cr-2K. FahrionW. WalzC. GrubeR. Hönigswald     
 
REINHOLD HOPPE
Zulänglichkeit des Empirismus
in der Philosophie


"Von  Leibniz  ist die Ansicht geblieben, das Gegebene müsse  einfach  sein, die Produkte des Denkens wären nur daraus zusammengesetzt: ein Satz, der aller Empirie widerspricht, da das Einfache eben ihr Ziel ist."

"Beneke  sagt, wir können nicht alles beweisen; etwas muß auch unmittelbar gewiß sein: als solches bezeichnet er das Gegebene."

"Die erste Frage darf nicht sein: Sind die Dinge  objektiv  wirklich? - sondern vorher muß man fragen: Wie kommen wir zur  Idee  der Realität? Wenn man dann findet, daß ihr Ursprung in der Idee des  Dings  liegt, so kann ein Zweifel an der Realität der Dinge überhaupt nicht aufkommen."


Vorrede

Um im Voraus einige Auskunft darüber zu geben, für wen die vorliegende Schrift bestimmt, und was darin zu suchen ist, darf ich nicht auf das Wort  Philosophie  als ein Wort von bekannter Tendenz Bezug nehmen, da diejenigen, welche sie gilt, wohl sehr verschieden über die Philosophie denken mögen. Die Bedeutung, welche der Philosophie zugeschrieben, und die Erwartung, mit welcher sie bei ihrem Auftreten aufgenommen wird, ist einem sehr großen Wechsel unterworfen. Was aber die Menschen immer von neuem zu ihr zurückführt, ist gewiß noch heutzutage dasselbe, wie vor Alters. Es sind dies Fragen, die sich in den Ruhepunkten des Lebens im Rückblick auf dasselbe und in einem Verlangen es im Allgemeinen und Ganzen zu fassen, aufwerfen; auf die sie zwar anfangs eine einzige befriedigende Antwort zu finden hoffen, bei deren Verfolgung sie jedoch nur immer mehr Unbekanntes und Geheimnisvolles gewahr werden, das sich zwischen sie und die Lösung eindrängt; Fragen, die mti der Zeit ein Vermächtnis des Menschengeschlechts geworden sind, und sich bis auf unsere Zeit fortgeerbt haben, ohne ihrem Abschluß näher zu kommen; die vielmehr, wie es sich aus der Einmischung der Leidenschaft in die Forschung erkennen läßt, immer verwickelter geworden sind, und in ihren überlieferten Ergebnissen denen, welche darin Auskunft suchen, Widersprüche nach innen und außen entgegenhalten; so daß die Sachlage schon für viele den Anschein gehabt hat, als bliebe dem Menschen nur die bange Wahl, ob er sich dem Leben, der Natur, der Religion zuwenden, oder ob er philosophieren soll, als fordere die Religion die Fragen der Vernunft zu unterdrücken, oder dränge ihnen gewaltsam eine Antwort auf. Dieser Zwiespalt besteht, wie wohl nicht geleugnet werden kann, heutzutage noch, und kann durch den geringen Ernst, mit dem die Philosohie den Kampf allerdings jetzt zu führen scheint, nicht bedeutungslos werden weil noch Unzählige aus eigenem Interesse sich Fragen aufwerfen, welche sie auf das Studium der Philosophie führen, oder, wenn es nicht so weit kommt, der alte Einfluß der Philosophie auf die Volksbildung noch stark genug ist, denselben Zwiespalt sehr bald bei eigener Verfolgung der Fragen hervorzurufen.

Es ist nun bei der Veröffentlichung der vorliegenden Schrift, in welcher ich den Nachweis führe, daß der ganze Zwiespalt mit allen Widersprüchen der Philosophie in sich und nach außen, sowie ein großer Teil der Schwierigkeiten und des Geheimnisvollen jener philosophischen Fragen nicht in der Sache selbst liegt, sondern erst durch die Philosophie hineingetragen worden ist, und sich sehr einfach aufklärt, wenn man - nicht auf das Nachdenken über jene Fragen, nicht auf die Erfahrungen des gemeinen Lebens, nicht auf die Lehren der Wissenschaften, nicht auf das unbedingte Festhalten an den wunderbaren göttlichen Offenbarungen, sondern nur auf einige philosophische Vorurteile verzichtet - meine Absicht, dem so allgemein verbreiteten Zweifel an der Möglichkeit einer Versöhnung die Tatsache entgegenzustellen, und zu zeigen, wie man wirklich wissenschaftlich philosophieren kann, ohne mit irgendeinem Lebenselement in Widerspruch zu geraten.

Der Hauptgrund der Schwierigkeiten und Verwicklungen, welche von jeher die Philosophie auf ihrem Fortgang begleitet und ihren jetzigen Zustand herbeigeführt haben, ist, wie es sich mir jederzeit ergeben hat, der, daß man geminiglich eher an die  Beantwortung  anscheinend schwieriger Fragen geht, als man sich darüber Rechenschaft gegeben hat, was man mit den  Fragen  meint und will. Man bestrebt sich Erklärungen zu geben, und weiß nicht, was Erklärung sagen will; man sucht über die Richtigkeit eines Urteils eine Entscheidung und kennt den Inhalt des Prädikats nicht: man fragt nach der Realität einer Vorstellung und hat sich noch nicht klar gemacht, was man bei dem Wort  Realität  denkt; man beruhigt sich vielmehr dabei, daß alle Gebildeten ja über den Sinn jener Wörter einverstanden sind. So kann es geschehen, daß Fragen, deren Beantwortung eigentlich auf der Hand liegt, selbst nach den scharfsinnigsten Untersuchungen für unlösbar ausgegeben werden. Nichts tut also der Philosophie mehr Not, als Aufklärung über die Begriffe. Diese muß jederzeit, und wird daher auch hier der erste Gesichtspunkt sein; es wird sich jedoch zeigen, daß es nicht einmal eines Weiteren bedarf, um die Lösung gar mancher philosophischer Probleme zu erhalten.

Auf gleiche Weise hat schon JOHN LOCKE den Anfang der Philosophie richtig gefaßt, wiewohl er sich in der Lösung seiner Aufgabe auf die weniger dunklen Begriffe beschränkt. Die dadurch gegebene Anregung ist gewiß sein größtes Verdienst, so sehr man auch in seiner Beurteilung des soeben hervorgehobenen Punkt außer Acht gelassen hat. Obgleich ich daher mit der Bildung meiner philosophischen Ansicht im Reinen war, ehe ich die LOCKEsche Philosophie kennen lernte, so fand ich doch letztere aus einer  zu  übereinstimmenden Geistesrichtung hervorgegangen, als daß ich nicht meine Arbeit an dieselbe hätte anknüpfen und als Vollführung dessen, was LOCKE wollte, darstellen soll.

Gern hätte ich ebenso - mit Übergehung all der bedeutenden und einflußreichen Philosophen der letzten Jahrhunderte, die allerdings über ihre angewandten Begriffe nicht die geforderte Rechenschaft geben, und ihre aus Unvorsichtigkeit entstandenen Knoten (um dieses Bild zu gebrauchen) ungelöst in ihre System mit eingewebt haben, so daß diese für meinen Zweck völlig unbrauchbar geworden sind - an den Empiriker der Gegenwart BENEKE mich angeschlossen, umsomehr da sich jetzt erst so wenige finden, die dem bestehenden Vorurteil gegen den Empirismus Trotz zu bieten wagen; wenn der Vorrede und Einleitung seiner Metaphysik die Ausführung besser entsprochen, und die in ersteren erweckten Hoffnungen für mich gerechtfertigt hätten. Nach dem Ausfall seiner Bearbeitung jedoch sehe ich mich im Gegenteil in der Lage, mich gegen jede Vermischung seiner Ansichten mit den meinigen verwahren, und erklären zu müsen, daß sich in BENEKEs Werken kein einziger der Hauptpunkte berücksichtigt findet, auf die ich die Klarheit des gesamten philosophischen Begriffsgebietes baue.

Eine haltbare empirische Philosophie kann nicht auf dem Boden spekulativer Systeme stehen, wie sich aus dem Obengesagten wohl genügend erhellen wird. In BENEKEs Metaphysik jedoch findet man durchgehend die Vorstellungsweisen derselben spekulativen Gegner wieder, deren Lehren er auf dem Grund einer sorgfältigeren Psychologie von Irrtümern zu reinigen gesucht hat.

Von LEIBNIZ ist ihm die Ansicht geblieben, das Gegebene müsse einfach sein, die Produkte des Denkens wären nur daraus zusammengesetzt: ein Satz, der aller Empirie widerspricht, da das Einfache eben ihr Ziel ist, und der für ihn ein doppelte Folge hatte. Erstens entging ihm bei dieser Voraussetzung eine Wahrnehmung von großer Wichtigkeit, nämlich daß die Erkenntnis durch eine Umbildung der Vorstellungen zum Einfachen hin das Gegebene unter die Herrschaft des Geistes bringt. Zweitesn wurde er dadurch verleitet, das rückgängige Aufsuchen der Quellen mit der vorwärts drängenden Erkenntnis zu verwechseln, was von jeher die schlimmsten metaphysischen Verwicklungen zuwege gebracht hat. Daher bleibt auch in jeder seiner Ableitungen ein unbekanntes Etwas zurück, und er spricht sich zu wiederholtenmalen in dem Sinne aus, als könne die menschliche Erkenntnis überhaupt über gewisse von ihm vorgezeichneten Grenzen nicht hinwegkommen.

Über KANT meint BENEKE hinausgegangen zu sein, indem er das Sein als der Erkenntnis zugänglich durch das Selbstbewußtsein darstellt. Dennoch hat ihm die Einsicht in die Möglichkeit nicht zu einer wirklichen Auffassung des Seins verholfen, sonst müßte mit dem Wegfallen der letzten Scheidewand die Metaphysik in der Psychologie aufgegangen sein. Stattdessen sehen wir vielmehr das Sein der Außendinge bei ihm dieselbe Rolle spielen wie bei KANT, dessen bloße negative Ansicht hierüber er zu einem Parallelismus zwischen Seele und Ding, zwischen Seele und Leib ausgebildet hat, welcher das Verhältnis beider im Dunkeln läßt, und der Untersuchung desselben nur im Weg steht.

Von CARTESIUS läßt sich BENEKEs Voraussetzung herleiten, die wissenschaftliche Erkenntnis müsse immer von der Gewißheit  begleitet  sein. Er sagt, wir können nicht alles beweisen; etwas muß auch unmittelbar gewiß sein: als solches bezeichnet er das Gegebene. Eine dritte Art, Gewißheit zu erlangen erwähnt BENEKE nicht; und doch ist keine von beiden empirisch. Wie verträgt sich also eine solche Auffassung der Erkenntnis mit der Idee eines wissenschaftlichen Empirismus, den er doch vorher angekündigt hat? Abgesehen davon liegt auch in seiner Annahme des unmittelbar gewissen ein Irrtum.

Ein Anschließen an HERBART gibt sich unter anderem darin kund, daß BENEKE die auf die Seele wirkenden Dinge als gegeben betrachtet, mithin das Verhältnis des Objektiven und Subjektiven zu einer unmittelbaren Wahrnehmung macht. Das System der Metaphysik liefert selbst zahlreiche Zeugnisse dafür, wie ungenügend eine solche Auffassung ist: man beachte nur, daß in jeder seiner Abteilungen das genannte Verhältnis dieselbe Schwierigkeit bietet, die er (wie es sich auch auf Seite 228 ausgesprochen findet) schwerlich glauben kann gelöst zu haben.

Die hier genannten Punkte sind sämtlich der Art, daß man nicht leich von ihnen absehen, sie als unwesentlich beiseite lassen kann; sie sind nicht Ergebnisse, sondern die Grundlage aller Betrachtung, die demnach als empirische auf nicht empirisches, ohne Prüfung aufgenommenes fußt. Ihre Zusammenstellung mag hier einem doppelten Zweck dienen: erstens, mein unabhängiges Auftreten ohne Bezugnahme auf die von BENEKE vor Jahren gelieferte Bearbeitung eines ähnlichen Gegenstandes zu rechtfertigen; zweitens, gleich am Anfang vor einigen Klippen zu warnen, welche den Verfolger der empirischen Richtung drohen, und den Feinden derselben zu Schlupfwinkeln ihrer Argumentation dienen; was in der Schrift selbst erst in den späteren Abschnitten geschehen konnte.



Einleitung

Zu Anfang des 17. Jahrhunderts trat BACO von VERULAM mit dem Ausspruch auf:  Allein die Erfahrung ist eine sichere Grundlage allen Wissens  - und wurde dadurch die Veranlassung, daß die Naturwissenschaften, sich von den philosophischen Theorien frei erklärend, in verhältnismäßig kurzer Zeit auf dem neu eröffneten empirischen Weg zu einer Blüte gelangten, welche demselben eine vollkommene Rechtfertigung verschafft hat. Die Philosophie hingegen, welche sehr bald wieder vom bezeichneten Weg in den der abstrakten Theorie einlenkte, ist nach großem Aufwand von Mühe und Scharfsinn in derselben Zeit auf einem Punkt angekommen, von dem jeder, der sich nicht durch eine künstliche Ausstattung blenden läßt, sagen muß, daß er noch immer die Wissenschaft in ihrer Kindheit darstellt, daß er von einer zur allgemeinen Anerkennung gebrachten Lösung der allerersten Fragen noch weit entfernt ist.

Diese zwei Tatsachen hat man wohl schon öfters vergleichend ins Auge gefaßt, ohne daß man gewagt hätte, dem natürlichen Schluß Raum zu geben: die Philosophie habe dem Beispiel der Naturwissenschaften zu folgen, und werde dann mit mehr Aussicht auf Erfolg ihrem Ziel entgegengehen. In der Tat läßt auch jene Vergleichung ansich noch genug Grund zu Bedenken übrig: denn es fragt sich, ob die Philosophie nicht unterscheidende Grundeigenschaften hat, welche die Annahme des empirischen Verfahrens verbieten. Namentlich aber steht der Ausführung die so allgemein verbreitete Ansicht entgegen, die Erfahrungsphilosophie habe sich bereits als unzulänglich erwiesen. Gleichwohl wird sich die Notwendigkeit das Unternehmen zu beginnen gewiß als unabweisbar darstellen, wenn es mir vergönnt ist, folgende zwei Behauptungen durchzuführen.
    1. Die ersten Versuche erfahrungsmäßiger Philosophie haben eine genügende und unbefangene Beurteilung bis jetzt noch nicht gefunden; es fehlt demnach noch jede Berechtigung über die Unzulänglichkeit ihrer Prinzipien abzusprechen.

    2. Eine konsequente und rücksichtslose Durchführung ihrer Grundsätze ergibt eine befriedigende Harmonie der Philosophie mit den Wissenschaften einerseits, und mit der geoffenbarten Religion andererseits, sowie die Beseitigung jedes Widerspruchs in ihrem eigenen Gebiet, ohne Beeinträchtigung irgendwelcher wissenschaftlicher Forderungen, welche man an sie zu machen berechtigt ist.
Hiermit ist vorläufig Gegenstand und Zweck der vorliegenden Schrift bestimmt. Ich habe absichtlich den darin zu behandelnden Stoff auf den kleinsten Umfang eingeschränkt; denn während ihre isolierte Stellung unter den philosophischen Bestrebungen der Neuzeit sie auf der einen Seite in einen bedeutenden Nachteil gegen andere Arbeiten bringt, welche hinreichend viele Anknüpfungspunkte in der Gegenwart vorfinden, so soll sie auch auf der anderen die günstigen Umstände, welche ihr vor vielen anderen zugute kommen, in vollem Maß benutzen. Sie erklärt Einfaches auf einfache Weise; darum soll ich auch nicht das ansich leichte Verständnis durch eine Überladung entzogen werden. Sie baut die Sicherheit ihrer Behauptungen nicht auf bloße Konsequenz; darum soll sich auch nicht die einzelne Lehre unter der schützenden Decke eines umfangreichen Systems verbergen, aus welchem heraus sie erst zu verstehen wäre, sondern jede soll sich so gut wie das Ganze dem Urteil des Lesers bloßstellen. Sie hat Vorgänger, welche die Idee der Erfahrungsphilosophie in ihrer Reinheit aufgefaßt und bewahrt haben; darum braucht sie nicht eine Kritik der Produktionen eines langen Zeitraums vorauszuschicken, sondern soll sich unmittelbar an diejenigen anschließen, zu denen sie in der nächsten Beziehung steht, nämlich die Schriften von LOCKE (1), HUME (2) und BERKELEY (3); während sie die Philosophie von KANT und FICHTE erst am Schluß in Betrachtung ziehen wird, bloß um daran zu zeigen, welche Bedeutung wir dem Verlassen des empirischen Weges zuzuschreiben haben, und wohin der Abweg geführt hat.


1. Locke

Um LOCKEs  Versuche  richtig zu verstehen, ist es, nicht nur für den Laien, sondern vielmehr auch für den an eine ganz andere Betrachtungsweise gewöhnten Philosophen, nötig, auf die geringen Ansprüche und die enge Begrenzung seiner Untersuchungen zu achten. Er will lieber ein klares Erkennen in geringem Umfang, als die Fähigkeit jede ihm gestellte Frage zu beantworten, ohne jene vollkommene Klarheit. Ein Urteil entbehrt nach ihm der Klarheit, d. h. kann, obwohl bewiesen, noch ebensogut falsch wie richtig sein, wenn wir nicht von jedem darin enthaltenen Gedanken Rechenschaft geben können, woher wir ihn erworben haben. Hieraus geht ihm die Frage hervor: Wie ist der Inhalt des Verstandes in die Seele gekommen? Er widerlegt zuerst die Ansicht, nach welcher gewisse Begriffe und Grundsätze angeboren sind, und unverändert in der Seele bleiben. Sie können nicht angeboren sein, weil sie Kindern und Ungebildeten unbekannt sind; wir haben auch keine Ursache, sie als angeboren zu betrachten, denn es gibt hinreichende Quellen, aus denen sie in jedem Alter entnommen sein können. Unsere Sinne führen uns Vorstellungen zu, welche den anfänglich leeren Raum der Seele erfüllen, und durch Abstraktion gewinnt sie daraus allgemeine Begriffe.

Den sehr ins Einzelne gehenden Nachweis dieses Vorganges übergehen wir als von geringerem Interesse. Dagegen müssen wir desto deutlicher herausstellen, worin LOCKEs Ansicht besteht. Er führt durch, daß keine Ideen (d. h. Vorstellungen, Gedanken, Begriffe, Grundsätze unter einem Namen zusammengefaßt) von der Geburt an in der Seele gewesen, sondern sämtliche im Verlauf der Zeit in dieselbe gekommen sind. Wie der Vorgang beim Übergang in die Seele ist, ob die Dinge außerhalb der Vorstellung vorhanden, wie die Seele beschaffen ist um sie aufzunehmen, darüber gibt er weder eine Untersuchung noch eine Ansicht; denn solche Fragen hat er gleich von Anfang als außerhalb seines Zweckes liegend von der Hand gewiesen (4). Vielmehr ist es die reine Tatsache, welche er zum Beweis anführt, und die auch dazu genügt. Der Ausdruck hingegen, welcher mitunter darauf zu deuten scheint, als wenn LOCKE die Vorstellungen von Gegenständen außerhalb der Seele ableiten wollte, hat keinen Zweck, als den Leser zur Erinnerung an die Tatsache zu vermögen. Der sicherste Beweis gegen die Deutung des Ausdrucks als einer Ansicht des Verfassers ist aber eine spätere Stelle (5), in welcher er wirklich eine Ansicht über das Verhältnis der Seele zum Ding gibt, und zwar eine solche, die der untergelegten geradezu widerspricht. Er erklärt nämlich, wie wir zur Idee eines Dings kommen, indem er sagt:
    "Wir haben öfters Gelegenheit wahrzunehmen, daß gewisse einfache Ideen beständig zusammen auftreten, als wenn sie einem Einzigen angehörten; wir fassen daher dieselben in eine Idee zusammen, und benennen die vereinigten mit einem Namen. Weil wir uns jedoch nicht denken können, daß die einzelnen Ideen für sich bestehen können, so nehmen wir ein Substrat an und nennen dasselbe  Substanz  (d. h. wie sich aus den Beispielen  Pferd, Stein  erhellt, nichts anderes als  ein Ding)." 
LOCKEs Ansicht also ist, daß wir die Idee eines Dings durch eine Vereinigung derjenigen Sinneseindrücke gewinnen, die hernach seine Merkmale bilden, und denen wir das Ding als einen Träger unterlegen. Diese Ableitung müssen wir als die interessanteste von allen hervorheben: mit ihr tritt er an die Grenze seines Untersuchungsfeldes und verschafft uns einen Blick in ein neues. Gerade weil sie auf eine so rohe, unentwickelte Weise vollzogen wird, und eine Menge Fragen unentschieden läßt - z. B. was wir uns unter einem solchen Träger der Merkmale denken, und was die letzteren so unselbständig macht, daß sie eines solchen bedürfen? - fordert sie zur Stellung dieser Fragen auf und lenkt die Untersuchung auf eine bestimmte Bahn.

Was LOCKE betrifft, so erkennt er sehr wohl den Mangel in der Ableitung und erklärt daher, daß wir keine klare Idee von einer Substanz haben. Für seine Ansicht aber geht daraus hervor, daß er nicht die Sinneseindrücke von den Dingen ableitet; denn sonst würde er sich im Kreis bewegen, jene aus diesen und diese wieder aus jenen deutlich machen wollen. Daß LOCKE jedoch der besprochenen Mißdeutung nicht zuvorgekommen ist, darf nicht wundern, wenn man bedenkt, daß dieselbe auf Unterscheidungen beruth, die erst nach ihm (von KANT) ans Licht gezogen worden sind, an die daher LOCKE nie gedacht hat. Übrigens enthält der Ausdruck ansich keine Ungenauigkeit und läßt sich vollkommen rechtfertigen, wie sich dies später wohl von selbst erhellen wird.

Es ist bemerkenswert und charakteristisch für die nicht empirische Philosophie dem gemeinen Bewußtsein gegenüber, welche zwei entgegengesetzte Angriffe LOCKE erfahren hat. Ein Zeitgenosse beschuldigt ihn, daß er die Realität der Außenwelt leugnet, indem er sagt: "Wir nehmen ein Substrat an un nennen dasselbe  Substanz."  LOCKE hat jedoch erklärt, daß er sich mit Fragen über die Realität der Substanz gar nicht befassen will und überläßt es denen, welche solche unklaren Begriffe gebrauchen, sich dabei zu denken, was sie wollen, und antwortet ganz einfach: er habe ja die Dinge als existierend überall gelten lassen, an jener Stelle hingegen nur von der Idee der Substanz gesprochen. Gerade umgekehrt wird ihm von Neueren eine Inkosequenz zur Last gelegt, indem bei ihm alle Erkenntnis subjektiv sei, während er doch die objektive Realität der Dinge stehen läßt. Hier kann man deutlich sehen, wie eine Schwierigkeit, die nicht in der Sache liegt, und welche das gemeine Bewußtsein nicht findet, erst durch die Philosophie hineingetragen wird, wenn diese mit allgemeinen Begriffen wirtschaftet, ehe sie über deren Ursprung Rechenschaft geben kann. Die erste Frage darf nicht sein: Sind die Dinge objektiv wirklich? - sondern vorher muß man fragen: Wie kommen wir zur Idee der Realität? Wenn man dann findet, daß ihr Ursprung in der Idee des Dings liegt, so kann ein Zweifel an der Realität der Dinge überhaupt nicht aufkommen, und doch bleibt die Erkenntnis rein subjektiv. LOCKE ist also nicht nur innerhalb seiner selbstgesteckten Grenzen von jeder Unklarheit frei geblieben, sondern hat sogar in Fragen, welche darüber hinausliegen, einen Fallstrick vermieden, und das Rechte durchgefühlt.


2. Hume

Weniger glücklich in diesem Punkt war HUME, der gleich LOCKE den Inhalt des Verstandes aus den Sinneseindrücken abzuleiten suchte. Während jedoch LOCKE sich selbst Grenzen gesteckt und seine Arbeit zur Fortsetzung offen gehalten hatte, wollte HUME, in der Voraussetzung, daß das menschliche Wissen natürliche Grenzen hat, gerade bis an diese gehen. Gleichgültig ob sie eng oder weit wären, befreundete er sich gern mit den Schranken der menschlichen Erkenntnis; und so ist es leicht erklärlilch, daß sie für ihn ziemlich eng ausfielen.

Er motiviert die LOCKEsche Ableitung der Ideen näher dadurch, daß er drei Arten angibt, wie eine Idee eine andere erregen kann: nämlich durch Ähnlichkeit, Angrenzen und Kausalverbindung. Um nun deren Ideen wieder herzuleiten, geht seine Untersuchung, da die beiden ersten augenscheinlich unmittelbar von den Sinnen entnommen werden können, allein und ausführlich auf die dritte.

Suchen wir die Kausalverbindung in den Objekten, so finden wir nur ein konstantes Aufeinanderfolgen der Erscheinungen, nicht aber eine notwendige Verbindung von Ursache und Wirkung. Suchen wir sie im Subjekt, so bietet sich hier allerdings eine solche dar, indem die Bewegung des menschlichen Körpers dem Willen der Seele folgt. Aber eine klare Idee, wie sie als Grundlage sicherer Erkenntnis erforderlich ist, läßt sich deshalb nicht daraus ableiten, weil die Art, wie der Wille auf die Bewegung des Körpers wirkt, uns gänzlich unbekannt ist. Folglich gibt es überhaupt keine klare Idee der notwendigen Kausalverbindung.

Durch diesen Schluß gelangte HUME zu seinem Zweifel an der Möglichkeit einer begründeten wissenschaftlichen Erkenntnis, indem diese die Idee der notwendigen Kausalverbindung voraussetzt und übte dadurch einen bedeutenden Einfluß auf den ferneren Entwicklungsgang der Philosophie; nur daß sich nach ihm der Zweifel nicht gegen die Idee, auch nicht gegen den Schluß, sondern gegn die gesamten empirischen Ableitungen wandte.

So gern sich nun auch HUME damit begnügte, diese Schranken des menschlichen Wissens zu kennen, so wenig mögen wir seinen übereilten Schluß gelten lassen. In der Tat finden wir bei genauerer Betrachtung der Ableitung, daß sie in ihren Elementen ganz richtig und vollständig war, und das Mißlingen nur auf einer einseitigen Teilung beruhte. HUME teilte die Ursache der Idee, aber die Idee selbst ließ er ganz; und da in keinem von beiden Teilen die vollständigen Bedingungen für die ganze vorhanden waren, so folgerte er sogleich, sie seien überhaupt unzureichend, ohne zu bedenken, daß sie sich auch aus beiden Teilen ergänzen können. In der konstanten Assoziation der Erscheinungen lagen die vollständigen reellen Bedingungen der Erkenntnis, in der Wirkung des Willens auf den Körper die bildliche Anschauung, unter der wir das Verhältnis der Erscheinungen zu betrachten pflegen. Ob wir jene Wirkung erklären können, ist ganz gleichgültig, wenn es auf die Begründung einer Kausalverbindung ankommt; das Bild hingegen, welches die Idee einer Kausalverbindung erst zu dem macht, was sie in der gemeinen Vorstellung ist, wird unmittelbar von einer Erscheinung entlehnt, die wir jederzeit vor uns haben, und die nicht erst eine Umwandlung im Denken zu erfahren braucht.


3. Berkeley

Wir kommen nun zum dritten Philosophen, welcher den bezeichneten Weg eingeschlagen hat. BERKELEY wendet gerade die meiste Aufmerksamkeit auf den Punkt, welchen LOCKE unberührt gelassen hatte, nämlich die Frage: Gibt es außer der Vorstellung von den Dingen noch Dinge-ansich, welche unabhängig von unserer Vorstellung bestehen? Auch er faßt die Frage von der empirischen Seite auf; es handelt sich also darum, zu finden, was dem Gedanken eines solchen Bestehens außerhalb der Vorstellung zugrunde liegt. Mit der Antwort ist er jedoch bald fertig. Alles was sich von den Dingen sagen läßt, ist vollständig in der subjektiven Vorstellung enthalten: nach Wegnahme der Sinneseindrücke bleibt von den Dingen nichts übrig. Man kann daher mit einem Bestehen der Dinge außerhalb der Vorstellung überhaupt keinen Gedanken verbinden, es müßte denn das Ding selbst ein empfindendes Wesen sein. Hieraus folgert BERKELEY, daß nur Geister existieren können, andere Wesen hingegen einzig in der Vorstellung jener bestehen. Er führt hierauf eine große Menge von Einwürfen sowohl des gemeinen Bewußtseins als auch der Wissenschaft an, die er der Reihe nach widerlegt. Die des ersteren leitet er aus dem gewohnten Gebrauch von Worten ab, bei welchem man nicht zu fragen pflegt, ob ihnen ein Sinn zugrunde liegt; die der Wissenschaft bestreitet er, indem er zeigt, daß wo es sich um wirkliche Dinge handelt, die außerhalb der Seele angenommene Materie durchaus überflüssig ist, wo hingegen Theorien auf Begriffe gebaut werden, große Irrtümer aus jener Annahme hervorgehen. BERKELEY hat also mit dem gemeinen Bewußtsein gebrochen, indem er sagt: "Es irrt; und man muß, um richtig zu denken, die Außenwelt anders betrachten als dasselbe." Auf der anderen Seite führt er durch, daß durch das Aufgeben jener falschen Ansicht von der Realität der Dinge die Wissenschaft nichts einbüßt.

Beides ist zu voreilig geschlossen. Ob das gemeine Bewußtsein im Großen und Ganzen irren kann, wollen wir für jetzt dahingestellt sein lassen. BERKELEY selbst hat aber zugegeben, daß es nichts wesentliches zur richtigen Ansicht von den Dingen hinzutut. Es unterscheidet sich daher nur durch seine abweichende Anschauungsweise. Ob diese begründet ist, darüber hat er keine Untersuchung angestellt, was nach dem HUMEschen Verfahren sehr wohl möglich war. Die zweite Behauptung bedarf zumindest einer Einschränkung. Daß die Grundlagen der Wissenschaft, sowie ihre Anfangsgründe die Annahme einer Materie außerhalb unserer Vorstellung entbehren können, ist allerdings begreiflich. Daß sich aber ausgebildete Wissenschaften, wie Physik und Mathematik, über sehr enge Grenzen erheben können, wenn man keine völlige Abstraktion den Grundlagen, auf denen die gebildeten Begriffe beruhen, verlangt, wird keiner, der diese Wissenschaften kennt, zugeben. BERKELEY gibt deutlich zu erkennen, daß er von einem Fortschreiten der Erkenntnis durch Abstraktionsketten keinen Begriff hat. Er stellt sich auf einen Standpunkt, von dem aus er den Ursprung seiner Ideen deutlich unterscheiden kann, und welcher gewissermaßen noch niedriger als der der gemeinen Vorstellung ist. Von diesem weicht er nicht ab, und erklärt alles, was er von da aus nicht erkennen kann, zum Irrtum.


4. Über die Stellung der drei Werke
im Entwicklungsgang der Philosophie

Die spätere Philosophie nach BERKELEY und HUME bietet uns nichts mehr, was für unseren Zweck brauchbar wäre. Wir können uns auch auf die drei genannten Arbeiten beschränken, und es bleibt uns nur übrig, ihre Stellung im Entwicklungsgang der Philosophie richtiger zu bestimmen, als es gemeinhin geschieht. Man hat die Philosophie der drei in Rede stehenden Männer, teils gemeinschaftlich, teils mit Unterscheidung, durch die Namen  Realismus, Spiritualismus, Materialismus, Sensualismus, Empirismus  charakterisieren und dem  Idealismus welcher sich in Deutschland entwickelte, entgegensetzen wollen. In einigen dieser Bezeichnungen geben sich sogleich irrige Auffassungen kund. Mit Realismus bezeichnet man diejenige Philosophie, welche die Dinge als wirkliche, selbständige voraussetzt, und von ihnen den Inhalt des Geistes ableitet; und rechnet namentlich die LOCKEsche dazu. Daß dies mit Unrecht geschieht, haben wir bereits nachgewiesen. LOCKE hat sich nichts mit der Frage über die Realität der Dinge zu tun gemacht, noch etwas aus einer solchen Voraussetzung abgeleitet. Ebensowenig lassen sich HUME und BERKELEY zu den Realisten zählen. Die Stellung, welche man Letzterem fälschlich anweist, hängt genau mit der Mißdeutung LOCKEs zusammen. BERKELEY nämlich gelangte, von LOCKE ausgehend, zu dem Resultat, daß nur Geister existieren können. Aus dem  Realismus  wurde also ein  Spiritualismus:  jener war, und, wie man meinte, notwendigerweise, in sein Gegenteil übergegangen. Wenn man jedoch die Übereinstimmung in den Grundsätzen beider Philosophen festhält, so gibt sich durch diesen Ausfall nur zu erkennen, daß die Anerkennung und Nichtanerkennung der existierenden Dinge gar kein Hauptmerkmal sind, welches die Stellung jener zwei Philosophien unter sich und zu den übrigen bezeichnen könnte. Überdies war das negative Resultat BERKELEYs die Grenze seiner Untersuchung, und enthielt keinen Keim neuer Produktionen; denn die scheinbaren Folgerungen, welche durch die französischen  Materialisten  daraus gezogen wurden, stehen nur in sehr äußerlicher Verbindung damit. Er hatte gefunden, daß die Dinge nicht  sind;  sie meinten, nichts wesentlich anderes zu tun, wenn sie die Existenz der Seele leugneten. Müssen wir nun auf der einen Seite die Bezeichnungen  Realismus, Spiritualismus, Materialismus  zurückweisen, so können wir auch auf der anderen die Bezeichnung  Idealismus auch wenn derselbe durch einen subjektiven Ausgangspunt charakterisiert sein soll, nicht als ausschließenden Gegensatz anerkennen. Denn wenn alle Vorstellungen von den Sinnesempfindungen abgeleitet werden, so ist der erste Vorgang ein rein psychischer, mithin liegt auch hier der Ausgangspunkt im Subjekt.

Suchen wir das wahre Kennzeichen der Stellung dieser drei Philosophen unter sich zu den übrigen, so ist dasselbe deutlich genug in ihren Schriften ausgesprochen. Jedes Prinzip des Erkennens, jeder Begriff, jeder Gedanke hat einen nachweisbaren empirischen Ursprung, und erhält erst durch denselben seine volle Geltung. Insofern diese Ansicht den drei Philosophen gemeinsam ist, gilt die Bezeichnung  Empirismus  für sie zusammen. Die Sensation hingegen ist weder Prinzip noch Begriff noch Gedanke, und daher nicht nachzuweisen. Auch dies liegt ihnen allen zugrunde; darum kann man auch die Benennung  Sensualismus  auf alle anwenden; nur nicht als ob die Sensation ihre Annahme wäre, wie sie die spekulative Philosophie, die eine solche nötig hat, ihnen gern zuschreiben möchte, sondern bloß als ein äußerliches Merkmal, das eben zutrifft. Das gegenseitige Verhältnis ist einfach das, daß sich HUME und BERKELEY an LOCKE anschließen, und seine Arbeit fortsetzen. Indem sie dabei Elemente scheiden müssen, die in Locke noch unentwickelt verborgen liegen, treten allerdings einige Differenzen hervor, denen wir jedoch, so wichtig sie auch für sich betrachtet sind, keinen rückwirkenden Einfluß auf ihre Grundansicht zuschreiben können, da sich dieselben, bei Licht besehen, wieder ausgleichen und beide die Grundbedingung sicherer Erkenntnis, trotz ihres Mißlingens, nie bezweifelt haben.

Um nun dem gegenüber zu zeigen, wie mangelhaft und schief die Auffassung des Empirismus ist, welche gegenwärtig noch Geltung hat, wollen wir das Urteil der spekulativen Philosophie damit zusammenstellen, und wählen zu diesem Zweck eine sehr charakteristische Stelle (6) aus IMMANUEL HERMANN FICHTEs "Geschichte der Philosophie", einem Werk, das wegen seiner klaren und eingehenden Kritik unstreitig zu den bedeutendsten seiner Art gehört. Hier heißt es:
    "In  Lockes  Theorie bleibt es, wie so lange noch später, eine nicht zu bezweifelnde Voraussetzung, daß die Seele "affiziert" wird von den Außendingen mittels der Sinne; sodann, daß die dadurch entstandenen Sensationen treue Nachbilder des Wesens und der Eigenschaften jener gegenständlichen Welt sind; ein Satz, der nur die unmittelbare Folge des ersten enthält. Es fiel jener Theorie nicht ein, diese Voraussetzung näher zu erörtern oder tiefer zu begründen, ja nicht einmal sie als bloße Voraussetzung - demnach als Unbewiesenes - anzuerkennen."
Diese Kritik ist, anderen weniger gewissenhaften Kritiken gegenüber, den Tatsachen treu genug, zu bekennen, daß LOCKE solche Voraussetzungen nie ausgesprochen hat; sie sagt nur, er  hätte  dieselben als solche anerkennen  sollen,  und dies ist es eben, was wir bestreiten. Daß die Seele von den Außendingen durch die Sinne affiziert wird, meint FICHTE, soll begründet werden. Das erste Geschäft für den Empirismus mußte dann natürlich sein, zu untersuchen, was wir uns dabei denken, oder wie wir zu dieser Vorstellung kommen. Welche Quelle konnte sie für LOCKE haben, als die Sensation? Der Zweck dieses Geschäfts soll sein, hernach auf diese Vorstellung die Sensation zurückzuführen, die doch rein gegeben ist. FICHTE macht sich also einer vollständigen Verkehrung des Sachverhältnisses schuldig und verlangt von LOCKE, er soll das Unbekannte dem Bekannten vorhergehen lassen; jenes erörtern, ehe er von diesem sprechen kann.

Vergleichen wir damit, was LOCKE tut. Er nennt beides, die Sensation und die Außendeinge - denn die erstere läßt sich einmal nicht ohne die letzteren deutlich bezeichnen - setzt nicht hinzu, welches von beiden zuerst betrachtet werden muß, sondern gibt die Entscheidung darüber durch die Tat, indem er die Sensatioin allein betrachtet, und die Außendinge unerörtert läßt, und führt mithin die Untersuchung von einem natürlich gegebenen Anfang so weit fort, als eben sein Blick in den Gegenstand einzudringen vermochte, während er es seinem Nachfolger BERKELEY überlassen muß, sein Werk - nicht zu unterbauen, sondern weiter zu fördern. Da mithin LOCKE tatsächlich das Rechte wählt, welchen Grund hat FICHTE, anzunehmen, er habe das Falsche im Sinn gehabt und zu verlangen, daß er es aussprechen soll?

Die angeführte Stelle enthält gleichwohl keine individuelle Ansicht FICHTEs, sondern ist ein Urteil völlig im Geist der spekulativen Philosophie, welche sich nicht davon losmachen kann, die Theorie der Beobachtung vorangehen zu lassen. Ich glaube daher hinreichend dargetan zu haben, daß die gegenwärtig geltenden Urteile über den Empirismus, wie er aufgetreten ist, da sie Sinn und Bedeutung des letzteren so gänzlich verfehlen, auch nicht als Beweis für irgendwelche Mängel desselben gebraucht zu werden verdienen.

Nach diesem historischen Eingang können wir uns nun zur Sache selbst wenden. Das Wesen des Empirismus, so wie die Schwierigkeiten, auf welche die Durchführung seiner Grundsätze in der Philosophie gestoßen ist, haben wir kennen gelernt, zugleich jedoch gesehen, daß sie nicht unüberwindbar sind, und wollen nun sogleich eine ausgedehntere Anwendung davon machen.


5. Aufgabe des Empirismus

Gehen wir ganz in LOCKEs Grundsatz ein: Keine Idee ist uns angeboren, alle haben wir erst im Verlauf der Zeit gewonnen - so ergibt sich daraus unsere Aufgabe, die Wege zu untersuchen, auf denen alle Ideen, d. h. das gesamte geistige Eigentum, erworben sind. Wo der Anfang der Ideen ist, hat LOCKE bereits gesagt; aber solange er nur diesen einen festen Punkt hatte, war die Aufgabe, alle Ideen genetisch zu entwickeln, eine so umfangreiche, daß er selbst sich nur einen kleinen Teil derselben zu lösen getraute. Hier müssen wir uns einen Plan entwerfen, und versuchen das große Gebiet der Ideen einzuschränken, was nicht schwer ist. Diejenigen Ideen, welche wir von der ersten Kindheit an erwerben, und die wir in uns vorfinden, sobald wir unser reflektierend bewußt werden, sind gering an Umfang, aber von dunklem Ursprung, die später hinzugekommenen sind grenzenlos ausgedehnt, aber ihr Ursprung und ihre Entwicklungsgeschichte liegt vor aller Augen, und kann leicht nachgewiesen werden. Es ist daher begreiflich, wie die erste Periode nicht nur der erste Gegenstand unserer Untersuchung sein muß, sondern auch vielleicht der einzige bleiben kann, wenn es sich nur darum handelt, die Möglichkeit der Durchführung zu überblicken. Wir haben nun einen Anfang und ein Ende gewonnen, und unsere Aufgabe lautet demnach:  Wie sind die einzeln in uns aufgekommenen Vorstellungen das geworden, was sie sind, wen wir zum ersten reflektierenden Bewußtsein kommen? 

Ich nenne die Vorstellungen in ihrem ersten Auftreten zusammenfassend die  gegebene Vorstellung,  und wie wir uns später ihrer bewußt sein, die  gemeine Vorstellung.  Die letztere kennen wir hinreichend; um die erstere richtig aufzufassen, haben wir nur in Betracht zu ziehen, daß alles Denken eine Verbindung von Vorstellungen voraussetzt, daß also in der gegebenen Vorstellung kein Gedanke liegen kann. Was übrig bleibt, wenn man von einer sinnlichen Vorstellung alles entfernt, was einen Gedanken enthält, ist Sinnesempfindung. Ein Beispiel möge jeder Mißdeutung wehren.

Wenn ich einen blauen Gegenstand sehe, so habe ich eine Gesichtsempfindung, welche der blauen Farbe entspricht. Diese Empfindung ist mir als eine  für sich bestehende  Tatsache sehr wohl bekannt. Dennoch, wenn ich daran denke, oder davon spreche, mischt sich in die Vorstellung sogleich mehr, was nicht Empfindung ist. Ich denke einen Gegenstand,  welcher  blau ist, denke eine Einwirkung, welche ich von ihm erhalte, ein Organ das Auge, welches mir dieselbe zuführt, denke den Gegenstand, sowie das Auge an einem bestimmten ORt und das Sehen in einer bestimmten Zeit, schließlich halte ich den Gegenstand nicht für einen bloß für mich vorhandenen, sondern für einen, den jeder andere an meiner Stelle auch sehen würde. All das ist nicht Empfindung, und muß, um die gegebene Vorstellung rein zu erhalten, erst weggedacht werden.

Die genannten, die Sinnesempfindung begleitenden Vorstellungen, werden, in entsprechender Allgemeinheit gefaßt, wiederum die Merkmale liefern, wodurch sich die gemeine Vorstellung von der gegebenen unterscheidet. Es sind dies folgende sechs Punkte: In der gemeinen Vorstellung werden
    1) die Sinneseindrücke von Dingen abgeleitet, die der Seele als etwas heterogenes, aber koordiniertes gegenüberstehen;

    2) die Dinge als aufeinander und auf die Seele wirkend gedacht;

    3) ihnen in einem allumfassenden Raum ein Ort beigelegt;

    4) die Sinneseindrücke folgen der Zeit nach aufeinander, und nehmen in der Zeit eine absolute Stelle ein;

    5) sie finden ihren Weg von den Dingen zur Seele nur durch den menschlichen Körper;

    6) die Welt der Ding ist in den Vorstellungen aller Seelen gemein.
Es müssen mithin alle Menschen folgende sechs Idee gewonnen haben: Die der reellen Substanz, der Kausalverbindung, des Raums, der Zeit, des menschlichen Körpers und des gemeinschaftlichen Weltbesitzes. Wenn wir diese sechs Idee aus dem Gegebenen ableiten, und die Form, in der sie vorgefunden werden, durch die Ableitung selbst erklären können, so ist im Wesentlichen das Ziel erreicht; denn die Möglichkeit, das Gleiche mit allen andern zu tun, wird nachher wohl keinem Zweifel mehr unterworfen sein. Wir haben dabei nicht zu beweisen, daß der Hergang bei jedem Menschen genau der beschriebene sein muß: Verkehr, Erziehung und Nachahmung bringen vieles auf kürzerem Weg bei. Von einer solchen Hilfe müssen wir jedoch absehen, weil der Helfende die Ideen bereits hat. Daß die möglichen Abweichungen keinen Einfluß auf die Ideen selbst und deren Klarheit haben können, wird sich später ergeben.


6. Die Idee der reellen Substanz

Die Seele in ihrem anfänglichen Zustand, wie er nach LOCKEs und unserer Ansicht sein muß, würde sich in einem Chaos von Sinnesempfindungen befinden, welches wirkungslos in ihr wechselte, wenn sich nicht die einen vor den andern auszeichneten, und einen bleibenden Eindruck aus sie machten. Offenbar wird das länger dauernde über das schnell wechselnde, der gemeinschaftliche Wechsel mehrerer Eindrücke über den anscheinend ungeordneten, das Gleichartige und Ähnliche über das Unähnliche, in Vielheit zerfallende in der Erinnerung den Sieg behalten. Die Seele wird von selbst überall aus dem Wechsel das Bleibende, aus dem Vielen das Einige und Verbundene hervorsuchen; und da sie das, was sie behalten kann, beherrscht, während sie der neuen Empfindung unterworfen ist, jede sich darbietende Erleichterung des Festhaltens der Eindrücke ergreifen. Eine solche Erleichterung gewährt es ihr, daß diejenigen Gruppen von Sinneseindrücken, welche nach der gemeinen Vorstellung von ein und demselben Ding herrühren, durch einen gemeinschaftlichen Wechsel, Angrenzen usw. hinreichende Weisung geben, daß sie sich als zusammengehörig betrachten lassen. Sie werden also zu einer Vorstellung vereinigt. Die zusammengefaßten Eindrücke wechseln, das Band derselben bleibt davon unberührt. Die Seele behält daher nur die bleibende Einheit und läßt die einzelnen Eindrücke an sich vorübergehen, weil sich letztere am Faden der ersteren immer wieder herbeiziehen lassen. Dieses Band einer einzelnen Gruppe von Sinneseindrücken ist die Idee eines Dings in ihrer ersten Gestalt, wie sie LOCKE darstellt. Sie ist bloß ein Gedanke, und als solcher in der Seele. Diese soll aber das Ding als etwas außer ihr stehendes, ihr in gewissem Sinne koordiniertes betrachten. Wie kommt sie zu dieser Vorstellung?

Koordiniert werden können nur ähnliche Gegenstände. Es muß also zwischen der Seele und dem Ding eine Ähnlichkeit stattfinden. Eine solche bietet sich auch dar, und zwar eine so hervortretende, daß an ein Verfehlen des rechten Punktes nicht wirklich zu denken ist: nämlich in einem beiderseitigen Verhältnis zu den Sinneseindrücken. Gleichwie die Seele alle die ihrigen in sich vereinigt, so ist auch das Ding der Vereinigungspunkt derer, die in ihm zusammengefaßt sind. Diese Ähnlichkeit, welche hiermit erst allgemein hingestellt ist, läßt sich jedoch sehr weit ins Einzelne verfolgen: wir werden darin die Erklärung mancher Tatsachen, und in diesen wiederum die Bestätigung finden, daß die Seele wirklich das Ding mit sich vergleicht und als ihr eigenes Abbild betrachtet; wobei noch folgendes zu beachten ist. Eine bildliche Vergleichung besteht nicht bloß in der Auffassung dessen, was zwei Gegenständen tatsächlich gemeinsam ist; sondern es verbindet sich damit, überall wo es angeht, eine Übertragung der Attribute von einem auf den andern. Ist einmal das Ding Abbild der Seele, so wird auch bald alles, was dem Ding zukommt, das Abbild einer Eigenschaft der Seele: und letztere strebt sogar danach, für jedes eigene Attribut das Entsprechende am Ding aufzufinden. Hierdurch erklärt es sich, warum wir den Dingen Existenz zuschreiben, und was der Inhalt dieses Gedankens ist. Wenn wir die Seele als existierend denken, so wissen wir, was wir dabei denken: der Inhalt des Gedankens ist hier in der Empfindung gegeben, wie schon BERKELEY sagt, daß wir empfindende Wesen sehr wohl als seiend denken können; nur ist hier zwischen Sein und Leben kein Unterschied. Diese Existenz überträgt nun die Seele auch auf das Ding. So ist also das Ding als  existierend  ein Abbild der  lebenden  Seele.

In der beschriebenen Umgestaltung der Vorstellung lassen sich drei Operationen unterscheiden. Die erste bestand in der Verbindung vieler Eindrücke zu einem Ganzen; die zweite in der Abstraktion, d. h. dem Absehen vom Einzelnen, an dessen statt der Gedanke ihres Bandes festgehalten wird; die dritte in der bildlichen Übertragung der Selbständigkeit der Seele auf das Ding. Indem dieselben Operationen mit allen Sinneseindrücken ausgeführt werden, geht die Menge der Eindrücke in eine Welt von Dingen über.
LITERATUR - Reinhold Hoppe, Zulänglichkeit des Empirismus in der Philosophie, Berlin 1852