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JULIUS BAHNSEN
Wille und Motiv
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"Nur schade, daß es zu den aufgedeckten und somit unschädlich gemachten Kriegslisten der Disputierkunst gehört, einem schon von weitem entgegenzurufen: all die Oberflächlichen und Einfältigen werden mit dem und dem Einwurf kommen - vollends schade, wenn der Gegner selber gelegentlich geäußert hat, wie er sehr wohl wisse, daß man mit einer vornehmtuerischen Abkehr von den Resultaten der Erfahrungswissenschaften und ihrer Methode heutzutage in der Philosophie nicht mehr vorwärtskomme und damit noch lange nicht des Vorzeigens eines anderweitig beglaubigten Diploms enthoben sei."

Als ich vor fünf Jahren in der Programm-Abhandlung Grundzüge zur Charakterlogie veröffentlichte, war ich mir sehr wohl bewußt, damit noch lange nicht zu den eigentlichen Grundfragen über das Wesen des Charakters vorgedrungen zu sein; und auch als drei Jahre später jenen Konturen einige "Ausführungen "gefolgt waren, hatte ich keinen Hehl daraus gemacht, daß jenseits all solcher Betrachtungen metaphyische Probleme stehen blieben, für welche ich mich begnügte, eine vorläufige Formulierung geliefert zu haben, indem ich eine befriedigende Darlegung des zwischen Wille und Motiv bestehenden Wechselverhältnisses als die nächste Aufgabe bezeichnete, deren Lösung die SCHOPENHAUERsche Philosophie ihren Nachfolgern hinterlassen hätte. (1)

Wenn nun die unzweifelhaft gewichtigste Leistung, welche die systematische Philosophie im Laufe der letzten Jahrzehnte zustande gebracht hat, in eine Erörterung eben dieses nämlichen Problems (obzwar in einer etwas anders lautenden Fassung) ausmündet: so konnte mir das einerseits die Genugtuung gewähren, welche jedem Bestärktwerden in unserem Streben beiwohnt, sooft uns von neuem eine Bestätigung für den Glauben zuteil wird, daß wir uns mit unserem Forschen nicht auf unrichtigen Wegen befinden; andererseits aber mußte es mir den Wunsch erwecken, mich in aller Klarheit mit einer Weltanschauung auseinandersetzen zu können, welche mir ebenso reich an überraschenden Berührungspunkten mit meiner eigenen entgegengetreten ist, wie sie hinwiederum mit Macht an dem zu rütteln wenigstens  scheint,  was vor aller Augen als die haltgebende Unterlage der von mir gepflegten Wissenschaft hingebreitet ist: am Individualitätsprinzip. Man wird es ja einem vorsichtigen Mann nicht verwehren wollen, die Fugen seiner Grundsteine, wenn ein Erdbeben sein Haus durchschüttert, zu revidieren, um danach, womöglich getrosteren Herzens, sich von neuem einrichten zu können in der wiedergesicherten Wohnung.

Freilich ist mit solcher Anfechtung noch nicht ohne weiteres das ganze Existenzrecht eben dieser Wissenschaft in Frage gestellt. Der Anblick der Verheerungen, welche ein Sturm anrichtet, oder das Grausen einer Gewitternacht verliert ja nichts von der Gewalt des unmittelbaren Eindrucks, auch wenn wir uns besinnen, daß den ungeheuren Erscheinungen in beidem elementareinfache Ausgleichungsprozesse in der Atmosphäre zugrunde liegen; und der Physiker hört ja doch, um eine immer tiefere Ergründung zu gewinnen, mit experimentierenden Spezialforschungen nach dem Wesen der Wärme nicht auf, auch wenn sich ihm längst die Überzeugung festgestellt hat, dasselbe bestehe in einer Form der Bewegung. Nicht anders wird es um die Charakterlehre bestellt sein: sie würde selbst dann so wenig ihr ästhetisches wie ihr rein wissenschaftliches Interesse eingebüßt haben, wenn es wirklich bereits gelungen wäre, in allen Unterschieden der Individualcharaktere nichts als phänomenale Selbstdifferenzierungen des All-Einen nachzuweisen, (obgleich unverkennbar ist, wie das blitzdurchzuckte Gewölk zwar dadurch an Pracht keinen Abbruch erleidet, aber doch der Reiz seines Anblicks für den Betrachtenden von Stund an abnimmt, sowie dieser es als ein  bloßes  Schauspiel erkannt hat.) Selbst wenn es sich im Grunde um bloß konträre und nirgends um kontradiktorische Gegensätze handeln sollte (wie etwa in der Elektrizität um die Erscheinungsreihe gewisser Spannungsverhältnisse zwischen Plus und Minus), bliebe es eine der Forschermühe nicht unwerte Aufgabe, der Fülle der charakterologischen Phänomene und ihrem inneren Zusammenhang untereinander nachzugehen - und auch dem hohen Adel der Geister allerersten Ranges gegenüber mag der geistige Arbeiter seine Würde behaupten, wo er, vorläufig unbeirrt vom Widerspruch noch so gewichtiger Autoritäten, festhält am Glauben, der gemeinsamen Königin Wahrheit besser zu dienen, wenn er an seinem Teil fortfährt, für die Versöhnung zwischen empirischer und transzendentaler, rationaler und mystischer, realistischer und sogenannter spekulativer Anschauungsweise tätig zu sein, als wenn er sich voreilig in schnöder Selbstlosigkeit gefangen gibt angesichts beiderseits in gleich einseitiger Weise ergehenden Unfehlbarkeitsdekrete, die aufgestutzt sind mit den Redensarten eines majestätischen Herniederschauens auf das "Nichtheranreichen" und "Nichtverstandenhaben" der - bloß viel bescheideneren - Kritiker. Wie leicht aber selbst ein Unternehmen, das von gleichem Vermittlungsstreben ausgeht, im Laufe seiner Beweisführungen trotzdem einer solchen auftrumpfenden Einschüchterungsmethode verfallen kann, dafür liefert das Werk selber, welches zu dieser Abhandlung den nächsten Impuls gegeben hat, EDUARD von HARTMANNs "Philosophie des Unbewußten", einen Beleg, wo es dem in seiner Einleitung aufgestellten Programm soweit untreu wird, daß es - nach einem allerdings auch induktorischen Verfahren - unter Berufung auf die Geschichte den Urteilsspruch fällt, alle diejenigen, welche nicht den "Monismus" im strengsten Sinne vertreten, wären je und je nur subalterne [auf einem niedrigeren geistigen Niveau stehend - wp]Denker gewesen. Demgemäß muß dann natürlich jede dem "Pluralismus" etwa von den Gedankenfürsten selber irgendwo gemachte Einräumung für einen Abfall von deren eigenen höheren Prinzipien ausgegeben oder gar als ein Beweisstück für den "dilettantischen" Charakter eines Systems aufgeführt werden. Letzteres widerfährt insbesondere SCHOPENHAUER, der sich ja ausdrücklich zu rühmen pflegte, in keiner Schulung noch Scholastik seine Unbefangenheit aufgegeben zu haben; und gleicher Verdammnis muß selbstverständlich mit vielfach schwererer Wucht ein Jünger unbesehens unterliegen, der sich der Ketzerei schuldig gemacht hat, sein Bächlein eben aus den Quellen jener - allerdings nicht bloße angeblichen- Inkonsequenzen gespeist zu haben. Wenn sich aber tatsächlich ein Strom in zwei Arme spaltet, so ist es doch allemal schwer zu sagen, welcher von beiden das bessere Anrecht hat, den Namen des ungeteilten fortzuführen; - vielleicht gründet der eine seinen Anspruch darauf, daß er die größere Wassermasse weiterwälze, während der andere vielleicht nichts weiter für sich vorbringen kann, als daß er an der ursprünglich eingeschlagenen Hauptrichtung festhalte.

Ob der Selbständigkeit eines Gedankenganzen Eintrag geschieht und man sofort einer sklavischen Abhängigkeit anheimfällt durch das offene Bekenntnis dankbarer Verehrung für den Lehrer, dem je einer sein Meistes und Bestes schuldig zu sein freudig eingesteht: darüber wird zuverlässiger nach vorliegenden Leistungen als wie nach bloßen Pietätsversicherungen zu urteilen sein; - aber einiges Mutes darf sich rühmen, wer den selbstgewählten Posten eines Anwalts für scheinbar niedrigere Erkenntweisen nicht verräterisch preisgibt, weil es in gewissen Kreisen einer pretiösen [affektierten - wp] Aristokratie nicht mehr zum guten Ton der erleseneren Philosophengesellschaft gehört, dem Naserümpfen exklusiver Velleitäten [Willensäußerungen - wp] Trotz bietend, mit dem Plebejer "Gesunder Menschenverstand" vertrauteren Umgang zu pflegen. Man setzt sich damit der wohlfeilen Verdächtigung aus, auch nichts als eine Rumination [Wiederkäuen - wp] seiner längst abgetanen Argumente vorbringen zu können, mit dem eigenen Denken auch nicht weiter zu reichen, als wie eine längst widerlegte Borniertheit. Nur schade, daß es zu den aufgedeckten und somit unschädlich gemachten Kriegslisten der Disputierkunst gehört, einem schon von weitem entgegenzurufen: all die Oberflächlichen und Einfältigen werden mit dem und dem Einwurf kommen - vollends schade, wenn der Gegner selber gelegentlich geäußert hat, wie er sehr wohl wisse, daß man mit einer vornehmtuerischen Abkehr von den Resultaten der Erfahrungswissenschaften und ihrer Methode heutzutage in der Philosophie nicht mehr vorwärtskomme und damit noch lange nicht des Vorzeigens eines anderweitig beglaubigten Diploms enthoben sei. Wenn aber - in einer besonderen Art von "Einfalt" - einer gar der Meinung sein sollte, der echtgeborene Tory weise sich am besten als solcher durch ein erfolgreiches Bemühen umd die Beseitigung aller einheit- und eintrachtstörenden Schranken aus - ein Hinwegräumen, welches wahrlich nicht bloß auf dem Weg radikaler Verflachung, sondern ungleich fruchtbringender in der Gestalt allgemeiner Terrainerhöhung sich erreichen läßt - so darf der wohl hinweisen auf das Vorbild eines PERIKLES, CÄSAR und MIRABEAU, als welche doch auch von Haus aus nicht Kinder des Pöbels waren, aber danach trachteten, in ausgleichender Gerechtigkeit das Volk emporzuheben, es nicht ignorierten oder verleugneten und eben darum zu seinen Herrschern berufen waren. - Sich der Menge entfremden und in glacéschuhener Unnahbarkeit absondern, ist so schrecklich schwer gar nicht, daß es für sich allein schon Respekt verdiente und anderen als ohnehin schon servil gearteten Seelen imponieren könnte. - Wer dann noch das Bewußtsein mitbringt, nur jener Übereinstimmung scheinbar entgegengesetzter Anschauungen zuzustreben, deren er im tiefsten Hintergrund zum voraus gewiß zu sein glaubt: der wird nur desto ungenierter erst einmal die Differenzpunkte in aller Schärfe herauskehren, unbesorgt darum, mittels welcher Kanäle das aus  einem  Strom Derivierte [Abgeleitete - wp] sich wieder zusammenfinde - sei es auch erst im weiten Ozean. Denn wer es ehrlich mit dem Denken meint, will doch vor allem nach Möglichkeit dessen sicher und gewiß werden, daß er sich nicht wissentlich in ungründlichen Vorurteilen verstockt habe.

In diesem Sinne also möge die nachfolgende Polemik aufgenommen werden. Sie bringt dem Gegner ein redliches Verständigungsbedürfnis entgegen und hebt an mit einem aufrichtigen Dank für die von ihm in reichstem Maß empfangene Anregung - denn sie ist erwachsen und erstarkt in einem Wettlauf zwischen seinen und den eigenen Gedanken, wobei sie, bald hinter ihm, bald ihm voraus, das einemal ihm hätte zurufen mögen: halt, nicht weiter, Freund! - das andremal: noch zehn Schritt vorwärts, dann finden wir uns wieder zusammen!

Weil mir hier nur ein äußerst beschränkter Raum zu Gebote steht, kann ich gar nicht daran denken, meiner Kritik gleichfalls die so viel weiter zurückgreifende induktive Form zu geben. Im Gegenteil sehe ich mich genötigt, die in der "Philosophie des Unbewußten" durchschrittene Bahn gewissermaßen rückwärts gewandt zu überblicken und an den Prinzipien, die dort erst im Schlußkapitel vorgetragen werden, meinen Ausgangspunkt zu nehmen, um, vor einer allerdings herzlich unbequemen Notwendigkeit mich beugend, in mehr oder weniger ausgeführter Thesenform meine Verwahrungen einzulegen.

Meines Erachtens steckt nämlich was uns trennt zuletzt in dem, was jener Betrachtungsspitze und früheren Darlegungen des von HARTMANNschen "atomistischen Dynamismus" gemeinsam ist: darin, daß der Verfasser in einem Übermaß des Strebens nach Gründlichkeit, durch welches er sich an Stellen zu einer Über- oder Unter- ja fast Uner-gründlichkeit oder Bodenlosigkeit verlocken ließ, verleitet wurde, sich der längst erkannten einfachen Wahrheit zu verschließen:  jede Kraft ist zunächst und zuerst eine Kraft zu sein (oder Kraft zum Sein,  vis existendi eademque essendi)  überhaupt.  Der Besitz dieser in ihrer Simplizität unantastbaren Einsicht macht alle weitere, schon gespaltene Haarsplitter nochmals spaltende, Seinsanalyse nach der Weise des mystisch orakelnden greisen SCHELLING - bis hinauf zu einer nichtseienden Allmöglichkeit - entbehrlich.

Andererseits gibt dieser Satz in seiner nächsten Anwendung auf die Atomkräfte uns den ersten festen Halt für die Vorstellung einer relativ diskreten und selbständigen Existenz; wir gewinnen an seiner Wahrheit die Grundlage für ein individuelles Urdasein, aber ebensosehr zugleich für ein urindividuelles Dasein. An ihm besitzen wir eine Grenzbestimmung für die Abhängigkeit des Einzelnen vom All-Einen; und wie damit einerseits dem farblosen Verschwimmen und breiigen Zerfließen in eine indifferente, qualitätslose und unbestimmbare präexistenzielle Substanz gewehrt ist, so ist andererseits die lebendige wechselseitige Bezogenheit des Vielen innerhalb seiner selbst, der individuellen Wesen untereinander gewahrt. Das in sich unklare, aber in seiner Unabweisbarkeit mit dem Charakter der Apriorität auftretende Bedürfnis, an die Vorstellung einer Kraft das Korrelat eines Stoffes zu heften, findet hier sein einfachstes, jeder dialektischen Anfechtung enthobenes Genüge.

SCHOPENHAUER, der überhaupt nur selten Proben seines zerlegenden Scharfsinns zu geben pflegte, weil er es mehr liebte, das intuitiv Erschaute darzulegen, als sich in kritischer Dialektik zu ergehen, ist freilich manche wünschenswerte Sonderung schuldig geblieben und namentlich mag man bei ihm ein synonymisch scharfes Auseinanderhalten von "Wille" und "Wollen" ( Voluntas  und  Volitio)  vermissen. Dennoch hat er sich dem nicht entzogen, von einem  Esse,  einer  Essentia  und einer  Existentia  des Willens und Charakters zu sprechen und wenn er dabei auch noch zu tun übrig ließ, so vermied er dafür die Gefahr, in ein "Überseiendes" hinein- und wohl gar auch noch darüber hinauszuschießen, weil es seinem nüchternen Sinn widerstrebte, mystischen und begrifflich nicht aufhellbaren Elementen Einlaß in das System selber zu gewähren, sosehr er daneben bereit blieb, deren Berechtigung jenseits der Grenzen rationaler Erkenntnis zu vertreten.

Also brauchen auch seine Anhänger den Vorwurf eines Abfalls nicht zu fürchten, wenn sie dieser nämlichen Unterscheidung für die primitivsten Willensakte, als welche von HARTMANN die Atomkräfte anerkannt hat, (2) zur Geltung verhelfen wollen. Es heißt nur die Gedanken SCHOPENHAUERs weiterführen, wenn man seinem Lieblingssatz  Operari sequitur esse  [Deine Arbeit definiert, wer du bist. - wp] den Zugang offen hält auch für die einfachsten Operationen des einfachsten Seins. Bei einem Überprimieren des Primären ist doch kein Heil zu finden; denn kaum hat man "Kräfte" und "Tätigkeiten" durch einen Damm aus einem synonymischem Spinngewebe geschieden, so heischen schon "Tun" und "Tätigkeiten" neue Trennungsgräben und wäre dieses Verlangen befriedigt, so würde der - auch hierbei seinem Grundwesen der Unersättlichkeit getreu bleibende - Wille abermals vorwärtsdrängen zu noch feinerer Ergebnissen des analysierenden Wissens und - sofort ins Unendliche.

Machen wir also, statt uns von den Wirbeln dieses logischen  pro  und  regressus in infinitum  fortreißen zu lassen, in herzhafter Selbstbescheidung erst einmal Halt vor, oder wenn man will "hinter" dem  Quid  [Was - wp] und  Quale  [wie beschaffen - wp] der  Essentia existens. 

Jeder anderen Qualität oder Kraft geht begrifflich die Kraft zu sein vorauf als ihre Voraussetzung. Aber diese seiende Kraft bleibt eine  nicht-seiende  Kraft, solange sie, jedes essentiellen Inhaltes bar, als ein  Daß  ohne  Was  dasteht. In diesem Wechselverhältnis des  Sich-gegenseitig-forderns  stellt sich wiederum das nach seinem  Wie  (Quale und Quomodo) bestimmte  So sein dem bloßen  Da sein und selbst noch dem  Das-sein (des indefiniten  Quid,  dessen abstrakte Selbstentleerung den Scholastikern in der Kategorie der Quidditas sich zu offenbaren schien) als seine  reine Bedingung  gegenüber, und die  Essentia  ergänzt als das  sine qua  (oder  quo) non  [Grundvoraussetzung - wp] der  Existentia  diese zum  realen Sein welches als vorgestelltes den Namen Realität bekommt.

So sehr nun auch von HARTMANN gegen diese Kondensation des Gedankengangs in seinem Schlußkapitel protestieren, so sehr er sich beklagen wird, das heiße sprunghaft oder gar abhackend verkürzen, nicht konzentrierend verdichten: so muß ich doch die Behauptung aufrechterhalten, daß er selber allerletzten Endes nach dem, unnütze Atemnot bereitenden, Herumklettern im wolkenkuckucksheimischen Aether plump genug hat hinunterpurzeln müssen in ein  vor-vor-seiendes Sein,  das doch derb genug ist, um auf breiten Atlas-Schultern mit den beiden weltschöpferischen Attributen: wollend und vorstellend belastet zu werden. Wozu denn erst hinaufklimmen in das überweltliche Nichts, wenn man von dort nichts herunterholt, als was man hier unten auch haben kann - nur etwas bequemer und so naheliegend, daß es von ihm nicht heißen kann: es sei "nicht weiter" - ? nämlich ein vor dem vorweltlichen Sein seiendes oder gewesenseiendes Sein, das auf ein Haar der innerweltlichen Substanz, (also wenn man diese mit SCHOPENHAUER der "Materie" identifiziert, beinahe dem erst so demonstrativ perhorreszierten [abgelehnten - wp] "Stoff") genau so ähnlich sieht, wie das HEGEL reine Sein der HEGELschen reinen Idee oder wie ein taubes Weltei dem andern; denn gerade wie HEGEL muß zuguterletzt von HARTMANN alles Aufgegebene oder "Entlassene" in das so Entleerte wieder zurücknehmen.

Einzig und allein in der Kraft zu sein ruht auch die zwingende Gewalt des Identitätsgesetzes wie des metalogischen Satzes vom Widerspruch und wir brauchen nicht erst eine Anleihe bei der HERBARTschen Lehre von der Unaufhebbarkeit des einmal "gesetzten" und damit der Vernichtung für ewig entrückten Seins (nil fit ex nihilo [Aus Nichts wird nichts. - wp]) zu kontrahieren, um von HARTMANN zur Anerkennung dieser Fundamentalwahrheit zu vermögen, da er selber den noch viel weiter greifenden, in dieser Erweiterung aber unfehlbar mißglückenden Versuch gemacht hat, das ganze  Was  der Welt aus dem Logischen herzuleiten, als woran ihm der Satz vom Widerspruch nur das Negative, wie der "absolute Zweck" das Positive ist. - Gerade das logische Postulat einer Trennung von Subjekt und Prädikat läßt sich nicht abweisen und zur Ruhe bringen mit seinen dialektisch-kritischen Fragen: ist denn die Abstoßung selber das Abstoßende und das Abgestoßene nichts als die Anziehung und  vice versa  das Anziehende nichts als die Anziehung usw.? Wer den Begriff "Stoff" eliminieren will, darf auch nicht von Kräften sprechen, sondern nur von "Tätigkeiten", denn für diese ist die "Kraft" nicht minder ein hypostasiertes [einem Gedanken gegenständliche Realität unterschieben - wp] Substrat, wie für die Kraft der Stoff und dieser kein schlechteres als jene. Und noch weniger sieht man ein, wie mit jenem Verfahren das Bekenntnis vereinbar sein soll, man akzeptiere die Konstanz der Kräfte im Sinne der neueren Physik. Für solche  absolute  Auflösung der Materie in eine Tätigkeitssumme gibt es gar keine der Existentia erst Halt und Bestand verleihende, sozusagen ihre Summe erst zusammenbindende  Essentia  - und wir behalten nichts als die  ganz  hohlen,  ganz  substanzlosen, ganz in ein negatives Verhalten zweier einander entgegengesetzter Strebungen aufgehenden Abstraktionen eines Tuns ohne irgendwelchen Täter, eines des andern Objekt und eines des andern Negativ und Motiv und  weiter gar nichts,  und doch der kaleidoskopische Mutterschoß für das ganze bunte Gespinst der realen Welt.

Nun ist es aber doch schier unbegreiflich, wie einem Schüler SCHOPENHAUERs der Hauptgewinn wieder entschlüpfen konnte, den man mit dessen metaphysischen Prinzipien schon fest in Händen hat. Gerade die Erhebung des Willens zum einzigen Weltprinzip schafft ja mit  einem  Schlag die uralte leidige Antinomie des Verhältnisses von Funktion und Funktionierendem aus der Welt, weil man sich nur jeder mutwilligen Denkzerfaserung zu enthalten hat, um im richtig verstandenen Willen die unzerstörbare Einheit beider zu besitzen. Der Wille selber als solcher ist das Wollende und ist nur qua wollender - Tun und Täter lassen sich in ihm nicht trennen, sondern sind unmittelbar und wahrhaftig ein und dasselbe - und nur dadurch, daß von HARTMANN sich auf eine nachträgliche Direktion des nur begrifflich - man möchte, um etwaige Ausbeutung des Wortes "idealiter" unmöglich zu machen, hinzusetzen: des eigentlich nur sprachlich - Unterscheidbaren einließ, brachte er sich um alle bereits errungenen Vorteile und setzte sich wieder in den Nachteil gegen alle denkbaren Schikanen eines metaphysiklosen Materialismus wie einer hypermetaphysischen Ontologie á la HEGEL.

Das Preisgeben dieses spezifischen Vorzugs des Willens vor allen anderen denkbaren Weltprinzipien hat nun aber, wie mir dünkt, sofort einen weiteren Mangel des von HARTMANNschen Systems im Gefolge, das was ich den mechanisierenden Charakter daran nennen möchte.

Diesen gewahre ich in mancherlei Eigentümlichkeiten seiner Auffassungsweise. Es ist schon bezeichnend, daß ihm die Begehrungen in der einfachen Gegensätzlichkeit ihrer bald negativen bald positiven Natur eigentlich nichts sind als Willens richtungen.  So überträgt er in formalistischer Weise die Geradlinigkeit physikalischer Kraftfunktionen ohne weiteres auf die Wirkungsbilder höherer Daseinsstufen. Der Wille selber, wo er als Gesamtwille eines Individuums erscheint und beurteilt werden soll, ist ihm die bloße Resultante seiner Strebungen, und diese haben nur das relative, man kann sagen: interimistische, Interesse von Komponenten, mithin keine Selbstgeltung. (3) Desgleichen ist es bei der Betrachtung des organisierten Lebens ein beliebter Ausdruck, von der Anlegung erleichternder, einfürallemal fertiger und paratstehender Hilfsmechanismen zu sprechen - und schließlich muß immer das liebe Unbewußte als ein wahrer  Deus ex machina  [Gott aus der Maschine - wp] ins Mittel treten, um allen Verlegenheiten ein Ende zu machen, die in ihm, wie in einen unendlich weiten Sack hineingeschoben, sämtlich Platz finden. Oder sollte nicht jeder unbefangene Leser den Eindruck wie von einem nachhelfenden, das, was er selber verpfuscht hat, ausflickenden Demiurgen bekommen, wenn so oft von einem unmittelbaren, an halbverschollene Wundertheorien gemahnenden Eingreifen des All-Einen Unbewußten die Rede ist. Dem entsprechend wird an anderen Stellen vorsichtig über alles hinweggeschlüpft, was eine Gegeninstanz abgeben könnte gegen die ebenso nachdrücklich behauptete, wie schwach bewiesene Allweisheit des Unbewußten - denn von einem Räderwerk, welches jeden Augenblick infolge "äußerer Umstände", die doch ebensosehr für ein Werk des Unbewußten müßten angesehen werden, der Ausbesserung bedürftig ist, will es nicht recht einleuchten, daß es für eine Verwirklichung des "Logischen" als des "absolut Vernünftigen" könnte ausgegeben werden.
LITERATUR - Julius Bahnsen, Zum Verhältnis zwischen Wille und Motiv [eine metaphysische Voruntersuchung zur Charakterologie], Stolp und Lauenburg 1870
    Anmerkungen
    1) Vgl. Beiträge zur Charakterologie. Mit besonderer Berücksichtigung pädagogischer Fragen, 2 Bde., Leipzig, F. A. Brockhaus, 1867
    2) Käme es mir darauf an, bei meinem Konsens an diesem Punkt meine Priorität zu behaupten, so brauchte ich nur auf Andeutungen von hinlänglicher Bestimmtheit zu verweisen, die sich u. a. an Stellen wie: Beiträge zur Charakterologie I, Seite 163f, 204, 263 - 267 finden.
    3) Dabei wird wieder ein arger Mißbrauch mit Homonymien getrieben, so wenig "Wille" und "Entschluß" wie Velleität und "reelle" Absicht auseinander gehalten. Und wie, wenn sich zwei Begehrungen oder Strebungen zueinander verhalten, wie eine rein chemische oder eine rein mechanische Kraft? Dann können sie sich doch nicht zu einer Resultante ausgleichen, so wenig wie Wasser, das nach der einen Seite mittels eines mechanischen Vorgangs ausgegossen wird und nach der entgegengesetzten Seite zu einem chemischen Prozeß herangezogen werden soll, ansich eine "Resultante" von Komponenten darstellen kann. Warum aber sollten Liebe und Ehre, Pietät und Amor, und andere Strebungen sich nicht bei einem Konflikt verschiedener Motive innerhalb eines und desselben Willens in einer, jener analogen Weise zueinander verhalten können? (Die Tatsache der sogenannten gemischten Gefühle spricht dafür). Der Gegensatz erledigt sich eben nicht allemal mit dem simplen Aut-Aut [entweder-oder; wp] eines Ja oder Nein. Das einzelne Motiv freilich richtet an uns die Frage: willst du das oder willst du das nicht? aber indem es die weitere Frage einschließt: und unter welchen Bedingungen das eine oder das andere? zeigt es bereits, daß es in seiner Isolierung eine unhaltbare Position hat, sofern sich allemal andere Motive mit ihm in Konkurrenz befinden. Und selbst wer vor dem Ja oder Nein eines Entschlusses steht, bekommt vom eigenen Willen oft nichts als ein suspensives Votum oder eine Entscheidungsenthaltung zur Antwort, weil der Wille eben nicht die Verneinung einer Strebung will, welche von der Bejahung der gerade zunächst vorliegenden mit eingeschlossen sein würde. Heterogene Strebungen d. h. solche, die nicht in simpel mechanischer Relation zueinander stehen, können einander auch nicht so unterdrücken, daß nur ein Verbrauch oder Binden der dazu erforderlichen Kraft einträte, sondern sie bleiben selbständig, unverschmolzen, nebeneinander bestehen, ohne sich zu einer einheitlichen "Resultante" zu komponieren. Derjenige "Wille" aber, der sich als "Wirkung" zu einer Lust- oder Unlustvorstellung als seiner Ursache verhält, ist streng genommen kein "Wille", sondern nur eine wachgewordene, ins Bewußtsein getretene Neigung, ein geweckter Hang, mit  einem  Wort selber nur eine "Begehrung", also im Sinne von HARTMANNs vorläufig selber nur Komponente, nicht Resultante, geschweige Resultat, als welches erst die Tat ergibt, d. h. welches erst in der Tat erkannt wird. Da hat dann das Motiv abermals nur gedient, längst als ein Ansich Vorhandengewesenes in die subjektive Existenz eines Fürsichselberseins zu versetzen, d. h. zu einem Erscheinenden zu machen, an ihm den Zustand des Erscheinens bewirkt.