cr-4Ernst StoelzelF. A. LangeSokratesHöhlengleichnis    
 
PLATON
Theaitetos

"Daß das Wirkende etwas ist, und das Leidende wiederum etwas, läßt sich an  einem  nicht fest und sicher bemerken; denn weder ist etwas ein Wirkendes, ehe es mit einem Leidenden zusammentrifft, noch ein Leidendes, ehe mit dem Wirkenden; ja auch, was mit dem einen zusammentreffend ein Wirkendes wird, zeigt sich, wenn es auf ein Anderes fällt, als ein Leidendes. So daß diesem Allem zufolge nichts an und für sich ein Bestimmtes ist, sondern immer nur  wird  für irgendein Anderes, das Sein aber überall ausgestoßen werden muß, wiewohl wir es auch jetzt eben aus Gewohnheit und Ungeschicklichkeit gar oft und viel zu gebrauchen genötigt waren, und man darf doch nach der Rede der Weisen weder das Etwas zugeben, noch das Wesen, noch Meins, noch Dieses noch Jenes, noch irgendeine andere Bezeichnung die fest steht: sondern der Natur gemäß muß man nur reden von Werdendem und Gewirktem, Vergehendem und Verändertem; so daß, wenn jemand etwas beharrlich setzt durch seine Rede, ein solcher sehr leicht zu Schanden zu machen ist."

SOKRATES: Versuche also einmal von Anfang an, o Theaitetos, zu sagen, was Erkenntnis ist. Daß da das aber nicht kannst, sage nur niemals. Denn so Gott will und du wacker bist, wirst du es wohl können.
[152]
THEAITETOS: Wenn du mir freilich, Sokrates, solchergestalt zuredest, wäre es schändlich nicht auf alle Weise mutig zu sagen, was einer eben hat. Mir also scheint, wer etwas erkennt, dasjenige wahrzunehmen, was er erkennt; und wie es mir jetzt erscheint, ist Erkenntnis nichts anderes als Wahrnehmung.

SOKRATES: Gut und wacker, Jüngling. So muß sich deutlich machen, wer etwas erklärt. Wohlan, laß uns nun dies gemeinschaftlich betrachten, ob es eine rechte Geburt ist oder ein Windei. Wahrnehmung sagt du sei Erkenntnis.

THEAITETOS: Ja.

SOKRATES: Und gar keine schlechte Erklärung scheinst du gegeben zu haben von der Erkenntnis, sondern welche auch Protagoras gibt; nur daß er dieses nämlich auf eine etwas andere Weise ausgedrückt hat. Er sagt nämlich, der Mensch sei das Maß aller Dinge, der Seienden wie sie sind, der Nichtseienden, wie sie nicht sind. Du hast dies doch gelesen?

THEAITETOS: Oftmals habe ich es gelesen.

SOKRATES: Nicht wahr, er meint dies so, daß wie ein jedes Ding mir erscheint, ein solches ist es mir auch, und wie es dir erscheint, ein solches ist es wiederum dir. Ein Mensch aber bist du sowohl als ich.

THEAITETOS: So meint er es unstreitig.

SOKRATES: Wahrscheinlich wird ein so weiser Mann doch keine Torheiten reden. Laß uns ihm also nachgehen. Wird nicht bisweilen, indem derselben Wind weht, den einen von uns frieren, den anderen nicht? oder den einen wenig, den andern sehr stark?

THEAITETOS: Ja wohl.

SOKRATES: Sollen wir nun in diesem Fall sagen, daß der Wind an und für sich kalt ist oder nicht kalt? Oder sollen wir dem Protagoras glauben, daß er dem Frierenden ein kalter ist, dem Nichtfrierenden nicht?

THEAITETOS: So wird es wohl sein müssen.

SOKRATES: Und so erscheint er doch jedem von beiden?

THEAITETOS: Freilich.

SOKRATES: Dieses  erscheint  ist aber eben das Wahrnehmen.

THEAITETOS: So ist es.

SOKRATES: Erscheinung also und Wahrnehmung ist dasselbe in Absicht auf das Warme und alles, was dem ähnlich ist? Denn wie ein jeder es wahrnimmt, so scheint es für ihn auch zu sein.

THEAITETOS: Das leuchtet ein.

SOKRATES: Wahrnehmung ist also wohl immer des Seienden und untrüglich, wenn sie Erkenntnis ist.

THEAITETOS: So scheint es.

SOKRATES: Nun so war etwa, bei den Chariten, Protagoras gar überweise, und hat die Sache uns zwar nur durch vielen Nebel dunkel angedeutet, seinen Schülern aber im Geheimen das Rechte gesagt?

THEAITETOS: Wie meinst du das, o Sokrates?

SOKRATES: Ich will es dir sagen, es ist gar keine schlechte Rede, daß nämlich gar nichts ein an und für sich Bestimmtes ist, und daß du keinem Ding mit Recht welche Eigenschaft auch immer beilegen kannst, vielmehr wenn du etwas groß nennst, wird es sich auch klein zeigen, und wenn schwer, auch leicht, und so gleicherweise in allem, daß eben nichts weder  ein  Gewesenes ist noch auch irgendwie beschaffen; sondern durch Bewegung und Veränderung und Vermischung alles untereinander nur  wird,  wovon wir sagen daß es  ist,  nicht richtig bezeichnend; denn niemals  ist  irgendetwas eigentlic, sondern es  wird  immer nur. Und hierüber mögen dann der Reihe nach alle Weisen, den Parmenides ausgenommen, einig sein, Protagoras wie auch Heraklit und Empedokles und so auch von den Dichtern, die Anführer von beiden Dichtungsarten, Epicharmos der komischen, und der Homer der tragischen; denn wenn dieser sagt, daß ich den Vater Okeanos schaue und Thetys die Mutter, will er andeuten, daß alles entsprungen ist aus dem Fluß und der Bewegung. Oder scheint er dir nicht dies zu meinen?

THEAITETOS: Allerdings auch mir.
[153]
SOKRATES: Wer dürfte nun wohl gegen ein solches Heer und seinen Anführer Homer etwas bestreiten, ohne sich lächerlich zu machen?

THEAITETOS: Leicht ist es nicht, o Sokrates.

SOKRATES: Gewiß nicht, Theaitetos. Zumal auch dies noch hinlängliche Beweise sind für diese Behauptung, daß nämlich allemal was zu sein scheint und das Werden die Bewegung verursacht, das Nichtsein aber und den Untergang die Ruhe. Denn Wärme und Feuer, welche dann wieder die anderen Dinge erzeugen und in Ordnung halten, werden selbst erzeugt durch Umschwung und Reibung, diese aber sind Bewegung. Oder sind dies nicht die Entstehungsarten des Feuers?

THEAITETOS: Das sind sie freilich.

SOKRATES: Ferner entspringt ja auch das Geschlecht der Lebenden aus eben diesen Ursachen.

THEAITETOS: Wie auch anders?

SOKRATES: Und wie, der ganze Zustand des Leibes, wird er nicht durch Ruhe und Trägheit zerrüttet, durch Leibesübungen aber und Bewegungen im Ganzen wohl erhalten?

THEAITETOS: Ja.

SOKRATES: Und der Zustand der Seele ebenso, pflegt sie nicht durch Lernen und Fleiß, welches Bewegungen sind, Kenntnisse zu erwerben und festzuhalten und so besser zu werden; durch die Ruhe aber, welche sich in Gedankenlosigkeit und Trägheit zeigt, nicht nur nichts zu lernen, sondern auch das Gelernte zu vergessen?

THEAITETOS: Ganz gewiß.

SOKRATES: Das Gute ist also Bewegung für Seele und Leib, und umgekehrt das Gegenteil davon.

THEAITETOS: So scheint es.

SOKRATES: Soll ich dir nun auch nocht die Windstillen anführen, und was dem ähnlich is, wie überall die Ruhe Fäulnis und Zerstörung bewirkt, das Gegenteil aber Erhaltung? Und überdies dem allen nun auch noch den letzten Stein hinzutragend beweisen, daß unter der goldenen Kette Homer nichts anderes versteht als die Sonne, und also andeutet, solange der Gesamte Umkreis in Bewegung ist und die Sonne, solange ist auch alles und bleibt wohlbehalten bei Göttern und Menschen, wenn aber dieses einmal wie gebunden stillstände, wo würden alle Dinge untergehen, und, wie man sagt, das unterste zuoberst gekehrt werden?

THEAITETOS: Mir scheint er das anzudeuten, was du sagst, o Sokrates.

SOKRATES: Denke dir also, mein Bester, die Sache so, zuerst in Beziehung auf die Augen, was du weiße Farbe nennst, daß dies nicht selbst etwas Besonderes ist außerhalb deiner Augen, noch auch in deinen Augen, und daß du ihm ja keinen Ort bestimmst, denn sonst  wäre  es schon wenn es bestimmt irgendwo wäre, und es beharrte, und wäre nicht bloß im Entstehen.

THEAITETOS: Aber wie denn?

SOKRATES: Folgen wir nur dem eben vorgetragenen Satz, daß nichts an und für sich  ein  Bestimmtes ist, und es wird uns deutlich werden, daß Schwarz und Weiß und jede andere Farbe aus dem Zusammenstoßen der Augen mit der zu ihr gehörigen Bewegung entstanden ist, und was wir jedesmal Farbe nennen, wird weder das Anstoßende sein noch das Angestoßene, sondern ein zwischen jedem besonders Entstandenes. Oder möchtest du behaupten, daß jede Farbe,eben wie sie dir erscheint, auch einem Hund oder irgendeinem anderer Tier erscheinen wird?
[154]
THEAITETOS: Beim Zeus, das möchte ich nicht.

SOKRATES: Aber wie? erscheint einem anderen Menschen irgendetwas gerade ebenso wie dir? Bist du davon recht gewiß, oder vielmehr davon, daß etwas nicht einmal dir selbst immer als dasselbe erscheint, da du dich niemals ganz auf dieselbe Weise verhältst.

THEAITETOS: Mich dünkt dieses eher als jenes.

SOKRATES: Also wenn das Gemessene oder Berührte groß oder rot oder warm wäre: so könnte es nicht dadurch, daß es auf einen Anderen träfe, ein Anderes werden, indem es sich selbst gar nicht veränderte. Wenn aber wiederum das Messende oder Berührende jedes von diesen wäre, so könnte es nicht, wenn ein anderer Gegenstand herankommt oder dem vorigen etwas begegnet, indem jedoch ihm selbst nichts widerfährt, dennoch ein Anderes werden. Denn jetzt, Freund, werden wir genötigt, wunderbare und lächerliche Dinge getrost zu behaupten, wie Protagoras, und jeder, der dasselbe, wie er behaupten will, uns vorwerfen würde.

THEAITETOS: Wie doch, und was für Dinge meinst du?

SOKRATES: Nimm nur ein kleines Beispiel, und du wirst alles wissen, was ich meine. Sechs Bohnen, wenn du vier dagegen hältst, werden mehr sein als die vier, nämlich noch ein halbes Mal soviel; wenn aber zwöft, dann weniger, nämlich die Hälfte, und man darf nicht einmal leiden, daß etwas anderes behauptet wird. Oder möchtest du es leiden?

THEAITETOS: Keineswegs.

SOKRATES: Wie nun, wenn dich Protagoras oder ein andere fragte, ist es wohl möglich, Theaitetos, daß etwas größer oder mehr wird auf eine andere Weise, als daß es zugenommen hat? was wirst du antworten?

THEAITETOS: Wenn ich, o Sokrates, was mir in Beziehung auf diese Frage allein richtig scheint, antworten soll, so werde ich sagen, es ist nicht möglich: wenn aber in Beziehung auf die vorige, so werde ich um mich zu hüten, daß ich nichts widersprechendes sage, wohl antworten, es wäre gar wohl möglich.

SOKRATES: Sehr gut, mein Freund und ganz hervorragend. Jedoch wie mir scheint, wenn du antwortest, es sei möglich, wird dir jenes aus dem Euripides begegnen, es wird uns die Zunge freilich unwiderlegt sein, die Seele aber nicht unwiderlegt.

THEAITETOS: Ganz wahr.

SOKRATES: Wenn wir also von den gewaltigen Weisen wären, du und ich, die schon alles durchgeprüft haben in ihrem Gemüt, so würden wir von nun an immer weiter nur zum Zeitvertreib einander versuchen, und auf sophistische Art einen eben solchen Kampf beginnend jeder den Rede des Andern mit den seinigen ausweichen. Da wir aber nur schlichte Menschen sind, werden wir doch zuerst die Sache an sich selbst betrachten wollen wie das wohl beschaffen ist, was wir behaupten, ob es untereinander stimmt, oder vielleicht nichts weniger als das.

THEAITETOS: Auf jede Weise würde ich meinesteils dieses letztere wollen.
[155]
SOKRATES: Auch ich gewiß. Da es sich nun so verhält, können wir anders als ganz gelassen in voller Muße die Sache wieder von vorn untersuchen, ohne verdrießlich zu werden, sondern recht aufrichtig uns prüfend, was uns doch diese Erscheinungen eigentlich sind, von denen wir nun die erste untersuchen, und, wie ich wenigstens glaube, sagen werden, daß niemals irgendetwas weder mehr noch weniger wird, weder der Masse noch der Zahl nach, solange als es sich selbst gleich ist. Nicht wahr?

THEAITETOS: Ja.

SOKRATES: Zweitens auch wohl, daß wem nichts zugesetzt noch auch abgenommen wird, dieses niemals weder wächst noch abnimmt, sondern immer gleich bleibt.

THEAITETOS: Ganz offenbar.

SOKRATES: Nicht auch das Dritte, nämlich was vorher nicht war, daß dieses doch auch nachher unmöglich sein kann, ohne geworden zu sein und zu werden?

THEAITETOS: So scheint es freilich.

SOKRATES: Diese drei Behauptungen nun streiten, glaube ich, in unserer Seele miteinander, wenn wir jenes von den Bohnen aussagen, oder wenn wir behaupten, daß ich, der ich diese bestimmte Größe habe, ohne weder zu wachsen, noch das Gegenteil zu erleiden binnen Jahresfrist, jetzt zwar größer bin, als du der Jüngere, hernach aber kleiner, da ich doch von meiner Masse nichts verloren habe, sondern nur du an der Deinigen gewonnen hast. Denn ich bin ja hernach, was ich vorher nicht war, ohne es geworden zu sein. Denn ohne werden ist unmöglich geworden zu sein, und da ich nichts von meiner Masse eingebüßt habe, wurde ich ja niemals kleiner. Und mit tausend und abertausend Sachen verhält es sich ebenso, wenn wir dieses wollen gelten lassen. Du kommst doch wohl mit, Theaitetos? wenigstens scheinst dur mir nicht unerfahren in diesen Dingen zu sein.

THEAITETOS: Wahrlich bei den Göttern, Sokrates, ich wundere mich ungemein, wie doch dieses wohl sein mag; ja bisweilen, wenn ich recht hineinsehe, schwindelt mir ordentlich.

SOKRATES: Theodorus, mein Lieber, urteilt eben ganz richtig von deiner Natur. Denn gar sehr ist dies der Zustand eines Freundes der Weisheit, die Verwunderung; je es gibt keinen anderen Anfang der Philosophie als diesen, und wer gesagt hat, Iris sei die Tochter des Thaumas, scheint die Abstammung nicht übel getroffen zu haben. Aber hast du schon inne, wie diese Dinge, zufolge dessen was, wie wir sagen, Protagoras behauptet, sich dennoch wirklich so verhalten können, oder noch nicht?

THEAITETOS: Noch nicht recht, glaube ich.

SOKRATES: So wirst du es mir wohl Dank wissen, wenn ich dir von der Meinung dieses Mannes oder vielmehr vieler berühmter Männer den rechten verborgenen Sinn aufspüren helfe.

THEAITETOS: Wie sollte ich das nicht danken, und zwar sehr vielen.

SOKRATES: Sieh dich aber wohl um, und habe Acht, daß uns nicht einer von den Uneingeweihten zuhört. Diese sind aber die, welche von nichts anderem glaubend, daß es sei, als von dem, was sie recht herzhaft mit beiden Händen greifen können, das Handeln und das Werden, und alles Unsichbare gar nicht unter dem was ist, wollen gelten lassen.
[156]
THEAITETOS: Das sind ja verstockte und widerspenstige Menschen, Sokrates, von denen du redest.

SOKRATES: Jene freilich, mein Kind, sind sehr roh. Viel preiswürdiger aber sind diese, deren Geheimnisse ich dir jetzt mitteilen will. Der Anfang aber, an welchem auch, was wir vorhin sagten, alles hängt, ist bei ihnen der, daß alles Bewegung ist, und anderes außerdem nichts, von der Bewegung aber zwei Arten, beide der Zahl nach unendlich, deren eine ihr Wesen hat im Wirken, die andere im Leiden, und aus dem Begegnen und der Reibung dieser beiden gegeneinander entstehen Erzeugnisse, der Anzahl nach auch unendliche, je zwei aber immer Zwillinge zugleich, das Wahrnehmbare und die Wahrnehmung, die immer zugleich hervortritt und erzeugt wird mit dem Wahrnehmbaren. Die Wahrnehmungen nun führen uns Namen wie diese, Gesicht, Gehör, Geruch, Erwärmung und Erkältung, auch Lust und Unlust werden sie genannt, Begierde und Abscheu, und andere gibt es noch benannte. Die Arten des Wahrnehmbaren aber sind je eine einer von jenen an - und miterzeugt, dem mancherlei Sehen die mancherlei Farben, dem Hören gleichermaßen die Töne, und so den übrigen Wahrnehmungen das übrige ihnen verwandte Wahrnehmbare. Was besagt uns nun diese Erzählung, Theaitetos, in Beziehung auf das vorige? Merkst du es wohl?

THEAITETOS: Noch nicht ganz, o Sokrates.

SOKRATES: So sieh zu, ob wir es irgendwie hinausführen. Sie will nämlich sagen, daß all dies, wie wir auch sagten, sich bewegt. In dieser Beziehung mit dem Nahen, und erzeugt auf diese Weise. das auf diese Weise erzeugte aber ist langsamer. Was aber schnell ist, das hat seine Bewegung in Beziehung mit Entfernterem und erzeugt so, und das so erzeugte ist schneller; denn es geht im Raum fort, und in diesem Forgehen besteht die Natur seiner Bewegung. Wenn nun ein Auge und ein solches Anderes ihm angemessenes zusammentreffen und die Röte erzeugen nebst der ihr mitgeborenen Wahrnehmung, was beides nicht wäre erzeugt worden wäre, wenn eines von jenen beiden auf ein Anderes getroffen hätte; dann wird, indem beide sich bewegen, nämlich das Sehen auf Seiten der Augen, die Röte aber auf Seiten des die Farbe miterzeugenden Gegenstandes, auf der einen Seite das Auge erfüllt mit der Gesichtswahrnehmung, und sieht alsdann, und ist geworden nicht eine Gesichtswahrnehmung, sondern ein sehendes Auge; auf der anderen Seite wird das die Farbe miterzeugende erfüllt mit der Röte, und ist geworden auch wiederum nicht die Röte, sondern ein rotes, sei es nun Holz oder Stein oder welchem Ding sonst begegnet, mit dieser Farbe gefärbt zu sein. Ebenso ist nun alles übrige, das Harte und Warme und alles andere auf dieselbe Art zu verstehen, daß es nämlich an und für sich nichts ist, wie wir auch vorher sagten, sondern daß im einander Begegnen alles allerlei wird vermöge der Bewegung. Denn [157] auch, daß das Wirkende etwas ist, und das Leidende wiederum etwas, läßt sich an  Einem  nicht fest und sicher bemerken; denn weder ist etwas ein Wirkendes, ehe es mit einem Leidenden zusammentrifft, noch ein Leidendes, ehe mit dem Wirkenden; ja auch, was mit dem Einen zusammentreffend ein Wirkendes wird, zeigt sich, wenn es auf ein Anderes fällt, als ein Leidendes. So daß diesem Allem zufolge, wie wir von Anfang an sagten, nichts an und für sich ein Bestimmtes ist, sondern immer nur wird für irgendein Anderes, das Sein aber überall ausgestoßen werden muß, wiewohl wir es auch jetzt eben aus Gewohnheit und Ungeschicklichkeit gar oft und viel zu gebrauchen genötigt waren, und man darf doch nach der Rede der Weisen weder das Etwas zugeben, noch das Wesen, noch Meins, noch Dieses noch Jenes, noch irgendeine andere Bezeichnung die fest steht: sondern der Natur gemäß muß man nur reden von Werdendem und Gewirktem, Vergehendem und Verändertem; so daß, wenn jemand etwas beharrlich setzt durch seine Rede, ein solcher sehr leicht zu Schanden zu machen ist. So muß man sowohl vom Einzelnen reden, als auch von dem aus vielem Zusammengefaßten, durch welches Zusammenfassen man Mensch sagt und Stein und jegliches einzelne Tier und seine Gattung. Ist dir dies nun lieblich, Theaitetos, und gefällt es dir daß du davon kosten möchtest?

THEAITETOS: Ich weiß nicht recht, Sokrates. Denn auch von dir kann ich nicht inne werden, ob du es sagst als deine Meinung oder ob du mich nur versuchst.

SOKRATES: Erinnerst du dich nicht mehr, Lieber, daß ich meinesteils dergleichen gar nicht weiß, auch nichts als das meinige vorbringe, sodnern ganz und gar unfruchtbar bin in dergleichen? Dir aber will ich Geburtshilfe leisten, und deshalb bespreche ich dich und lege dir zu kosten vor von allerlei Weisheit, bis ich endlich auch deine Meinung mit ans Licht bringe. Ist sie aber ans Licht gebracht, dann will ich auch gleich sehen, ob sie sich als ein Windei oder als eine gesunde Geburt zeigen wird. Also halte nur aus und sei guten Mutes, und antworte dreist und tapfer, was dich dünkt über das, wonach ich eben frage.

THEAITETOS: So frage denn.

SOKRATES: Erkläre dich also noch einmal, ob es dir recht ist, daß gar nichts  sein,  sondern immer nur  werden  soll, Gutes und Schönes und alles, was wir eben durchgegangen sind?

THEAITETOS: Freilich scheint mir, wenn ich dich die Sache so erörtern höre, alles ganz erstaunlich gegründet zu sein, und daß es so müsse gedacht werden, wie du es auseinandersetzt.

SOKRATES: So wollen wir dann auch das nicht zurücklassen, was noch übrig ist davon. Es ist aber noch übrig das von den Träumen und Krankheiten, besonders auch dem Wahnsinn, und was man  sich verhören  nennt oder  sich versehen  oder sonst eine Sinnestäuschung. Denn du weißt wohl, daß es das Ansehen hat, als könne durch alle diese Fälle einstimmig der Satz widerlegt werden, den wir jetzt eben durchgegangen sind, und als wären auf alle Weise unsere Wahrnehmungen falsch in diesen Fällen, und als fehlte viel daran, daß, was einem Jeden erscheint, dasselbe auch sei, sondern ganz im Gegenteil, als sei nichts von dem was erscheint.
[158]
THEAITETOS: Vollkommen recht, o Sokrates.

SOKRATES: Was für eine Ausrede, Jüngling, bleibt also dem noch übrig, welcher sagt, Wahrnehmung sei Erkenntnis, und was jedem erscheint, das sei auch so dem, welchem es erscheint?

THEAITETOS: Es fehlt mir der Mut, Sokrates, zu gestehen, daß ich nicht weiß, was ich sagen soll, weil du mich nur vorhin gescholten hast, als ich dies sagte. Und doch wäre ich in der Tat nicht vermögend, zu bestreiten, daß die Wahnsinnigen oder die Träumenden nicht falsche Vorstellungen haben, wenn jene Götter zu sein glauben, diese aber geflügelt, und sich im Traum als fliegend vorkommen.

SOKRATES: Merkst du auch nicht diesen Einwurf dagegen, besonders was Wachen und Schlafen betrifft?

THEAITETOS: Welchen meinst du?

SOKRATES: Den du, meine ich, oft gehört haben wirst, wenn man nämlich die Frage aufwirft, was für ein Kennzeichen jemand wohl angeben könnte, wenn einer fragte, jetzt gleich gegenwärtig, ob wir nicht schlafen und alles was wir vorstellen nur träumen, oder ob wir wachen und uns wachend unterreden?

THEAITETOS: Und wahrlich, Sokrates, es ist sehr schwierig, durch was für ein Kennzeichen man es beweisen soll. Denn es folgt ganz genau auf beiden Seiten dasselbe. Denn was wir jetzt gesprochen haben, das können wir ebensogut im Traumm über etwas zu sprechen meinen, so ist ganz wunderbar, wie ähnlich dies jenem ist.

SOKRATES: Du siehst also, daß das Bestreiten nicht schwer ist, wenn sogar darüber gestritten werden kann, was Schlaf ist und was Wachen. Und da die Zeit des Schlafens der des Wachens ziemlich gleich ist, und die Seele in jedem von diesen Zuständen behauptet, daß die ihr jedesmal gegenwärtigen Vorstellungen auf alle Weise wahr sind: so behaupten wir eine gleiche Zeit hindurch, einmal, daß das Eine, dann wieder ebenso, daß das Andere wirklich ist, und beharren beidemal gleich fest auf unserer Meinung.

THEAITETOS: Allerdings.

SOKRATES: Verhält es sich nun nicht mit Krankheiten und mit dem Wahnsinn ebenso, bis auf die Zeit, daß die nicht gleich ist?

THEAITETOS: Ganz richtig.

SOKRATES: Und wie? soll das Wahre aus der Länge und Kürze der Zeit bestimmt werden?

THEAITETOS: Lächerlich wäre das ja auf vielerlei Weise!

SOKRATES: Hast du aber etwas anderes sicheres, woran du zeigen kannst, welche von diesen Vorstellungen die wahren sind?

THEAITETOS: Mich dünkt nicht.

SOKRATES: So höre nun von mir, was diejenigen darüber sagen würden, welche behaupten, was Jeder vorstellt, sei dem der es vorstellt auch wahr. Sie werden aber, wie ich glaube, uns so befragen. Was ganz und gar von einem Anderen verschieden ist, o Theaitetos, kann das wohl irgend einerlei Vermögen mit jenem haben? und daß wir also ja nicht annehmen, daß das, wovon die Frage ist, in einer Hinsicht doch einerlei ist mit jenem, und nur in einer andern verschieden, sondern nur, daß es ganz verschieden ist.

THEAITETOS: Es ist ja unmöglich, daß Eines mit einem Andern einerlei ist, sei es nun Vermögen oder sonst etwas habe, wenn es ganz und gar davon verschieden ist.
[159]
SOKRATES: Muß man nicht auch zugeben, daß ein solches notwendig unähnlich ist?

THEAITETOS: Mir scheint es wenigstens.

SOKRATES: Wenn sich also ereignet, daß etwas einem ähnlich wird oder unähnlich, es sei nun sich selbst oder einem andern, werden wir nicht, wenn es ähnlich wird, sagen, daß es einerlei, wenn aber unähnlich, daß es verschieden wird?

THEAITETOS: Notwendig.

SOKRATES: Haben wir nun nicht vorher gesagt, daß es vielerlei und unzähliges Wirkendes gibt, und Leidendes auch?

THEAITETOS: Das haben wir.

SOKRATES: Und auch, daß eins mit einem andern und dann wieder mit einem andern sich vermischend nicht beidemale einerlei sondern Verschiedenes erzeugen wird?

THEAITETOS: Allerdings.

SOKRATES: So laß uns also von dir und mir und allem auf dieselbe Weise sagen, der kranke Sokrates und der gesunde Sokrates, sollen wir dies jenem ähnlich nennen oder unähnlich?

THEAITETOS: Meinst du dieses Ganze, den kranken Sokrates, jenem Ganzen, dem gesunden Sokrates?

SOKRATES: Ganz recht hast du verstanden, so meine ich es.

THEAITETOS: Unähnlich dann.

SOKRATES: Auch verschieden etwa auf eben die Art wie unähnlich?

THEAITETOS: Notwendig.

SOKRATES: Auch von dem schlafenden also, und was wir sonst jetzt angeführt haben, wirst du das nämliche behaupten.

THEAITETOS: Ich gewiß.

SOKRATES: Wird also nicht jedes seiner Natur nach etwas wirkende, wenn es den gesunden Sokrates trifft, mit einem verschiedenen zu tun haben, und wenn den kranken, wieder mit einem verschiedenen?

THEAITETOS: Wie sollte es nicht?

SOKRATES: Und Verschiedenes werden wir also in beiden Fällen zusammen erzeugen, ich der Leidende und jenes das Wirkende?

THEAITETOS: Wie sonst?

SOKRATES: Wenn nun ich der Gesunde Wein trinke: so erscheint er mir lieblich und süß?

THEAITETOS: O ja.

SOKRATES: Es haben nämlich alsdann nach dem zuvor eingeräumten das Wirkende und das Leidende erzeugt, die Süßigkeit und die Wahrnehmung, beide zugleich schwebend. Und zwar hat die Wahrnehmung, welche auf der Seite des Leidenden ist, seine Zunge wahrnehmend gemacht, die Süßigkeit aber, welche auf der Seite des Weines um ihn schwebt, hat den Wein für die gesunde Zunge süß zu sein und zu scheinen gemacht.

THEAITETOS: So waren wir allerdings vorher übereingekommen.

SOKRATES: Wenn er aber den kranken trifft, hat er dann nicht zuerst der Wahrheit nach nicht denselben getroffen, da er zu einem dem vorigen unähnlichen gekommen ist?

THEAITETOS: Ja.

SOKRATES: Verschiedenes also erzeugen wiederum ein solcher Sokrates und das Trinken des Weines. An der Zunge nämlich die Wahrnehmung der Bitterkeit, am Wein aber die werdende und schwebende Bitterkeit, und machen diesen nicht zur Bitterkeit,, sondern zu einem bitteren, mich aber nicht zur Wahrnehmung, sondern zu einem Wahrnehmenden.

THEAITETOS: Ganz offenbar.
[160]
SOKRATES: Also werde sowohl ich nichts anderes jemals werden, solange ich so wahrnehme, denn nur eine andere Wahrnehmung von etwas anderem macht den Wahrnehmenden zu einem veränderten und andernn, als auch jenes, das auf mich wirkende, wird niemals, sobald es mit einem andern zusammentrifft, dasselbige erzeugend, ein eben solches werden. Denn mit anderem muß es anderes erzeugend ein Verändertes werden.

THEAITETOS: So ist es.

SOKRATES: Ebensowenig aber werde ich für mich selbst ein solcher, noch jenes für sich selbst ein solches werden.

THEAITETOS: Natürlich nicht.

SOKRATES: Notwendig also muß sowohl ich, wenn ich ein Wahrnehmender werde, es von etwas werden, denn ein Wahrnehmender zwar aber ein nichts wahrnehmender zu werden, das ist unmöglich; als auch jenes muß, wenn es süß oder bitter oder etwas dergleichen wird, es notwendig für einen werden. Denn süß, aber Niemandem süß zu sein, ist unmöglich.

THEAITETOS: Allerdings muß es so sein.

SOKRATES: Es bleibt also, glaube ich, übrig, daß wir füreinander etwas sind oder werden, je nachdem man nun sein oder werden sagen will, da unser Sein zwar die Notwendigkeit verknüpft, aber weder mit irgendeinem anderen, noch mit uns selbst. Also bleibt übrig, daß es für uns untereinander verknüpft sei. So daß, mag es nun Jemand Sein nennen, er sagen muß, es sei für etwas oder von etwas, oder in Beziehung auf etwas; oder nenne er es Werden, dann eben so. Daß aber etwas an und für sich etwas ist, gleichviel ob es sei oder werde, das darf er weder selbst behaupten, noch wenn ein Anderer dies behauptet es annehmen, wie die Rede, welche wir durchgegangen sind, zeigt.

THEAITETOS: So ist es allerdings, Sokrates.

SOKRATES: Nicht wahr also, wenn das mich zu etwas machende für mich ist, und nicht für einen Anderen: so nehme auch nur ich es wahr, ein Anderer aber nicht?

THEAITETOS: Wie auch anders?

SOKRATES: Wahr also ist mir meine Wahrnehmung, denn sie ist die meines jedesmaligen Seins. Ich also bin der Richter, nach dem Protagoras, dessen sowohl war mir ist wie es ist, als auch dessen was mir nicht ist wie es nicht ist.

THEAITETOS: So scheint es.

SOKRATES: Wie also sollte ich, da ich untrüglich bin und nie fehle, in meiner Vorstellung von dem was ist oder wird, dasjenige nicht auch erkennen, was ich wahrnehme?

THEAITETOS: Es läßt sich auf keine Weise anders denken.

SOKRATES: Vortrefflich also hast du gesprochen, daß die Erkenntnis nichts anderes ist als Wahrnehmung; und es fällt in Eines zusammen, daß nach dem Homer, dem Heraklit und ihrem ganzen Stamm alles sich wie Ströme bewegt, daß nach dem Protagoras, dem sehr weisen, der Mensch das Maß aller Dinge ist, und daß nach dem, Theaitetos, wenn dieses sich so verhält, die Wahrnehmung Erkenntnis wird. Nicht wahr, o Theaitetos? wir sagen doch, daß dieses Kindlein dein neugeborenes ist, und von mir geholt? oder wie meinst du?

THEAITETOS: Notwendig so, Sokrates.
[161]
SOKRATES: Dieses haben wir recht mit Mühe endlich geboren, wasimmer es auch nun eigentlich sein mag. Nach der Geburt aber müssen wir nun das wahre Umtragen im Kreis damit vornehmen, indem wir durch eine weitere Untersuchung erforschen, ob nicht das Geborene, vielleicht ohne daß wir es wußten, nicht wert ist aufgezogen zu werden, sondern ein leeres Windei. Oder glaubst du, dein Kind müsse man auf alle Fälle aufziehen und nie aussetzen? Oder wirst du es doch ertragen, wenn du siehst, daß es de Prüfung nicht besteht, und nicht allzuverdrießlich werden, wenn es dir Jemand, ungeachtet, daß es deine erste Geburt ist, wegnimmt?

THEODOROS: Er wird es ertragen, unser Theaitetos, o Sokrates, denn er ist gar nicht hartnäckig. Also, bei den Göttern, sage, ob es sich nun wieder nicht so verhält.

SOKRATES: Offenbar hast du großen Wohlgefallen, Theodoros, und bist sehr gut, daß du glaubst, ich wäre gleichsam ein Schatzkasten von Behauptungen, und dürfte ohne Mühe nur eine herausnehmend sagen, daß sich dies wiederum nicht so verhielte. Wie es aber wirklich damit zugeht, merkst du nicht, daß nämlich keine dieser Behauptungen von mir ausgeht, sondern immer von dem, der sich mit mir unterredet; ich aber weiter nichts weiß als nur dieses Wenige, nämlich die Rede eines anderen Weiseren aufzufassen und gehörig zu behandeln. Und so will ich es auch jetzt mit diesem versuchen, nicht aber selbst etwas sagen.
LITERATUR - Friedrich Schleiermacher, Platons Werke, Bd. 2, Teil 1, Berlin 1818