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WILHELM WINDELBAND
Zum Begriff des Gesetzes

"Es ist durchaus richtig, daß die Erforschung der Gesetze keinen Anspruch darauf hat, die Wirklichkeit restlos zu verstehen, daß das Wirken als das individuelle Moment im Prozess des Geschehens hinter den allgemein gültigen Formen, an die seine Tätigkeit gebunden ist, als ein Eigenes und von dieser Seite her Unerforschliches bestehen bleibt: aber nicht minder richtig bleibt es, daß in der Erforschung der Gesetzmäßigkeiten eine Seite des Wirklichen den durchaus realen Gegenstand unseres Wissens bildet. In der Zerlegung der in ihrer gesamten Struktur niemals zu erfassenden Totalität unserer Erlebnisse hat die Auffassung der darin waltenden Regelmäßigkeiten ihr Recht ebensogut wie jede andere daraus herausgearbeitete Konstruktion, niemals aber einen berechtigten Anspruch, für sich allein das Ganze erschöpft zu haben."

Als ein Gewirr von Eindrücken stellt sich dem unbefangenen Bewußtsein die umgebende Welt zuerst dar, und wenn sich auch unwillkürlich darin schon die Linien assoziativer und apperzeptiver Zusammenhänge zeichnen, so ist es doch erst die Aufgabe und die Leistung der Wissenschaft, die Ordnung in der Welt zu suchen. Ihre begriffliche Arbeit hat aus dem Wust der Tatsachen diese Ordnung herauspräpariert und damit den Kosmos erzeugt. "Das, was die Gelehrten den Kosmos nennen" - so bezeichnet der brave Reitersmann XENOPHON die wissenschaftliche Vorstellung vom Universum. Das Suchen nach dieser Ordnung spricht sich als ein leidenschaftlicher Drang des Denkens in den dunklen Worten von HERAKLIT. Gefunden haben die Griechen eine solche dauernde Ordnung bekanntlich am Himmel, wie wir es an ANAXAGORAS und den Pythagoreern deutlich sehen. Die Sphären des Äthers gelten als das Reich der in sich zurücklaufenden und in sich geschlossenen, immerdar gleichmäßigen Bewegungen, und das methodische Prinzip der griechischen Astronomie bestand darin, in der Hypothese ein solches Verhältnis derartiger geordneter Bewegungen zu konstruieren, durch welches die scheinbare Unordnung in den Bewegungen der Wandelsterne begreiflich gemacht werden könnte. Für die irdische Welt dagegen, für die Welt unter dem Mond, ließ sich diese Durchdringung der Tatsachen vom Geist der Ordnung nicht in gleicher Weise durchführen; sie blieb deshalb den Griechen in der naiven Wahrhaftigkeit ihres Denkens, das sich nicht traute, die Tatsachen durch Postulate zu ersetzen, stets ein Reich der Unordnung und der Unvollkommenheit, worin der Widerstreit der geradlinigen Bewegungen eine unübersehbare Unordnung von Gestaltungen mit sich führte. So galten bei ARISTOTELES die allgemeinen Bestimmungen im Bereich der natürlichen Wirklichkeit nur  hos epi to poly,  d. h. nur so etwa meistenteils; und ähnlich hat EPIKUR an zufälligen oder wirklichen Abweichungen von den allgemeinen Regelmäßigkeiten des Geschehens so wenig Anstoß genommen, daß er darauf seine Theorie der Weltentstehung gründete. Nur der größte unter den Naturforschern des Altertums, DEMOKRIT, hat den Gedanken einer bedingungslosen Notwendigkeit allen Geschehens im Prinzip vertreten und im besonderen durchgeführt, und die Stoiker sind es gewesen, welche ihm darin gefolgt sind.

Eine ähnliche Entwicklung finden wir in der neueren Naturwissenschaft: auch hier steigt der Gedanke der Weltordnung vom Himmel auf die Erde hernieder. Das Bedürfnis, mit den Mitteln der natürlichen Erkenntnis die Welt als göttliche Ordnung, als Harmonie, Vollkommenheit und Schönheit zu verstehen, ist bekanntlich bei KOPERNIKUS, bei KEPLER und bei GALILEI das maßgebende Motiv für die Ausbildung der astronomischen Theorie gewesen: auch hier fand die Bewunderung zuerst in der Gestirnwelt ihre wissenschaftliche Betätigung durch die mathematische Theorie, und erst die durch die neue Weltansicht begründete Vorstellung von der Homogenität des Universums und von der Gleichartigkeit der Ordnung in allen seinen Teilen führte GALILEI zur Entdeckung der mechanischen Ordnungen auch des terrestrischen Geschehens, zu der Vorstellung, die sich dann in NEWTONs Gravitationstheorie vollendete.

Ist so in den Leistungen der Wissenschaft die Deutung der Welt als Ordnung zuerst am Eindruck der Gestirnwelt gelungen und dann erst ins Irdische und Menschliche gewendet worden, so dürfen wir nicht vergessen, daß psychologisch die Auffassung der Ordnung in den Tatsachen einen umgekehrten Weg beschrieben hat. Die Ordnung mußte erlebt und als Wert gewürdigt sein, wenn sie ein Prinzip zur Erklärung der Welt werden sollte: und dieses Erlebnis konnte nur aus der Überwindung der Unordnung im Menschenleben erwachsen. Wenn wir den griechischen Geist mit so zäher Energie am Verständnis des Kosmos arbeiten sehen, so müssen wir daran denken, wie in den Zeiten, welche die hellenische Wissenschaft geboren haben, die Empörung der Individuen gegen die gewohnten Formen des Denkens und Wertens in der ganzen Ausdehnung des politischen und des sozialen, des religiösen und des künstlerischen Lebens zur Auflösung althergebrachter Ordnungen führte. Die Erfahrung der Hybris, ihres Rechts und ihres Unrechts, ihres tragischen Geschicks ist ein gewaltiger Stachel für das griechische Dichten und Denken gewesen. Was AISCHYLOS und SOPHOKLES poetisch gestaltet haben, das hat auch das Denken der Philosophen bewegt. Es spricht schon in einem geheimnisvollen Wort des alten ANAXIMANDER, und es ringt sich empor in der stammelnden Sprache HERAKLITs. Hier zuerst findet die Sehnsucht nach der Ordnung den Ausdruck, der bis auf den heutigen Tag in der wissenschaftlichen Sprache dafür in Geltung geblieben ist. Wie im Menschenleben gegenüber der Willkür der Individuen die Ordnung nur in der ungebrochenen Herrschaft des Gesetzes besteht, so gilt auch die Ordnung im Universum nur als die Herrschaft des Gesetzes. Ja, die gesetzliche Ordnung des Menschenlebens, die in ihrem empirischen Ursprung selbst wieder auf Wille und Willkür von Menschen zurückzugehen scheint, kann ihr Recht und ihre Legitimation zuerst nur dadurch finden, daß nach dem schönen Wort von HERAKLIT die menschlichen Gesetze alle aus dem einen göttlichen Gesetz, dem Weltgesetz, gewachsen sind. Denn wenn jedes Gesetz eine ein für allemal gegebene Bestimmung und eben damit eine unwandelbare Ordnung des Geschehens darstellen soll, so sind alle menschlichen Gesetze, als dem Wandel unterworfen, nur unvollkommene Versuche und Annäherungen an eine vollkommene Ordnung, die das Universum allein als Ganzes in seiner Gesetzmäßigkeit besitzen kann. Der Begriff des Weltgesetzes ist also psychogenetisch aus der Analogie der Vorstellung der Weltordnung zur menschlichen Lebensordnung erwachsen. In diesem Sinne haben die Stoiker das heraklitische Prinzip zu Begriff der  lex naturae  [Naturgesetz - wp] herausgebildet, und dieser Begriff hat für die ethischen und rechtsphilosophischen Theorien des Mittelalters und der Neuzeit eine ebenso große Bedeutsamkeit gewonnen wir für die Struktur unserer metaphysischen Auffassungen von der Weltordnung.

Dies ist dadurch möglich geworden, daß in jenem Begrif der lex naturae von vornherein dieselbe Doppelbedeutung bestand, die schon in HERAKLITs Begriff vom Logos, von der  Dike  [Gerechtigkeit - wp] und  Heimarmene  [Schicksal - wp] enthalten war. Das Gesetz als menschliche Lebensordnung ist ein Verlangen, daß etwas geschehen solle; das Motiv seiner Aufstellung liegt in der Voraussetzung, daß dies nicht von selbst sicher und allgemein geschehen werde, und ein solches Gesetz findet daher auch im tatsächlichen Geschehen nur seine partielle Verwirklichung. Das Gesetz dagegen als Form der göttlichen Weltordnung ist die allgemeine, ausnahmslos zutreffende Bestimmung des wirklichen Geschehens, die durch das wissenschaftliche Denken erkannt werden soll. In unentschiedener Unentwickeltheit liegen diese beiden Bedeutungen im Begriff des Logos bei HERAKLIT und des Nomos bei den Stoikern nebeneinander, und unmerklich gehen beide Vorstellungen ineinander über: die von einer Ordnung, die herrschen soll, und die von einer Ordnung, die herrscht. Auf dieser Zweideutigkeit beruhten zuletzt die unlösbaren Widersprüche, welche dem System der stoischen Welt- und Lebensauffassung einen so großen Reiz verliehen und zugleich so schwere Unbequemlichkeiten bereiteten: der kosmologische Monismus und der anthropologische Dualismus, der metaphysische Optimismus und der moralische Pessimismus, - diese Momente, deren Antagonismus in den unlösbaren Problemen der Teleologie und der Willensfreiheit aufklaffte. Wir können das Verhältnis dieser Denkmotive jetzt leicht klarer und deutlicher bestimmen, nachdem die gesamte weitere Entwicklung zur Einsicht in die prinzipielle Verschiedenheit jener beiden Bedeutungen des Begriffs "Gesetz" geführt hat. Uns ist heutzutage der Unterschied zwischen den Gesetzen des Sollens und denen des Müssens, zwischen den Normen und den Naturgesetzen so vollkommen geläufig und so selbstverständlich, daß ich mich darüber in diesem Kreis nicht weiter zu verbreiten brauche. Wir wissen auch alle, welche schwierigen Probleme aus den Beziehungen zwischen beiden Gesetzgebungen entspringen. Sie sind verhältnismäßig noch einfach da, wo sie sich auf das Gebiet der dem menschlichen Willen entspringenden Funktionen beziehen. Denn zunächst gehört das Sollen zum Wollen, es stellt das Verlangen eines Willens dar, und im Verhältnis eines gebietenden Willens zu den Erscheinungen, die sich, wenn er nicht wirksam würde, nach der bestehenden Ordnung des naturgesetzlichen Müssen abspielen würden, liegt ansich keine unüberwindliche Schwierigkeit für die Erkenntnis. Desto größer werden diese Schwierigkeiten, wenn wir die Analogie im Begriff des Gesetzes metaphysisch durchführen und von der Bestimmung des Geschehens durch die Gesetze eine Vorstellung gewinnen wollen. Hier entsteht die Frage, wieweit die Ordnung des Müssens, die tatsächlich herrschende, noch im Sinne der Ordnung, die herrschen soll, aufgefaßt werden kann und darf.

Wir machen es uns am einfachsten Klar, wenn wir überlegen, was in den beiden analogischen Vorstellungsweisen vom Gesetz das begrifflich Gemeinsame bleibt. Dies ist, soweit ich sehe, schließlich nichts anderes als die reale Abhängigkeit des Besonderen und Einzelnen von einer allgemeinen Bestimmung. Ein Gesetz des Sollens, eine Norm, sagt in allen Fällen - logisch ausgedrückt in der Form des hypothetischen Urteils - aus, daß unter mehr oder minder bestimmten Bedingungen etwas geschehen soll, und ein solches Gesetz wird als herrschender Wille wirksam, indem dieser die generell formulierte Bestimmung im besonderen, im einzelnen Fall verwirklicht. Bei der naturgesetzlichen Ordnung des Müssens stellt unser Erkennen - gleichgültig, ob in der gröberen Form naiv vergleichender Induktion oder in der feineren Art methodisch verfahrender Theorie - die allgemeinen Bestimmungen fest, die sich in den einzelnen Fällen des erlebten Geschehens mit unveränderter Gleichmäßigkeit vorfinden, und indem unser erklärendes Denken ein solches gesetzmäßiges Verhalten zu den ursächlichen Bedingungen jedes einzelnen Falles rechnet, indem unsere Erwartung für die Zukunft die Wiederholung dieser gesetzlichen Gemeinsamkeit voraussetzt und bestätigt findet, betrachten wir das Gesetz als das Allgemeine, das sich im einzelnen Fall verwirklicht. Die reale Dependenz des Besonderen vom Allgemeinen erscheint damit als eine kategoriale Form, durch welche die Tatsachen in der Erfahrung des Lebens ebenso wie in der Theorie der Wissenschaft gedeutet werden. Wir sprechen nicht nur so, sondern wir denken auch so, daß der Grund, weshalb der Stein zur Erde fällt, im Fallgesetz bestehe. Wir rechnen die allgemeinen Formen des Geschehens, die wir aus der Gleichmäßigkeit der Reihenfolge beobachteter Zustände abstrahiert haben, zu den ursächlichen Momenten des einzelnen Geschehens. Wir sagen und meinen: dieses Einzelne geschieht so, wie es geschieht, deshalb, weil das Naturgesetz es so verlangt.

Hierin besteht die unverkennbare Verwandtschaft unseres Begriffs vom Naturgesetz mit der platonischen Idee. Auch PLATON sagte und dachte, daß das schöne Ding nur deshalb schön sei, weil es an der Idee der Schönheit teilhabe, weil diese Idee an ihm gegenwärtig sei. Das Einzelne ist so, wie es der Begriff an ihm verlangt. Was die platonische Ideenlehre den Gattungsbegriffen zuschrieb, das denken wir jetzt in den generellen Urteilen, worin wir die Naturgesetze formulieren. Der Unterschied beider Auffassungweisen verringert sich fast bis zum Verschwinden für den modernen Logiker, der zwischen dem Begriff und dem Urteil mehr sprachliche und grammatische als eigentlich logische Unterschiede findet. Dennoch ist es unrichtig, wenn man dem antiken Denken, das dieser Auffassung durchaus fern stand, eine solche Identifikation imputiert und wenn man diese sachlichen Zusammenhänge dahin übertreibt, daß man PLATON zumutet, er habe in seinen Ideen den modernen Begriff des Gesetzes wirklich gedacht. Einer solchen irrigen Interpretation der platonischen Ideenlehre hat wohl LOTZE Vorschub geleistet, als er in seiner Logik vorschlug, dieses Verhältnis der realen Dependenz des Besonderen vom Allgemeinen mit dem Ausdruck des "Geltens" zu bezeichnen. Er hoffte damit die Schwierigkeiten zu umgehen, welche den metaphysischen Anwendungen jenes kategorialen Verhältnisses aus der Frage erwachsen, wie das bestimmende oder verursachende Allgemeine, gleichviel ob es als Idee in der logischen Form des Begriffs oder als Gesetz in der logischen Form des Urteils gedacht wird, für real angesehen werden kann. Denn die Frage nach der Wirklichkeit und der Wirksamkeit der Gesetze bringt in der Tat alle die Schwierigkeiten mit sich, welche der platonischen Ideenlehre und dem mittelalterlichen Realismus erwachsen sind. Was wir unmittelbar und zweifellos im Erkennen erleben, ist, daß die "Geltung" des allgemeinen Satzes die des besonderen begründet, oder daß das Allgemeine für das Besondere "gilt". Sobald wir aber dieses Gelten als ein entsprechendes reales Verhältnis auffassen wollen, sobald wir uns deutlich machen sollen, wie die Idee oder das Gesetz für das einzelne Wirkliche gilt, stehen wir vor der Unmöglichkeit, uns davon irgendeine Vorstellung zu machen. Für dieses, rein begrifflich durchaus denkbare Verhältnis fehlt jede Art anschaulicher Vergegenständlichung. Wir können uns weder vorstellen, wie ein Allgemeines für sich allein wirklich ist, noch wie es am Einzelnen oder im Einzelnen wirksam ist. Es gibt dafür nur eine einzige Form, in der wir Sein und Wirken des Allgemeinen tatsächlich erleben: das sind die Vorgänge des Seelenlebens, die logischen Akte, in denen Besonderes durch Allgemeines begründet wird, die emotionellen Prozesse, in denen ein allgemeines Wollen auf die gegebene Lage angewendet wird und sich in der Differenzierung zum besonderen Wollen der Ziele und der Mittel verengert, die sozialen Lebensformen endlich, in denen der herrschende Wille sich bei den für seine Verwirklichung geeigneten Gelegenheiten durchsetzt. Die Herrschaft des Allgemeinen über das Besondere ist somit eine unbestreitbare Tatsache im Ablauf der psychischen Funktionen. In all den angedeuteten Fällen wissen wir nicht nur, daß ein Allgemines, als Vorstellung, als Gefühl, als Wille, in vielfach variierenden Gestaltungen in unserem Bewußtsein aufgetreten ist, sondern wir erleben auch unmittelbar, wie aus dem schon bestehenden Allgemeinen das Besondere in Begriff und Urteil, im Gefühl und im Wollen entsteht und sich begründet. Die metaphysischen Weltanschauungen also, welche in der platonischen Idee oder im Naturgesetz die Ursache der Gestaltung alles Besonderen suchen, deuten den Zusammenhang der Dinge nach der Analogie eines Verhältnisses, das wir in uns mit absoluter Unanfechtbarkeit erleben. Die Dependenz des Besonderen vom Allgemeinen ist eine unbestreitbare Realität im logischen und im emotionalen Prozeß, in der gesamten Ausdehnung des Seelenlebens. Auf diesem Gebiet wissen wir genau, daß und was das Allgemeine ist, und wir wissen ebenso genau, wie es im Besonderen wirksam ist und dieses bestimmt. Für alle außerpsychische Realität dagegen fehlt uns jede Möglichkeit, Wirklichkeit und Wirksamkeit eines Allgemeinen zu denken. Hinter den naiven Ausdrucksweisen, die Natur stehe unter unwandelbaren Gesetzen, diese Gesetze beherrschten alles Geschehen usf., Ausdrucksweisen übrigens, die in den Schriften der Naturforscher ebenso häufig vorkommen wie in der alltäglichen Literatur, - hinter diesen Vorstellungsweisen steht meist mit gedankenloser Selbstverständlichkeit schließlich die Vorstellung, als ob das Naturgesetz etwas sei, das ein für allemal bestehe und das, sobald die Gelegenheit zu seiner Verwirklichung eintrete, sofort und unabwendbar in Kraft trete. Wie der Vollstrecker des menschlichen Gesetzes, sobald der darin vorgesehene Fall eingetreten ist, unweigerlich dazu schreitet, das Gesetz in Wirksamkeit treten zu lassen, so etwa denkt man sich auch die Wirksamkeit der Naturgesetze. Alle Vorgänge juristischer und administrativer Natur sind Arten des realen Syllogismus, worin das Gesetz den Obersatz, der gegebene Fall den subsumierten Untersatz und die Rechtshandlung den Schlußsatz bildet. Diese reale Syllogistik ist eben nur möglich, weil das Gesetz nicht bloß eine logische Allgemeinheit, sondern als solche zugleich ein tätiger Wille ist. Deshalb war die einzige Form, in der eine anschauliche Vorstellung von der Wirklichkeit und der Wirksamkeit der Naturgesetze gewonnen werden konnte, die Analogie, daß man sie als die Form der von Gott gewollten und ausnahmslos durchgeführten Ordnung der Natur betrachtete. So haben es die Okkasionalisten [Lehre von den Gelegenheitsursachen - wp], so hat es BERKELEY getan.

Wenn damit die beiden oben geschiedenen Bedeutungen des Gesetzesbegriffs wieder ineinander übergingen, so war einerseits nicht zu verkennen, daß diese Lösung des metaphysischen Problems durchaus anthropomorphistischen Charakters war und daß andererseits jede Abweichung von einer solchen gottgewollten Ordnung zu einem undurchdringlichen Geheimnis wurde. Man war mit dem: "La liberté c'est un mystére" [Die Freiheit ist ein Geheimnis - wp] wieder bei den Aporien [Widersprüchen - wp] der Stoiker angelangt. Wenn aber diese Angleichung des Naturgesetzes an das vom menschlichen Willen gegebene Gesetz die einzige Möglichkeit schien, vom Sein und Wirken des Gesetzes eine Vorstellung zu gewinnen, so ist es begreiflich, wie die moderne Erkenntnistheorie gerade in dieser Hinsicht geneigt sein mußte, auf die nominalistische Seite zu treten und in den Gesetzen als den Gattungsbegriffen von Veränderungen schließlich nur die intellektuellen Mittel für die Ordnung und Beherrschung unserer Vorstellungen zu sehen. Diese nominalistische Auffassung spricht bekanntlich in all den positivistischen Theorien, welche in den Naturgesetzen nichts anderes sehen wollen als allgemeine Tatsachen, durch welche nur das den einzelnen Vorgängen tatsächlich Gemeinsame vorgestellt, aber nicht irgendetwas von ihnen Verschiedenes oder gar sie Bestimmendes erkannt werde. In metaphysisch-erkenntnistheoretischem Sinne kommt es dabei auf dasselbe hinaus, ob man diese subjektiven Ergebnisse der vergleichenden Abstraktion aus einer immanenten Ökonomie des Erkennens erklärt, die darauf gerichtet sei, die Mannigfaltigkeit des Wahrgenommenen zu ordnen und zu übersehen und das Erlebte in allgemein mitteilbarer Weise eindeutig zu beschreiben, oder ob man dieses subsumtive Verfahren in den Dienst der praktischen Aufgaben des Erkennens stellt, die eben nur dadurch zu lösen seien, daß wir der einzelnen Lage vermöge der Erkenntnis ihrer gattungsmäßigen Bestimmungen allein beizukommen imstande sind. Gerade in dieser pragmatistischen Wendung aber werden wir unweigerlich auf das Problem der realen Bedeutung des Generellen zurückgedrängt; denn die pragmatistische Wendung des Positivismus beruth immer auf COMTEs Formel: "Savoir pour prévoir" [Wissen, um vorherzusehen - wp]. Die allgemeinen Tatsachen haben den pragmatischen Wert doch nur darin, daß sie sich in der Zukunft wiederholen werden: die Zuversicht aber dieser  prevoyance  kann doch nur auf der Voraussetzung beruhen, daß die allgemeinen Tatsachen nicht bloß die Gebilde unserer Reflexion über das Vergangene, sondern bestimmende Realitäten auch für die Zukunft sind. Erkennen wir in diesen allgemeinen Tatsachen eine Ordnung unserer Vorstellungen, so hat diese für uns gerade im pragmatischen Sinn doch nur dann Wert und Bedeutung, wenn sie auch eine adäquate Ordnung der Gegenstände bedeutet. Gerade wenn die Verwendbarkeit der Erkenntnis für das Handeln zum Kriterium ihrer Wahrheit gemacht wird, gerade dann kann das Generelle nur darin seinen Sinn haben, daß der logischen Dependenz des Besonderen vom Allgemeinen, worin das Wesen der Voraussicht besteht, auch eine reale Bedeutung zuerkannt wird. Die naive Annahme dieser Realität des Allgemeinen steckt also unweigerlich in den Motiven des pragmatistischen Denkens, so sehr es sich in den Mantel der nominalistischen Bescheidung zu hüllen bemüht ist.

Alles, was ich damit nur andeutend berühre, gewinnt nun seine besondere Bedeutung durch den Zusammenhang mit dem Kausalitätsproblem. KANT hat dem HUMEschen Positivismus gegenüber das Merkmal der Gesetzmäßigkeit als konstitutiv in den Begriff der Kausalität aufgenommen. HUME hätte recht, die Kausalvorstellung auf die Konstatierung einer bloß tatsächlich wiederholten Reihenfolge zu reduzieren, wenn die wissenschaftliche Theorie auf das Verständnis gegenständlicher Zusammenhänge in den Empfindungen verzichten könnte. Das Postulat der Möglichkeit der Wissenschaft verlangt, daß die Reihenfolge der Erscheinungen in einer begrifflichen Zusammengehörigkeit begründet ist, und deshalb hat KANT in den "Analogien der Erfahrung" den Grundsatz der Kausalität dahin definiert: "Alles, was geschieht, setzt etwas voraus, worauf es nach einer Regel folgt." Das Geschehen, d. h. der begrifflich notwendige Zusammenhang zwischen dem, was vorhergeht, und dem, was folgt, besteht darin, daß das, was wir Ursache nennen, dem, was wir Wirkung nennen, sein Dasein in der Zeit  nach einer allgemeinen Regel  bestimmt. KANT hat diesen Satz den Grundsatz der Erzeugung genannt: er macht damit den Begriff des Wirkens (das propter hoc [also deswegen - wp]) davon abhängig, daß die Zeitfolge (das post hoc [nach diesem - wp]) durch eine allgemeine Regel, d. h. durch ein Gesetz bestimmt ist.

Diese Bestimmung hängt zweifellos davon ab, daß für KANT der Begriff der Wissenschaft mit dem der naturwissenschaftlichen Theorie nach dem Muster von NEWTONs Prinzipien zusammenfiel. Aber in diesem transzendentalem Kausalitätsbegriff ist doch im Grunde genommen sachlich nur vom erkenntnistheoretischen Standpunkt aus dasselbe ausgesprochen, was in der metaphysischen Form bei SPINOZA als das Verhältnis der unendlichen und der endlichen Kausalität zum Ausdruck gekommen war. Jedes Geschehen bedeutet die Determination des einen Modus durch einen anderen: aber diese Determination enthält in sich das allgemeine Wesen der göttlichen Substanz bzw. des Attributs, dem die beiden Modi angehören. Das besondere Wirken ist nur durch die allgemeine Gesetzmäßigkeit, durch das übergreifende Wesen des Ganzen möglich. In der Tat dürfte damit durch die sachliche Übereinstimmung der dogmatischen und der kritischen Formel der Kern der Sache getroffen sein. Das einzelne Wirken ist, trotz aller seiner unvergleichlichen Individualität, immer doch nur möglich auf dem Grund im Rahmen der generellen Zusammenhänge des Ganzen. Alle Begriffe von Kräften, Fähigkeiten, Vermögen, die wir bei der ursächlichen Betrachtung der Wirklichkeit niemals los werden, so sehr wir uns auch bemühen mögen, sie zu umschreiben oder zu eliminieren, alle diese Begriffe sind nur der Ausdruck des unabweisbaren Bedürfnisses, das Singulare und Partikulare aus dem Generellen herzuleiten und damit jener Dependenz des Besonderen vom Allgemeinen, die wir logisch und emotionell erleben, reale Bedeutung zuzuschreiben.

Es ist auch nicht möglich, aus diesen Schwierigkeiten einen Ausweg dadurch zu suchen, daß man die von KANT vereinigten Momente des Kausalitätsbegriffs wieder auseinanderzureißen versucht. Die Unterscheidung der Kategorie vom Schema der konstanten Zeitfolge, auf das sie methodologisch bezogen ist, kann nur durch die Vorstellung eines inneren Zusammenhanges von Ursache und Wirkung gegeben werden. Aber dazu genügt nicht das Erlebnis des Wirkens, das wir in den Zusammenhängen unseres psychischen Daseins erfahren, wenn sich uns das Gefühl der Notwendigkeit aufzwingt, mit der Vorstellungen auf Vorstellungen und Wertungen auf Wertungen folgen. Gewiß erleben wir dabei das Kausalverhältnis nur in diesen einzelnen, ansich unwiederholbaren Akten des Wirkens und Erzeugens: aber es geht nicht an, die Gleichmäßigkeiten, die sich dabei in der vergleichenden Erinnerung ergeben, lediglich als Ergebnisse für den beobachtenden Verstand und für seine ordnende Übersicht über die Phänomene anzusehen. Denn von einem Wirken ist doch schon dabei nur in dem Sinne die Rede, daß das eine aus dem anderen mit Notwendigkeit hervorgeht, und gerade in dieser Notwendigkeit verspüren wir das allgemeine Wesen des seelischen Geschehens, - so unvollkommen es der Psychologie gelingen mag, dieses Wesen auf die Formel der Erkenntnis von Gesetzen zu bringen.

Ganz dasselbe gilt da, wo wir mit dieser Kategorie die Tatsachen der äußeren Erfahrung deuten. Es ist vollkommen richtig, daß auch hier jedes Geschehen einen einmaligen und in dieser selben Differenziertheit unwiederholbaren Zusammenhang von Ursache und Wirkung darstellt, und es ist ebenso richtig, daß dieser Zusammenhang, wenn er nicht lediglich als eine tatsächliche Zeitfolge aufgefaßt werden soll, nur in jenem in der inneren Erfahrung erlebten und nicht weiter definierbaren Vorgang gesucht werden kann, den wir mit dem Namen des Wirkens bezeichnen. Denn auch die Kantische Formel, daß das Eine dem Anderen sein Dasein in der Zeit bestimmt, ist doch nur die beste Umschreibung, aber keine ableitende Definition des Urphänomens, das in der Notwendigkeit des Wirkens erlebt wird. Aber auch hier bedeutet doch die Notwendigkeit des Wirkens immer die eindeutige Bestimmtheit der Wirkung durch ihre Ursache, und dieses Verhältnis schließt die Voraussetzung ein, daß, wenn sich je die Ursache in vollkommen gleicher Weise wiederholte, sie auch die Wirkung in vollkommen gleicher Weise bestimmen müßte. Das heißt, die Notwendigkeit des Kausalverhältnisses schließt seine Allgemeingültigkeit, d. h. seine Gesetmäßigkeit, ein.

Die Meinung, daß das Moment der Gesetzmäßigkeit von dem des Wirkens abtrennbar sei, ist zweifellos durch die Tatsache gefördert worden, daß die wissenschaftliche wie die alltägliche Beobachtung eine große Menge von Regelmäßigkeiten, d. h. sich gleichmäßig wiederholenden Zeitfolgen von Ereignissen erkennen läßt, bei denen es niemanden einfallen wird, sie als ursächliche Momente für die einzelnen Vorgänge zu betrachten, sondern bei denen es auf der Hand liegt, daß sie nur Ergebnisse für den beobachtenden Verstand sind. Das trifft zweifellos für alle sogenannten statistischen Gesetze, oder für das, was man wohl in neuerer Zeit historische Gesetze genannt hat, zu. In diesen Fällen ist es deutlich, daß den beobachteten Regelmäßigkeiten keine ätiologische Bedeutung, sondern nur der nominalistische Wert von Ergebnissen der abstrahierenden Reflexion zuerkannt werden kann. Sie verdanken ihre Geltung nur dem Verzicht auf die individuellen Differenzen, und die aus ihnen zu schöpfende Voraussicht beschränkt sich darauf, daß bei Wiederholung derselben Konstellation von Bedingungen auch dieselben Ergebnisse sich wieder einstellen werden.

Aber gerade die letztere Voraussetzung zeigt doch, daß wir hinter solchen nur für unsere Beobachtung sich ergebenden Regelmäßigkeiten eine tiefere Gesetzmäßigkeit im Ablauf der Ereignisse voraussetzen, sofern wir sie überhaupt deuten und gerade zum Zweck der Voraussicht über sie nachzudenken anfangen. Daß die Prozesse des Geschehens überhaupt vergleichbar sind, ist eine zweifellose Tatsache: daß wir die Auffassung dieser Gleichmäßigkeiten jedesmal mit dem Verzicht auf die individuellen Bestimmtheiten der einzelnen Vorgänge erkaufen müssen, ist nicht minder zweifelhaft. Aber daß jene allgemeinen Bestimmungen zum wesentlichen Inhalt der Vorgänge geradeso gehören wie die individuellen Konstellationen, die durch einen regressus in infinitum immer wieder auf andere individuelle Konstellationen zurückzuführen sind, - das kann ebensowenig in Zweifel gezogen werden. Die Aufsuchung der primären und elementaren Naturgesetze, welche diesen Namen im eigensten Sinn besitzen, hat erkenntnistheoretisch schließlich immer den Sinn, die konstanten und stets wiederholten Bestimmungen im Wesen der Dinge aufzusuchen, welche in die einzelnen Tatbestände nicht von uns hineingetragen, sondern vielmehr in ihnen als konstitutive Faktoren vorgefunden werden. Wir können uns sehr gut damit abfinden, daß eine große Anzahl solcher Regelmäßigkeiten, wie etwa biologische und physiologische "Gesetze" vorläufig noch den Charakter statistischer oder historischer Regeln an sich tragen, d. h. mehr konstante Ergebnisse als ursprüngliche Bestimmungen der unendlichen Kausalität im Sinne SPINOZAs darstellen. Aber wir setzen die Möglichkeit ihrer Reduktion auf primäre und elementare Gesetzmäßigkeiten im Prinzip voraus, und wir sehen es als die Aufgabe aller naturwissenschaftlichen Theorie an, sich der Erkenntnis dieser elementaren Gesetzmäßigkeit, die das dauernde Wesen aller Wirklichkeit ausmacht, schrittweise zu nähern. Wir vermögen die Substanzen niemals anders zu definieren als durch die Bestimmtheit ihrer konstanten Beziehungen in den Gesetzen ihrer Wirksamkeit.

Dabei bleibt anzuerkennen, daß auch durch die verwickelten Kombinationen solcher Gesetzmäßigkeiten der individuelle Bestand der einzelnen Wirklichkeit und des einzelnen Geschehens niemals erschöpfend erklärt werden kann. Er setzt zu seiner restlosen Analyse unter allen Umständen die Totalität des Wirklichen voraus, die niemals in unsere Erkenntnis eingehen kann. Aber die Formen der Ordnung, die wir als wesentliche Zusammenhänge aus den Prozessen des individuellen Geschehens herauszupräparieren imstande sind, diese "glückliche Tatsache", daß wir in unseren Wahrnehmungen überhaupt Ordnung schaffen und daraus Erfahrung machen können, ist zwar einerseits davon abhängig, daß wir dieses Bedürfnis der Ordnung und die Formen der Zusammenfassung aus der Natur des Intellekts an die Masse der Tatsachen heranbringen, aber sie ist andererseits in der erfolgreichen Ausführungen dieses Bestrebens nur dadurch möglich, daß im gegebenen Inhalt der Wahrnehmungen eine solche Ordnung selbst enthalten ist: freilich wird die Art, in der wir sie aus den Wahrnehmungen herausbuchstabieren, immer nur eine Annäherung an die reale Ordnung selbst bedeuten können.

Es ist deshalb durchaus richtig, daß die Erforschung der Gesetze keinen Anspruch darauf hat, die Wirklichkeit restlos zu verstehen, daß das Wirken als das individuelle Moment im Prozess des Geschehens hinter den allgemein gültigen Formen, an die seine Tätigkeit gebunden ist, als ein Eigenes und von dieser Seite her Unerforschliches bestehen bleibt: aber nicht minder richtig bleibt es, daß in der Erforschung der Gesetzmäßigkeiten eine Seite des Wirklichen den durchaus realen Gegenstand unseres Wissens bildet. In der Zerlegung der in ihrer gesamten Struktur niemals zu erfassenden Totalität unserer Erlebnisse hat die Auffassung der darin waltenden Regelmäßigkeiten ihr Recht ebensogut wie jede andere daraus herausgearbeitete Konstruktion, niemals aber einen berechtigten Anspruch, für sich allein das Ganze erschöpft zu haben.

Das damit angedeutete Verhältnis möchte ich schließlich noch in eine allgemeinere Beleuchtung rücken, die mir für die Prinzipien der Erkenntnistheorie wertvoll zu sein scheint. Es geschieht vielleicht am einfachsten, wenn ich auf den Bedeutungswandel aufmerksam mache, den die neueren Richtungen der Erkenntnistheorie für einen der wichtigen Begriffe nahelegen. Es ist der Begriff der Erscheinung. Wie er aus der griechischen Philosophie durch viele Gestaltungen hindurch in die Terminologie des Kritizismus übergegangen ist, hatte er einen wesentlich qualitativen Sinn. Er bedeutete, daß die Welt, wie wir sie vorstellen, inhaltlich anders sei, als sie ansich ist. Er hat diese Bedeutung wesentlich im Zusammenhang mit der Lehre von der Subjektivität der Sinnesqualitäten und mit der nominalistischen Semiotik aufrechterhalten, und ist so auch in die Vorstellungsweise der modernen Naturwissenschaft übergegangen, diese semiotische Betrachtungsweise, auf die allein sich auch die Ausführungen von HELMHOLTZ in den bekannten Paragraphen seiner physiologischen Optik beziehen. Die logische Konsequenz aus diesem qualitativen Begriff der Erscheinung ist der Agnostizismus, die Lehre, daß wir nur die Vorstellungen, aber nicht das andere, die Realität erkennen. Mit impulsiver Ursprünglichkeit hat diese "Nachtansicht", wie FECHNER sie nachher bezeichnete, zuerst GOETHE in der Farbenlehre bekämpft, und gerade die Kantische Ding-ansich-Lehre, welche mit der äußersten Konsequenz die Erkenntnis der Realität bis auf den letzten Rest aufzuheben schien, ist der Anlaß dafür geworden, daß jener qualitative Erscheinungsbegriff wegen seiner inhaltlichen Negativität als unzulänglich erkannt worden ist.

In der Bewegung der modernen Erkenntnistheorie schiebt sich deshalb dem Begriff der Erscheinung eine andere Bedeutung unter, die ich die quantitative oder selektive nennen möchte. Zwei Einsichten kommen darin zusammen: die eine, daß wir niemals einen anderen Inhalt positiver Erkenntnis haben können als einen solchen, der in der Erfahrung gegeben ist; die andere, daß wir niemals die Totalität des Gegebenen mit unserer Erkenntnis zu umfassen imstande sind. Damit erweist sich all unser Vorstellen als eine Auswahl von Bestandteilen aus dem Gegebenen. Wie schon jede Wahrnehmung eine unwillkürliche Auswahl aus den Möglichkeiten der Empfindung darstellt, so ist schon jede vorwissenschaftliche Vorstellung eine Auswahl aus den Wahrnehmungen: und diese unwillkürlichen selektiven Prozesse der Apperzeption setzen sich in der wissenschaftlichen Begriffsbildung fort, welche immerdar durch bestimmte Erkenntnisziele zweckvoll bedingt ist. Die erkenntnistheoretischen Untersuchungen, die heutzutage im Vordergrund des Interesses stehen, haben darin ihre Gemeinsamkeit, wenn sie auch in der Ausführung dieses Prinzips weit auseinander gehen. Mögen die einen sich damit auf eine psychologische Erklärung des tatsächlichen Erkennens beschränken, die andern darin die Normen und die Berechtigung der verschiedenen Wissenschaften suchen, - mögen die einen diese Zwecke als immanente Aufgaben der Erkenntnis, als Formen der intellektuellen Ökonomie oder als Mittel für die ordnende Übersicht der Stoffe behandeln, die anderen darin die Mittel des Intellekts für die Brauchbarkeit seiner Vorstellungen, für die Aufgaben des Handelns sehen - das Gemeinsame und Bedeutsame in allen scheint mir zu sein, daß damit jede Erkenntnisart, jede wissenschaftliche Theorie den Charakter einer Auswahl bekommt, den der Intellekt nach seinen eigenen Interessen, wie man diese auch auffassen möge, aus der Masse des Gegebenen herausgestaltet. In diesem Sinne hat ein System wissenschaftlicher Begriffe niemals das Ganze der Wirklichkeit, sondern nur dasjenige an ihr zu seinem Inhalt, was es in seiner zweckvollen Arbeit aus dem Gegebenen herausgehoben hat, und in dieser Weise ist auch alle Erkenntnis der Gesetze eine vom Intellekt aus der Fülle der Wirklichkeit selbst zweckvoll herausgearbeitete Erscheinung.

Fassen wir den Begriff der Erscheinung in diesem Sinn, so entspricht er durchaus dem transzendentalen Prinzip, wonach die "Erscheinung" eine Schöpfung aus dem Wesen des Intellekts selbst ist. Der Verstand schreibt mit seinen Erkenntniszielen die Richtungen vor, in denen die Begriffsbildung einer jeden wissenschaftlichen Theorie aus der Menge des Gegebenen einen Zusammenhang herausarbeitet, der in dieser Sonderung nicht als solcher gegeben ist. Darin stellt sich also jedesmal eine Neuschöpfung dar in demselben Sinn, wie sie auch die Kunst in ihren Erzeugnissen und ebenso die moralische Lebensgestaltung leistet. Aber diese von der Vernunft neugeschaffenen Welten, die in ihrer logischen, ästhetischen und ethischen Struktur den Stempel des sie erzeugenden Geistes an sich tragen, sind sämtlich aus den Bausteinen der Wirklichkeit aufgebaut, die mit ihrer ganzen Fülle in keines dieser Gebilde eingehen kann. Die letzte Einheit und der umspannende Zusammenhang aller dieser auswählenden Gestaltungen bleibt das Geheimnis, das uns vorenthalten, das höheren Mächten vorbehalten ist.


D I S K U S S I O N

Straszewski meint, daß einige Ideen einer Vertiefung bedürfen. Die Tatsache, daß wir Erfahrungen machen, garantiert uns die Ordnung der Welt nicht. Die Ordnung könnte in die Welt der Erscheinungen hineinbuchstabiert werden. Es gibt aber etwas, was uns die Ordnung in den Dingen wirklich garantiert, das ist  die Tatsache des Lebens.  Das Leben das ist die Anpassung an die Umgebung. Eine Anpassung an das Chaos ist gar nicht möglich, also muß in der Welt Ordnung herrschen.

Ebbinghaus konnte wegen Zeitmangels seine Ausführungen nicht zu einem sie verständlich machenden Abschluß bringen und wird sie anderswo ausführlicher veröffentlichen.

Prof. Dr. Lehmann: Bei so beschränkter Zeit nur einen Satz über das, was ich sagen gewollt. - Sagen wollte ich, daß des verehrten Herrn Vortragenden treffliche Anknüpfung an den Kosmosbegriff wohl nicht erst bei den Griechen sondern schon bei den Indern in deren ältesten Altertum gegeben, da die Lichtmächte VARUNA und MITRA, Mond- und Sonnengottheit, ebenso als Begründer und Erhalter der himmlischen wie als Hüter und Wächter der sittlichen Weltordnung erscheinen, das sogenannte  ritam,  dessen weitere Auswirkung zum (nachvedischen)  dharma,  als "die eigene Natur der Dinge"  (svabhava)  und danach als Sitte, Recht und Gesetz uns vorliegt, dort mehr in teleologischer, hier vielmehr und zuletzt, wie (nach den Upanischaden) im Buddhatum, in durchaus kausaler Begründung, da denn ein "Wollen und Wirken"  (kama  und  karma)  alles (theoretisch und moralisch), allen Wechsel und Wandel bestimmt - eine meines Erachtens noch nicht voll erkannte und gewürdigte oder meines Wissens irgendwie dargestellte Entwicklung. - Genug hiermit, ich kann nunmehr auf das Wort verzichten.

Schlußwort -  Windelband: Ich bedaure auf das Lebhafteste, daß die im Interesse des Kongreßschlusses leider unerläßliche Zeitbegrenzung meinen Herrn Vorrednern nicht erlaubt hat, ihre Bemerkungen vollständig und gründlich zur Darlegung zu bringen. Insbesondere hätte ich sehr gern noch länger den Ausführungen meines Herrn Kollegen EBBINGHAUS gelauscht: ich hätte es umso ruhiger tun können, als sie in ihrer ganzen Richtung völlig unabhängig neben den meinigen bestehen. Er hat psychologische Fragen erörtert, während der Gegenstand meines Vortrags, abgesehen von der historischen Einleitung, erkenntnistheoretisch oder, wenn Sie wollen, metaphysisch war.

Danach könnte ich, dem Beispiel des letzten Redners folgend, auf das Wort verzichten, wenn ich nicht gern noch an eine Bemerkung des Herrn STRASZEWSKI anknüpfte. Er hat darauf hingewiesen, daß nach KANT die Gesetzmäßigkeit der Natur aus dem Verstand stamme und in ihrer Geltung von der "glücklichen Tatsache" einer Beziehung auf eine reale Ordnung unabhängig sei. Sehr richtig, sofern wir nur die Kritik der reinen Vernunft in Betracht ziehen! Aber gehen wir nur weiter zur Kritik der Urteilskraft, in der sich jene Wendung von der "glücklichen Tatsache" findet, die später LOTZE aufgenommen hat, so finden wir die sehr tief eindringende Betrachtung, daß die Bearbeitbarkeit des Wahrnehmungsmaterial durch den Verstand, die Subsumtion der Anschauungen unter Kategorien, die Systematisierbarkeit der Erfahrung, die "Spezifikation der Natur", ihrer Gesetze und ihrer Typen, - daß das alles auf eine zweckvolle Beziehung des Intellekts zur Realität deute. Deshalb meine ich, daß die Auffassungen über das Wesen der "Erscheinung", die ich zuletzt angedeutet habe, mit den Prinzipien der Transzendentalphilosophie durchaus vereinbar sind: und ich kann es mir nicht versagen, meiner Freude darüber Ausdruck zu geben, daß ich Anlaß hatte, mit dem letzten Wort unserer Diskussionen auf den Namen zurückzudeuten, auf den wir schließlich mit allen unseren Gedanken immer wieder zurückkommen: auf KANT.
LITERATUR - Wilhelm Windelband, Zum Begriff des Gesetzes, Bericht über den III. Internationalen Kongreß für Philosophie, hg. von Theodor Elsenhans, Heidelberg 1909