p-4cr-2von HartmannR. WeinmannSchuppeW. WundtSchubert-Soldern     
 
WILHELM WUNDT
Über naiven und kritischen Realismus
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    I. Die immanente Philosophie - 1. Allgemeiner Standpunkt
ph- 2. Immanenz und Transzendenz
ph- 3. Die Lehre von der Subjektivität der Empfindungen
ph- 4. Subjekt und Objekt
ph- 5. Aprioristische Elemente der Erkenntnistheorie
ph- 6. Identität und Kausalität
ph- 7. Die Außenwelt als Bewußtseinsinhalt
ph- 8. Psychologie und Naturwissenschaft

"Als Realismus gilt die unverfälschte, durch keinerlei Vorurteile und willkürliche Konstruktionen getrübte Erkenntnis der in der Erfahrungswelt enthaltenen konkreten Wirklichkeit."

"Man will die Erscheinungen genau so, wie sie wirklich beschaffen sind,  beschreiben  - nicht erklären, denn hinter diesem Wort scheint sich die Vorstellung zu verbergen, es gebe irgend einen Schlüssel zu den Geheimnissen der Natur, der außerhalb der Natur selber gefunden werden könne."

"Nicht  erfinden,  sondern  auffinden  soll die Erkenntnistheorie die Prinzipien der Erkenntnis."

Einleitung

Schlagwörter, wie sie besonders in der Philosophie üblich sind, um bestimmte Richtungen des Denkens zu kennzeichnen, mögen häufiger schädlich als nützlich sein. Geschieht es doch allzu leicht, daß Anschauungen, die in Wirklichkeit weit auseinander liegen, zusammen geworfen oder verwechselt werden, bloß weil sie zufällig von einem gewissen Gesichtspunkt aus unter die nämliche Etikette gebracht werden können. Wenn nun vollends ein Begriff, wie der des "Realismus", so ungeheuren Wandlungen unterworfen ist, daß die aristotelische Philosophie, die scholastische Theologie und die allerverschiedensten System der modernen Philosophie von den Substanzlehren DESCARTES, SPINOZAs und HERBARTs an bis zum Materialismus samt und sonders gelegentlich realistische Denkweisen genannt wurden, so liegt die Frage nahe, ob es nicht besser wäre, ein Wort ganz zu vermeiden, das durch diese Vielheit der Bedeutungen nachgerade bedeutungslos geworden zu sein scheint.

Dennoch bleiben solche Schlagwörter nicht bloß in einem gewissen Maß unentbehrlich, sondern gerade in diesen ihren geschichtlichen Wandlungen sind sie zugleich bedeutsame Symptome der in einer bestimmten Periode vorherrschenden Denkrichtungen. So ist es denn auch sicherlich nicht zufällig, daß gegenwärtig auf so vielen Gebieten des Lebens der "Realismus" das herrschende Schlagwort geworden ist. In der Politik will man "Realpolitiker" sein, in der Nationalökonomie sich, statt in abstrakte Spekulationen, in die realen geschichtlichen und sozialen Faktoren des wirtschaftlichen Lebens vertiefen; die Geschichte soll nicht bloß erzählen, was unter dem unmittelbaren Einfluß einzelner Persönlichkeiten geschehen ist, sondern nachweisen, wie die realen Bedingungen der Wirtschaft, der Sitte, des Rechts und der allgemeinen Gesellschaftszustände gewirkt haben. In der Naturwissenschaft ist der nämliche Zug der Zeit teils auch in der kühlen Skepsis zu bemerken, mit der vornehmlich auf den exakten Gebieten die Theorie abstrakten Hypothesenbildungen gegenübersteht. Man will die Erscheinungen genau so, wie sie wirklich beschaffen sind, "beschreiben" - nicht erklären, denn hinter diesem Wort scheint sich die Vorstellung zu verbergen, es gebe irgendeinen Schlüssel zu den Geheimnissen der Natur, der außerhalb der Natur selber gefunden werden könne. Vollends in der bildenden Kunst und schönen Literatur ist das Schlagwort des Realismus längst auch solchen geläufig, denen es auf jenen anderen Gebieten noch entgangen sein sollte. Begreiflich - nicht bloß, weil Kunst und Literatur zugänglicher sind, sondern auch deshalb, weil das freie Schaffen des Künstlers am wenigsten durch äußere Hindernisse beengt wird, so daß hier neue geistige Richtungen in der Regel am frühesten bemerkt werden können, freilich aber auch wohl am schnellsten ihren Höhepunkt wieder zu überschreiten pflegen.

Daß sich die Philosophie diesem allgemeinen Geist der Zeit nicht entziehen kann, ist selbstverständlich. Und in der Tat, realistisch ist die heutige Philosophie durch und durch, - sie ist es so sehr, daß jene echten und rechten Idealisten, wie sie die Blütezeit der spekulativen Philosophie am Anfang unseres Jahrhunderts gesehen hat, heute völlig verschwunden zu sein scheinen. Mag es auch immer noch Einzelne geben, die sich selbst als Anhänger oder Fortbildner des spekulativen Idealismus ansehen, so ist doch dieser Idealismus selbst unversehens ein anderer geworden. In der Tat kann man sich heute eigentlich ebensowenig mehr zur FICHTEschen oder HEGELschen oder auch KANTschen Philosophie bekennen, wie ein heutiger Poet noch imstande ist, GELLERTsche Fabeln zu dichten. Was vorbei ist, ist vorbei, in der Wissenschaft so gut wie in der Kunst. Wenn man sich dieser trivialen Wahrheit in der Philosophie merkwürdigerweise nicht immer bewußt ist, so liegt der Grund wohl in der Meinung mancher, die Philosophie führe, verschieden von anderen Gebieten des Lebens und Denkens, eine Art zeitloser Existenz, so daß sie sich um das, was um sie her vor sich geht, nicht zu kümmern brauche. Aber diese beneidenswerte Vorstellung erweist sich leider nicht als stichhaltig und - ohne, daß sie es merken - selbst bei denen nicht, die ihr huldigen. Durch die Risse und Fugen der weltabgeschiedensten Klause dringen Licht und Geräusch der Außenwelt dennoch ein. Und dies tritt nicht selten da am deutlichsten zutage, wo sich die Richtungen einer entfernteren oder näheren Vergangenheit scheinbar in ein neues Zeitalter fortsetzen und wo nun dennoch die alten Formen von einem veränderten Inhalt erfüllt werden. Welche Wandlungen hat nicht der Platonismus in der Geschichte erlebt! In der Lehre seines Urhebers, in den gnostischen Systemen der hellenistischen Zeit, in der Renaissance, endlich in seinen letzten Nachwirkungen in der neueren Philosophie vom 17. Jahrhundert an ist er überall derselbe und doch überall ein anderer. Oder, um an ein näheres Beispiel zu erinnern, was ist aus der HEGELschen Philosophie bei denjenigen ihrer Schüler geworden, die sie wirklich selbständig weiter zu bilden suchten, bei einem LUDWIG FEUERBACH oder gar bei einem KARL MARX? Die alten dialektischen Formen sind zum Teil erhalten geblieben, aber an die Stelle der alle Wirklichkeit aus sich hervorbringenden reinen Vernunft ist eine materialistische Weltanschauung getreten, welche die immanente Notwendigkeit des Geschehens in Geschichte und Gesellschaft aus den sinnlichen Eigenschaften und Bedürfnissen des Menschen ableitet.

So ist denn auch der Realismus vor allem in der Philosophie ein vieldeutiger Ausdruck. An sich läßt er - man erinnere sich nur an die zwei weit entlegenen Begriffe des scholastischen und des HERBARTschen Realismus - den allerverschiedensten Denkweisen Raum. Will man wissen, welch' Geistes Kind ein bestimmter Realismus sei, so kommt es daher vor allem darauf an zu ermitteln, was von ihm für real gehalten wird. Hier kann nun beim philosophischen Realismus unserer Tage die Antwort nicht zweifelhaft sein. Man braucht sich nur nach den übrigen Bestandteilen der realistischen Geistesströmung in der Kunst und in den einzelnen Wissensgebieten umzusehen. Da will die realistische Kunst die Natur oder das menschliche Leben genau so wie sie sind, befreit von den aus ästhetischen oder sonstigen konventionellen Regeln entsprungenen Verhüllungen und Veränderungen, wiedergeben. Das Gemälde z. B., das eine Szene in freier Natur darstellt, soll die Beleuchtungsverhältnisse zur Geltung bringen, die in der Natur selbst vorhanden sind, nicht andere, die man ihnen etwa aus Rücksicht auf die in gedämpfter Beleuchtung mögliche feinere Verteilung von Licht und Schatten substituiert hat. Die realistischen Geschichts-, Gesellschafts- und Naturwissenschaften legen Wert auf die unverfälschte Auffassung und Darstellung des Tatsächlichen und seiner empirisch gegebenen Zusammenhänge, während sie jedem Versuch einer von allgemeinen Begriffen ausgehenden Konstruktion ablehnend oder zweifelnd gegenüberstehen.

Dem entsprechend besteht auch der Realismus der heutigen Philosophie in erster Linie in der Hochschätzung der konkreten Wirklichkeit und in dem damit eng verbundenen Gedanken, daß diese Wirklichkeit aus sich selbst, nicht aus irgendwelchen ihr fremden, transzendenten Prinzipien zu begreifen sei. Damit hängt zugleich das Streben zusammen, Fühlung mit den einzelnen positiven Wissenschaften zu gewinnen; und wenn auch die im vollen Gegensatz zum vorangegangenen spekulativen Idealismus stehende Idee, daß die Philosophie in den Einzelwissenschaften ihre Grundlage sehen müsse, nicht umgekehrt diese in jener, bis jetzt nur in beschränktem Umfang Geltung erlangt hat, so ist doch jedenfalls die Überzeugung, daß die Philosophie nirgends in einen Widerspruch mit den gesicherten Ergebnissen der Einzelforschung geraten dürfe, ziemlich allgemein durchgedrungen. Dieser philosophische Realismus verbindet sich daher naturgemäß mit einer hohen Wertschätzung der Erfahrung. Ist es doch die Erfahrung, die die konkrete Wirklichkeit der Dinge zunächst unserer Erkenntnis nahe bringt. Aber der Realismus ist darum noch keineswegs Empirismus. Dieser will die Erkenntnis grundsätzlich auf den unmittelbaren Inhalt der Erfahrung einschränken; er lehnt darum, wenn er konsequent ist, alle Hilfsbegriffe ab, die nicht etwa, wie die Begriffe von Raum, Zeit, Zahl und Bewegung oder die empirischen Gattungsbegriffe, nur gewisse Formen oder Merkmale von Erfahrungsinhalten zusammenfassen. Der Realismus denkt im allgemeinen anders. Obgleich auch ihm der Inhalt unseres Erkennens nur in der Erfahrung gegeben ist, so gibt er doch zu, daß die durch die Erfahrung geforderte logische Verknüpfung der einzelnen Erfahrungsinhalte möglicherweise Hilfsbegriffe nötig macht, die selber durchaus nicht empirisch nachgewiesen werden können. So ist z. B. der heutige Realismus geneigt, den Naturforschern die Atome oder andere hypothetische Hilfsgrößen zu konzedieren, während der strenge Empirismus dieselben als metaphysische Annahmen bestreitet. Noch weniger hat der heutige Realismus notwendig etwas mit dem Materialismus zu tun, obgleich dieser selbst geneigt ist, sich seiner realistischen Denkweise zu rühmen. Der Materialismus ist eine metaphysische Richtung, die jene Bestandteile der konkreten Wirklichkeit, die an die sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften der Körperwelt gebunden sind, willkürlich vor andern bevorzugt, indem er die geistige Seite der Dinge aus der materiellen zu erklären sucht. Der Realismus kann daher möglicherweise in den Materialismus umschlagen; aber er muß es durchaus nicht. Im Gegenteil, dem unbefangenen Realisten wird eine Denkweise widerstreben, die zur Interpretation der Wirklichkeit auch da hypothetische Hilfsbegriffe anwendet, wo diese weder durch die Erfahrung gefordert sind, noch für das Verständnis derselben etwas leisten. Jene früheren Bedeutungen des Begriffs Realismus endlich, wie sie in der Scholastik oder auch noch in HERBARTs Metaphysik eine Rolle gespielt haben, sind uns heute so fremd geworden, daß wir uns erst in eine völlig andere Ideenwelt versetzt denken müssen, um sie verständlich zu finden. Das Wirkliche zu begreifen ist eben zu jeder Zeit das Ziel der Philosophie gewesen. In diesem Sinne konnte sich schließlich jede Philosophie, sofern sie nicht etwa die Erreichbarkeit eines solchen Zieles überhaupt bezweifelte, den Namen Realismus beilegen. In dieser weitesten Bedeutung hat daher das Wort nur noch den Zweck, Anschauungen, die an irgendeinem positiven Wissensinhalt festhalten, von skeptischen Denkweisen zu unterscheiden. So trennt sich der Realismus der Scholastik durch seinen Glauben an die reale Existenz einer transzendenten Ideenwelt von dem diese selbst oder mindestens ihre Erkennbarkeit bestreitenden Nominalismus, so der Realismus HERBARTs durch seine Lehre von der unveränderlichen Realität der letzten Element des Seienden von dem alles Sein in einen unendlichen dialektischen Prozeß auflösenden Idealismus der gleichen Zeit.

Was ist nun aber dem heutigen philosophischen Realismus das Reale? Und welche Denkweise schreibt er vermöge seiner Ansicht von Realität sich selbst zu? Ich meine, man kann in zureichender Übereinstimmung mit den sämtlichen Richtungen dieses Realismus, so weit sie auch sonst auseinandergehen mögen, diese Fragen dahin beantworten: "Als real gilt das in der Erfahrung enthaltene einzelne Sein oder Geschehen nebst den Beziehungen, durch die es mit der Gesamtheit alles Realen verbunden ist. Als Realismus gilt daher  die unverfälschte, durch keinerlei Vorurteile und willkürliche Konstruktionen getrübte Erkenntnis der in der Erfahrungswelt enthaltenen konkreten Wirklichkeit." 

Dies ist nun allerdings ein Programm, dem schon ältere Bestrebungen da und dort nahe kommen. Aber in dieser ausgeprägten Form, mit seiner schroffen Abwehr nicht nur aller transzendenten Bemühungen, sondern auch jener skeptischen Richtungen, von denen früher der Kampf gegen das Transzendente ausschließlich geführt worden war, mit einem Wort: in dieser Form der Umkehrung des alten Skeptizismus in eine durch und durch positive Denkweise ist dieser philosophische Realismus zweifellos eigenartig und neu, ebenso wie der sonstige Realismus in Kunst und Wissenschaft, trotz so vieler Anklänge an frühere Kulturperioden, eigenartig und neu ist. Weiterhin liegt es aber in der Natur der Sache, daß der Gesamtcharakter einer in vielen einzelnen Erscheinungen hervortretenden Anschauung in ihrer  philosophischen  Ausprägung in mancher Beziehung klarer zu erkennen ist, als in ihren sonstigen Wirkungen. Denn nur der philosophischen Betrachtung pflegt jene Selbstbestimmung über Motive und Zwecke eigen zu sein, wie sie dem auf anderen Gebieten mehr instinktiven Tun der Menschen in der Regel nicht zukommt. Dies ist es zugleich, was dem philosophischen Realismus, wie überhaupt den philosophischen Gedankenströmungen, auch in kulturgeschichtlicher Hinsicht ein erhöhtes Interesse verleiht, ein Interesse, welches selbst dann noch andauert, wenn die philosophischen Lösungsversuche der allgemeinen Erkenntnisprobleme an sich längst für uns ihre Bedeutung verloren haben. Innerhalb der Philosophie steht dann aber hier die  Erkenntnistheorie  wieder in erster Linie. Ist doch sie es, die jene Selbstbesinnung des Denkens über sein eigenes Tun eigentlich zu ihrer spezifischen Aufgabe hat. Demnach werden sich die folgenden Erörterungen auf die neuere realistische Erkenntnistheorie beschränken und auf andere philosophische Gebiete nur gelegentliche Seitenblicke werfen.

Soweit nun die einzelnen Versuche realistischer Erkenntnistheorien heute auseinandergehen mögen, in  einem  Punkt herrscht erfreuliche Übereinstimmung. Dieser Punkt ist zugleich für die moderne realistische Gedankenströmung auf allen Gebieten kennzeichnend. Um eine sichere Grundlage zu gewinnen, soll sich das Denken, so verlangt man, auf die Stufe des ursprünglichen Erkennens, einer durch keinerlei Reflexion veränderten Auffassung der Dinge, zurückversetzen. Man fordert mit anderen Worten zunächst eine strenge Selbstbesinnung auf die aller Wissenschaft und Philosophie vorausgehenden Erkenntnisinhalte. Die so im denkenden Bewußtsein absichtlich wiederhergestellte ursprüngliche Auffassungsweise bezeichnet man auch als die des  naiven Realismus.  Aber ebenso allgemein ist man wohl darüber einig, daß dieser Standpunkt nicht als ein endgültiger betrachtet werden dürfe, sondern daß, nachdem jener erste Erkenntnisinhalt festgestellt sei, nunmehr eine kritische Sonderung seiner Bestandteile vorgenommen werden müsse, damit aufgrund der Prüfung aller einzelnen hinsichtlich ihres Ursprungs und ihrer Bedeutung der Erkenntniswert derselben bestimmt werden könne. Der naive Realismus soll also nur der Ausgangspunkt sein, von dem aus man allmählich zu einem nicht bloß das naive Gemüth, sondern auch die gereifte Reflexion befriedigenden  kritischen Realismus  gelangen möchte. Auch diese letzte Absicht des philosophischen Realismus ist zweifellos vorbildlich für den Realismus auf allen anderen Gebieten, obgleich man das nicht immer eingestehen will, sondern namentlich in der Kunst gerne die Miene annimmt, als sei mit dem naiven Realismus alles zu Ende und die Reflexion ein für allemal abgetan. In Wahrheit ist das nur äußerer Schein. Vielmehr, je urwüchsig naiver ein Kunstwerk aussieht, um so raffinierter pflegen die Reflexion und die Kritik zu sein, die sich hinter ihm verbergen. Dasselbe läßt sich auch wiederum auf die Philosophie anwenden. Die Philosophen, die ihren eigenen Standpunkt ganz und gar als den des naiven Realismus bezeichnen, operieren nicht am wenigsten mit logischen Abstraktionen und Reflexionen. Man hält für naiv, was am weitesten entfernt ist es zu sein. So kann es kommen, daß der angeblich naive Realismus in die reinste Begriffsdialektik umspringt oder daß gar diese von vornherein sich für jenen ausgibt. Nichts ist ja leichter, als ursprüngliche Naivität. Nichts aber ist schwerer, als wiedergewonnene Naivität, nichts schwerer, als aus dem Zustand einer von Reflexion und Kritik überladenen Kultur wieder in einen davon völlig freien Naturzustand sich hineinzudenken. Wer das vollbringen will, der hat eben in ganz besonderem Grad Reflexion und Kritik nötig. Und nicht bloß ein ungewöhnliches Maß, sondern auch eine ungewöhnliche Art derselben. Die Reflexion muß ihn in den Stand setzen, die Dinge selbst von der Reflexion über sie immer und überall sicher zu unterscheiden. Und das ist eine Eigenschaft, an deren Zerstörung die gewöhnliche Art zu reflektieren unablässig arbeitet. Darum gibt man sich meist schon über das, was zu tun sei, um jenen Weg vom naiven zum kritischen Realismus zurückzulegen, einer verhängnisvollen Täuschung hin. Den Standpunkt des naiven Realismus zu gewinnen, das, meint man, sei überaus leicht, denn dazu sei es nur nötig, sich für einen Augenblick in das harmlose Bewußtsein eines gewöhnlichen, nicht von philosophischer Kritik angekränkelten Sterblichen zu versetzen. Aber an dem so ermittelten naiven Erkenntnisinhalt die erforderliche Kritik zu üben, das gilt dann für eine um so schwierigere Aufgabe, zu deren Lösung alle Hilfsmittel der Abstraktion und der Reflexion in Bewegung gesetzt werden müßten. Ich glaube, daß sich die Sache nahezu umgekehrt verhält. Welches der wirkliche Inhalt des naiven Erkennens sei, das ist die Frage, bei deren Beantwortung man sehr leicht irren kann, weil der reflektierende Mensch in Wirklichkeit überhaupt nicht mehr imstande ist, sich in den Zustand des naiven Bewußtseins zu versetzen. Und wollte man sich etwa bei einem wirklich naiven Menschen erkundigen, wie er sich eigentlich die Dinge denkt, so würde das wiederum nur zu Irrtümern verleiten, weil jede solche Frage die bedenkliche Eigenschaft hat, eben den Zustand, den man erkennen will, zu beseitigen. Hat man sich aber erst einmal über das, was wirklich der Inhalt des naiven Denkens ist, in Irrtümer verwickelt, so ist auch der Weg zum kritischen Realismus, wenigstens zu einer haltbaren Form desselben, nicht mehr zu finden. Was man für den naiven Zustand hält, das pflegt nur erst recht ein Produkt übersättigter Reflexion zu sein; und die Kritik, die hier beginnen soll, arbeitet von Anfang an mit den Schattenbildern der Dinge, statt mit den Dingen selber. Scharfsinn und dialektische Gewandtheit können sich bei solchem Bemühen glänzend betätigen, doch ein Erfolg ist von vornherein unmöglich.

So undenkbar es aber auch in unserer über und über von Reflexion erfüllten Zeit für den Einzelnen sein mag, zu den glücklichen Urzuständen einer absolut voraussetzungslosen Naivität zurückzukehren, so glaube ich dennoch, daß es ein Hilfsmittel gibt, dieses Ziel oder wenn nicht das Ziel selbst, so doch eine hinreichend genaue Vorstellung davon zu erreichen. Ich finde, daß dieses Hilfsmittel von den Vertretern des modernen philosophischen Realismus so gut wie gar nicht benutzt worden ist, obgleich es, wie man denken sollte, nahe genug liegt. Dasselbe ist nicht etwa die Psychologie, wenigstens nicht jede beliebige Psychologie. Psychologische Überlegungen pflegen sogar nicht zum wenigsten die Irrtümer, denen man sich in Bezug auf den Zustand des ursprünglichen Erkennens hingibt, mit zu verschulden. Denn hier gerade, wo es an den zu psychologischen Schlüssen erforderlichen Tatsachen gänzlich gebricht, hat jene falsche Psychologie, die auch sonst noch verbreitet genug ist und die logische Reflexionen über oberflächlich gebildete Begriffe für Tatsachen psychologischer Erfahrung hält, den weitesten Spielraum. Das Hilfsmittel, das ich meine, ist die  Geschichte der Wissenschaft.  Ihre Anfangszustände spiegeln uns nicht die allerersten, aber doch relativ früh und im Verhältnis zu unserer eigenen Auffassungsweise ursprüngliche und naive Anschauungen. Auch hier liegen die Resultate freilich nicht auf der Oberfläche. Um sie richtig zu verstehen, um aus den gegebenen Daten auf das zurückzuschließen, was selbst einer primitiven Reflexion schon vorausging, dazu bedarf es in der Tat der psychologischen Vertiefung. Nur hat diese erst dann einen festeren Boden unter sich, wenn sie sich auf die Zeugnisse der Überlieferung stützt; und sie entgeht so dem notwendig mißglückenden Versuch, unvermittelt aus einem Stadium verwickeltster Reflexon heraus auf eine primitive Bewußtseinsstufe zurückkehren zu sollen. Zudem ist es die Wissenschaftsgeschichte, die zugleich über diejenigen Motive des Denkens, die von der Stufe des naiven zu der des kritischen Realismus überführen, die zuverlässigste Rechenschaft gibt. Freilich scheint es noch immer eine weit verbreitete Meinung zu sein, die Philosophie habe zwar an tatsächlichem Inhalt des Erkennens dankbar entgegenzunehmen, was ihr die positiven Einzelwissenschaften überliefern, doch wo es sich um die allgemeinen Methoden und Prinzipien handle, da habe sie selbstherrlich ihre eigenen Wege zu gehen und umgekehrt den Einzelgebieten ihre Gesetze vorzuschreiben. Aber Inhalt und Form des Erkennens sind nun einmal nicht voneinander zu trennen; und wer die Resultate einer Wissenschaft anerkennt, der muß sich wohl oder übel auch mit den Wegen befreunden, die zu diesen Resultaten geführt haben. Der philosophischen Erkenntnistheorie bleibt genug zu tun, wenn sie über die von der Wissenschaft zumeist mehr aus instinktivem Takt, als unter der Führung fester logischer Motive befolgten Erkenntnisweisen klare Rechenschaft gibt, sie auf die in ihnen zum Ausdruck gelangten Prinzipien zurückführt und endlich den meist von der Einzelforschung selbst nicht zureichend durchschauten Zusammenhang dieser Prinzipien aufzeigt. Angesichts diese großen und fruchtbaren Aufgabe darf sie auf den Wahn verzichten, die menschliche Erkenntnist aus nichts oder - was davon tatsächlich nicht viel verschieden ist - aus der gewöhnlichen, durch nichts kontrollierbaren Selbstbeobachtung begreifen zu wollen. Hier lebt auch noch in den realistischen Erkenntnistheorien unserer Zeit, die sich anscheinend bescheiden mit der Feststellung allgemeiner Grundlagen begnügen wollen, etwas von jenem Geist selbstherrlicher Begriffskonstruktion, durch den sich einst das HEGELsche System zu einem frühen Untergang verurteilte. Den positiven Wissenschaften aber fehlt es keineswegs an den zureichenden allgemeinen Antworten auf die Fragen der Erkenntnistheorie. Nur liegen diese Antworten in der Regel nicht an der Oberfläche, sondern sie müssen erst gehoben, aus den einzelnen Anwendungen erschlossen werden. Nicht  erfinden,  sondern  auffinden  soll die Erkenntnistheorie die Prinzipien der Erkenntnis. Der richtige Weg dazu ist daher nicht der, daß sich der Philosoph auf sein eigenes Bewußtsein zurückzieht, sondern der, daß er die Arbeit menschlichen Denkens, die ihm die Wissenschaft zur Verfügung stellt, zur Grundlage seiner Selbstbesinnung nimmt. Wenn es nun einmal nicht anders geht, als daß man die meisten Dinge nur von einer gewissen Ferne aus in Augenschein nehmen kann, so soll wenigsten der gewählte Standpunkt lieber die Vogel - als die Maulwurfsperspektive sein. Jenen Weg vom naiven zum kritischen Realismus, den man ganz richtig als den einzig gangbaren für die Erkenntnistheorie zu begreifen angefangen hat - die Wissenschaft selbst hat ihn in ihrer Geschichte zurückgelegt. Allerdings nicht ohne mannigfache Umwege. Immerhin sind diese jedenfalls ungefährlicher als die möglichen Irrungen der subjektiven Selbstbesinnung, da die Geschichte an ihnen bereits eine nicht mißzuverstehende Kritik geübt hat.

Ich habe es für nützlich gehalten, diese Bemerkungen den folgenden kritischen Erörterungen über einige Gestaltungen des neueren philosophischen Realismus vorauszuschicken, um von vornherein den allgemeinen Standpunkt anzudeuten, den diese Erörterungen einnehmen werden. Wenn die Ergebnisse, zu denen ich dabei gelange, in der Regel ablehnende sind, weil mir die Wege, die die hier zu behandelnden Theorien einschlagen, zumeist als Irrwege erscheinen, so möchte ich aber nicht unterlassen hervorzuheben, daß ich gleichwohl jene Erkenntnistheorien selbst für scharfsinnige und verdienstliche Leistungen halte. Für verdienstlich deshalb, weil es eben nun einmal die Bestimmung der Philosophie ist, daß sie auch da, wo bestimmte, irgendwie geschichtlich motivierte Bedingungen des Denkens zu Irrtümern verführen, die Folgerungen mit rüchsichtsloser Konsequenz ziehe, um damit indirekt wieder der Wahrheit zu dienen. Bei der Auswahl der zu besprechenden Fragen bin ich übrigens nicht bloß von dem Wunsch geleitet worden, Ansichten, die mir irrig scheinen, zu widerlegen, sondern mehr noch von dem anderen, eigene Anschauungen da und dort klarer, als es bisher geschehen ist, zu entwickeln und Mißverständnisse, denen sie begegnet sind, zu beseitigen.
LITERATUR - Wilhelm Wundt, Über naiven und kritischen Realismus, Philosophische Studien 12, Leipzig 1896