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OTTO WILLMAN
Der Nominalismus der Sophisten

"Die Sophistik ist eine Scheinweisheit, die in Wahrheit keine ist und der Sophist ist ein Mann, der mit dieser Scheinweisheit, die keine ist, Geschäfte macht. So ist auch ihre Weisheitslehre nur Schein, sie priesen in Prunkreden die Tugend, ja warfen sich zu Lehrern derselben auf, nicht ohne Ausbeutung des Doppelsinns von  arete,  welches zugleich Tugend und Fertigkeit und von  deinos,  das zugleich tüchtig und imponierend heißt. Der Bezugspunkt der Weisheit und Tugend lag ihnen im Vorteil, in der Macht, in der Lust."

"Die Dispute der Sophisten drehten sich nur um Worte; und wenn bei einer ernsten Debatte der Gedanke das Maß der Worte ist, so war bei ihnen das Wort, der Name das Maß des Gedankens, eine notwendige Folge der Lehre, daß der Mensch das Maß der Dinge sei. Die Vielheit der Sprachen konnte ihnen leicht als Argument dafür dienen, daß die Sprache nicht  physei  sei, wie Heraklit und Pythagoras gelehrt hatten, sondern  nomoi,  Sache der Einsetzung, willkürliche Form für einen willkürlichen Inhalt."

"Man ist berechtigt, die Sophisten wegen ihrer Leugnung eines den Worten und Namen objektiv zugrunde liegenden gedanklichen Inhaltes als die ersten Vertreter des  Nominalismus  zu bezeichnen. Gewöhnlich gelten die Stoiker als solche, da sie die Allgemeinbegriffe für bloße Namen, denen in der Außenwelt nichts entspräche, erklärten. Das Wesentliche des Nominalismus ist aber nicht die Leugnung der objektiven Geltung der Allgemeinbegriffe, sondern die des objektiven Korrelats des Gedankens überhaupt, die Beschränkung des Gedanklichen auf die psychische Tätigkeit, welche ihm im Namen ihren Stempel aufdrückt."

1. Friedlose Viel-Lernerei, von lahmem Denken ungenügend geregelt und noch weniger durch sittliche Ziele gebunden, also das Widerspiel der Weisheit und einer ihren Namen verdienenden Philosophie, charakterisiert nicht bloß DEMOKRIT, sondern noch mehr die  Sophisten,  die eigentlichen Wortführer des Geistes der sittlichen und geistigen Erschlaffung, welche den Aufschwung des materiellen Wohlstandes der griechischen Städte nach den Perserkriegen begleitete. Man hat sie passen die  Aufklärer  des alten Griechenlands genannt und mit den französischen Enzyklopädisten verglichen. Aufklärung als Bezeichnung einer im vorigen Jahrhundert weithin herrschenden Geistesrichtung, ist Klärung dessen, was oben auf  liegt, um den Preis der Verunklärung des unter der Oberfläche Verborgenen, Förderung des flachen Räsonnements, durch welches das autonome Subjekt im allem fertig wird und Hinwegdisputieren der Grundlagen, welche die geistige Arbeit in der Tradition, der Religion, der Autorität und dem Sittengesetz besitzt.

Um für ihr Willkürtreiben Raum zu bekommen, untergruben die sophistischen Aufklärer alle  Grundlagen des altgriechischen Ethos,  aus dem doch die Nation die Kraft zu den großen Taten in den Perserkriegen gesogen hatte; vorab die  Religion  und  die gesetzhafte Theologie.  "Alle Schattierungen religiöser Freigeisterei treten uns in der sophistischen Literatur entgegen, von einem vorsichtigen Skeptizismus eines PROTAGORAS, der von den Göttern nichts zu wissen erklärte, zu den anthropologischen und naturalistischen Erklärungen des Götterglaubens bei KRITIAS und PRODIKOS, endlich bis zum ausgesprochenen Atheismus eines DIAGORAS von Melos". (1) PROTAGORAS begann seine der religiösen Aufklärung dienende Schrift mit den Worten: "Von den Göttern bin ich nicht in der Lage zu wissen, ob sie sind, oder ob sie nicht sind; denn vieles hindert, solches zu wissen: die Dunkelheit des Gegenstandes und die Kürze des Menschenlebens." Die Behörde Athens aber nahm dieser neuen Weisheit gegenüber den Standpunkt des ZALEUKOS ein, wies den starken Geist aus, ließ durch Herolde alle verkauften Exemplare des Buches eintreiben und verbrannte sie auf dem Markt. Die Verschiedenheit der Religionen bot den Sophisten die willkommene Handhabe, dieselben als lokalen Gesetzgebungen entstammend hinzustellen. "Die Götter", lehrten sie, "seien Kunstprodukte (techne), nicht von Natur (physei), sondern durch Gesetze (nomois) eingeführt, die einen hier, andere anderswo, je nachdem sich die Gesetzgeber darüber verständigten."

Für die gesetzhafte Theologie hatten schon die Physiker das Verständnis verloren, aber doch mit der mystisch-physischen Gotteslehre Fühlung bewahrt, indem ihre  arche  [Urprinzip - wp] immer noch Züge einer innen-weltlichen Gottheit trägt; ihr Grundgedanke, daß ein Einiges im Vielen, ein Ewiges im Wechsel bestehe, ist von Haus aus ein religiöser; die Sophisten lösen auch diesen Zusammenhang. Mit der Lehre des GORGIAS, daß überhaupt nichts existiere, ist auch der letzte Rest der Vorstellung eines anfänglichen Seins beseitigt. Ebenso wird aber auch die Mystenlehre von der Unsterblichkeit weggeschaft; PROTAGORAS leugnet die Substanzialität der Seele, die nichts "neben ihren Empfindungen sei", also lediglich "ein Bündel von Vorstellungen", wie ein moderner Gesinnungsgenosse des Sophisten sich ausdrückte.

Die  sakralen Disziplinen  kommen für die Sophisten nur als Felder der Polymathie [Vielwisserei - wp], als Nahrungsmittel des vielgeschäftigen Interesses in Betracht. Die Mathematik war ihnen zu dornig; bequemer als ihr Studium war die Behauptung, daß ihre Sätze weniger wert seien, als die Regeln für die Zimmerer und Schuster, weil sie nicht Anweisung gibt, etwas korrekt zu machen. Auch die ernstere Naturforschung ließen sie beiseite und GORGIAS sprach ihr jeden Wert ab. Dagegen waren ihnen naturkundliche und ebenso historische Dinge als Stoff zu populären Prunkreden willkommen. HIPPIAS erlaubte sich über die mathematischen Disziplinen, die Geschichte der Heroen und der Städtegründungen, so wie über Archäologie Vorträge zu halten, zugleich aber Anweisungen zur Anfertigung von Schuhen und Kleidern zu geben.

Daß den Sophisten jeder  historische  Sinn abgeht, liegt in der Natur ihrer Geistesrichtung; die Aufklärung ist immer ungeschichtlich, weil sie in jeder Tradition eine Fessel der Selbstbestimmung des Individuums erblickt. Aber sie verschmäht es nicht, die Geschichte in ihrem Sinn zu deuten oder zu fälschen. So verfuhren die Sophisten mit der Urgeschichte, deren schwankende Tradition der Phantasei ohnehin Spielraum gab. Besonders ragt KRITIAS hervor durch die Schilderung der Urmenschen, die nach Art der Tiere lebten, bis kluge Leute die Gesetze ersannen und noch größere Schlauköpfe zur Ergänzung der Gesetze den Glauben an Götter erfanden, auch ein Lieblingsthema der Aufklärer des vorigen Jahrhunderts, wie auch die Neigung, den Menschen als subliemiertes Tier zu fassen, sich immer einstellt, wo die Vorstellung von der Menschenwürde und deren Grund in Gott verdunkelt ist.

2. Den Sophisten stand nicht an, ein derartiges Wissen als  Weisheit  zu preisen, wie ja ihr Name selbst an den des Weisen anklingt und früher mit  sophos  gleichbedeutend gebraucht wurde. Ihr wirkliches Verhältnis zur Weisheit hat PLATON an vielen Stellen seiner Dialoge ans Licht gezogen und ARISTOTELES schlagend dahin bestimmt: "Die Sophistik ist eine Scheinweisheit, die in Wahrheit keine ist und der Sophist ist ein Mann, der mit dieser Scheinweisheit, die keine ist, Geschäfte macht." So ist auch ihre Weisheitslehre nur Schein, sie priesen in Prunkreden die Tugend, ja warfen sich zu Lehrern derselben auf, nicht ohne Ausbeutung des Doppelsinns von  arete,  welches zugleich Tugend und Fertigkeit und von  deinos,  das zugleich tüchtig und imponierend heißt. Der Bezugspunkt der Weisheit und Tugend lag ihnen im Vorteil, der Macht, der Lust.

Wie bei der Religion, so machten sie auch bei der  Sittlichkeit  das gesetzhafte Element zur Zielscheibe ihrer Angriffe und zwar mit denselben Gründen. Die Gesetze sind verschieden an verschiedenen Orten und zu verschiedener Zeit, daher lediglich Produkt der Gesetzgeber (nomoi), nicht aber  physei,  von Natur, d. i. in der Natur des Menschen und der Verhältnisse begründet. Ein göttliches oder Naturgesetz müßte unwandelbar und sich selbst gleich sein, meinte HIPPIAS; derartiges ist aber nirgendwo anzutreffen, also bloße Einbildung. Was man Recht nennt, lehrte THRASYMACHOS, sei von den Machthabern erfunden und seine Unverbrüchlickeit werde den Untertanen lediglich vorgeredet, um sie botmäßig zu halten.

Mit dem Gegensatz von  nomoi  und  physei  operierten die Sophisten auch, um die Gültigkeit von  Erkenntnis  zu bestreiten, wie ja auch DEMOKRIT gelehrt hatte, daß die Wahrnehmungen  nomoi  seien. PROTAGORAS nimmt die heraklitische Lehre vom Fluß der Dinge und der Eindrücke auf und kommt zu dem bekannten Satz, mit dem er eine seiner Schriften eröffnete: "Aller Dinge Maß ist der Mensch, den seienden mißt er das Sein, den nichtseienden das Nichtsein zu". Ebenso lehrte er, daß alles wahr sei und in diesem Sinne sagte EUTHYDEMOS, die Wahrheit gehöre zum Relativen, alles komme allem zu; man könne nicht irren, denn auch das falsch Gedachte sei als wirklich gedacht auch seiend.

Nach Beseitigung des Erkenntnisinhaltes behielt sich die Sophistik das ausleerte  Wort,  statt der Dinge  Namen  zurück. Daß die endlichen Dinge bloßes Namenwerk seien, hatten schon die Eleaten gelehrt: "Nur in der Meinung war, ist und wird in Zukunft sein, was die Menschen mit Namen, ein jedes bezeichnend, belegt haben", ganz wie die Vedantisten, denen die Umwandlung des All-Einen zu Einzeldingen "nur auf Worten beruhend, ein bloßer Name" galt. (2) Für die Sophisten fiel nun auch das All-Eine weg und so blieb bloß der Name übrig. Ihre Dispute drehten sich nur um Worte; und wenn bei einer ernsten Debatte der Gedanke das Maß der Worte ist, so war bei ihnen das Wort, der Name das Maß des Gedankens, eine notwendige Folge der Lehre, daß der Mensch das Maß der Dinge sei. Die Vielheit der Sprachen konnte ihnen leicht als Argument dafür dienen, daß die Sprache nicht  physei  sei, wie HERAKLIT und PYTHAGORAS gelehrt hatten, sondern  nomoi,  Sache der Einsetzung, willkürliche Form für einen willkürlichen Inhalt.

Man ist berechtigt, die Sophisten wegen ihrer Leugnung eines den Worten und Namen objektiv zugrunde liegenden gedanklichen Inhaltes als die ersten Vertreter des  Nominalismus  zu bezeichnen. Gewöhnlich gelten die Stoiker als solche, da sie die Allgemeinbegriffe für bloße Namen, denen in der Außenwelt nichts entspräche, erklärten. Das Wesentliche des Nominalismus ist aber nicht die Leugnung der objektiven Geltung der Allgemeinbegriffe, sondern die des objektiven Korrelats des Gedankens überhaupt, die Beschränkung des Gedanklichen auf die psychische Tätigkeit, welche ihm im Namen ihren Stempel aufdrückt.

Der Nominalismus in diesem Sinn ist aber der die Denkrichtung der Sophisten am meisten bezeichnende Ausdruck. Sie machen alles zum bloßen Produkt der psychischen Tätigkeit, zu Bewußtseinszuständen: Glaubensinhalt, Recht, Sittlichkeit, Weisheit und Wahrheit und bilden darin den vollen Gegensatz zum Idealismus, der nicht bloß für die genannten, sondern für alle Denkinhalte ein dem psychischen Akt korrelates Objektiv-Gedankliches setzt und darin das Maß jenes Aktes erblickt.

Daß die tieferblickenden Zeitgenossen in diesem Nominalismus den eigentlichen Nerv der Sophistik sehen, zeigt der Umstand, daß SOKRATES gerade gegen ihn seine Angriffe richtete, indem er bei seiner dialogischen Untersuchungen stets auf die Feststellung des in der Sache liegenden Gedanklichen ausging, wodurch er Begründer der Definition und des logischen Realismus wurde. Dieser ist sozusagen die Antwort der idealistischen Gesinnung auf die Versuche der Sophistik, die Realität des Gedanklichen zu verflüchtigen.

3. Den älteren Physikern, gleichwie der Denkrichtung des HERAKLIT und der der Eleaten, war die negierende Tendenz der Sophistik fremd, aber ihre in Subjektivismus ausgehende Mystik ließ sie auf einen Boden geraten, auf dem sie die Beute jener werden mußten. Die konsequente Durchführung eines materiellen Prinzips, die Lehre vom ewigen Fluß und die Anschauung von der Richtigkeit der Sinnenwelt mußten in einen Subjektivismus auslaufen, den die Sophisten zu ihrem Lebenselement machten. Einen festen Standort außerhalb des Wirbels der Begriffe, in den das griechische Denken geraten war, bot nur der Pythagorismus dar. Allein dieser war nicht geneigt, aus seiner würdevollen Abgeschlossenheit herauszutreten, um den Kampf mit den eristischen [zwieträchtigen - wp] Raufbolden aufzunehmen. Wer diesen gegenübertreten wollte, mußte ihre Sprache reden, sie auf dem eigenen Boden aufsuchen, in ihren eigenen Trugschlüssen fangen. Das war die Aufgabe, welcher sich SOKRATES unterzog, mit dem die planmäßige Reaktion gegen die Sophistik, die Restauration des griechischen Ethos und der ihm verwandten Philosophie ihren Anfang nahm.

Allein es dürfen doch auch die Vorarbeiten zu diesem Restaurationswerk nicht vergessen werden, welche Männern zu danken sind, die nicht dem Kreis der Philosophen angehören, deren geistiges Schaffen aber den Bessergesinnten einen Rückhalt gegen die Modetorheit gewährt. Im weiteren Sinne gehören die großen  Dichter  der griechischen Blütezeit hierher. Von den Dichtungsarten boten besonders die chorische Lyrik und die Tragödie Gelegenheit, den alten Glauben und die Weisheit der Vorzeit zu Worte kommen zu lassen; aber auch die Komödie konnten hochgesinnte Dichter in ähnlicher Weise in den Dienst der guten Sache stellen. So bekämpfte ARISTOPHANES die Sophisten, indem er, freilich unbilligerweise, ihren Gegner SOKRATES als ihren Repräsentanten hinstellte. Ein ungenannter Dichter sprach von kläffenden Hunden, leerem Gerede der Toren, von einer Rotte der Klügler, welche ZEUS bewältigen wollten. Schon früher hatte EPICHARMOS, der syrakusische Komödiendichter, Zeitgenosse GELONs und HIERONs, dem Dialog durch philosophische Gedanken Gewicht verliehen. Er führt einen Eleaten und einen Herakliteer disputierend vor und entscheidet, wie es scheint, die behandelte Streitfrage in pythagoreischem Sinne; wenigstens wird auf die Zahlen- und Maßverhältnisse hingewiesen. In einem anderen Fragment spricht er von einem  sophon,  an welchem nicht bloß der Mensch, sondern vermöge ihres Instinktes auch die Tiere Anteil haben, während die Natur allein wisse, wie es damit bestellt ist. Am bedeutendsten aber ist ein kleiner uns erhaltener Dialog, in welchem die geistigen Güter als ein ansich seiendes Gedankliches bezeichnet werden, in Wendungen, die platonische Ausdrücke vorweg zu nehmen scheinen, deren Quelle aber ohne Frage die pythagoreische Lehre ist. Es heißt dort:
    "Ist das Flötenspiel etwas?" - "Gewiß." - "Also ist das Flötenspiel ein Mensch?" - "Das nicht." - "Laß mich zusehen! Was ist der Flötenspieler? Was scheint er dir zu sein? Ein Mensch, oder etwa nicht?" - "Gewiß." - "Meinst du nun nicht, daß es sich so mit jedem Gut verhält, daß es nämlich etwas für sich sei und der welcher es erlernt und versteht, ein Guter (Tüchtiger, Meister) wird? wenn der Flötenspieler das Flötenspiel lernt, der Täner den Tanz, der Flechter die Flechtkunst oder sonst einer was für eine Kunst auch immer, so ist er nicht die Kunst, wohl aber ein Künstler."
Hier werden die geistigen Inhalte als etwas für sich Subsistentes gekennzeichnet, an dem der Mensch Anteil erhält, in vollem Gegensatz zu der später von den Sophisten vorgenommenen Auflösung der geistigen Inhalte in bloße Bewußtseinszustände. EPICHARMOS nimmt hier die Partei des logischen Realismus d. h. des Idealismus und zwar, wie man wohl annehmen muß, gegenüber nominalistischen Anschauungen, die vor Beginn des Dialogfragments ausgesprochen worden waren.

Bei den älteren Pythagoreern finden wir wohl die Vorstellung, daß geistige Bestimmtheiten durch Anteil an objektiv gedachten geistigen Gütern gewonnen werden, nicht ausdrücklich ausgesprochen, aber sie ist im Grunde in der Lehre eingeschlossen, daß alles Wirkliche auf Nachahmung,  mimesis,  gedanklicher Vorbilder beruth, da im Nachahmen ein wie immer gedachtes Teilhaben am Vorbild gesetzt ist.

Derartige Äußerungen EPICHARMOS' sind ein Fall von Popularisierung pythagoreischer Gedanken, von Fermenten der idealistischen Weltanschauung unter die Massen geworfen. Aber von da ist noch weit bis zur planmäßig durchgeführten Vertretung der idealen Güter, wie sie das Verdienst des SOKRATES ist.

Daß er der Erste war, der die Sophisten mit ihren Waffen auf ihrem Boden bekämpfte, bildet seinen Ruhm; aber es ist auch nicht zu verkennen, daß er den Kampf und die Restauration nur eröffnete und weder seine Waffen, noch jener Boden zum endgültigen Abschluß beider geeignet waren. SOKRATES bekämpft die Aufklärer durch bessere Aufklärungen, aber er überwindet das Moment des Subjektivismus, das der Aufklärung anhaftet, nicht vollständig.

4. Enge Verknüpfung des intellektuellen und des ethischen Moments charakterisiert SOKRATES und sie befähigt ihn zum Vorkämpfer für den Idealismus. "Er betrachtete," sagt ARISTOTELES, "das Sittliche mit Beseitlassung der Gesamt-Natur; er suchte in jenem das Allgemeine und wendete sein Nachdenken der Aufstellung von Begriffsbestimmungen zu." "Über die Tugenden nachforschend und allgemeine Begriffe dafür suchend, wurde er auf die Frage nach dem Wesen geführt. Er wollte Schlüsse bilden; für den Schluß ist aber die Bestimmung des Wesens die Grundlage ... Zweierlei kann man SOKRATES mit Recht zusprechen: die induktiven Untersuchungen und die allgemeinen Begriffsbestimmungen, was beides zu den Grundlagen der Wissenschaft gehört."

Auch den Pythagoreern räum ARISTOTELES ein, zuerst Wesensbestimmungen aufgestellt zu haben, nur hätten sie sich die Sache zu leicht gemacht, indem sie den Begriff mit einer Zahl in Beziehung brachten und dann diese als das Wesen der Sache erklärten. Ihre Definitionen schlossen vorschnell den Begriff an das intelligible Netz der Größenverhältnisse an, in welchen sie den idealen Zusammenhang der Dinge fanden und so versäumten sie, das Spezifische desselben zu untersuchen.

Von den kosmischen Zusammenhängen, denen die Pythagoreer nachgingen, sah nun SOKRATES vollständig ab und verlegte den Standpunkt der Betrachtung in die Alltagssphäre, indem er in seinen Unterredungen vom Gesichtskreis der Mitunterredner ausging, möglichst mannigfaltige Fälle des gesuchten Verhältnisses verglich, sich des am meisten Zugestandenen versicherte und dann in den so gewonnenen Schattenriß des Gegenstandes, der noch immer der  doxa  [Meinung - wp] angehört, die festen Striche der Definition hineinzeichnete, die erst das Wissen enthält. Bei diesem Verfahren mußte er auf jene beiden analytischen Formen der Untersuchung stoßen: die Induktion und die Definition, während die Pythagoreer ein noch ungeregeltes synthetisches Verfahren einschlugen, indem sie von ihren Größenverhältnissen aus deduzierend und determinierend vorgingen.

Die ausgedrückte Unterscheidung von Meinung und Wissen treffen wir zwar nur beim platonischen SOKRATES an, aber sie ist auch dem historischen zuzusprechen, weil sie uns in der ganzen sokratischen Schule (3) begegnet. Schon früher wurde sie von den Eleaten aufgestellt und auf das strengste durchgeführt. Aber die Art, wie SOKRATES Meinen und Wissen unterscheidet, ist eine wesentlich andere, als der von den Eleaten eingeführte Gegensatz. Bei diesen ist die Sinnenwelt Erzeugnis der Meinung, das absolute, einfache Sein Gegenstand des Wissens, d. i. der Intuition und beide stehen einander unvermittelt gegenüber. Bei SOKRATES liegt in jeder Meinung ein Kern, der den Gegenstand des Wissens bilden kann und nur herausgearbeitet zu werden braucht; er ist das in die Form der Definition zu fassende Wesen der Sache, der  reale  Begriff, das spezifische  sophon  derselben. Der Wissensinhalt inst also hier immanent, nicht transzendent wie bei den Eleaten. Eine solche Auffassung setzt natürlich das Nachdenken, Forschen, Erörtern ganz anders in Bewegung als jene andere und es bedurfte derselben, um dem Denken Geschmeidigkeit und Vielseitigkeit zu geben und für die Denkkunst, die Dialektik und die Denklehre, die Logik, die Voraussetzungen zu schaffen.

Insofern ist SOKRATES der Begründer beider philosophischer Disziplinen und doch liegt in seiner Auffassung und seinen Verfahren noch etwas Unbefriedigndes, weil Unbefriedigtes. Der Erkenntnisgehalt ist bei ihm noch nicht losgelöst von der darauf gerichteten Arbeit und es tritt darum das Erarbeitete nicht endgültig heraus. Er erklärt, nichts lehren zu wollen, sondern nur die Erkenntnis zu entbinden; seine Dialektik ist geistige Hebammenkunst. Er kennt nur gemeinsames Suchen und Durchsprechen, ein immer neues Erarbeiten des Wissens, keine Ansammlung und noch weniger eine Systematisierung desselben. Er erklärt, um Belehrung angegangen, er wisse Nichts und hat in gewissem Sinne Recht, da seine sporadische Erkenntnisarbeit nicht an der Wissenschaft ihr endgültiges Objekt sucht. So bleiben auch seine Definitionen oder Wesensbestimmungen unverbunden, gleichsam Atome des Erkenntnisinhaltes. Die Vorstellung, daß zum Erkenntniserwerb auch Überlieferung definitiv gewonnener Erkenntnisse erforderlich sei, also eigentliches Lehren und Lernen, liegt ihm fern; von einem Wissensschatz, an dem Generationen arbeiten oder gar von einer Erbweisheit weiß er nichts und in dieser ungeschichtlichen Auffassung der menschlichen Erkenntnisarbeit liegt seine Verwandtschaft mit den Sophisten und der Aufklärung. Diese erklären das Überlieferte für überhaupt wertlos und zur Beseitigung reif, er entzieht sich der Anerkennung desselben durch sein Vorschützen des Nichtwissens; für den Wert der Überlieferung fehlt beiden das Verständnis.

5. Analoge Licht- und Schattenseiten hat die sokratische  Weisheitslehre  und  Ethik.  SOKRATES erneuert die den Physikern und den Sophisten verloren gegangene Weisheitsidee. Er gibt allem Wissen einen sittlichen Beziehungspunkt; darum läßt er die Physik beiseite, weil er nicht absieht, wie ihre Lehren den Menschen zur Selbsterkenntnis leiten und besser machen sollen. Auch die Mythengeschichte aus an. PLATON läßt ihn, gewiß in dem Sinne des historischen SOKRATES, sagen: "Ich habe keine Zeit für Mythologeme; der Grund aber ist der: ich bin noch nicht so weit, die delphische Vorschrift, mich selbst zu erkennen, zu erfüllen und da scheint es mir lächerlich, so lange ich darin unwissend bin, fremde Dinge zu erforschen; darum lasse ich derartiges auf sich beruhen und schließe mich den gangbaren Ansichten darüber an; nicht solche Dinge erforsche ich, sondern mich selbst, ob ich etwa ein Ungeheuer bin, noch vielgestaltiger und qualmverhüllter als TYPHON [Riese mit 100 Schlangenköpfen - wp] oder ein zahmeres und unschuldigeres Geschöpf, das an göttlichem und lichtem Wesen Anteil hat." Darin spricht sich sein immer waches, gleichsam allgegenwärtiges sittliches Bewußtsein treffend aus, aber es ist doch nicht zu verkennen, daß bei diesem ausschließlichen Streben nach Selbsterkenntnis und Selbstvervollkommnung die Basis der Sittlichkeit wider ihre Natur verengert wird. Gerade das Beispiel von TYPHON kann zeigen, daß die Mythen dem der Erforschung und Betätigung des Guten sich weihenden Weisen manchen Fingerzeig zu geben vermögen. Jener TYPHON ist das böse Prinzip, welches OSIRIS, dem Erben des AGATHODÄMON, gegenübertritt; er ist böse geworden durch Verführung, also ein gefallener Dämon, der von der Frucht der Vergänglichkeit gekostet hat und er verführt wieder die Dämonen zum Kampf gegen die lichte Welt des Segens, welche OSIRIS und ISIS darstellen. Darin liegt eine ganze Reihe sittlicher Verhältnisse, die der Weise zu durchdenken allen Grund hat; die schließliche Anwendung des Mythos auf das eigene Innere darf freilich auch nicht fehlen, aber die alten Weisen, die den Mythos geprägt, wußten auch das. Die Abkehrung der sokratischen Weisheitslehre von der Theologie wurde im Altertum oft gerügt, so in der Erzählung des ARISTOXENES, es sei ein Inder nach Athen gekommen, habe SOKRATES kennen gelernt und gefragt, worüber er philosophiere; als dieser antwortet, er forsche über das menschliche Leben, habe der Inder gelacht und gesagt, niemand könne die menschlichen Dinge erkennen, wenn er nichts von den göttlichen wisse.

Ebenso ungerechtfertigt wie die Ablehnung der physischen Theologie ist auch die der Physik. SOKRATES' vielfache analytische Anläufe zur Bestimmung des Wesens der Dinge würden an den synthetischen Richtlinien einer homogenen, d. h. idealistischen Naturerklärung einen Halt- und Sammelpunkt gefunden haben und es wäre, bei der Verflechtung der natürlichen und der sittlichen Welt, von Seiten der Natur auch der Lebensbetrachtung Zuwachs gekommen. SOKRATES sagte freilich, Bäume seien ihm weniger lieb als Menschen, weil er sich nur mit diesen unterreden könne; es ging ihm auch der Natursinn, wie der Hang zum einsamen Denken ab, der anderwärts die Weisen in die Wälder lockte.

Zwar fehlt seiner Natur, so gewiß sie eine philosophische war, nicht ein intuitiver und selbst mystischer Zug, aber auch dieser führt ihn nur in die Innenwelt. Sein  Dämonium,  eine innere Stimme, sagte ihm von Zeit zu Zeit, was er tun und lassen soll. Der mystischen Theologie der Griechen und selbst ihrem Volksglauben ist die Vorstellung von einem solchen Schutzgeist, wie sie bei den Persern in der Feruerlehre die reichste Ausbildung erfahren hatte, durchaus nicht fremd. Wenn SOKRATES' Anhänger dennoch dessen Glauben an das Dämonium zu einem Hauptpunkt der Anklage machten, weil er damit neue Gottheiten einführe, welche die politische Theologie nicht kennt, so erhellt sich daraus, daß SOKRATES dem Glauben an den Schutzgeist eine fremdartige Wendung gegeben haben muß, die nur die individualistische gewesen sein kann, daß er sich einen ihm vorbehaltenen Verkehr mit der Gottheit zuschrieb. Den Mysten mußte es zudem anstößig sein, daß sich SOKRATES ihr Lehrstück vom Schutzgeist aneignete, ohne in die Mysterien eingeweiht zu sein und deren übrige Lehren anzunehmen, worin sie nur ein willkürliches Schalten mit den heiligen Überlieferungen erblicken konnten, eine Ansicht, die nicht eben unberechtigt war. Sicher muß SOKRATES' theologische Inkorrektheit bei seiner Verurteilung schwer ins Gewicht gefallen sein, da nicht einmal das Urteil des delphischen APOLLO, das ihn als den weisesten Griechen erklärte und das seine Verteidiger geltend machten, ein genügendes Gegengewicht bilden konnte. Oder hatte der Name des  sophos  wie der des  sophistes  schon seinen Vollklang verloren und wurde in ihm nicht mehr die Eusebie [Gottesfurcht - wp] eingeschlossen gedacht?

Im Kampf gegen die Sophistik mußte SOKRATES auch zu den Fragen nach dem Ursprung des  Rechts  und dem Wesen der Gerechtigkeit Stellung nehmen. Er tritt im Sinne des Grundgedankens der gesetzhaften Theologie für den göttlichen Ursprung des Rechts ein, welches er auf die ungeschriebene Gesetze, die von den Göttern stammen und in jedem Land dasselbe gebieten, zurückführt. Auf ihnen fußt die Autorität der Staatsgesetze: das Gesetzhafte ist das Gerechte, so daß das Gerechte nich bloß als  physei  gegeben, sondern als abgeleitet von den  thesmoi  [gesetztes Recht - wp] erkannt wird, im Sinne der Pythagoreer. Im platonischen KRITON führt SOKRATES die Gesetze redend ein und läßt sie der  Güter  gedenken, welche sie dem Leben des Einzelnen unausgesetzt spenden. Ihr Ethos erscheint so als eine über dem Individuum stehende, fast persönliche Segensmacht.

So scheint das gesetzhafte Element in der sokratischen Weisheitslehre Gewicht genug zu erhalten, um die Tendenz auf die individuelle Vervollkommnung zu ergänzen. Allein es ist doch nicht so. Wir erfahren nicht, wie die ungeschriebenen und die geschriebenen Gesetze dem Innenleben die Richtlinien vorzeichnen und der Bemühung der Selbsterforschung und Selbstvervollkommnung einen unzweideutigen Zielpunkt gewähren. Die subjektive Sittlichkeit assimiliert die objektive nicht zur Genüge; der Weise ist korrekt in der Einhaltung der Gesetze, aber er verinnerlicht sie nicht; im Innern hat jenes Selbst, an dem er forschend und vervollkommnend arbeitet, hat das Dämonium doch die erste Stimme.

6. Mit diesem Äußerlichbleiben des gesetzhaften Elementes der Sittlichkeit hängt nun der  Intellektualismus  der sokratischen Ethik zusammen. Die innere Konformierung an das Gesetz, welche die Tugend der Gerechtigkeit bildet, hat keinen besonderen Platz im Ganzen der Tugend, sondern dieses wird in der Weisheit, ja noch enger im Wissen, der Erkenntnis gesucht. ARISTOTELES konnte sagen: "SOKRATES hielt die Tugenden für Wissenschaften", so daß ihm das Wissen von der Gerechtigkeit dem Gerechtsein gleich galt." Das Wissen sah er als die Macht an, welche die Begierde zu bewältigen vermöge; alle Tugend ist Wissenschaft, weil es ohne Wissen kein Handeln gibt; tapfer und gerecht handeln ist ohne Wert, wenn es nicht aus der Selbstbestimmung der Vernunft erfließt. Wissentlich Unrecht tun, ist besser als unwissentlich, weil doch ein Ansatz zum Wissen darin liegt und vollständiges Wissen das Unrechttun ausschließen würde. Mit vollem Wissen aber tut niemand Unrecht; die Menschen sind unfreiwillig böse. So gibt SOKRATES der Hetäre THEODOTE Aufklärungen über ihr Gewerbe, um sie durch vollkommenere Einsicht davon abzubringen.

Wie den theoretischen, so fehlt auch den ethischen Untersuchungen bei SOKRATES ein synthetischer Aufzug; die Frage, was das Gute sei, kommt über die Form nicht hinaus, was es in einer besonderen Hinsicht, für diesen und jenen Menschen sei, und so erhebt sich das Gute nicht über das Zweckentfremdende, Nützliche. Die wissende Tugen wird mit der Eudämonie gleichgesetz, und zwar bei der Darstellung XENOPHONs in utilitaristischem Sinn, in der platonischen mit geschickter Verschränkung des Nützlichen mit dem Schönen und Guten.

So vermag sich die Reflexion über die Sittlichkeit bei SOKRATES nicht entfernt auf der Höhe zu halten, auf der sie bei den sieben Weisen und PYTHAGORAS schon gestanden; und doch gilt jener für den eigentlichen Begründer der Ethik. In Wahrheit hat er nur die subjektive Seite der Sittlichkeit, ihre Wurzeln im Bewußtsein und ihre individuellen Weisungen vielseitiger als die älteren Weisen untersucht. Er hat die Ethik eine Sprache gelehrt, die sie vor ihm nicht geredet hatte, ihr einen Blick für das Kleine, scheinbar Unbedeutende, eine Beweglichkeit der Betrachtung, eine Hingabe an das individuelle Wohl und Weh gegeben, wie das keiner vor ihm getan hat.

Es verhält sich hier wie auf theoretischem Gebiet auch. Die Ethik wie die Dialektik des SOKRATES steht an Weite des Blicks und der Großheit der Auffassung weit hinter dem pythagoreischen Denken zurück und bezeichnet zunächst die Verarmung des Verständnisses für das Ideale in Natur und Leben, also eine Rückbildung des Idealismus. Aber dem beschränkten Stoff weiß SOKRATES neue Erkenntnisse und Erkenntnisweisen abzugewinnen, welche den Nachfolgern zugute kamen, denen es nun zufiel, die zu engen Schranken wieder niederzureißen und den Vollgehalt der alten Weisheit mit Anwendung der neuen Gesichtspunkte zur Geltung zu bringen. Aber SOKRATES' Dialektik und insbesondere deren Leitgedanke:  das Wesen der Dinge als ein Gedankliches und zugleich Reales  aufzusuchen, steht doch höher als seine Ethik und hätte dieser selbst zum Korrektiv dienen können. Es war ein Abfall von seinem logischen Realismus, wenn er die Erkenntnis der Gerechtigkeit dieser selbst gleichsetzte und überhaupt die sittlichen Bestimmtheiten in intellektuelle abschwächte. Konsequenterweise mußte er das Gerechte, Schöne und Gute als eigenartige gedankliche Objekte gelten lassen, welche zwar das Denken aus der Hülle der Meinungen herauszuarbeiten und als Gegenstand des Wissens hinzustellen hat, die aber darum keineswegs selbst bloßes Wissen sind. In der Ethik erscheint somit bei ihm der Grundgedanke des logischen Realismus erschlafft und nur in der Anerkennung der Objektivität der Gesetze aufrecht erhalten, welche aber auf die Individualethik keinen bestimmenden Einfluß ausübt.

7. Die Stärke des sokratischen Philosophierens ist dessen  logischer Realismus  und so ist auch der Wert der Leistungen seiner Schüler danach zu bemessen, ob sie jenen gefaßt und fortgebildet haben oder davon abgefallen sind, womit freilich im Grunde der Meister den Anfang machte. Der völlige Abfall vom sokratischen Kerngedanken tritt uns bei ARISTIPP und den Kyrenaikern entgegen. Mit Recht zählt ARISTOTELES ARISTIPP zu den Sophisten. Er erneuert die Erkenntnislehre des PROTAGORAS: es sind uns nur sinnliche Affektionen gegeben, wir kennen daher nur unsere Zustände, nichts von den Dingen und jene sind immer wahr, aber individuell verschieden, sodaß die gemeinsame  Namensgebung  die Übereinstimmung derselben keineswegs verbürgt und im Grunde auch die  Namen  wertlos sind. Das Gerechte und Schöne und das Böse sind hier selbstverständlich nicht  physei,  sondern  nomo kai ethei  [Gesetz und Moral - wp]. Das Lustgefühl ist das einzig berechtigte Motiv des Handelns. Es ist nur konsequent, wenn der Kyrenaiker THEODOROS lehrte, es gebe nichts, was nicht unter Umständen erlaubt sei und aller Wert der Handlungen bestimme sich nach ihren Folgen und wenn derselbe unumwunden Götter und Gottheit verleugnete.

Von ANTISTHENES, dem Gründer der kynischen Schule, hören wir, daß er wie SOKRATES die Definition schätzte; er gab von ihr die Erklärung: logos estin ho to ti en e esti delon [Definition ist eine Bestimmung des Wesens - wp]; wenn die Angabe genau ist, so hätte schon er einen später bei ARISTOTELES gängigen Terminus angewendet. Wenn er die bei der Definition leitende Frage als  ti en;  formulierte, so liegt darin eine idealistische Vorstellung, in dem der zu bestimmende Begriff als dem Ding vorausgehend gedacht wird; es wird gefragt, wie das Ding gemeint, gedanklich vorherbestimmt war, noch ehe es dieses Ding wurde, eine Vorstellung, die freilich mit der sonstigen Denkweise des Kynikers nicht im Einklang steht. Wenn er sagt, daß eine Definition nur von einem zusammengesetzten Ding gegeben werden kann, da die einfachen nur einen Namen, nicht aber einen  logos  hätten, so geht er darin von SOKRATES noch nicht ab, wohl aber wenn er die Definition einen Wortschwall nennt, da sich nur angeben lasse, wie ein Ding beschaffen, nicht aber was es sei. Er dürck so die Definition zur Beschreibung herab, darum ist sein Ausspruch: "Der Anfang der Bildung ist die Betrachtung der Namen" im nominalistischen Sinn zu fassen. Seine Liebe zu Wortspielen kann ebenfalls zeigen, daß er im Bann der Wort befangen blieb. Zur Sophistik lenkt er zurück, wenn er behauptet, es lasse sich von jedem Ding nur sein eigentümlicher Begriff aussagen, also seien nur identische Urteile möglich, wozu ARISTOTELES mit Recht bemerkt, daß es dann keine verschiedenen Ansichten, ja so gut wie keinen Irrtum geben könne. Nominalistisch ist sein Einwand gegen die platonische Ideenlehre: "Ich sehe wohl, o PLATON, das Pferd, aber nicht die Pferdheit". Auf den gleichen Einwand des Kynikers DIOGENES, er sehe den Tisch und den Becher, aber nicht das Wesen derselben, soll PLATON geantwortet haben: "Ganz in Ordnung" Denn die Augen, womit man Tisch und Becher sieht, hast du, aber nicht den Verstand mit dem man das Wesen durchschaut."

Gegen diese Rückbildungen der Sokratik sticht die Lehre des Megarikers EUKLEIDES vorteilhaft ab, welcher erkennt, daß die sokratische Dialektik durch die Physik zu ergänzen sei und der darum auch für die Bedeutung des logischen Realismus Verständnis hat. Aber diese richtige Einsicht kommt nicht zur rechten Geltung, weil er sich der eleatischen Lehre anschließt, die ihn wieder in den Nominalismus zurückführt. Er will zwar die starre Seinslehre mildern, indem er dem All-Einen ethische Prädikate zuspricht: "Das Eine, erklärt er, sei zugleich das Gute, das mit verschiedenem Namen genannt wird, bald Denken, bald Gott, bald Geist"; aber diese Verbesserung ist keine, da er daraus den Schluß zieht, die Gegenteile jener Begriffe, also auch des Guten, seien ohne Realität. Ebenso verdirbt ihm die Seinslehre den Begriff der Tugen, denn auch diese faßt er als  eine,  die nur mit verschiedenen Namen genannt werde. Wie die Eleaten verwarfen die Megariker die Wahrnehmung als Erkenntnisquelle und PLATON kann sehr wohl sie im Auge haben, wenn er von solchen spricht, welche "die Körperwelt und die ihr zugesprochen Wahrheit zu Staub zerrieben". Es bleibt auch nicht ausgeschlossen, daß sie dabei auch auf den sokratischen Allgemeinbegriffen fußten, denen gegenüber die Einzeldinge ja ebenfalls als der  doxa  angehörig galten. So gut wie sie mit dem  en  [Sein - wp] das sokratische  agathon  [Gute - wp] verbanden, konnten sie "gedankliche und unkörperliche Grundgestalten" als die wahre Wesenheit betrachten, wie das PLATON an der angeführten Stelle jenen Gegnern der Körperwelt, die der "Freunde der Ideen) nennt, zuspricht. Wie zuerst SCHLEIERMACHER annahm, hat PLATON dabei die Megariker im Auge, denen alsdann zuzusprechen wäre, daß die den logischen Realismus des SOKRATES zuerst auf das metaphysische Gebiet hinübergeführt und damit unmittelbar die platonische Ideenlehre verbreitet hätten. Freilich bedurfte es für die platonische Lehre noch eines anderen Stützpunkges, auf den keiner der im Monismus befangenen und daher dem Abgleiten in den Subjektivismus stets ausgesetzten Sokratiker Bedacht nahm, des pythagoreischen Idealismus.
LITERATUR - Otto Willmann, Der Nominalismus der Sophisten und der Realismus des Sokrates, Geschichte des Idealismus I, Braunschweig 1894
    Anmerkungen

    1) WILHELM WINDELBAND, Geschichte der alten Philosophie, 1888, Seite 73
    2) PAUL DEUSSEN, System der Vedantalehre, Seite 501
    3) Vgl. CHRISTIAN AUGUST BRANDIS, Geschichte der Entwicklungen der griechischen Philosophie I, Berlin 1862, Seite 235