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MARTIN STINGELIN
Nietzsche und Lichtenberg
"Was das Studium einer tiefen
Philosophie so sehr erschwert, ist, daß man im gemeinen Leben eine Menge
von Dingen für so natürlich hält, daß man glaubt, es wäre gar nicht möglich,
daß es anders sein könnte." |
NIETZSCHEs Notiz, die sich vordergründig als Habitualisierung von "ehemals bewußten" Urteilen widmet und als Fazit in eine mit der emphatischen Zustimmung der nachdrücklichen Hervorhebung zitierte Bemerkung LICHTENBERGs mündet, gibt ein Rätsel auf. Wo schon jenes Bewußtsein in nicht reflektierten Vorurteilen bestand, fragt sich: Welcher Natur muß das hier thematisierte Unbewußte sein, daß es noch "ehemals bewußten Tätigkeiten", die mittlerweile unbewußt geworden sind, in Form von Vorurteilen zuvorgekommen sein kann, die sich als Kunsttriebe des Menschen erweisen?
Die Antwort findet sich in NIETZSCHEs
nachgelassenem Fragment "Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne",
das offenbart, wo NIETZSCHEsund LICHTENBERGs
Philosophie sich berühren: Das Unbewußte ist sprachlicher Natur. Die Sprache
verkörpert jene unvordenklichen Vorurteile, die aus dem Kunsttrieb des Menschen
hervor- und in sie eingegangen sind, sei es in Form der Begriffe, sei es
in Form der durch die Grammatik geregelten Syntax.
Ur-Sprung der Sprache ist der ästhetische "Trieb zur Metapherbildung, jener Fundamentaltrieb des Menschen, den man keinen Augenblick wegrechnen kann, weil man damit den Menschen selbst wegrechnen würde". Genau in dieser Selbstvergessenheit des Menschen aber gründet sein ästhetischer Fundamentaltrieb, weshalb er auch nicht erkennen kann, daß die Sprache damit gleichzeitig ihrer - von den durch sie verkörperten menschlichen Vorurteilen freien - Erkenntniskraft beraubt ist.
"Nur durch das Vergessen jener primitiven Metapherwelt, nur durch das Hart- und Starr-Werden einer ursprünglich in hitziger Flüssigkeit aus dem Urvermögen menschlicher Phantasie hervorströmenden Bildermasse, nur durch den unbesiegbaren Glauben, diese Sonne, dieses Fenster, dieser Tisch sei eine Wahrheit an sich, kurz nur dadurch, daß der Mensch sich als Subjekt und zwar als künstlerisch schaffendes Subjekt vergisst, lebt er mit einiger Ruhe, Sicherheit und Konsequenz; wenn er einen Augenblick nur aus den Gefängniswänden dieses Glaubens herauskönnte, so wäre es sofort mit seinem Selbstbewußtsein vorbei."
Von hier aus ist nur ein kleiner Schritt zu LICHTENBERGs Bemerkung:
" Ich und mich. Ich fühle mich - sind zwei Gegenstände. Unsere falsche Philosophie ist der ganzen Sprache einverleibt; wir können so zu sagen nicht räsonnieren, ohne falsch zu räsonnieren. Man bedenkt nicht, daß Sprechen, ohne Rücksicht von was, eine Philosophie ist. Jeder, der Deutsch spricht, ist ein Volksphilosoph, und unsere Universitätsphilosophie besteht in Einschränkungen von jener. Unsere ganze Philosophie ist Berichtigung des Sprachgebrauchs, also, die Berichtigung einer Philosophie, und zwar der allgemeinsten. Allein die gemeine Philosophie hat den Vorteil, daß sie im Besitz der Deklinationen und Konjugationen ist. Es wird also immer von uns wahre Philosophie mit der Sprache der falschen gelehrt. Wörter erklären hilft nichts; denn mit Wörtererklärungen ändere ich ja die Pronominia und ihre Deklination noch nicht."
NIETZSCHE unterstreicht sich in seinem Exemplar von GEORG CHRISTOPH LICHTENBERGs Vermischte Schriften die Wendung "Berichtigung des Sprachgebrauchs". Diese Unterstreichung ist aussagekräftiger, als es auf den ersten Blick den Anschein haben mag. Tatsächlich kommen darin fünf Momente des sprachkritischen Impulses zum Ausdruck, die NIETZSCHE mit LICHTENBERG teilt:
Sprachkritik ist bei NIETZSCHE wie
bei LICHTENBERG vorab Begriffskritik;
durch eine Reihe von Abkürzungsprozessen fassen Begriffe individua - seien
es Dinge (die an sich der menschlichen Wahrnehmung und Erkenntnis zugänglich
sind), seien es Sinneseindrücke, die sie im Menschen wecken - zu genera
und species zusammen. Ihrer Herkunft nach abgestorbene Metaphern gewinnen Begriffe ihre abstrakte Bedeutung nur um den Preis aller singulären Momente m(die sie umgekehrt als lebendige Metaphern in Form der Selbstbewegung bewahren,
die sich jeder sprachlichen Verallgemeinerung
entzieht.)
NIETZSCHE legt seiner Sprachkritik
- die er im Wechselspiel seiner Basler Rhetorik-Vorlesung mit dem Nachlaßtext
"Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen
Sinne" 1872/73 entwickelt - eine Bewegung des Wortes von der (ursprünglichen)
Metapher zum Begriff zugrunde. Zum Begriff verfestigt sich das - aus einem
fundamentalen ästhetischen /kreativen Lebenstrieb des Menschen - ursprünglich
metaphorisch gewonnene Wort um den Preis eines Vergessens, das die soziale
Übereinkunft trägt, was "Wahrheit" (im
Sinne einer verbindlichen Bezeichnung der Dinge) sein soll.
Die Feststellung, daß "Wahrheit" im Grunde nur der sozialen Übereinkunft entspricht, welche Bezeichnung der Dinge allgemein gültig und verbindlich ist, führt NIETZSCHE zur Frage: "Ist die Sprache der adäquate Ausdruck aller Realitäten?" Mit ihr nimmt die Abhandlung "Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne" eine sprachkritische Wendung, eine Figur, mit der die Schrift beginnt, eine katastrophale Gestalt anzunehmen und sich gegen sich selbst zu richten.
Die Pointe dieser sprachkritischen Wendung nimmt NIETZSCHE selbst vorweg: Wahrheit kann im Grunde genommen nur die Tautologie beanspruchen, d.h. das Wort, das sich selbst bezeichnet. Jeder referentielle Anspruch, der darüber hinausgeht, hat ein Vergessen zur Voraussetzung und entlarvt sich deshalb als Illusion. Es ist das Vergessen des Umstands, daß jedes Wort die Metapher einer Metapher ist.
An seinem Ursprung steht ein Nervenreiz, den die Wahrnehmung
eines Dings in uns weckt und den wir in ein Vorstellungsbild übertragen;
das ist die erste Metapher, die Nachformung dieses Vorstellungsbildes in
einem Lautbild ist die zweite Metapher. Doch schon die erste Übertragung
gehorcht einer gänzlich subjektiven Reizung und folgt einer tropischen Logik,
da die menschliche Wahrnehmung gewisse Eigenschaften der Dinge privilegiert:
"Wie dürften wir, wenn die Wahrheit bei der Genesis der Sprache, der Gesichtspunkt der Gewißheit bei den Bezeichnungen allein entscheidend gewesen wäre, wie dürften wir doch sagen: der Stein ist hart: als ob uns hart sonst noch bekannt wäre und nicht nur als eine ganz subjektive Reizung! Wir teilen die Dinge nach Geschlechtern ein, wir bezeichnen den Baum als männlich, die Pflanze als weiblich: welche willkürlichen Übertragungen! Wie weit hinausgeflogen über den Canon der Gewißheit! Wir reden von einer Schlange: die Bezeichnung trifft nichts als das Sichwinden, könnte also auch dem Wurme zukommen. Welche willkürlichen Abgrenzungen, welche einseitigen Bevorzugungen bald der bald jener Eigenschaft eines Dinges!"
Das "Ding an sich", das NIETZSCHE als "die reine folgenlose Wahrheit" bezeichnet, ist dem Menschen also vollkommen unfaßlich. Die Potentialisierung der metaphorischen Sprunglogik vom Reiz über das Bild zum Laut - NIETZSCHE bezeichnet es als "Überspringen der Sphäre, mitten hinein in eine ganz andere und neue" - trennt das Wort unüberbrückbar von dem, was es wesenslogisch zu bezeichnen vorgibt.
Der Begriff der Metapher wird von NIETZSCHE hier übrigens konsequenterweise selbst figural für alle Tropen verwandt, und zwar in einer metonymischen (Metonymie = Ersetzung des eigentlichen Wortes durch einen verwandten Begriff) nach der synekdocheischen (Syneckdoche = Setzung des engeren Begriffs für den umfassenderen) Figur pars pro toto (= ein Teil für das Ganze). Da das Wort sich nun dadurch in einen Begriff verwandelt, daß in ihm durch Subsumtion Nicht-Gleiches gleichgesetzt wird - NIETZSCHEs Beispiel ist der abstrakte Begriff "Blatt", der auf alle konkreten Blätter zutreffen muß -, handelt es sich beim Begriff im Grunde um die Metapher der Metapher einer Metapher.
So kann NIETZSCHE auf die Frage: "Was ist also die Wahrheit?" die vielzitierte sprachkritische Antwort geben:
"Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauche einem Volke fest, kanonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, daß sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen in Betracht kommen."
NIETZSCHEs Beispiele für den Umstand, daß die Entwicklung der Sprache nicht der "Wahrheit", sondern subjektiven Reizen gehorcht (hat), sind Lesefrüchte aus dem 1871 erschienen Band von GUSTAV GERBERs Buch "Die Sprache als Kunst", das er sich am 28. September 1872 aus der Basler Universitätsbibliothek entliehen hat.
GERBER, 1820 in Berlin geboren, war Realgymnasium -Direktor in der Stadt Bromberg, wo auch sein Buch erschienen ist, ein sprachphilosophisches Werk, in dem er bei der Entwicklung der Sprache folgende Phasen unterscheidet, die NIETZSCHE in seine Abhandlung "Über die Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne" mit einer für ihn charakteristischen Abkürzung übernimmt: (Ding an sich -> Nervenreiz -> Empfindung -> Laut (Bild einer Empfindung) -> Vorstellung -> Wurzel -> Wort -> Begriff. Zur Illustration des metaphorischen und nicht logischen Rückschlusses von der Empfindung auf das Wesen der Dinge findet sich bei GERBER folgender Abschnitt:
"Wir sagen also z.B.: dieser Trank ist bitter, statt: der Trank erregt in uns eine Empfindung der Art; wir sagen: der Stein ist hart, als ob die Härte etwas Anderes wäre, als ein Urteil von uns; wir sagen so: das Harz ist wohlriechend, die Blätter sind grün - lauter Übertragungen von unserer Auffassung auf die Wesenheit der Dinge, nach einem, wie wir annehmen, selbstverständlichen Schlusse zu rechtfertigen."
Die metaphorische Übertragung vom sexus auf den genus entlarvt GERBER durch die Formel "der Baum, die Blume":
"Die Metapher zeigt sich ferner wirksam in der Bezeichnung des Geschlechts. Zwar verlangt die natürliche Geschlechtsverschiedenheit (sexus), wie die von Mann, Frau, Stier, Kuh; Hengst, Stute auch unterschiedene Bezeichnung durch Wörter, das grammatischen Geschlecht aber (genus) hat sich lediglich durch die Metapher ausgebildet und erscheint an sich als ein Luxus der Sprache."
Und die synekdocheische Privilegierung der augenfälligsten
Eigenschaft eines Dings bei seiner Bezeichnung reflektiert GERBER
am Beispiel von Schlange und Schnecke, die trotz der Verwandtschaft in ihrer
Fortbewegungsweise unterschiedlich benannt werden:
"Bei den Hebräern heißt die Schlange (...) die sich Windende".
Von GUSTAV GERBER übernimmt NIETZSCHE auch die sprachkritischen Erwägungen: "Der sprachbildende Mensch faßt nicht Dinge oder Vorgänge auf, sondern Reize: er gibt nicht Empfindungen wieder, sondern sogar nur Abbildungen von Empfindungen" (so zitiert NIETZSCHE in seiner Rhetorik-Vorlesung GERBER), radikalisiert sie aber in ungeheuerlicher Weise, indem er sie
totalisiert: "Das ist der erste Gesichtspunkt: die Sprache ist Rhetorik", so forumuliert NIETZSCHE selbständig im Anschluß an ein GERBER-Zitat, und
GERBERs Trennung zwischen Sprache und Sprachbetrachtung, in welcher der Wissenschaftsanspruch seines Werkes gründet, aufgibt.
Je länger man über NIETZSCHEs Abhandlung Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne " reflektiert, desto ruinöser erscheint sie. Dieser Eindruck rührt von der vorsätzlich erschütterten Trennung zwischen Objekt- und Metasprache, die zu einer Entfesselung von Paradoxien führt. Durch die Selbstimplikation, ihr erster Gegenstand zu sein, entzieht sich NIETZSCHEs Sprachkritik ihren Grund und wird bodenlos.
Ihr Standpunkt ist das Unmögliche; er ist unhaltbar und führt zu einer Reihe von Haltlosigkeiten, allen voran "die bekannte Aporie des fehlenden erkenntnistheoretischen Ortes einer Kritik, die selbstbezüglich geworden ist", aber auch das Ausweichen der Sprachkritik auf die Historie (Sprache wird in "Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne" auf dem Umweg über ihre historische Herkunft und ihre Entwicklung kritisiert) und der historischen Kritik auf die Sprache (dabei untersteht die Historie als letztlich sprachliche Disziplin dem Verdacht, mit einem untauglichen Erkenntnisinstrument zu operieren), das in der Konfusion zwischen der phylogenetischen (Phylogenese = Stammesgeschichte der Lebewesen) und der ontogenetischen (Ontogenesis = Wissenschaft vom Seienden) Herleitung des Wahrheitsbegriffs zum Ausdruck kommt.
Diese Selbstruinierungsstrategien lassen sich nur erzählerisch gleichzeitig inszenieren und auffangen, daher das Fabelhafte der Abhandlung "Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne". Nur im Rahmen eines erzählerischen Textes kann die Verstellung als eigentliche Protagonistin auftreten, ist die Mystifikation doch das Wesen des Literarischen. NIETZSCHEs Abhandlung spricht nicht durch die (sokratische) Maske der Ironie, wie ihren entlarvenden Wendungen - vor allem die topische Bestimmung der Verpflichtung, "wahrhaft zu sein, d.h. die usuellen Metaphern zu brauchen", als moralische "Verpflichtung nach einer festen Konvention zu lügen, scharenweise in einem für alle verbindlichen Stile zu lügen" - vermuten lassen könnten.
Ihre Sprachskepsis verkörpert sich in der Ironie der Ironie, daß alles immer auch sein Gegenteil bedeuten kann und mündet konsequenterweise nicht in eine starre Überzeugung im Sinne eines philosophischen Systems, sondern in die Gymnastik, Vorbehalte zu üben:
"Das Übersehen des Individuellen und Wirklichen gibt uns den Begriff,
wie es uns auch die Form gibt, wohingegen die Natur keine Formen
und Begriffe, also auch keine Gattungen kennt, sondern nur ein für
uns unzugängliches und undefinierbares X. Denn auch unser Gegensatz von
Individuum und Gattung ist anthropomorphisch und entstammt nicht dem Wesen
der Dinge, wenn wir auch nicht zu sagen wagen, daß er ihm nicht entspricht:
das wäre nämlich eine dogmatische Behauptung und als solche ebenso unerweislich
wie ihr Gegenteil."
Mit diesem Schlüsselsatz, der die Voraussetzung von NIETZSCHEs Interpretation der Interpretation im Spätwerk vorwegnimmt - auf dem perspektivischen Feld, das ihre Unerweislichkeit eröffnet, sind letztlich alle Feststellungen Interpretationen -, verschließt sich das Frühwerk gleichsam kryptisch vor sich selbst:
Solange sich die in der Abhandlung "Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne" erprobte experimentelle Haltung selbst zu ruinieren droht, bleibt das Fragment innerhalb von NIETZSCHEs Schriften ein Fremdkörper. Erst im Spätwerk gewinnt NIETZSCHE mit seinem offensiv interpretierten Begriff der Interpretation, den er ausdrücklich am Paradigma der Strafrechtsgeschichte entwickelt, die Verfügungsgewalt, die Aufgabe der Philosophie als Festlegung im autoritärsten Sinne des Wortes zu bestimmen: In seinen letzten Werken verkörpert NIETZSCHE den Philosophen als Gesetzgeber.
NIETZSCHEs Rezeption von GERBER ist nicht voraussetzungslos. Mit der Lektion von FRIEDRICH ALBERT LANGEs Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart (Iserlohn 1866) geht NIETZSCHEs Neigung in eins, "die schon bei LANGE angelegte Biologisierung der apriorischen Bedingungen des Erkennens" noch stärker zu betonen.
NIETZSCHEs Biologismus und Organizismus, der hier einsetzt und das Spätwerk prägen wird, verschränkt sich früh mit seiner Sprachkritik, ohne dieser - hier wie dort - zu entgehen: Selbst der Versuch, die Übertragung eines Nervenreizes in ein Bild und die Nachformung dieses Bildes in einem Laut als metaphorisch zu beschreiben, kann keine Wahrheit (im übergeordneten, transzendental -philosophischen Sinne) für sich beanspruchen, denn er ist möglicherweise selbst nur eine anthropomorphistische Analogiebildung.
Paradoxerweise steht gerade der Anthropomorphismus, daß der Mensch die Eigentümlichkeiten
seiner Wahrnehmung auf das Wahrgenommene überträgt, seiner Selbsterkenntnis
im Weg. Für NIETZSCHE
ist es keine Frage, daß die Sprache als Mittel zur Selbsterkenntnis untauglich
ist und diese verunmöglicht: "Was weiß der Mensch eigentlich von sich selbst!"
Im Gegensatz zu GEORG CHRISTOPH LICHTENBERG
trägt die Sprache bei NIETZSCHE im
Dienst der Erkenntnis nicht über sich hinaus. In "einem unbezwinglichen
Mißtrauen gegen die Möglichkeit der Selbsterkenntnis " kommt NIETZSCHE
zum Schluß:
"Ein Werkzeug kann nicht seine Tauglichkeit kritisieren: der Intellekt kann nicht selber seine Grenze, auch nicht sein Wohlgeratensein oder sein MißratHensein bestimmen."
Das vernünftige Denken ist "ein Interpretieren nach einem (sprachlichen) Schema, welches wir nicht abwerfen können". Wo LICHTENBERG - bei aller durch sie bedingten Selbstentfremdung - innerhalb der Sprache noch befreiende Metaverhältnisse sucht, um über sie hinauszugelangen (allen voran die lebendige Metapher und den Konjunktiv), häufen sich bei NIETZSCHE schon früh Wendungen, die den denkenden Menschen seinem Werkzeug, der sprachlichen Erkenntnis unterwerfen.
Im Spätwerk erprobt NIETZSCHE zur Beschreibung dieser Unfreiheit die nackte Formel: "wir hören auf zu denken, wenn wir es nicht in dem sprachlichen Zwange tun wollen, wir langen gerade noch bei dem Zweifel an, hier eine Grenze als Grenze zu sehn"; im Frühwerk kleidet er sie in ein metaphorisches Bild: "Der Philosoph in den Netzen der Sprache eingefangen."
Doch nicht nur das von NIETZSCHE bei GERBER entlehnte Beispiel dafür, daß der Rückschluß von der Empfindung auf das Wesen der Dinge metaphorischer, nicht logischer Natur ist, findet sich bereits bei LICHTENBERG:
"Was das Studium einer tiefen Philosophie so sehr erschwert, ist, daß man im gemeinen Leben eine Menge von Dingen für so natürlich hält, daß man glaubt, es wäre gar nicht möglich, daß es anders sein könnte; und doch muß man wissen, daß man solcher vermeintlichen Kleinigkeiten größte Wichtigkeit erst einsehen muß, um das eigentlich so genannte Schwere zu erklären. Wenn ich sage: dieser Stein ist hart - also erst den Begriff Stein, der mehreren Dingen zukommt, diesem Individuo beilege; alsdann von Härte rede, und nun gar das Hartsein mit dem Stein verbinde - so ist dieses ein solches Wunder von Operation, daß es eine Frage ist, ob bei Verfertigung manches Buches so viel angewandt wird.
Aber sind das nicht Subtilitäten? braucht man das zu wissen? - Was das Erste anbetrifft, so sind es keine Subtilitäten, denn gerade an diesen simpeln Fällen müssen wir die Operationen des Verstandes kennen lernen. Wollen wir dieses erst bei dem Zusammengesetzten tun, so ist alle Mühe vergebens. Diese leichten Dinge schwer zu finden, verrät keine geringen Fortschritte in der Philosophie. - Was aber das Andere anbetrifft, so antworte ich: Nein! man braucht es nicht zu wissen; aber man braucht auch kein Philosoph zu sein."
Das von LICHTENBERG sprachkritisch analysierte
Wunder von Operation des Verstandes entspricht aufs genaueste NIETZSCHEs
Darstellung des menschlichen Erkenntnisgangs, wie er - phylogenetisch -
erst in der Sprache zum Ausdruck kommt und später - ontogenetisch - durch
diese bedingt wird: Nachdem der Mensch im abstrakten Begriff "Stein" als
species oder genus durch die metaphorische Gleichsetzung von Ähnlichem
alle individua zusammengefaßt hat - wodurch der konkrete einzelne Stein
gerade seine Anstößigkeit, sein unverwechselbares Moment verliert -, überträgt
er unvermerkt die Empfindung der "Härte", die der "Stein" in ihm weckt,
auf diesen und nimmt sie als dessen Eigenschaft wahr. Bereits LICHTENBERG
übt explizit Kritik am Anthropomorphismus, der sich hinter dieser Übertragung
verbirgt:
"Es ist gar nicht abzusehen, wie weit sich Anthropomorphismus erstrecken
kann, das Wort in seinem größten Umfange genommen. Es rächen sich Leute
an einem Toten; Gebeine werden ausgegraben und verunehrt; man hat Mitleiden
mit leblosen Dingen - so beklagte Jemand eine Hausuhr, wenn sie einmal
in der Kälte stehen blieb. Dieses Übertragen unserer Empfindungen
auf Andere herrscht überall, unter so mannichfaltiger Gestalt, daß es
nicht immer leicht ist, es zu unterscheiden. Vielleicht ist das ganze
Pronomen der andere solchen Ursprungs."
NIETZSCHE, der die Begriffe "Anthropomorphismus" und "Übertragung" in der Zeit zwischen 1872 und 1873 in ihren vielfältigen Aspekten erprobt, hat sich diese Bemerkung - neben seinen Unterstreichungen - am rechten Rand zusätzlich doppelt angestrichen. In diesem Zusammenhang findet eine weitere Erwägung LICHTENBERGs seine Zustimmung; durch Anstreichung der beiden ersten Sätze und Unterstreichung hebt er hervor:
"Anstatt daß sich die Welt in uns spiegelt, sollten wir vielmehr sagen, unsere Vernunft spiegele sich in der Welt. Wir können nicht anders, wir müssen Ordnung und weise Regierung in der Welt erkennen, dies folgt aus der Einrichtung unserer Denkkraft. Es ist aber noch keine Folge, daß etwas, was wir notwendig denken müssen, auch wirklich so ist, denn wir haben von der wahren Beschaffenheit der Außenwelt gar keinen Begriff..."
LITERATUR, Martin Stingelin, Unsere ganze Philosophie ist Berichtigung des Sprachgebrauchs, Friedrich Nietzsches Lichtenberg Rezeption im Spannungsfeld zwischen Sprachkritik und historischer Kritik, München 1996
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