cr-4PragmatismusNietzscheMüller-FreienfelsF. RittelmeyerG. Brandes    
 
WALTER EGGENSCHWYLER
War Nietzsche Pragmatist?

"Beide, Nietzsche und James, beginnen ihre Lehre mit der Feststellung der unentrinnbaren Gewalt der Gefühle, Wünsche, Vorurteile, Gewohnheiten, kurz der unbewußten Sphäre unserer Psyche über unser gesamtes Denken und Wollen; beide halten die menschliche Vernunft noch für zu jung und zu unerfahren, als daß sie uns in den meisten Lebenslagen ein sicherer Führer sein könnte, als der seit Jahrtausenden eingeübte  Instinkt  es ist. Im Gegensatz zu dem weit verbreiteten rationalistischen Vorurteil, daß die Kenntnis der objektiven Wahrheit dem Menschen in allen Fällen  nützlicher  sein muß, als der Irrtum, bestehen sie beide auf der Notwendigkeit vieler Jllusionen und scheuen sich nicht, den Nützlichkeitswert der Wahrheit selbst in Frage zu stellen, wenn auch von zwei grundverschiedenen Gesichtspunkten aus."

"Während sich bei James die gerügte Irrationalität des Menschen alsbald in ein  Du sollst,  in eine moralische Vorschrift verwandelt, - nach dem Satz: Niemand ist rein objektiv, seien wir also  bewußt subjektiv!  - hält Nietzsche der  intellektuellen Reinlichkeit  zuliebe durchaus am Ideal einer möglichst objektiven und unparteiischen Erkenntnis fest. - Als guter Theologe schließt James aus der Unvollkommenheit der  reinen  Vernunft sofort auf die -  Vollkommenheit der Unreinen,  das heißt der traditionellen Dogmen und Vorurteile. Anstelle der Feststellung, der Mensch sei (leider) nie ganz objektiv, läßt er durch ein gewandtes Taschenspielerstück unversehens das moralische Postulat treten: der Mensch  soll  subjektiv urteilen,  soll  schöne Gefühle für Argumente und starke Überzeugungen für Wahrheiten halten!"

"Die Bedingungen, unter denen man mich versteht und dann mit Notwendigkeit versteht, ich kenne sie nur zu genau: Man muß rechtschaffen sein in geistigen Dingen bis zur Härte, um auch nur meinen Ernst, meine Leidenschaften auszuhalten. Man muß geübt sein, auf Bergen zu leben, - das erbärmliche Zeitgeschwätz von Politik und Völker-Selbstsucht unter sich zu sehen. Man muß gleichgültig geworden sein. Man muß  nie fragen, ob die Wahrheit nützt,  ob sie einem Verhängnis wird."


Vorwort

Das mußte kommen! - Dem Fleiß der philosophischen Systematiker und literaturhistorischen Klassifikatoren ist es endlich gelungen, den ursprünglichsten und unabhängigsten deutschen Denker, den Zweifler unter den Zweifler, FRIEDRICH NIETZSCHE in eine Schule und Partei einzureihen, und seine persönlichsten und originellsten Gedankengänge "historisch zu erklären", von seinem Milieu, seinen Vorgängern und seiner Lektüre restlos -  abzuleiten.  - Mit ebensoviel Scharfsinn als geschickt geordneten Quellenmaterial versucht in seinem kürzlich erscheinen Buch "Un Romantisme Utilitaire, étude sur le mouvement pragmatiste" einer der besten Nietzschekenner des Auslands, RENÉ BERTHELOT, den Nachweis, daß NIETZSCHE in der Hauptsache ein Vorkämpfer des in den letzten Jahren zu so hohem Ansehen gelangten -  Pragmatismus  gewesen sei, jener ungemein praktischen Philosophie des geringsten Kraftaufwands, die die Erkenntnis gänzlich der Opportunität der Moral und der Theologie unterordnet und die "Brauchbarkeit" einer Lehre als einziges Kriterium ihrer Wahrheit gelten läßt.

Ein verwegener Versuch der Klassifikation um jeden Preis, der "Ableitung" eines Genies aus seinen Vorgängern und Lehrern dürfte gewiß schwer zu finden sein. Mit Recht wendet in der  "Revue"  (vorm. "Revue des Revues") der bekannte Journalist EMILE FAGUET dem Verfasser ein, auf NIETZSCHE sei diese bequeme Schulmethode nicht anwendbar, weil er "mehr als Quelle als als Derivat" zu nehmen sei; - was bei ihm etwa an die deutsche Romantik oder an die englischen Utilitaristen á la SPENCER und MILL anklingt, hat in NIETZSCHEs als einen Ausfluß seiner Lektüre auffassen dürfe; insbesondere sei sein "Romantismus" wohl weit mehr seinem dichterischen Temperament zu verdanken, als - wie BERTHELOT will - seiner romantischen Lektüre! [...]

Das Unzulängliche einer solchen Ableitungsmethode springt in die Augen. Dieselbe mag als literarhistorische Schulmethode viel Gutes haben, besonders gegenüber solchen Schriftstellern, deren Originalität das mittlere Maß nicht übersteigt, und deren Lebenswerk von Anfang bis Ende  eine  Grundidee als "Leitmotiv" durchzieht. Wie wenig das für NIETZSCHE zutrifft, dürfte ohne weiteres einleuchten.

Aus demselben Grund führt die von BERTHELOT zur Klassifikation NIETZSCHEs aus seinem Ideenschatz herausgegriffene  Grundidee,  daß  das Leben wichtiger ist, als das Philosophieren,  notwendig zu einer argen Einseitigkeit. Dieselbe nimmt in NIETZSCHEs Welt- und Lebensanschauung durchaus keine wichtigere Stelle ein als hundert andere sogenannte "Leitmotive", die dem so herauskonstruierten Pragmatismus aufs entschiedenste widersprechen. BERTHELOTs Behauptungen, NIETZSCHE sei der "Champion le plus intransigeant peut-être du paradoxe pragmatiste" [der kompromißloseste Meister des pragmatischen Paradox - wp], man atme bei ihm von Anbeginn "die Atmosphäre, aus der später durch Kondensation der Pragmatismus entstanden ist", der "Wille zur Macht" sei eine systematische Darlegung desselben usw., werden daher noch manches Kopfschütteln veranlassen.

BERTHELOT stützt seine Theorie auf die weitgehende Analogie zwischen der Erkenntnistheorie NIETZSCHEs und der Vernunftkritik, die WILLIAM JAMES seinem "Pragmatismus" voranschickt. Bei JAMES heißt es dem Sinn nach  etwa folgendermaßen:  Die "Wahrheit" existiert nicht außerhalb unseres Denkens (die Zweideutigkeit des Satzes wird niemand entgehen!); wir nennen Wahrheit gewisse unserer Überzeugungen; dieselben sind aber nicht Überzeugungen reiner Vernunftwesen, sondern von fühlenden, wünschenden und wollenden Personen. Somit tragen auch diese Glaubenssätze den Stempel unserer Gefühle, Wünsche und Wollungen. - Die "Wahrheit" existiert nirgends; es existieren nur  Wahrheiten,  in deren Bejahung immer unbewiesene Postulate mit hineinspielen. So sehr auch diese Beobachtungen mit den Betrachtungen NIETZSCHEs über die "Herkunft der Logik", über den "Ursprung der Erkenntnis" usw. übereinstimmen, so steht doch JAMES im ganzen  positiven  Teil seiner Lhre zu dem an Nichts glaubenden NIETZSCHE im schroffsten Gegensatz.

Gemeinsam ist beiden der Ausgangspunkt: Eine entschiedene Ablehnung des alten  Rationalismus der im Menschen ein rein logisches Geschöpf sah und das ganze Triebleben ins Bewußte übersetzen und gewissermaßen "wissenschaftlich organisieren" und nachkonstruieren wollte.

Beide, NIETZSCHE und JAMES, beginnen ihre Lehre mit der Feststellung der unentrinnbaren Gewalt der Gefühle, Wünsche, Vorurteile, Gewohnheiten, kurz der unbewußten Sphäre unserer Psyche über unser gesamtes Denken und Wollen; beiden halten die menschliche Vernunft noch für zu jung und zu unerfahren, als daß sie uns in den meisten Lebenslagen ein sicherer Führer sein könnte, als der seit Jahrtausenden eingeübte  Instinkt  es ist. Im Gegensatz zu dem weit verbreiteten rationalistischen Vorurteil, daß die Kenntnis der objektiven Wahrheit dem Menschen in allen Fällen  nützlicher  sein muß, als der Irrtum, bestehen sie beide auf der Notwendigkeit vieler Jllusionen und scheuen sich nicht, den Nützlichkeitswert der Wahrheit selbst in Frage zu stellen, - wenn auch von zwei grundverschiedenen Gesichtspunkten aus. - "Wemm die Jllusion dem Leben unter Umständen nützlicher ist, als die Wahrheit, weshalb halten wir dann unbedingt an der Wahrheit fest? Weshalb nicht lieber am Irrtum?" - Das Weitere wird uns zeigen, wie sehr NIETZSCHE und JAMES in der Antwort voneinander abweichen.

Die Übereinstimmung hört jedoch vollständig auf, sobald die beiden Denker von der bloßen Kritik der landläufigen Erkenntnislehre zum aufbauenden,  positiven  Teil ihrer Lehre übergehen, und zur so getadelten Irrationalität des Menschen  Stellung nehmen.  Gemeinsam ist ihnen lediglich der kritische, negative Teil ihrer Philosophie; denn während sich bei JAMES die gerügte Irrationalität des Menschen alsbald in ein "Du sollst", in eine moralische Vorschrift verwandelt, - nach dem Satz: Niemand ist rein objektiv, seien wir also  bewußt subjektiv!  - hält NIETZSCHE der "intellektuellen Reinlichkeit" zuliebe durchaus am Ideal einer möglichst objektiven und unparteiischen Erkenntnis fest. - Als guter Theologe schließt JAMES aus der Unvollkommenheit der  reinen  Vernunft sofort auf die -  Vollkommenheit der Unreinen,  das heißt der traditionellen Dogmen und Vorurteile. Anstelle der Feststellung, der Mensch sei (leider) nie ganz objektiv, läßt er durch ein gewandtes Taschenspielerstück unversehens das moralische Postulat treten: der Mensch  soll  subjektiv urteilen,  soll  schöne Gefühle für Argumente und starke Überzeugungen für Wahrheiten halten!

Scheinbar finden wir zwar auch bei NIETZSCHE da und dort einen Anklang an diese Lehre (besonders da, wo er sich über die Objektivität der "wissenschaftlichen Asketen" lustig macht!), doch ist zu bemerken, daß es sich dabei niemals um eine Erkenntnistheorie, sondern stets nur um Ratschläge für das praktische Leben handelt. Das Eigentümmliche an NIETZSCHE ist eben gerade, daß er Lebensweisheit und Erkenntnislehre streng auseinanderhält, und uns für beide ganz getrennte und zum Teil widersprechende Rezepte gibt. Die Dichtung vom "Übermenschen", der im Unterschied zum modernen Gelehrten all seine Triebe gleichmäßig wachsen läßt, enthält durchaus kein Rezept zur Erkenntnis der Wahrheit. Obwohl NIETZSCHE selbst der "Wille zur Macht" und der Erkenntnistrieb beinahe zusammenfielen, hat er mit keinem Wort angedeutet, daß sein "Übermensch" ein Philosoph, oder gar der vollkommenste Erkenntnistheoretiker sein müsse. Er wird im Gegenteil nie müde, uns den Abgrund, der die beiden Ideale trennt, vor Augen zu führen. Die Tendenz JAMES' aber, den im Menschen festgestellten Hang zur Unvernunft zu einer ethischen Vorschrift oder gar zu einem  Wahrheitskriterium  zu erheben, liegt ihm ebenso fern, wie die Vermengung von Wahrheit und Opportunität.

Während NIETZSCHE der Menschheit gerade ihrer geringen "intellektuellen Reinlichkeit" wegen ins Gewissen redet und unverrückt am Ideal einer objektiven, von unserer Auslegung und "Anmenschlichung" unabhängigen Wirklichkeit festhält, schließt der Pragmatismus: Können wir nicht rein vernünftig sein, so seien wir eben -  rein unvernünftig.  Wen errinnert das nicht an die Lebensweisheit gewisser Südländer, die da meinen. Wozu uns waschen? Morgen sind wir ja wieder schmutzig!

BERTHELOT stützt seine Lehre, NIETZSCHE sei der erste und entschiedenste Pragmatiker gewesen, auf eine große Zahl von Zitaten aus "Jenseits von Gut und Böse", aus der "Fröhlichen Wissenschaft", aus "Zarathustra" usw., aus denen allerdings mit voller Klarheit hervorgeht, daß NIETZSCHE so gut wie JAMES an keine notwendigen und schlechthin allgemeingültigen Denkgesetze glaubte, sondern auch die Sätze der Logik als geworden, als Ergebnisse der menschlichen Zuchtwahl auffaßt. Richtig ist, daß er damit die philosophische Grundlage des Pragmatismus, nämlich die Kritik eines einseitigen Rationalismus (oder "Intellektualismus") schärfer und gründlicher formuliert hat, als irgendein anderer Denker. Erwähnt seien vor allem die berühmten Aphorismen 110, 111 und 112 der "Fröhlichen Wissenschaft":
    Ursprung der Erkenntnis.  - Der Intellekt hat ungeheure Zeitstrecken hindurch nichts als Irrtümer erzeugt; einige davon ergaben sich als nützlich und arterhaltend: Wer auf sie stieß oder sie vererbt bekam, kämpfte den Kampf für sich und seinen Nachwuchs mit größerem Glück. Solche irrtümliche Glaubenssätze, die immer weiter vererbt und endlich fast zum menschlichen Art- und Grundbestand wurden, sind z. B. diese: daß es dauernde Dinge gebe, daß es gleiche Dinge gebe, daß es Dinge, Stoffe, Körper gebe, daß ein Ding das sei, als was es erscheine, daß unser Wollen frei sei, daß, was für micht gut ist, auch an und für sich gut sei. Sehr spät erst trat die  Wahrheit  auf als die unkräftigste Form der Erkenntnis. Es schien, daß man mit ihr nicht zu leben vermöge; unser Organismus war auf ihren Gegensatz eingerichtet; alle seine höheren Funktionen, die Wahrnehmungen der Sinne und jede Art von Empfindung überhaupt, arbeiteten mit jenen uralt einverleibten Grundirrtümern. Mehr noch: Jene Sätze wurden selbst innerhalb der Erkenntnis zu den Normen, nach denen man Wahr und Unwahr bemaß - bis hinein in die entlegendsten Gegenden der reinen Logik. Also: die  Kraft  der Erkenntnis liegt nicht in ihrem Grad von Wahrheit, sondern in ihrem Alter, ihrer Einverleibtheit, ihrem Charakter als Lebensbedingung."
(Was hier unter "Kraft" der Erkenntnis zu verstehen ist, dürfte ohne weiteres klar sein; ebenso, daß NIETZSCHE hier wie überall scharf zwischen dieser  Kraft  und dem Grade von objektiver  Wahrheit  unterscheidet. Im Gegensatz dazu möchte JAMES die "Wahrheit" geradezu auf die "Kraft", d. h. auf das Alter und die Einverleibtheit einer Erkenntnis zurückführen!)
    "Wo Leben und Erkenntnis in Widerspruch zu kommen schienen, heißt es weiter, da ist nie ernstlich gekämpft worden; da galt Leugnung und Zweifel als Tollheit. Jene Ausnahmedenker, wie die Eleaten, welche trotzdem die Gegensätze der natürlichen Irrtümer aufstellten und festhielten, glaubten daran, daß es möglich sei, diese Gegenteile auch zu  leben:  Sie erfanden den Weisen als den Menschen der Unveränderlichkeit, Unpersönlichkeit, Universalität der Anschauung, als Eins und Alles zugleich, mit einem eigenen Vermögen für jene ungekehrte Erkenntnis; sie waren des Glaubens, daß ihre Erkenntnis zugleich ein Prinzip des Lebens sei. Um dies alles aber glauben zu können, mußten sie sich über ihren eigenen Zustand täuschen: Sie mußten sich Unpersönlichkeit und Dauer ohne Wechsel andichten, das Wesen des Erkennenden verkennen, die Gewalt der Triebe im Erkennen leugnen, und überhaupt die Vernunft als völlig freie sich selbst entsprungene Aktivität fassen; sie hielten sich die Augen dafür zu, daß auch sie im Widerspruch gegen das Gültige, oder im Verlangen nach Ruhe oder Alleinbesitz oder Herrschaft zu ihren Sätzen gekommen waren. Die feinere Entwicklung der Redlichkeit und der Skepsis machte diese Menschen endlich unmöglich; auch ihr Leben und Urteilen ergab sich als abhängig von uralten Trieben und Grundirrtümern allen empfindenden Daseins."

    "Endlich aber wurde nicht nur der Glaube und die Überzeugung, sondern auch die Prüfung, die Leugnung, das Mißtrauen, der Widerspruch eine Macht . . . Die Erkenntnis wurde also zu einem Stück  Leben  selber, und als Leben zu einer immerfort wachsenden Macht, bis endlich die Erkenntnisse und jene alten Grundirrtümer aufeinanderstießen, beide als Leben, beide als Macht, beide in denselben Menschen. Der  Denker,  das ist jetzt das Wesen, in dem der Trieb zur Wahrheit und jene lebenerhaltenden Grundirrtümer ihren ersten Kampf kämpfen, nachdem auch der Trieb zur Wahrheit sich als eine lebenerhaltende Macht erwiesen hat."

    "Herkunft des Logischen.  - Woher ist die Logik im menschlichen Kopf enstanden? Gewiß aus der  Unlogik,  deren Reich ursprünglich ungeheuer gewesen sein muß. Aber unzählig viele Wesen, welche anders schlossen, als wir jetzt schließen, gingen zugrunde:  Es könnte immer noch wahrer gewesen sein!  - Wer z. B. das  Gleiche  nicht oft genug aufzufinden wußte, in betreff der Nahrung oder in betreff der ihm feindlichen Tiere, wer also zu langsam subsumierte, zu vorsichtig in der Subsumtion war, hatte geringere Wahrscheinlichkeit des Fortlebens als der, welcher bei allem Ähnlichen sofort auf Gleichheit riet. Der überwiegende Hang aber, das Ähnliche als gleich zu behandeln, ein unlogischer Hang - denn es gibt ansich nichts Gleiches -, hat erst alle Grundlage der Logik geschaffen. Ebenso mußte, damit der Begriff der Substanz entstehe, der unentbehrlich für die Logik ist, ob ihm gleich im strengsten Sinne nichts Wirkliches entspricht, lange Zeit das Wechselnde an den Dingen nicht gesehen, nicht empfunden worden sein. Die nicht genau sehenden Wesen hatten ein Vorsprung vor denen, welche alles  im Flusse  sahen.

    An und für sich ist schon jeder hohe Grad von Vorsicht im Schließen, jeder skeptische Hang eine große Gefahr fürs Leben. Es würden keine lebenden Wesen erhalten sein (?), wenn nicht der entgegengesetzte Hang, lieber zu bejahen, als das Urteil auszusetzen, lieber zu irren und zu dichten, als abzuwarten, lieber zuzustimmen, als zu verneinen, lieber zu urteilen als gerecht zu sein, - außerordentlich stark angezüchtet worden wäre. - Der Verlauf logischer Gedanken und Schlüsse in unserem jetzigen Gehirn entspricht einem Prozeß und Kampf von Trieben, die ansich einzelne alle sehr unlogisch und ungerecht sind. Wir erfahren gewöhnlich nur das Resultat des Kampfes: so schnell und so versteckt spielt sich jetzt dieser uralte Mechanismus in uns ab."
Über die Naturerkenntnis sodann:
    "Wir operieren mit lautern  Dingen, die es nicht gibt:  mit Linien, Flächen, Körpern, Atomen, teilbaren Zeiten, teilbaren Räumen . . ., wie soll da  Erklärung  auch nur möglich sein, wenn wir alles erst zum  Bild  machen, zu unserem Bild! Es ist genug, die Wissenschaft als möglichst getreue Anmenschlichung der Dinge zu betrachten, wir lernen immer genauer uns selber beschreiben. Ursache und Wirkun: eine solche Zweiheit gibt es wahrscheinlich nie. - In Wahrheit steht ein  Kontinuum  vor uns, von dem wir ein paar Stücke isolieren; sowie wir eine Bewegung immer nur als isolierte Punkte wahrnehmen, also eigentlich nicht sehen, sondern erschließen. Die Plötzlichkeit, mit der sich viele Wirkungen abheben, führt uns irre, es ist aber nur eine Plötzlichkeit für uns. Es gibt eine Unmenge von Vorgängen in dieser Sekunde der Plötzlichkeit, die uns entgehen."
Daß diese Bemerkungen im großen Ganzen mit der Vernunftkritik JAMES' zusammenfallen, ist allerdings nicht zu verkennen. Nur fragt es sich, ob dieselbe an JAMES' System das Wesentliche ausmacht. Wenn ja, so dürfte schwerlich ein moderner Denker zu finden sein, der nach BERTHELOT  nicht  als Pragmatist zu gelten hätte. Leider beginnt aber der charakteristische Teil dieser Lehre erst damit, daß JAMES die also festgestellte Relativität und Subjektivität des menschlichen Erkennens zu einer ethischen Vorschrift, zu einem "Du sollst" erhebt. NIETZSCHE wie JAMES anerkennen die verdächtige Herkunft bis in die obersten und unentrinnbarsten "Denkgesetze" hinein. Während aber für NIETZSCHE die so kritisierte Vernunft gleichwohl das einzige brauchbare  Wahrheitskriterium  ist, benützt JAMES seine Vernunftkritik nach berühmtem Muster dazu, ein  irrationales  Wahrheitskriterium, eine Art "praktische Vernunft" an ihre Stelle zu setzen. Das objektive Denken wird also nur heruntergemacht, um dem subjektiven, nächstliegenden, moral- und routinemäßigen Denken eine Hintertür zu öffnen.

Der Vollständigkeit halber hätte BERTHELOT seine Zitate unbedingt durch den kurz darauf folgenden Aphorismus 122 ergänzen sollen, wo es heißt:
    "Das Leben ist kein Argument!  - Wir haben uns eine Welt zurechtgemacht, in der wir leben können, mit der Annahme von Körpern, Linien, Flächen, Ursachen und Wirkungen, Bewegung und Ruhe, Gestalt und Inhalt: Ohne diese Glaubensartikel hielt es jetzt keiner aus, zu leben.  Aber damit sind sie noch nichts Bewiesenes. Das Leben ist kein Argument; unter den Bedingungen des Lebens könnte der Irrtum sein." 
Derselbe Gedanke tritt uns außer unzähligen anderen Sentenzen desselben Sinnes im Vorwort zum "Willen zur Macht" entgegen:
    "Die Bedingungen, unter denen man mich versteht und dann mit Notwendigkeit versteht, ich kenne sie nur zu genau: Man muß rechtschaffen sein in geistigen Dingen bis zur Härte, um auch nur meinen Ernst, meine Leidenschaften auszuhalten. Man muß geübt sein, auf Bergen zu leben, - das erbärmliche Zeitgeschwätz von Politik und Völker-Selbstsucht unter sich zu sehen. Man muß gleichgültig geworden sein. Man muß  nie fragen, ob die Wahrheit nützt,  ob sie einem Verhängnis wird."
Bei näherem Zusehen reduzieren sich die Berührungspunkte zwischen NIETZSCHE und JAMES auf einen einzigen, und auch dieser ist mehr äußerlicher, zufälliger Natur als Ausfluß einer inneren Verwandtschaft. Beide fordern von der Philosophie (aber nicht von der Erkenntnistheorie!), daß sie  "dem Leben förderlich"  sei. Bedenken wir aber, was für grundverschiedene Vorstellungskreise unsere beiden Denker mit dem ansich sehr vagen Wort "Leben" verbinden, so müssen wir bald einsehen, daß es sich hier im Grund um eine - rein sprachliche Analogie handelt. Denn "Leben" und "Handeln" bedeuten für NIETZSCHE in allen Stücken so ziemlich das Gegenteil davon, was die Pragmatisten darunter verstehen. JAMES stellt das religiöse Leben, den Gehorsam, die Unterwerfung unter eine Gottheit oder überkommene Moral am höchsten, NIETZSCHE den ungehemmten "Willen zur Macht", den extremen Individualismus. Für JAMES ist "Leben" - Glauben und Gehorchen, für NIETZSCHE Zweifeln und - Herrschen. Kurz, in allen Stücken ein Gegensatz, der ziemlich genau dem NIETZSCHEschen Dualismus von Herrenmoral und Sklavenmoral, Herrenleben und Herdenleben entspricht. Um nur das Wichtigste zu erwähnen: für JAMES bedeutet "das Leben fördernd" zweifellos in erster Linie "die Moral fördernd", für NIETZSCHE eben gerade das Gegenteil. Indessen darf man daraus nicht etwa den Schluß ziehen, daß auch NIETZSCHE den Wahrheitsbegriff zugunsten seines Lebensideals habe  fälschen  wollen. Da für ihn der intensivste Lebensgenuß anerkanntermaßen gerade im Zweifeln, Grübeln und Vorurteile-Stürzen bestand, so ist er wenigstens über den Verdacht erhaben, daß er uns ein neues Dogma, einen neuen Glauben, - mit einem Wort eine neue Scheuklappe habe anpreisen wollen.
Natürlich mußte eine so grundverschiedene Lebensauffassung auch zu zwei ganz verschiedenen  Glücksrezepten  führen. Wer von der Erkenntnislehre nur verlangt, daß sie ihn ruhig schlafen lasse, ihm seinen Glauben lasse und ihn nicht mit Zweifeln störe, der wird sich am besten mit der -  "unbewußten Philosophie der Sprache"  begnügen und in jede Lücke einer Weltanschauung ein möglichst wohltönendes Wort ("life", "action", "use", "humanism") treten lassen, während derjenige, dem Philosophie vor allem Zweifel und Kritik bedeutet, auch auf sprachlichem Gebiet ein großer Zweifler und Revolutionär sein wird. Und in der Tat ist den in unserer Sprache und Grammatik verewigten Vorurteilen ("Substanz", "Kausalität", "Identität" und "Widerspruch" usw.) bisher niemand so unerbittliche zu Leibe gegangen, wie gerade NIETZSCHE, wie die von BERTHELOT zitierten Stellen zur Genüge dartun. Im Gegensatz dazu können wir die Lehre JAMES' geradezu eine - philosophische Umschreibung der englischen Sprache nennen, dieser erzutilitaristischen, für Priester und Geschäftsmänner gleich praktischen Sprache, die dann auch die berühmtesten Stellen aus JAMES' und SCHILLERs Werken so gut wie unübersetzbar macht.

Die Oberflächlichkeit dieser Philosophie tritt am deutlichsten zutage, wenn wir beachten, welche Vorliebe ihre Vertreter für möglichst vage und volltönende Abstraktionen und übereilte Verallgemeinerung an den Tag legen. Die soziale oder moralische Nützlichkeit zum Kriterium der Wahrheit zu machen, ist ja auf jeden Fall nur  ausnahmsweise,  nur in einzelnen Fällen, und auch da nur  teilweise  möglich. Jedes Räsonnement, das theoretische wie das praktische, bleibt notgedrungen immer noch zum größten Teil den Gesetzen der Logik und der Erfahrung unterworfen. Denn selbst um festzustellen, welche von zwei Theorien uns die  nützlichere  ist und sich mit unserem Handeln oder unseren ererbten Anschauungen am besten verträgt, bedarf es logischer Schlüsse und empirischer Daten, die ihrerseits nicht wieder pragmatischer Herkunft sein können.

Das pragmatische Wahrheitskriterium kann also nur ausnahmsweise, nur beiläufig auf unser Denken einwirken, und bleibt völlig unbrauchbar, solange sich die Pragmatisten nicht die Mühe machen, uns zu sagen, wo und wieweit wir uns seiner zu bedienen haben. Dazu wäre aber voraussichtlich eine lange und überaus komplizierte  Kasuistik  erforderlich, von der uns die Pragmatisten auch nicht das erste Wort liefern. Sie finden es bequemer, dieses auch vor ihnen in engen Grenzen zugelassene sogenannte Wahrheitskriterium (man denke an KANT!) in ganz unsinniger Weise zu  verallgemeinern.  Daraus, daß in einzelnen Fällen zu allen Zeiten unsere Gefühle, Wünsche und Vorurteile in unsere philosophischen Betrachtungen hineingespielt haben, schließen sie nicht nur, daß es nun ein für alle mal so sein  müsse,  sondern erheben diesen Schnitzer zur  Regel,  die nun  überall  unser Denken leiten soll! Wie würde NIETZSCHE selbst den Pragmatismus beurteilen, wenn er ihm heute vor Augen käme? - Die Antwort scheint uns leicht auszurechnen: Alles was NIETZSCHE über und wider den "Theologen-Instinki", die mangelnde "intellektuelle Rechtschaffenheit der Deutschen" - oder gar der Engländer geschrieben hat, ist, so übertrieben es manchem erscheinen mag, buchstäblich auf den Pragmatismus anwendbar und deckt sich zum Teil wörtlich mit den Anklagen, die SCHINZ seinem "Anti-Pragmatismus" voranschickt.
    "Wer Theologenblut im Leib hat," sagt er unter anderem, "steht von vornherein zu allen Dingen schief und unehrlich"; - "Was ein Theologe als wahr empfindet, das  muß  falsch sein. Man hat daran beinahe ein Kriterium der Wahrheit. Es ist sein unterster Selbsterhaltungsinstinkt, der ihm verbietet, daß die Realität in irgendeinem Punkt zu Ehren oder auch nur zu Worte kommt. Soweit der Theologen-Einfluß reicht, ist das Werturteil auf den Kopf gestellt, sind die Begriffe wahr und falsch notwendig umgekehrt. Was dem Leben am schädlichsten ist, das heißt hier wahr, was es hebt, steigert, bejaht, rechtfertigt und triumphieren macht, das heißt falsch."

    "Woher das Frohlocken, das beim Auftreten KANTs durch die deutsche Gelehrtenwelt ging, die zu drei Vierteln aus Pfarrers- und Lehrerssöhnen besteht? Woher die deutsche Überzeugung, daß mit KANT eine Wendung zum Besseren beginne? Der Theologen-Instink im deutschen Gelehrten erriet,  was  nun wieder möglich war. . . . Ein Schleichweg zum alten Ideal stand offen, der Begriff  wahre Welt,  der Begriff der  Moral als Essenz der Welt  war jetzt wieder dank einer verschmitzt-klugen Skepsis, wenn nicht beweisbar, so doch nicht mehr widerlegbar. Die Vernunft, das Recht der Vernunft reicht nicht so weit . . . Man hatte aus der Realität eine scheinbare Welt gemacht, man hatte eine vollständig erlogene Welt, die des  Seienden,  zur Realität gemacht. Der Erfolg KANTs ist bloß ein Theologenerfolg: KANT war, gleich LUTHER, gleich LEIBNIZ, ein Hemmschuh mehr in der ansich nicht taktfesten deutschen Rechtschaffenheit."

    "Ich nehme ein paar Skeptiker beiseite, den anständigen Typus in der Geschichte der Philosophie: Aber der Rest kennt die ersten Forderungen der intellektuellen Rechtschaffenheit nicht. Sie machen es allesamt wie die Weiblein, alle diese großen Schwärmer und Wundertiere, - sie halten die  schönen Gefühle  bereits für Argumente, den  gehobenen Busen  für einen Blasebalg der Gottheit, die Überzeugung für ein Kriterium der Wahrheit. Zuletzt hat noch KANT (und JAMES?) in  deutscher  Unschuld diese Form der Korruption, diesen Mangel an intellektuellem Gewissen unter dem Begriff  Praktische Vernunft  zu verwissenschaftlichen gesucht; er erfand eigens eine Vernunft dafür, in welchen Fällen man sich nicht um die Vernunft zu bekümmern habe, nämlich wenn die Moral, wenn die erhabene Forderung  Du sollst  laut wird!"
Leider scheint NIETZSCHE nicht bemerkt zu haben, daß seine Erkenntnistheorie durch die häufige Anspielung auf den  Lebenswert  der Wahrheit ernstlich Gefahr läuft, selbst als opportunistische,  pragmatistische  Wahrheitsidee ausgedeutet zu werden. Wenn er den Theologen vorwirft, die Begriffe Wahr und Falsch dadurch auf den Kopf gestellt zu haben, daß sie das Lebensfeindliche "wahr" und das Lebensbejahende "falsch" nennen, so steht es damit ums eine eigene "intellektuelle Rechtschaffenheit" streng genommen nicht besser, als um diejenige seiner Gegner, da ja auch er die objektive Wahrheit vom rein zufälligen Kriterium ihrer Nützlichkeit abhängen läßt, - nur daß für ihn der Begriff "Leben" wie bekannt einen ganz anderen Sinn hat, als für seine Gegner. Dieser Lapsus mag nicht wenig dazu beigetragen haben, BERTHELOT in seiner pragmatistischen Auslegung zu bestärken. Zum Glück verschwinden aber diese zweideutigen Anspielungen an das Lebensideal des Übermenschen gänzlich gegenüber den sehr bestimmten gegenteiligen Erklärungen NIETZSCHEs, die eine Verwechslung der übermenschlichen  Lebensweisheit  mit seiner Erkenntnistheorie durchaus ausschließen. Daß er hie und da versucht war, seiner nichts respektierenden Skepsis  mehr  Lebenswert zuzuerkennen, als der furchtsamen Erkenntnistheorie seiner Gegner, ist leicht begreiflich, wenn wir bedenken, wie sehr in NIETZSCHE selbst der bedingungslose Erkenntnistrieb mit dem als Essenz des Lebens erkannten Machttrieb zusammenfiel (und gar nicht etwa mit den an der "blonden Bestie" hervorgehobenen militärisch-barbarischen Eigenschaften!). Für NIETZSCHE persönlich bestand allem Anschein nach zwischen dem "Willen zur macht" und dem Willen zur Wahrheit um jeden Preis kein erheblicher Unterschied.

Das Charakteristische an NIETZSCHEs Philosophie liegt eben darin, daß für ihn Lebensweisheit und Erkenntnistheorie  nicht  zusammenfallen. Und daß er dem ein möglichst vollständiges Leben auslebenden Idealmenschen wesentlich  andere  Ratschläge erteilt, als die, die nach ihm zur objektiv richtigsten Erkenntnis führen. Selbst wenn er sich darin da und dort eines kleinen Widerspruchs oder einer Zweideutigkeit schuldig macht, so berechtigt uns das durchaus nicht dazu, seine sehr kategorischen Erklärungen, daß das Leben  kein Argument  für die Wahrheit ist, und daß sie der Philosoph nie fragen darf,  ob die Wahrheit nützt,  einfach zu ignorieren.

Seine vermeintlichen Widersprüche werden indessen niemals an die Bedeutung der großen Inkonsequenz heranreichen, die das Wesen des  Pragmatismus  ausmacht, und der bewirkt, daß sich der Pragmatismus praktisch selbst aufhebt. Denn da dem von ihm verfochtenen subjektiven Wahrheitskriterium in allen Fällen nur eine beiläufige, dreinpfuschende Rolle zukommen kann, so wird das pragmatistische Wahrheitsrezept in seiner allgemeinen Form praktisch zu einer bloßen Phrase, der wir mit dem besten Willen keinen deutlichen Sinn entnehmen können. Die Regel bleibt in Wirklichkeit auch für den pragmatischen Denker immer noch das  objektive  Wahrheitskriterium, ob er es sich nun eingestehe oder nicht. Das subjektive kommt immer erst an zweiter Stelle, nämlich, wenn der Pragmatist zum folgerichtigen Denken aus irgendeinem Grund zu träge oder zu furchtsam ist.
LITERATUR - Walter Eggenschwyler, War Nietzsche Pragmatist?, Archiv für Geschichte der Philosophie, Bd. 26, Berlin 1913