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WILLIAM KINGDON CLIFFORD
Wahrhaftigkeit
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"Denn obwohl sie aufrichtig an die von ihnen erhobenen Beschuldigungen geglaubt haben, hatten sie doch kein Recht, auf solche Gründe hin, wie sie ihnen vorlagen, zu glauben. Ihre aufrichtigen Überzeugungen waren, statt durch eine geduldige Untersuchung ehrlich erworben zu sein, von ihnen gestohlen worden, indem sie auf die Stimme des Vorurteils und der Leidenschaft gehört hatten."

"Gewohnheitsmäßiger Mangel an Sorgfalt hinsichtlich dessen, was ich für wahr halte, führt z. B. bei anderen zu einem gewohnheitsmäßigen Mangel an Sorgfalt hinsichtlich dessen, was sie mir als Wahrheit mitteilen. Die Menschen sagen einander die Wahrheit, wenn jeder die Wahrheit im eigenen Geist und in dem des andern verehrt; aber wie kann ein Freund die Wahrheit in mir verehren, wenn ich selbst in Bezug auf sie nachlässig bin, wenn ich Dinge nur glaube, weil ich wünsche, sie zu glauben, und weil sie tröstlich und erfreulich sind. Auf solche Art umgebe ich mich mit einer dichten Atmosphäre von Falschheit und Täuschung, und in dieser muß ich leben."

"Aber, sagt jemand, ich bin ein beschäftigter Mann; ich habe keine Zeit für das lange Studium, welches notwendig wäre, um mich in diesem Grad zu einem kompetenten Beurteiler solcher Fragen zu machen, oder mich auch nur zum Verständnis der Argumente zu befähigen. - Dann soll er auch zum Glauben keine Zeit haben."



I. Die Pflicht der Untersuchung

Ein Schiffseigentümer stand im Begriff, ein Auswandererschiff absegeln zu lassen. Er wußte, daß es alt war und von Anfang an nicht allzu gut gebaut, daß es schon manches Meer und Klima gesehen hatte und oft der Ausbesserung bedürftig gewesen war. Zweifel hatten sich ihm aufgedrängt, ob es denn noch seetüchtig wäre. Diese Zweifel bestürmten seine Seele und machten ihn unglücklich; er dachte, daß er vielleicht das Schiff gründlich untersuchen und wieder in Stand setzen lassen sollte, selbst wenn ihn dies in große Ausgaben stürzen würde. Ehe das Schiff absegelte, gelang es ihm jedoch, diese melancholischen Betrachtungen zu überwinden. Er sagte sich, daß es schon so manche Reise sicher bestanden und so manchen Sturm ausgehalten hätte, so daß es töricht wäre anzunehmen, daß es nicht auch von dieser Fahrt sicher wieder heimkehren wird. Er wollte sein Vertrauen auf die Vorsehung setzen, welche schwerlich verfehlen könnte, alle diese unglücklichen Familien zu beschützen, welche ihr Vaterland verließen, um anderswo ihr Glück zu suchen. Er wollte von seinem Geist allen unedlen Argwohn gegen die Ehrenhaftigkeit der Schiffsbauer und Unternehmer verbannen. In dieser Weise gelangte er zu einer aufrichtigen und getrosten Überzeugung, daß sein Schiff vollkommen sicher und seetüchtig wäre; mit leichtem Herzen und wohlwollenden Wünschen für den Erfolg der Auswanderer in ihrer fernen künftigen Heimat sah er es absegeln; und er strich seine Versicherungsgelder ein, als es mitten im Ozean unterging, und plauderte nichts aus.

Was sollen wir von ihm sagen? Sicherlich dies, daß er den Tod all dieser Menschen verschuldet hat. Selbst zugestanden, daß er fest an die Tüchtigkeit seines Schiffes glaubte, so kann diese Festigkeit seiner Überzeugung ihn doch in keiner Weise entschuldigen, weil er kein Recht hatte, auf solche Gründe hin zu glauben, wie sie ihm vorlagen. Er hatte seinen Glauben nicht ehrlich durch eine geduldige Untersuchung, sondern durch eine Unterdrückung seiner Zweifel gewonnen. Und obgleich er sich schließlich in ihm so sicher gefühlt haben mag, daß er nicht anders denken konnte, so muß er doch, da er sich selbst mit Wissen und Willen in diese Verfassung gebracht hatte, dafür verantwortlich gemacht werden.

Verändern wir den Fall ein wenig und nehmen wir an, das Schiff wäre trotz alledem seetüchtig gewesen, es habe die Reise glücklich überstanden und noch manche andere nachher. Kann das die Schuld des Eigentümers verringern? Nicht im geringsten. Ist eine Tat einmal getan, so ist sie für immer recht oder unrecht; kein zufälliges Ausbleiben ihrer guten oder bösen Früchte kann etwas daran ändern. Der Mann würde nicht unschuldig gewesen, er würde nur nicht entdeckt worden sein. Die Frage nach Recht oder Unrecht bezieht sich auf die Art, wie er zu seinem Glauben gelangt ist, nicht daraus,  was  sein Glaube ist, - nicht, ob sein Glaube sich als wahr oder falsch herausgestellt, sondern ob er ein Recht hatte, auf solche Gründe hin, wie sie ihm vorlagen, zu glauben.

Es war einmal eine Insel, von deren Bewohnern einige sich zu einer Religion bekannten, welche weder das Dogma von der Erbsünde, noch das von der ewigen Vergeltung lehrte. Der Verdacht kam auf, daß die Anhänger dieser Religion sich unredlicher Mittel bedienten, um die Kinder für ihre Lehre zu gewinnen. Sie wurden beschuldigt, die Gesetzes ihres Landes zu übertreten, indem sie Kinder dem Schutz ihrer natürlichen Behüter entrissen, sie hinwegführten und fern von ihren Verwandten und Freunden in Gewahrsam hielten. Eine Anzahl Männer vereinigte sich zu dem Zweck, das Volk in dieser Sache aufzuwiegeln. Sie veröffentlichten schwere Anklagen gegen einzelne Bürger von hoher Stellung und angesehenem Charakter und taten alles, was in ihrer Macht lag, um diese Bürger bei der Ausübunb ihres Bekenntnisses zu stören. Der Lärm, den sie erregten, war so groß, daß eine Kommission zur Untersuchung der Sache eingesetzt wurde; doch nachdem die Kommission jedes Zeugnis, das sie erlangen konnte, sorgfältig geprüft hatte, ergab sich, daß die Angeklagten unschuldig waren. Sie waren nicht nur auf ungenügende Beweise hin verklagt worden, sondern der Beweis für ihre Unschuld war ein solcher, daß die Ankläger ihn leicht selbst hätten finden können, wenn sie eine ehrliche Untersuchung angestellt hätten. Nach diesen Enthüllungen sahen die Bewohner jenes Landes die Ankläger nicht nur als Personen an, deren Urteil mit Mißtrauen aufzunehmen ist, sondern sie galten ihnen überhaupt nicht mehr als ehrliche Männer. Denn obwohl sie aufrichtig an die von ihnen erhobenen Beschuldigungen geglaubt haben, hatten sie doch kein Recht, auf solche Gründe hin, wie sie ihnen vorlagen, zu glauben. Ihre aufrichtigen Überzeugungen waren, statt durch eine geduldige Untersuchung ehrlich erworben zu sein, von ihnen gestohlen worden, indem sie auf die Stimme des Vorurteils und der Leidenschaft gehört hatten.

Verändern wir auch diesen Fall und nehmen wir an, daß eine noch genauere Untersuchung die Angeklagten wirklich für schuldig befunden hätte. Würde dies an der Schuld der Ankläger etwas ändern? Sicherlich nicht; denn die Frage ist nicht, ob ihr Glaube wahr oder falsch war, sondern ob sie ihn auf falsche Gründe hin hegten. Sie würden zweifellos sagen: "Nun seht Ihr nach alledem, daß wir Recht hatten; das nächste Mal werdet Ihr uns vielleicht glauben." Und vielleicht würde man ihnen glauben; aber dadurch würden sie nicht zu ehrlichen Männern werden. Sie würden nicht unschuldig gewesen, sie würden nur nicht entdeckt worden sein. Jeder von ihnen, wenn er sich selbst mit voller Gewissenhaftigkeit geprüft hätte, würde erkennen, daß er einen Glauben gewonnen und genährt hatte, obwohl er kein Recht besaß, auf solche Gründe hin, wie sie ihm vorlagen, zu glauben; und folglich würde er wissen, daß er etwas Unrechtes getan hatte.

Man könnte nun aber sagen, daß in beiden angenommenen Fällen nicht der Glaube es war, der als unrecht verurteilt wurde, sondern die ihm folgende Tat. Der Schiffseigentümer könnte sagen: "Ich bin vollkommen überzeugt, daß mein Schiff seetüchtig ist, aber trotzdem halte ich es für meine Pflicht, es zu untersuchen, ehe ich ihm das Leben so vieler Menschen anvertraue." Und zu den Anklägern könnte gesagt werden: "Wie sehr Ihr auch von der Gerechtigkeit Eurer Sache und der Wahrheit Eures Glaubens überzeugt sein mochtet, Ihr hättet doch nicht eines Menschen Charakter öffentlich angreifen sollen, ehe Ihr nicht die Gründe von beiden Seiten mit der größten Geduld und Sorgfalt untersucht hättet."

Zunächst laßt uns, so weit es möglich ist, zugeben, daß diese Ansicht der Sache richtig und notwendig ist; richtig, weil selbst wenn der Glaube eines Menschen so feststeht, daß er nicht anders denken kann, er doch in Bezug auf die daraus folgenden Handlungen die Wahl hat und so der Pflicht, den Grund der Stärke seiner Überzeugungen zu untersuchen, nicht entgehen kann; und notwendig, weil diejenigen, welche noch nich fähig sind, ihre Gefühle und Gedanken zu beherrschen, eine einfache Regel zur Beurteilung äußerer Handlungen haben müssen. Aber wenn dies auch notwendig ist, so ist es doch klar, daß es nicht ausreicht und daß unser voriges Urteil ergänzend hinzutreten muß. Denn es ist nicht möglich, den Glauben von der aus ihm hervorgehenden Handlung so zu trennen, um den einen zu verdammen und die andere nicht. Kein Mensch, der in Bezug auf die eine Seite einer Frage einen festen Glauben hat, oder ihn auch nur zu haben wünscht, kann sie mit solcher Redlichkeit und Gründlichkeit untersuchen, als wenn er wirklich im Zweifel und vorurteilsfrei wäre: so daß die Existenz eines Glaubens, der nicht auf einer redlichen Untersuchung beruth, den Menschen unfähig macht, seine notwendige Pflicht zu erfüllen.

Auch ist das überhaupt kein wirklicher Glaube, der nicht auf die Handlungen dessen, der ihn hegt, Einfluß hat. Denjenigen, welcher das wirklich glaubt, was ihn zu einer Handlung treibt, hat es nach der Handlung bereits gelüstet, er hat sie in seinem Herzen bereits begangen. Wenn ein Glaube nicht sofort zum offenen Ausdruck kommt, wird er für die Leitung der Zukunft aufgespeichert. Er beginnt ein Teil jener Gesamtheit von Glaubensvorstellungen zu werden, welche das Glied zwischen Gefühl und Handlung in jedem Augenblick unseres Lebens bilden und so miteinander verwachsen sind, daß keiner ihrer Teile von den übrigen getrennt werden kann, aber jeder neue Zuwachs die Struktur des Ganzen anders gestaltet. Kein wirklicher Glaube, so unbedeutend und fragmentarisch er auch erscheinen mag, ist in Wahrheit jemals unbedeutend: er bereitet den Boden für mehr von seinesgleichen vor, stärkt die Vorstellungen, welche ihm ähnlich sind und schwächt andere; und legt so nach und nach eine verborgene Mine in unserem inneren Gedankengang, die eines Tages zu einer offenen Handlung ausbricht und unserem Charakter für immer ihren Stempel aufdrückt.

Und keines Menschen Glaube ist in irgendeinem Fall seine private Angelegenheit, die ihn allein angeht. Unser Dasein wird durch jene allgemeine Auffassung vom Lauf der Dinge geleitet, den die Gesellschaft nach und nach für soziale Zwecke gebildet hat. Unsere Worte, unsere Aussprüche, die Formen und Arten, in denen wir unsere Gedanken fassen, sind Gemeingut, das von einem Zeitalter zum andern umgestaltet und vervollkommnet wird, eine Erbschaft, die jeder folgenden Generation als wertvolles Pfand und heilige Vollmacht anvertraut wird, um sie der nächsten zu hinterlassen, nicht unverändert, sondern vergrößert und gereinigt, mit den sichtbaren Zeichen ihrer eigenen Arbeit. In dies hinein, im Guten wie im Bösen, ist jeder Glaube eines jeden Menschen, der auf seine Zeitgenossen einwirkt, verwoben. Welch furchtbares Vorrecht und welch furchtbare Verantwortung, daß wir helfen müssen, die Welt zu schaffen, in welcher unsere Nachkommen leben werden!

In den beiden angenommenen Fällen, welche wir betrachtet haben, ist es als unrecht verurteilt worden, auf einen ungenügenden Beweis hin zu glauben, oder einen Glauben durch die Unterdrückung von Zweifeln und der Vermeidung ernsthafter Forschung zu nähren. Der Grund dieses Urteils ist nicht weit zu suchen: er ist in beiden Fällen der, daß der Glaube eines Menschen von großer Wichtigkeit für die anderen Menschen ist. Da jedoch kein Glaube irgendeines Menschen, so unwichtig auch der Glaube, so unbekannt auch der Glaubende sein mag, jemals wirklich bedeutungslos oder ohne Einfluß auf das Schicksal der Menschheit sein kann, so haben wir keine andere Wahl, als unser Urteil auf alle nur irgendwie möglichen Arten des Fürwahrhaltens auszudehnen. Der Glaube, diese heilige Kraft, welche die Entschlüsse unseres Willens hervorbringt und die Energie unseres ganzen Seins zu einer harmonischen Betätigung verbindet, ist uns nicht für uns, sondern für die Menschheit gegeben. Er kommt solchen Wahrheiten zu, die durch eine lange Erfahrung und geduldige Arbeit festgesestellt worden sind und die im Schmelzofen freier und furchtloser Forschung gestanden haben. Dann hilft er die Menschen verbinden und ihr gemeinsames Handeln kräftigen und regeln. Er wird entweiht, wenn er zum Trost und zur selbstischen Befriedigung des Glaubenden ungeprüften und ununtersuchten Aussagen geschenkt wird, wenn er dem schlichten geraden Weg unseres Lebens einen flimmernden Glanz hinzufügt und ein magisches Bild hinter ihm entfaltet, oder wenn er das allgemeine Elend der Menschheit durch eine Selbsttäuschung verschleiert, die ihm gestattet, uns nicht nur niederzuschmettern, sondern uns auch zu entwürdigen. Wer auf diese Weise seinen Nächsten dienlich sein will, der muß die Reinheit seines Glaubens mit dem Fanatismus eifersüchtiger Sorge bewachen, damit derselbe niemals auf einem unwürdigen Grund ruht und ihm ein Makel aufgedrückt wird, der nie fortgewischt werden kann.

Es sind nicht nur die Führer der Menschen, Staatsmänner, Philosophen und Dichter, welchen die Ausübung dieser Pflicht der Menschheit obliegt. Jeder Bauer, der im Wirtshaus seine langsamen Gedanken äußert, kann dazu beitragen, all den schlimmen Aberglauben zu vernichten oder lebendig zu erhalten, der seinesgleichen gefangen hält. Jede schwer arbeitende Handwerkerfrau kann ihren Kindern Überzeugungen vermitteln, welche die Menschheit vereinen oder sie in Stücke reißen. Kein Mangel an geistiger Bildung, keine Niedrigkeit des Standes entbindet von der allgemeinen Pflicht, alles, was wir glauben, zu untersuchen.

Es ist wahr, daß diese Pflicht hart und der Zweifel, der ihr entspringt, oft recht bitter ist. Er läßt uns nackt und machtlos, wo wir dachten, sicher und stark zu sein. Alles über ein Ding wissen, heißt wissen, was unter allen Umständen mit ihm anzufangen ist. Wir fühlen uns viel glücklicher und sicherer, wenn wir denken, daß wir genau wissen, was zu tun ist, als wenn wir unseren Weg verloren haben und nicht wissen, wohin wir uns wenden sollen. Und wenn wir gedacht haben, alles von einer Sache zu wissen und fähig zu sein, das Beste in Bezug auf sie zu tun, so ist es uns natürlich nicht angenehm, zu finden, daß wir in Wirklichkeit unwissend und kraftlos sind, daß wir verpflichtet sind, wieder von vorn anzufangen, und versuchen müssen, die Sache, wie sie ist und wie sie behandelt werden muß, zu erkennen - wenn sich wirklich irgendetwas davon erkennen läßt. Es ist das mit dem Gefühl des Wissens verbundene Gefühl der Macht, welches dem Menschen den Glauben wünschenswert macht und ihn den Zweifel fürchten läßt.

Dieses Gefühl der Macht ist die höchste und beste Freude, wenn der Glaube, auf den es sich gründet, ein wahrer, durch Untersuchung ehrlich erworbener Glaube ist; dann mögen wir mit Recht denken, daß er Gemeingut ist und für andere so gut, wie für uns selbst, Geltung hat. Dann mögen wir uns freuen, nicht weil wir selbst Geheimnisse erkannt haben, durch die wir selbst sicherer und stärker geworden sind, sondern weil wir Menschen mehr von der Welt in unsere Gewalt bekommen haben. Wir werden stark sein, nicht für uns selbst, sondern im Namen der Menschheit und durch ihre Stärke. Doch wenn der Glaube auf ungenügende Beweise hin angeeignet worden ist, so ist die Freude gestohlen. Er täuscht uns nicht nur, indem er uns ein Gefühl der Stärke gibt, das wir in Wirklichkeit nicht besitzen, sondern er ist auch sündhaft, weil er in Mißachtung unserer Pflicht gegen die Menschheit gestohlen worden ist. Diese Pflicht ist, uns vor einem solchen Glauben wie vor der Pest zu hüten, die binnen kurzem unseren eigenen Körper ergreifen und sich dann über die ganze Stadt ausbreiten kann. Was würde man von jemandem Denken, der, um einer süßen Frucht willen, mit Überlegung seine Familie und seine Nachbarn der Gefahr einer Seuche aussetzen wollte?

Und wie in anderen solchen Fällen: es ist nicht die Gefahr allein, welche berücksichtigt werden muß; denn eine schlechte Tat ist immer schlecht zu der Zeit, da sie getan wird, gleichviel was nachher geschieht. Zu jeder Zeit, wo wir uns gestatten, auf unwürdige Gründe hin zu glauben, schwächen wir unsere Kraft der Selbstbeherrschung, des Zweifels und der redlichen Abwägung der Beweisgründe. Wir alle leiden schwer genug unter dem Bestehen falscher Vorstellungen und den notwendig falschen Handlungen, zu denen sie führen, und das Unheil, das aus einem solchen Glauben entspringt, ist groß. Aber ein noch größeres Unheil entsteht, wenn der Charakter der Leichtgläubigkeit gehegt und gepflegt wird, wenn die Gewohnheit, auf unwürdige Gründe hin zu glauben, genährt und zu einer bleibenden gemacht wird. Wenn ich jemanden bestehle, so mag durch die bloße Übertragung des Besitzes kein Schaden erwachsen; der Mensch mag den Verlust nicht bemerken, o der dieser mag ihn davor bewahren, das Geld schlecht anzuwenden. Aber dieses große Unrecht begehe ich notwendig gegen die Menschheit, daß ich mich selbst unredlich mache. Was der Gesellschaft Schaden tut, ist nicht, daß sie ihren Besitz verliert, sondern daß sie zu einer Diebeshöhle wird; denn dann muß sie aufhören, eine Gesellschaft zu sein. Darum dürfen wir nicht Böses tun, damit Gutes daraus entsteht; denn auf jeden Fall erwächst dieses große Unheil daraus, daß wir Unrecht getan haben und lasterhaft geworden sind. Ebenso mag, wenn ich mir gestatte, auf ungenügende Gründe hin etwas zu glauben, durch den bloßen Glauben kein großer Schaden geschehen; er mag trotz allem wahr sein, oder ich mag nie Gelegenheit haben, ihn durch äußere Handlungen zu betätigen. Aber dieses große Unrecht begehe ich notwendig gegen die Menschheit, daß ich mich selbst leichtgläubig mache. Die Gefahr für die Gesellschaft ist nicht allein die, daß sie Falsches glaubt, obwohl dies schlimm genug ist, sondern daß sie leichtgläubig wird und die Gewohnheit verliert, die Dinge zu prüfen und zu untersuchen; denn dann muß sie in die Barbarei zurücksinken.

Der Schaden, welcher durch die Leichtgläubigkeit eines Menschen geschieht, ist nicht darauf beschränkt, daß er den Charakter der Leichtgläubigkeit in anderen und die daraus folgende Hegung solcher Meinungen verstärkt. Gewohnheitsmäßiger Mangel an Sorgfalt hinsichtlich dessen, was ich für wahr halte, führt z. B. bei anderen zu einem gewohnheitsmäßigen Mangel an Sorgfalt hinsichtlich dessen, was sie mir als Wahrheit mitteilen. Die Menschen sagen einander die Wahrheit, wenn jeder die Wahrheit im eigenen Geist und in dem des andern verehrt; aber wie kann ein Freund die Wahrheit in mir verehren, wenn ich selbst in Bezug auf sie nachlässig bin, wenn ich Dinge nur glaube, weil ich wünsche, sie zu glauben, und weil sie tröstlich und erfreulich sind. Auf solche Art umgebe ich mich mit einer dichten Atmosphäre von Falschheit und Täuschung, und in dieser muß ich leben. Für mich selbst in meinem Wolkenschloß von süßen Jllusionen und geliebten Lügen mag es ohne Bedeutung sein; aber für die Menschheit hat es eine schwere Bedeutung, daß ich meine Nachbarn zum Täuschen bereit gemacht habe. Der Leichtgläubige ist der Vater des Lügners und Betrügers; er lebt im Schoß dieser seiner Familie, und es ist kein Wunder, wenn er dasselbe wird, was sie ist. So eng sind unsere Pflichten miteinander verknüpft, daß, wer das ganze Gesetz hält und es in einem Punkt übertritt, sich der Übertretung des Ganzen schuldig macht.

In Summa: Es ist immer, überall und für jeden schlecht, irgendetwas auf ungenügende Beweise hin für wahr zu halten.

Wenn ein Mensch, welcher einen Glauben hegt, der ihm in der Kindheit gelehrt, oder zu dem er später überredet worden ist, irgendwelche Zweifel, welche hinsichtlich desselben in seinem Geist entstehen, niederhält oder vertreibt, geflissentlich das Lesen von Büchern und die Gesellschaft von Menschen vermeidet, welche denselben in Frage stellen oder untersuchen und diejenigen Fragen für irreligiös hält, welche nicht leicht gestellt werden können, ohne denselben zu stören, - dann ist das Leben jenes Menschen  eine  große Sünde gegen die Menschheit.

Wenn dieses Urteil hart erscheint, sobald man es auf jene einfachen Seelen anwendet, die es nie besser gewußt haben, die von der Wiege an mit der Scheu vor dem Zweifel erzogen worden sind, und denen man gelehrt hat, daß ihre ewige Seligkeit davon abhängt,  was  sie glauben, dann führt dies zu der sehr ernsten Frage:  Wer ist an dieser Sünde schuld? 

Man erlaube mir, dieses Urteil durch eine Ausspruch MILTONs (1) zu verstärken:
    "Ein Mensch kann ein Ketzer in der Wahrheit sein; und wenn er Dinge glaubt, bloß weil sein Pastor so sagt oder die Kirchenversammlung es so bestimmt, ohne andere Gründe zu kennen, so wird, auch wenn sein Glaube wahr ist, doch die Wahrheit selbst, welche er besitzt, seine Ketzerei!"
Und durch das berühmte Wort COLERIDGEs (2):
    "Derjenige, welcher damit anfängt, das Christentum mehr als die Wahrheit zu lieben, wird dazu fortschreiten, seine Sekte oder Kirche mehr als das Christentum zu lieben, und damit enden, sich selbst mehr als alles zu lieben."
Die Untersuchung der Beweisgründe für eine Lehre ist nicht ein für allemal zu führen und dann als endgültig abgemacht anzusehen. Es ist niemals erlaubt, einen Zweifel zu unterdrücken; denn er kann entweder aufgrund der bereits erfolgten Untersuchung ehrlich beantwortet werden, oder er beweist, daß die Untersuchung nicht vollständig war.

"Aber", sagt jemand, "ich bin ein beschäftigter Mann; ich habe keine Zeit für das lange Studium, welches notwendig wäre, um mich in diesem Grad zu einem kompetenten Beurteiler solcher Fragen zu machen, oder mich auch nur zum Verständnis der Argumente zu befähigen." Dann soll er auch zum Glauben keine Zeit haben.
LITERATUR - William Kingdon Clifford, Wahrhaftigkeit, Frankfurt/Main 1905
    Anmerkungen
    1) MILTON, Aeropagitica.
    2) COLERIDGE, Aids to Reflection.