WILHLEM OSTWALD, RICHARD AVENARIUS.