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Der Begriff der Jllusion
Das Problem der Philosophie des Als Ob ist das Problem des modernen Menschen überhaupt. Es wird erst möglich, wenn die Einheit unseres Menschentums, wie sie frühere Zeitalter besessen, verloren gegangen ist, wenn der Mensch sich zerlegt hat in eine theoretische und eine praktische Hälfte und wenn der theoretische Mensch in seiner Entwicklung über den praktischen hinausgewachsen ist. Atavismen [Rückfälle in primitives Verhalten - wp] stören seine Ruhe. Ja mehr: der praktische Mensch, der Gefühls-, Stimmungs- und Phantasiemensch regt sich ununterbrochen mit unbefriedigten Bedürfnissen. Er hat die Leitung durch den theoretischen Menschen verloren. Dieser kann ihm nicht mehr helfen, weil er ihm infolge seiner Skepsis keine positiven Richtlinien mehr zu geben weiß, und läßt ihn deshalb seine eigenen Wege gehen. Der praktische Mensch aber geht in der Irre, taumelt und wankt. Mit einem so unruhigen Gefährten jedoch kann der theoretische Mensch auf die Dauer nicht leben, die fortgesetzten Störungen seiner Sphäre müssen ein Ende haben, es muß ein Abkommen getroffen werden zwischen Verstand und Wille, zwischen Ratio und Irratio, und das Opfer muß der theoretische Mensch bringen. Er muß die Lautheit seiner Verneinung zum Flüstertone herabdämpfen, ja ganz verstummen lassen. Nun lebt der Mensch praktisch so, als ob er glaubte, Ideale hätte, Überzeugtheiten, Hoffnungen. Dies wird ihm zum Gewinn im wirklichen Leben, er lebt ruhiger, gefestigter, seine Kraft ist größer, der Ertrag seiner Arbeit wächst. Sein Leben wird überhaupt erst möglich. Aus Zweckmäßigkeitsgründen werden also hier das theoretische und das praktische Streben des Menschen in Einklang gebracht. Praktisch ordnet sich unser Denken unter die Notwendigkeiten des wirklichen Lebens. Die praktische Vernunft hat den Primat. So zuerst KANT. Er hat damit die Formel der modernen seelischen Verfassung gefunden. So lebt der Abendländer in der Tat, in einem oft bewußten, meist aber wohl uneingestandenen Selbstbetrug. Wir glauben nicht mehr an Gott, und doch leben viele Tausende unter uns so, als ob sie glaubten. Wenigstens ästhetisch wollen viele die Gottesvorstellung nicht fahren lassen. Ein Weltwesen wollen sie glauben, das uns erschuf und in dessen Schoß wir in dunklen Stunden ruhen. Den "Standpunkt des Ideals" wollen sie aufrechterhalten mit FRIEDRICH ALBERT LANGE, vielleicht in noch weiterer ästhetischer Verdünnung. Es würde ihnen ästhetisch eine bedrückende Verarmung und Verelendung der Welt bedeuten, wenn sie diese ganz ohne seelischen Mittelpunkt, ohne zielstrebigen Willen denken sollten. Ein anderes Beispiel: wir sind überzeugt, daß diese Erde mitsamt der Menschheit, die auf ihr lebt und allen Kulturgütern eines Tages in die Sonne stürzen wird. Dennoch wagen wir zu leben und Kultur zu schaffen. Wir schaffen, als ob wir glaubten, daß die Entwicklung bis ins Unendliche ginge und alles Errungene erhalten bliebe. Ja dieses Verhalten ist uns eigentlich selbstverständlich. Unsere Skepsis wird uns gar nicht mehr bewußt. Wir müssen darauf hingewiesen werden, um zu gewahren, daß wir tatsächlich radikale Skeptiker geworden sind. Der Pragmatismus hat uns die Augen geöffnet über diese Eigentümlichkeit der modernen Seelenverfassung, über das merkwürdige Verhältnis, das sich zwischen den verschiedenen Seiten unserer Menschennatur in der Gegenwart herausgebildet hat. Und doch empfinden es viele als unnatürlich. Sie können es nicht ertragen, den Menschen so zerrissen, so zerklüftet zu sehen. Sie wünschten, daß Glauben und Leben wieder eins würden, daß der Mensch wieder ganz vor der Welt stünde. Aber diese Zeiten sind vorbei. Unganz zu sein ist unser Schicksal. Wir sind Übergangswesen, wir, die wir den Naturmenschen verlassen haben, um zum Kulturmenschen emporzusteigen. Wir müssen weitersteigen und zu Ende steigen. Ein Zurück gibt es nicht. Vielleicht, daß sich am Ende unseres Menschheitserdenweges eine neue Ganzheit wieder gebiert, eine neue Synthese von Glauben und Leben. Heute sind wir davon unendlich weit entfernt. Heute sind wir zerteilt und müssen Kompromisse schließen. Der Pragmatismus hat uns definiert. So sind wir, heilvoll unheilvoll. Am meisten wohl unheilvoll, wenn wir nicht an der Oberfläche haften. Wer ganz Mensch ist, d.h. auch Sehnsucht und Verlangen, nicht bloß Intellekt, kann sich mit diesem Kompromiß nur halb trösten. Er leidet unter dem Bruch in seinem Menschentum. Er leidet darunter, daß er nur so leben kann, als ob. Er erkennt diesen Ausweg als nötig an für die moderne Seele. Aber das Herz blutet ihm dabei. Und je klarer sein Intellekt ist, desto schwerer wird es ihm in des Lebens Breite, das Übereinkommen aufrechtzuerhalten. Das Als Ob funktioniert nur deshalb. So JEAN-MARIE GUYAU, der französische NIETZSCHE, wie sie ihn heißen, ein französischer Positivist aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von größter Verstandesschärfe und reichstem Wissen, aber mit dem Herzen eines Kindes, mit dem Gemüt fast eines Mädchens, ein echt Moderner von einem fast schauerlichen Unglauben, der begattet ist mit religiöser Sehnsucht, wie wir sie sonst nur bei den Mystikern des christlichen Mittelalters finden. Fürwahr eine höchst eigene, seltene und problematische Natur: Die beiden Seiten unseres Menschenwesens, Intellekt und Gemüt, aufs äußerste entwickelt und aufs engste aneinander gefesselt. Das gibt einen Akkord von einer Wehheit! So aber ist der moderne Mensch, wenn er wirklich Mensch ist. So war er am Ende des 19. Jahrhunderts. J.-M. GUYAU ist sein Symbol. J.-M. GUYAU, mit neunzehn Jahren Verfasser eines von der Pariser Akademie der Wissenschaften in einem ungewöhnlich glänzenden Wettbewerb preisgekrönten Werkes über die utilitaristischen Moralsysteme von EPIKUR bis zur Gegenwart, mit 33 Jahren tot! Ein von der Schwindsucht früh Dahingeraffter, der eine Philosophie des Lebens schreibt! Ein Positivist aus der Schule COMTEs und SPENCERs, der sich an AUGUSTINUS berauscht! Ein Überzeugter vom Untergang der Welt und der Seele, der so lebt und handelt, als ob beide ewig wären. Man kann sich keine größeren Gegensätze in einer Brust zusammengeschmiedet denken. Wenn sich auch nirgends der Begriff der Fiktion in GUYAUs Werken fände, die Disposition zur fiktionalistischen Stellungnahme ist zweifellos in hohem Grade vorhanden, der Geist der Philosophie des Als Ob schwebt über GUYAUs Haupt, am lebendigsten über den "Versen eines Philosophen" (1881), diesem schmerzlich süßen Vermächtnisbuch eines Sterbenden an eine kalt und herzlos fortwandernde Menschheit. Man lese daraus die letzten Zeilen des Gedichtes "Wahn", das wir am Schluß vollständig abdrucken. Sie besagen, daß die Erde der einzige Ort sei, wo man hofft. Darin liege ihre Größe. Intellektuelle Enttäuschung, moralische Hoffnung - so formulierte ich 1912 das Gesetz GUYAUs. Es ist das Gesetz der ganzen modernen Menschheit. Das Wissen zerstört immer mehr der Kindheitsvorstellungen der Menschheit. Die großen theoretischen Überzeugtheiten verblassen und leben heute noch fort in der Form des Als Ob, als Hoffnungen. Als solche wirken sie noch.
Nicht fordere ich von euch, blind an ein Ideal zu glauben, aber ich fordere von euch, an seiner Verwirklichung mitzuarbeiten. Ohne daran zu glauben? - Um daran zu glauben! Ihr werdet daran glauben, wenn ihr tätig gewesen sein werdet, es wirklich zu machen."
Im französischen Original steht hier, was wir leider nicht nachprüfen können, vermutlich der Ausdruck Fiction für Erfindung. In den darauf folgenden Ausführungen kommt diese anti-intellektualistische Tendenz noch deutlicher zum Ausdruck.
Auf dem Boden des Pragmatismus erhebt sich das große GUYAUsche Als Ob.
Mein Tun überschreitet in jeder Minute den gegenwärtigen Augenblick und geht in die Zukunft über. Ich gebe meine Kraft aus, ohne zu fürchten, daß diese Ausgabe ein reiner Verlust sei. Ich lege mir Entbehrungen auf und rechne darauf, daß die Zukunft sie mir vergüten wird. ... Diese Ungewißheit, die mich überall gleichmäßig umgibt, wiegt mir jede Gewißheit auf: sie macht die Freiheit meines Handelns mögliche, sie ist eine der Grundlagen der spekulativen Sittenlehre mit all ihren Wagnissen. ... Ich dünke mich Herr der Unendlichkeit, weil meine Macht keiner fest bestimmten Größe gleich ist. Je mehr ich tue, desto mehr darf ich hoffen."
Ganz rot vor Eifer wiegt es in den Armen etwas Und liebkost zärtlich es mit mütterlicher Sorge. Und so vertieft, so ganz dem Spiele hingegeben Vernahm es nichts. Mein Ruf auch ließ es nur den Kopf Erheben, und voll Ernst sah es mich forschend an, Und in den Augen Lieb' und Glück hob es das Tuch Von seinem Schatz. - Was meint ihr, war es wohl? Ein kleines Brüderchen, ein Kätzchen, seine Puppe? Ach nein! die Kind war arm, und Puppen sind so teuer! Ein Holzstück war es, ohne Form, das es mit Liebe, Mit Zärtlichkeit an seinen Busen drückte, das es In kind'schem Glück mit Hand und Auge streichelte. Vor seinem Blick ward dieses Stückchen Holz zum Kinde, Das es dereinst auf seinen Knien wiegen sollte. "Es schläft!" sprach es zu sich, und in dem Mädchen regte Die künft'ge Frau und Mutter sich. O Denker ihr! Wer hegt von uns nicht auch in seinem tiefsten Innern Ein Etwas, das die Seele trunken macht, ein Ding, Unförmig zwar, doch angebetet, liebevoll Am Busen großgezogen, einen Kindertraum? O Wahn, der reiche Frucht trägt, heilig bist du, Wahn! Des starken Hoffens Vater und der großen Taten, Belebend fülle uns mit süßer Täuschung an! Nimm Platz in uns! Wenn uns die Kräfte schwinden, sei du Uns Stütze und Stab. Wo jedem Schritt Enttäuschung folgt, Wer wollte ohne deine Hilfe sicher gehen? Du machst den schwersten Gang uns leicht, das Opfer süß. Wärst du nicht, wissen wir, ob nicht ein eis'ges Schweigen In unserm Herzen sich verbreiten würde, ob nicht Im Nu in uns erlöschen würde jedes Feuer? Ob unsre Seele gramvoll nicht all ihre Götter Müßt stürzen sehn und sterben? - Du erhebst uns wieder, Wenn unser Wille matt vom Kampf zu Boden sinkt. Du zeigst uns neue Himmel, und auf leichtem Flügel Trägst du uns hoch empor, wohin der Zufall führt. Die Hoffnung gibst du uns und jenes frohe Wünschen, Das immer neu ergreift und wie die flücht'ge Schwalbe Zwar niemals dauernd bleibt, doch immer wiederkehrt. Drum, o du neue Gottheit, sei gesegnet, Wahn! Verlaß mich niemals! Senk den Irrtum in mein Leben Wie einen Keim, aus dem die Hoffnung sprießen soll, Aufhören sich zu täuschen, hieße nicht mehr leben! Damit du etwas kannst, mußt du mehr wollen als Du kannst: Laß dich von einem hohen Ziel verlocken, Das nimmer du erreichst. Doch im Vorübergehen Ergreifst du, was das Glück dir freundlich Gutes bietet. Wohl hundert Schritte mußt du woll'n, um einen Schritt Zu tun; denn vieles schlägt dir fehl, ja, fast das meiste. Ob ich wohl heut in dieser stillen Abendstunde Mit Versen deckte dies Papier, wenn ich erkennte, Wie wenig in dem großen All des Lebens sie Bedeuten werden, oder gar, daß der Gedanke, Den ich mit Lieb und Müh in diese Zeilen banne, Niemals im stumpfen Hirn der andern wurzeln wird? Und dennoch schreibe ich und fülle diesen Bogen Auf gutes Glück mit schwarzen Zeichen an. Woher Die Kraft? Was macht mir Mut? Und was hab' ich zu hoffen? Wenn jetzt ein Weiser käm' und sähe, was ich treibe, Er lachte wohl, wie ich noch gestern lachte, als ich Das weltentrückte Kind sein Spielzeug herzen sah. Wie dies, beherrscht auch mich ein unbekannter Trieb. Vor meinem gläub'gen Aug', wie vor des Kindes, wandelt Ohn' Unterlass sich die Natur. Denn jeder Strahl, Der in mein Inn'res fällt, bricht sich in tausend Farben. Und was ich fasse, seh' ich plötzlich sich verwandeln: Mein Herz gleicht einem jener alten Kirchenbauten, In deren hohen Wölbungen der kleinste Laut Ins Ungeheure wächst. - Irrtum von allen Seiten! So heißt es denn ihn wollen! Liebe deinen Wahn! Denn nichts ist wahr! Tu' nichts, als fasse etwas scharf Ins Aug', schon hast du es vergrößert und verändert. Betrachten heißt schon nicht mehr bloß gut sehn. Zu mindest Bedeutet es nur Eins und nicht das Ganze sehen. Auf einen Punkt wirfst du das Licht, das andre bleibt Im Dunkeln unentdeckt. So leben wir umschlossen Von einer engen Welt, in kleinsten Kreis gebannt. Und leben glücklich, denn wir seh'n in ihm das All, Da uns die Welt zu enden scheint, wo unser Himmel Zu Ende geht. - Oft glauben Großes wir vollbracht Zu haben, und ein Strohhalm war's, den wir bewegten. Wenn einst von jenem Geist, der sich mit Freuden opfert, Die Menschheit ganz ergriffen ist, wenn all und jedes Den Helden fand, der ihm gebührt, wenn alle Menschen In diesem Erdental mit voller Kraft und Liebe Und unermüdlich schaffen für ein Ziel, das sich Ihr Herz erkoren, was gibt ihnen Mut? Ist's nicht, Weil sie das Ziel, das sie sich setzten, sich verklären? Der Irrtum ist der Quell, in den sie immer wieder Hinuntertauchen, um verjüngt emporzusteigen, Ist ihres Glückes Grund. Denn also will's der Wah'n: Je schwerer wir ein Ziel erreichen, um so teurer Und werter erscheint es uns. Wir lieben es am tiefsten, Wenn es zum Höchsten weist, wenn es der Mühen schwerste Auf unsre Schultern legt. So schenken wir beständig Ein Teilchen unsrer Seele allem, was wir lieben, Und lieben es, weil unser schwärmend Herz es so Vergoldet. Neu erschaffen fühlen wir die Welt, Und leihen Schmerz und Lieb' den Dingen, schmücken Mit unsern Zügen die Natur, die kalt und fühllos, Und so ertragen wir dies schwere Leben leicht. Wenn eines Tages sich die Welt dem eignen Aug' Enthüllte, würde sie nicht ob des eignen Anblicks Ensetzt erstarr'n? Und müßte sie nicht hilfeflehend Beschämt im Blick der Menschen sich zu spiegeln suchen, Um ihre Blöße mit der Menschen Wahn zu decken? Was trägt die reichste und die schönste Frucht hienieden? Etwa die Wirklichkeit? Nein, nur das Ideal! Vergebens stets müht sie sich ab, um die Idee, Verfolgt von einem Glauben, der sich nie erschöpft, Entwindet sie sich dennoch immer dem Verfolger, Schwebt leicht empor und schwindet hin in blaue Fernen. Ein Mißerfolg ist, streng genommen jeder Fortschritt. Doch auch der Mißerfolg muß unserm Heile dienen. Vom Irrtum angestachelt treiben wir uns um Auf gutes Glück. Doch jeder Irrtum nützt der Menschheit. Aus unserm Wahn wächst letzten Endes doch die Wahrheit. Denn mag auch jeder einzelne ein Träumer sein, Es kommt ein Tag wo jeder Traum zur Wahrheit wird. Laß ich auch müde und erschöpft die Hände sinken, Ein andrer wird mein Werk vollziehn. Und falle ich, In jenem sel'gen Augenblick, in dem sich endlich Am fernen Horizont die Morgenröte zeigt, Die ich herbeizuführen mich vergeblich sehnte: Ein anderer enthüllt vielleicht zur selben Stunde Dem fernen Osten näher eine neue Sonne, Vor deren hellem Strahlenkranz mein Licht verblaßt. Am Horizont verlöschen eine nach der andern All unsre Sonnen. Ach, sie glänzten hell nur, als sie Im ersten Frührot siegreich durch den Nebel brachen. Das bringt uns Leid. Allein, was tuts? Du heil'ges Licht, Du gibst uns Kraft, indem du Klarheit gibst. Wenn du nicht müde wirst, vor uns zurückzuweichen, So wird auch unser Mut nicht müde, dir zu folgen. Mag auch das Ziel in immer weitre Ferne rücken, Der Menschen Herz schöpft Kraft aus ihrem Wahn, Was unsrer trüben Erde, der erloschnen Kugel, Die ziellos hinschwebt durch den kalten Weltenraum, Noch einen Schimmer gibt von Größe, ist's allein Nicht das, daß sie der einz'ge Ort ist, wo man hofft? Den Begriff des Als Ob bei GUYAU haben wir kennen gelernt. Welches sind nun seine Inhalte? Welches sind die großen Fiktionen, an denen sich GUYAU berauscht, an die sich seine Philosophie der Hoffnung klammert? Welches sind die "metaphysischen Wagnisse", die sein Denken unternimmt? Sie sind teils religiöser, teils kulturphilosophischer Art, entsprechend dem Interessenkreis seiner Philosophie. Aber sie bewähren sich nicht durchweg. Sie funktionieren zum Teil, wenn ich so sagen darf, nur negativ, nur als mögliche Fiktionen, nicht als wirkliche. Das Verstummen des Intellekts läßt sich bei gewissen, namentlich religiösen Fiktionen, nicht voll durchführen. Nach einem Anlauf, den GUYAU unternimmt, um die Skepsis zu überwinden, sinkt er ohnmächtig wieder zurück und verharrt in einem trüben Pessimismus. Vielleicht mangelt dem kranken Denker die physische Unterstützung seines psychischen Erlebens, es mangelt diesem Vitalisten eben das, worum sich seine ganze Philosophie dreht: das Leben selbst. 1. So vor allem, was die theistischen Fiktionen anbelangt. Man lese das ergreifende Gedicht: "Genetrix hominumque deumque" (1). Die Gottheit erscheint hier unter dem Bild der Weltmutter Natur. GUYAU beginnt, wie immer, mit einem Gleichnis. Er ist wieder Knabe, wieder Kind. Er schläft im Bett und träumt, die Mutter sei bei ihm. Er hört ihre Stimme im Halbschlaf. Aber was ist das? Es fehlt der "weiche, herzlich liebevolle Klang". Ist das die Stimme einer Mutter, wenn der "weiche, herzlich liebevolle Klang" fehlt?
So fremd, daß es mein Ohr wohl traf, doch nicht mein Herz, Und mich ergriff ein bittrer, niegekannter Schmerz.
Doch immer fehlt der mütterliche Klang.
Und Achtung nur gemischt mit Traurigkeit Flößt mir dein Anblick ein. Schlägt denn kein Herz In deiner Brust? Bist du nur fruchtbar ohne Liebe? Unfühlend deiner Kinder Schmerz und Glück? - - - - Tönt von dir denn nie Ein Laut zu mir, den ich empfinde und verstehe? Ja siehst du mich auch nur? Weißt du, daß hier Ein Wesen lebt, das niemals gleich dem Tier Zufrieden ist, wenn es genießt und lebt? Das wissen will, und dessen Herz erbebt In Liebessehnsucht, das die Arme breitet Dich zu umfassen, und erschüttert steht, Wenn ihm dein Körper wesenlos entgleitet.
Abschüttelnd seines Wahnes lange Nacht, Wer wird dem Schwankenden die Hände reichen? Und welche Stimme tönt ihm dann entgegen? Wird sie der mütterlichen lieben gleichen? Wirst du, Natur, im Frühlingsblütensegen, Im Glanz der hellen Tage uns erscheinen, Ganz so, wie wir dich hoffen, wähnen, meinen, Der Mutter gleichend? Oder wirst du dich Endgültig als die kalte offenbaren, Gleichgültig gegen die, die sind und waren, Wie eine feile Amme fühllos mich Und alle wiegend, Lebende und Tote?
GUYAU zerlegt diesen theistischen Geist in Ideen, nämlich in die Schöpfungsidee, Vorsehungsidee und Allmachtsidee. Alle drei werden als "Dogmen" theoretisch widerlegt. Ein "erst göttlicher Anstoßgeber" ist eine Jllusion, genauso wie die Ruhe des Luftatoms illusorisch ist (Seite 401). Auch der Tod ist eine "illusion", d. h. Täuschung.
Was nun die Zukunft des Theismus anlangt, so meint GUYAU, daß die "theistische Hypothese" nur aufrecht erhalten werden kann, wenn sie von allen kindischen und rohen Vorstellungen befreit wird und wenn das theistische Prinzip als von der Welt nicht abgetrennt dargestellt wird.
2. Das zweite große "Als Ob" GUYAUs ist kulturphilosophischer Natur. Theoretisch ist er mit SPENCER überzeugt, daß alle Evolution notwendig mit einer Dissolution verknüpft ist, daß die Erde mitsamt der Menschheit und allen von ihr errungenen Kulturgütern eines Tages untergehen wird. Dennoch lebt, handelt und schreibt er so, als ob sein und der Menschheit Werk unvergänglich wäre. Bei einem Denker, dessen gesamte Philosophie unter dem Gesichtspunkt des Lebens und der Entwicklung steht und von hier aus ihre persönliche Note empfängt, muß begreiflicherweise diese kulturphilosophische Fiktion von der Unvergänglichkeit des Menschenwerks rein persönlich genommen eine große Rolle spielen. So erklärt sich das schöne GUYAUsche Wort, das wir als Motto über unsere Arbeit setzten: "Ich bin gewiß, daß mein Werk nicht im Unendlichen zergehen wird, wie ein Dampfwölkchen im dunklen Blau des Äthers." Alles was GUYAU geschrieben hat, ist von dieser persönlichen "Gewißheit" getragen. Aus ihr quillt ihm die Kraft, seine moralische Position als schaffender Mensch aufrecht zu erhalten. Wissenschaftlich freilich beschreitet er auch hier andere Wege. Wie er den Unterschied von Hypothese und Fiktion logisch nicht begriffen hat, so sehen wir ihn in der "Irreligion", wo er diese Fragen behandelt (4), theoretisch gegen den kulturphilosophischen Pessimismus vorgehen, theoretisch die Möglichkeiten einer Überwindung der Dissolution [Auflösung - wp] erwägen, Tatsachen beibringen, aus denen wir Hoffnung schöpfen können, statt wie im Gedicht "Der Wahn" bewußt zur "illusion féconde" [fruchtbare Jllusion - wp] seine Zuflucht nehmen. Nur zwischen den Zeilen, im Hintergrund dieser wissenschaftlichen "Induktionen", erhebt sich richtunggebend das, was wir das persönliche "Als Ob" GUYAUs nannten. Zuletzt ist GUYAU immer Intellektualist. Er leidet an einer "Hypertrophie [Übermaß - wp] des Gehirns", der Krankheit seines Jahrhunderts, wie er sie in der "Irreligion" (Seite 432) in einem gewaltigen Gleichnis geschildert hat. Intellektualismus in der Verzweiflung, nach letzten Auswegen suchend, das ist die Form des Denkers GUYAU, der mit dem Menschen vergebens versucht hat, eins zu werden.
3. Das dritte persönliche "Als Ob" GUYAUs ist die Unsterblichkeit (5), die dritte der kantischen "Ideen". Und hier nun kommt GUYAU dem Fiktionismus, wie er in Deutschland begründet worden ist, am nächsten. Der Gegenstand drängt unweigerlich dazu. Zunächst freilich sehen wir ihn wieder "mutmaßen" (Seite 473f) und "träumen". Läßt sich auf dem Boden der evolutionistischen Philosophie "ein höheres Leben oder auch nur die wissenschaftliche Wahrscheinlichkeit eines solchen nachweisen"? Wieviel Hoffnung auf Unsterblichkeit läßt der Evolutionismus zu? Die Antwort lautet ziemlich klar und deutlich: gar keine. Das schöne Gleichnis von den Getreidekörnern des Pharao, die fünftausend Jahre im Grab einer ägyptischen Mumie geschlummert hatten, ohne daß der Keim des Lebens in ihnen vertrocknet war, - es bleibt ein Traum (Seite 482)
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1) JEAN-MARIE GUYAU, Verse eines Philosophen, Seite 74-78 2) Die von GUYAU gebrauchten französischen Ausdrücke können wir leider in Ermangelung des Originaltextes nicht beifügen. 3) Inwieweit sich hinter ALFRED FOUILLÉEs "Kraftidee" (idée force) der Begriff der Fiktion verbirgt, kann hier nicht untersucht werden. Vgl. A. FOUILLÉE, Der Evolutionismus der Kraftideen, deutsch von RUDOLF EISLER, Leipzig 1908. 4) Über das Schicksal der Welten, Seite 459-472 5) Über das Schicksal der Welten, Seite 473-502: "Die Bestimmung des Menschen und die Hypothese der Unsterblichkeit im monistischen Naturalismus." |