p-4tb-1 W. WindelbandE. DürrDescartesE. Dubois-ReymondG. Neudecker    
 
JOHANNES VOLKELT
Die Quellen der
menschlichen Gewißheit

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"Wollte man den Namen Gewißheit des Gegebenen oder des Vorgefundenden gebrauchen, so wäre hiergegen nichts einzuwenden. Nur müßte man das Gegebene oder Vorgefundene in dem weiten Sinn nehmen, daß alles, was das Bewußtsein aufweist, alles, was sich mir als mir bewußt darbietet, dazu gerechnet wird, also nicht nur das ohne mein Zutun Vorgefundene, sondern auch das willkürlich von mir Hervorgebrachte. Es bleibt also hier die Frage gänzlich abseits liegen, worin das Gegebene im Sinne eines ursprünglichen, elementaren Bewußtseinsstoffes, im Gegensatz also zu den Verknüpfungen, Verarbeitungen, Umformungen, die vom Bewußtsein an ihm vorgenommen werden, besteht. Das Gegebene in diesem engeren Sinn zu ermitteln, ist eine wichtige Frage. Allein sie gehört nicht in die grundlegenden Untersuchungen der Erkenntnistheorie."

"Und überhaupt hat man sich vor Augen zu halten, daß den Wörtern, die ich zur Bezeichnung der auf Grundlage der Selbstgewißheit gewonnenen Aussagen gebrauche, jedwede Beziehung auf das außerhalb meines Bewußtseins etwa vorhandene Sein, auf das Transsubjektive fern zu bleiben hat. Bei den Wörtern grün, Regen, fallen - um bei den vorigen Beispielen zu bleiben - darf nicht daran gedacht werden, daß im Bewußtsein anderer Menschen ähnliche Gesichtswahrnehmungen vorkommen, und natürlich erst recht nicht daran, daß auch in einem von allem endlichen Bewußtsein unabhängigen Sein, in einem Ding-ansich etwas jenen Gesichtswahrnehmungen Entsprechendes stattfinden könnte."

1. Veranlassung zu dieser Schrift

Als ich nach langer Zeit im verflossenen Winterhalbjahr wieder einmal eine Vorlesung über Erkenntnistheorie hielt, war ich fast neugierig, zu sehen, wie die erkenntnistheoretischen Gedankengänge, die ich din dem 1886 erschienenen Buch "Erfahrung und Denken" und zum Teil schon in meiner 1879 veröffentlichten Schrift über KANTs Erkenntnistheorie niedergelegt hatte, bei erneutem Durcharbeiten auf mich wirken würden. Ich hatte in den Jahren seither den Gang der erkenntnistheoretischen Literatur zwar in den hauptsächlichen Erscheinungen verfolgt, war aber seit langem kaum zu selbständigem Arbeiten in erkenntnistheoretischen Fragen gekommen. Da machte ich nun die mich befriedigende und befestigende Erfahrung, daß ich mich beim erneuten Durchdenken der Erkenntnistheorie in der Lage fand, der Grundauffassung, zu der sich jene beiden Schriften bekennen, in allen entscheidenden Stücken zustimmen zu können. Wenn jemand nach langem Verweilen auf anderen Gebieten wieder einmal in alte Gedankenverknüpfungen hineintritt und das durch die lange Entwöhnung unbefangener gewordene Denken immer noch die gleiche überzeugende Kraft in ihnen findet, so mach das auf ihn den Eindruck, als ob jene Gedanken eine bedeutsame Probe gut bestanden hätten.

Bei aller Zustimmung in den entscheidenden Punkten indessen mußte ich mir doch sagen, daß ich jetzt manche Gesichtspunkte deutlicher hervortreten lassen, manche Gedanken in anderer Weise einleuchten machen, manche Glieder meines Aufbaus in eine andere Verbindung bringen würde. Inbesondere fühlte ich das Bedürfnis, der Rechtfertigung der Denknotwendigkeit - diesem nach meiner Auffassung für die Erkenntnistheorie zu allermeist entscheidenden Stücke - eine mannigfach veränderte und wesentlich ergänzte Durchführung zu geben. Und so habe ich denn auch an den entsprechenden Stellen meiner Vorlesung die Entwicklung der Gedanken anders gestaltet, als diese im Buch von 1886 vorliegen. Wenn ich es hiermit unternehme, die Frage nach dem Recht des Denkens, nach dem Sinn der Macht der Denknotwendigkeit in einer neuen Durcharbeitung einem weiteren Kreis vorzulegen, so kann das naturgemäß nur so geschehen, daß ich zugleich die ganze grundlegende Frage der Erkenntnistheorie, die Frage nach den Quellen der menschlichen Gewißheit, mit zur Darstellung bringe.

Für den Entschluß, mit dieser erkenntnistheoretischen Darlegung hervorzutreten, war übrigens auch die Wahrnehmung maßgebend, daß die Grundlegung, die ich der Erkenntnistheorie zu geben versucht habe, häufig selbst in solchen Schriften ohne Beachtung geblieben ist, denen es sich gemäß ihrer Anlage und ihrem Gedankengang geradezu hätte aufdrängen müssen, sei es zustimmend, sei es gegnerisch zu meinem Standpunkt Stellung zu nehmen.


2. Dualistische Grundlage der Erkenntnistheorie

Zur Orientierung des Lesers sei sofort bemerkt, daß meine Auffassung von der Erkenntnistheorie  dualistischer  Art ist. PLATO, SPINOZA, HEGEL bekennen sich zu einer monistischen Erkenntnislehre: das Denken gilt ihnen als alleinige wahrhafte Gewißheitsquelle. Aber ebenso sind HUME, MILL, AVENARIUS, MACH erkenntnistheoretische Monisten: alle Gewißheit fließt ihnen schließlich aus der Erfahrung.

Fragt man, worauf die Gewißheit unseres Erkennens beruth, so stößt man auf zwei Ursprünge, auf zwei Gewißheitsquellen. Mag auch in noch so inniges Zusammenwirken beider Gewißheitsweisen nötig sein, wenn Erkenntnis entstehen soll, so ist es doch unmöglich, die eine auf die andere zurückzuführen. Die eine Gewißheitsquelle ist die Selbstgewißheit des Bewußtseins, das Innesein meiner Bewußtseinstatsachen. So wahr ich Bewußtsein bin, so wahr bezeugt mir mein Bewußtsein das Vorhandensein gewisser Verläufe und Zustände, gewisser Inhalte und Formen. Ohne diese Gewißheitsquelle gäbe es überhaupt kein Erkennen; sie gibt uns den Stoff, aus dessen Bearbeitung aller Erkenntnisse allererst hervorgehen. Die andere Gewißheitsquelle ist die Denknotwendigkeit, die Gewißheit des logischen Zwanges, das sachliche Notwendigkeitsbewußtsein. Hiermit ist etwas schlechtweg Neues gegeben, das sich aus der Selbstgewißheit des Bewußtseins unmöglich gewinnen läßt. Überall, wo eine Gewißheit mehr sein will als bloßes Hinzeigen auf eine Tatsache des eigenen Bewußtseins, ist die Denknotwendigkeit dabei beteiligt. Mit diesem Dualismus ist aber nicht gesagt, daß jede dieser beiden Gewißheitsquellen für sich allein befriedigende und wertvolle Erkenntnis zu erzeugen vermöge. Vielmehr ergibt sich, daß auf ausschließlicher Grundlage der Selbstgewißheit des Bewußtseins nur untergeordnetes und ungenügendes Erkennen entstehen kann. Und weiter ergibt sich, daß die Denknotwendigkeit für sich überhaupt kein Erkennen zustande zu bringen vermag. Alles befriedigende und wertvolle Erkennen beruth vielmehr auf dem Zusammenwirken beider Gewißheitsquellen und besteht sonach in denkender Bearbeitung der unmittelbar gegebenen Bewußtseinstatsachen.

Jene erste Gewißheitsquelle kann auch als die reine Erfahrung bezeichnet werden. Denn nur was mir mein Bewußtsein unmittelbar zeigt, wird im strengen Sinn von mir "erfahren". Daher darf ich auch sagen: alles wahrhafte Erkennen ist denkende Bearbeitung der reinen Erfahrung.

Es gibt noch andere Gewißheitsquellen. Ich habe die Gewißheitsformen intuitiver Art im Auge. Und diese intuitiven Gewißheitsweisen sind für das Leben von allergrößter Bedeutung. Das Überzeugtsein von unserem persönlichen Selbst, von der Außenwelt, vom Sittengesetz, von Gott beruth in den bei weitem meisten Fällen auf intuitiver Gewißheit. Indessen dürfen die intuitiven Gewißheitsformen in der Wissenschaft entweder gar nicht oder nur in unterstützender, ergänzender Weise und mit Vorsicht angewandt werden. Daher darf ich von ihnen zunächst absehen; und es bleibt somit bei einem Dualismus der erkenntnistheoretischen Grundlage. Nimmt man jedoch noch die intuitiven Erkenntnisweisen hinzu, so ist die Grundlage der Erkenntnistheorie pluralistischer Art.


3. Die Methode des inneren Erlebens

Soll die Erkenntnistheorie die Grundlage der Philosohie bilden, so muß sie  voraussetzungslos  verfahren. Das heißt: der Erkenntnistheoretiker darf,  bevor  er ein bestimmtes Gewißheitsprinzip geprüft und gerechtfertigt hat, zur Begründung seines Gedankenaufbaus keine Erkenntnis benutzen, deren Einführung das Gerechtfertigtsein dieses Gewißheitsprinzips bereits vorausgesetzt. Er darf also im besonderen, bevor er das Gewißheitsprinzip des Denkens gerechtfertigt hat, sich weder auf Sätze der Psychologie, noch der Naturwissenschaft, noch einer anderen Wissenschaft berufen. Denn dieses Sätze sind ja sämtlich unter der Voraussetzung der Gültigkeit des Denkens zustande gekommen. Das Vorgehen der Erkenntnistheorie würde sich sonst im "Zirkel" bewegen.

Es bleibt sonach für die Grundlegung der Erkenntnistheorie nur eine einzige Methode übrig. Der Erkenntnistheoretiker hält unter seinen Bewußtseinsvorgängen in der Absicht Umschau, umd die verschiedenen Weisen der Gewißheit ins Auge zu fassen und aus diesen wieder die typischen Formen herauszuheben. Ein Beweisen, Ableiten, Entwickeln gibt es für die Grundlegung der Erkenntnistheorie nicht, sondern nur ein  Aufweisen im Bewußtsein.  Der Erkenntnistheoretiker hat zu beschreiben, was er in den verschiedenen Weisen des Gewißseins  in sich erlebt.  Er hat mit inniger Hingabe solche Bewußtseinsvorgänge, denen eine bestimmte Art des Gewißseins anhaftet, zu vollziehen und nun genau zu sagen, was er hierbei tut, oder was ihm hierbei widerfährt. Natürlich wird er bemüht sein, an jeder Gewißheitsart das Unterscheidende, Charakteristische herauszuheben.

Indem der Erkenntnistheoretiker sich in dieser Weise beschreibend und zergliedernd verhält, so wird darin zugleich eine  Bewertung  der jeweiligen Gewißheitsart gegeben sein. In der Aussage über das in einer bestimmten Gewißheitsart innerlich Erlebte tut sich zugleich das Urteil über den Erkenntniswert dieser Gewißheit kund. Auch dieses Werturteil ist nur Ausdruck der im jeweiligen Gewißsein gemachten inneren Erfahrung. Woher sonst sollte denn auch die Grundlegung der Erkenntnistheorie solches Werturteil nehmen? Wir suchen die Gewißheitsarten ja deswegen auf, damit sich uns das Erkennen allererst rechtfertige. Es wäre sonach grundverkehrt, wenn wir den Wert einer Gewißheitsart für das Erkennen in seinem Tun und seinen Erfolgen bereits als gültig vorausgesetzt und hieraus jener Wert abgeleitet würde. Vielmehr kann die Überzeugung vom Erkenntniswert einer Gewißheitsart nur dadurch entstehen, daß man die Stimme dieser Gewißheit selbst unmittelbar vernimmt.

Wer eine Erkenntnistheorie als voraussetzungslose Prüfung der Quellen unserer Gewißheit für unmöglich oder für überflüssig hält, kann natürlich auch dem über die Methode Erkenntnistheorie soeben Dargelegten nicht zustimmen. und auch gegen alles Folgende wird er sich grundsätzlich ablehnend verhalten müssen. Doch schließt wiederum eine solche grundsätzliche Verschiedenheit in der Auffassung der Erkenntnistheorie ein Zusammentreffen in den keineswegs aus. (1)


4. Die Selbstgewißheit des Bewußtseins

Indem ich als Erkenntnistheoretiker in meinem Bewußtsein Umschau halte, um die typischen Gewißheitsformen herauszuheben, so wird mein Blick zuerst durch das mit meinem Bewußtsein als solchem verbundene Gewißsein gefesselt. Ich mache beständig die Erfahrung, daß ich der verschiedenartigsten Bewußtseinstatsachen in unbedingt sicherer, schlechtweg unbezweifelbarerweise gewiß bin. (2) Auch der äußerste Skeptizismus läßt gelten, daß, wenn ich gewiß bin, Ermüdung, Durst, Wärme zu spüren, laute Töne zu hören, rote Gestalten zu sehen, diese Gewißheit von schlechtweg unbezweifelbarer Art ist. Und es ist zugleich eine Gewißheit von vollkommen selbstverständlicher Natur. Das heißt: es wäre sinnlos, eine Begründung dafür zu verlangen, daß ich ein völlig sicheres Wissen von meinen Ermüdungsgefühlen, meinem Sehen roter Gestalten und dergleichen behaupten darf.

Und noch etwas Weiteres liegt in dem Gesagten. Indem ich eines bestimmten Bewußtseininhaltes unbedingt gewiß bin, so ist mit diesem  einzelnen Fall  des Gewißseins zugleich die Selbstgewißheit des Bewußtseins  im  allgemeinen gegeben. Indem ich zum Beispiel der Empfindung des Süßen, Roten, Lauten in unbezweifelbarer Weise gewiß bin, bin ich darin zugleich eines bestimmten Gewißheitstypus - nämlich der unbezweifelbaren Selbstgewißheit meines Bewußtseins - in unbezweifelbarer Weise gewiß. Die Erfahrung dieser Gewißheit in einem einzelnen Fall schließt zugleich das unbedingt sichere Gewißsein von diesem Gewißheitsprinzip in sich. Eine einzelne Erfahrung und die erkenntnistheoretische Rechtfertigung des in ihr enthaltenen Gewißheitstypus fallen hier zusammen.

Ich sagte vorhin: die Aufmerksamkeit des Erkenntnistheoretikers wird zuerst durch die Gewißheitsart gefesselt. Ich darf mehr sagen. Es ist zugleich  durch das Interesse der Erkenntnistheorie als Wissenschaft  geboten, daß er Erkenntnistheoretiker gerade mi dem Aussprechen und Beschreiben  dieses  Gewißheitsprinzips sein Geschäft anfange. Denn nur so verfährt er völlig voraussetzungslos. Er spricht, indem er dieses Gewißheitsprinzip hinstellt, etwas unbezweifelbar Gewisses und völlig Selbstverständliches aus. Mit dem Aussprechen jedes anderen Gewißheitsprinzips würde er etwas über sein Bewußtsein irgendwie Hinausgreifendes hinstellen und also mit etwas dem Bezweifeln Ausgesetztem den Anfang machen. (3)

Natürlich umfaßt diese Selbstgewißheit nicht etwa nur Empfindungs- und Wahrnehmungsinhalte. Auch meiner Erinnerungs- und Phantasievorstellungen, meiner Gedanken und Begriffe, meiner Gefühle, Affekte, Begehrungen, Wollungen bin ich genau ebenso unbedingt gewiß wie des Empfindungsinhaltes süß oder blaub. Kurz alles, was ich in meinem Bewußtsein an Inhalt und Form, an Zuständen und Akten finde, kann von mir mit Unbezweifelbarkeit gewußt werden. Daß ich jetzt von Schwermut gequält oder von Hoffnung gehoben bin, weiß ich mit derselben unbedingten Sicherheit wie etwa daß ich einen Zahnschmerz empfinde oder einen Ton höre. Der Ausdruck "Selbstgewißheit des Bewußtseins" ist völlig gleichbedeutend mit dem Ausdruck "Gewißheit des Selbstinneseins".

Ich darf auch sagen: die Selbstgewißheit des Bewußtseins erstreckt sich auf die  reine Erfahrung.  Dabei verstehe ich unter Erfahrung alles, was meinem Bewußtsein gegenwärtig ist. "Ich erfahre etwas": das heißt: es ist Gegenstand meines Bewußtseins geworden. Was außerhalb meines Bewußtseins bleibt, ist für mich nicht Erfahrungsinhalt. Es kann vielleicht erschlossen werden, aber es wäre verkehrt zu sagen: das nicht für mein Bewußtsein Vorhandene gehöre zu meiner Erfahrung. Wenn ich zu "Erfahrung" das Wort "rein" hinzufüge, so soll damit nur gesagt sein, daß ich es mit dem Ausdruck "goring-erfa1.htmlErfahrung" streng nehme und sonach auch wirklich alles fern zu halten gesonnen bin, was nicht für mein Bewußtsein vorhanden ist. Hiernach darf ich die Selbstgewißheit des Bewußtseins auch als  Gewißheit der reinen Erfahrung  bezeichnen. (4)

Wollte man den Namen "Gewißheit des Gegebenen" oder "des Vorgefundenden" gebrauchen, so wäre hiergegen nichts einzuwenden. Nur müßte man das "Gegebene" oder "Vorgefundene" in dem weiten Sinn nehmen, daß  alles,  was das Bewußtsein aufweist,  alles,  was sich mir als mir bewußt darbietet, dazu gerechnet wird, also nicht nur das ohne mein Zutun Vorgefundene, sondern auch das willkürlich von mir Hervorgebrachte. Es bleibt also hier die Frage gänzlich abseits liegen, worin das "Gegebene" im Sinne eines ursprünglichen, elementaren Bewußtseinsstoffes, im Gegensatz also zu den Verknüpfungen, Verarbeitungen, Umformungen, die vom Bewußtsein an ihm vorgenommen werden, besteht. Das "Gegebene" in diesem engeren Sinn zu ermitteln, ist eine wichtige Frage. Allein sie gehört nicht in die grundlegenden Untersuchungen der Erkenntnistheorie. (5)

Die Selbstgewißheit des Bewußtseins ist demnach nichts Geheimnisvolles und nichts Erkünsteltes. Sie ist ein Erlebnis, das jedermann beständig macht. So beginnt die Erkenntnistheorie nicht mit der Zumutung, ein schwieriges erkenntnistheoretisches Experiment anzustellen, sondern mit der Berufung auf ein Alltägliches und unmittelbar Vertrautes. (6)


5. Die Selbstgewißheit des Bewußtseins als eine
von allem Denken unterschiedene Gewißheit

Der dargelegten Auffassung könnte entgegengehalten werden: alles auf Grundlage des Selbstinneseins Ausgesagte schließt schon gewisse Denkakte in sich. Denn auch das über die eigenen Bewußtseinstatsachen Ausgesagte trete in Form des Urteils auf; alles Urteilen aber sei Denken. Auch komme in jedem Urteil mindestens im Prädikat ein begriffsmäßiges Vorstellen vor; die Begriffsbildung beruhe aber auf Denken. So sei es denn unrichtig, der Selbstgewißheit des Bewußtseins als solcher abgesehen vom Denken den Rang einer Gewißheitsquelle zuzuerkennen. Vielmehr gebe es unter Absehen vom Denken überhaupt keine Gewißheitsgrundlage.

Diese Einwände sind nicht stichhaltig.  Erstens  ist zu bedenken, daß jede aufgrund der Selbstgewißheit meines Bewußtseins gegebene Aussage nur den Sinn hat, daß ich zu mir selbst spreche. Tritt die Aussage mit dem Anspruch auf Zustimmung, Billigung, Anerkennung auf, so ist sie freilich ein Denkakt. Die Allgemeingültigkeit stammt nicht aus der Selbstgewißheit meines Bewußtseins. Aber die Selbstgewißheit erhebt ja auch als solche nicht den Anspruch, etwas Allgemeingültiges auszusagen. Sie begleitet mein Bewußtsein als etwas ihm urtatsächlich Innewohnendes. Sie besteht als dieses eigentümliche Innesein auch ohne Hinblick auf die anderen, auch ohne Rücksicht auf die von diesen geforderte Zustimmung. Ich bin eben für mich selbst dessen gewiß, Wärme oder Schmerz zu spüren, Gestalten zu sehen, Töne zu hören. Und dieses Gewißsein für mich selber ist eine Leistung von grundlegender, unermeßlicher Bedeutung. Von hier aus allein wird dem Denken der Stoff geliefert, den es zu bearbeiten hat. Ohne die Selbstgewißheit des Bewußtseins mit der unermeßlichen Fülle ihrer Inhalte stünde das Denken vor einer völligen Leere. So ist also die Selbstgewißheit des Bewußtseins nicht etwa ein bloßes Nebenbei. Sie ist aber auch keine überflüssige, künstliche Abstraktion. Vielmehr ist sie das unmittelbare, natürliche, inhaltvolle Bewußtseinsleben selbst, nach der Form des Bewußtseins hin genommen. In Wirklichkeit abtrennbar freilich ist die Selbstgewißheit des Bewußtseins nicht. Wohl aber ist es eine wissenschaftlich förderliche und durch die Natur der Sache aufgegebene Abstraktion, wenn wir die Selbstgewißheit des Bewußtseins vom Inhalt des Bewußtseins ablösen und uns auf diese Weise unser Bewußtseinsleben nach der in ihm unmittelbar liegenden Gewißheit deutlich machen.

Was dann  zweitens  die Form des Urteils überhaupt betrifft, in der sich alle Aussagen auch des Selbstinneseins vollziehen, so liegt hierin gleichfalls etwas vor, was nicht unmittelbar aus dem Selbstgewißsein als solchem stammt. Das urteilende Verknüpfen ist eine Äußerung der allgemeineren Funktion des Beziehens. Ich halte zwar für richtiger, diese Funktion vom Denken zu unterscheiden. Doch hier kommt es darauf nicht an, sondern man mag das Verknüpfen, in dem sich alles Urteilen bewegt, immerhin als Äußerung des Denkens ansehen.

Auch in dieser Hinsicht liegt die Sache ähnlich wie vorhin. Die Gewißheit davon, daß ich ermüdet oder frisch bin, die Empfindung hell oder dunkel habe, hat nicht etwa im urteilsmäßigen Verknüpfen der Vorstellungen ihren Grund, sondern sie ruht völlig auf und in sich. Die Urteilsverknüpfung ist nur die Form, die sie sich borgt, um sich klar zum Ausdruck zu bringen. Weit entfernt also, daß die eigentümliche Gewißheit des Selbstinneseins in der Funktion des urteilenden Verknüpfens ganz oder teilweise begründet wäre, nimmt sie nur, wenn sie sich als Aussage gestaltet, von der beziehenden Tätigkeit die Form her, gemäß der sie sich streckt und gliedert.

Fasse ich  drittens  die in jedem Urteil enthaltene Begriffsarbeit ins Auge, so ist klar, daß ein Begriff im eigentlichen Sinn des Wortes - weil er Allgemeingültigkeit, Gesetzmäßigkeit, Eingehen auf das Wesentliche, logische Ordnung in sich schließt - vom Selbstinnesein nicht als gültig gerechtfertigt werden kann. Die sprachlichen Ausdrücke, deren sich die Aussagen aufgrund dieser Gewißheitsquelle bedienen, dürfen daher auch nicht in streng begrifflichem Sinn genommen werden. Wenn ich sage: ich habe die Empfindung des Grünen, so bedeutet demnach das Wort "grün" nicht eine auf physikalischer, physiologischer und psychologischer Gesetzmäßigkeit beruhende Eigenschaft, sondern es ist die Bezeichnung für diesen jetzt von mir erfahrenen Empfindungsinhalt, womit sich zugleich die Nebenvorstellung verbindet, daß mir in meinem Gesichtsfeld schon oft ähnliche und gleiche Empfindungsinhalte zuteil wurden. Und wenn ich aufgrund der Selbstgewißheit sage: häufig sehe ich Regen fallen, so ist aus den Wörtern "Regen" und "fallen" alle Beziehung zu metereologischer und physikalischer Gesetzmäßigkeit, zu einer geordneten Außenwelt zu entfernen; sie sind nur stellvertretende Bezeichnungen für die Zusammenfassung einer vielleicht sehr großen Anzahl ähnlicher Gesichtsbildert, die ich zu verschiedenen Zeiten erfahren habe. Allgemein darf ich sagen: aufgrund meiner Selbstgewißheit sind die sprachlichen Ausdrücke entweder Hinweisungen auf einzelne Bewußtseinsinhalte, deren ich unmittelbar gewiß bin, oder Stellvertretungen für die Zusammenfassung mehrerer oder ähnlicher und gleicher Inhalte meines Bewußtseins. (7) Die Selbstgewißheit greift, indem sie sich solchen Vergleichens und Zusammenfassens bedient, keineswegs über ihre Befugnis hinaus. Wenn nur aus den Gemeinsamkeitsvorstellungen alle Denknotwendigkeit, alles logische Ordnen entfernt ist und sie nur in einem Zusammenrinnen des Ähnlichen und Gleichen bestehen, darf die Selbstgewißheit sie in ihren Dienst stellen, ohne sich damit untreu zu werden. Wie man auch solche - wenn ich so sagen darf - aufs Geradewohl entstandene Gemeinsamkeitsvorstellungen von Inhalten meines Bewußtseins psychologisch auffassen mag: keinesfalls ist an ihnen ein weiteres Gewißheitsprinzipg als die Selbstgewißheit des Bewußtseins beteiligt.

Und überhaupt hat man sich vor Augen zu halten, daß den Wörtern, die ich zur Bezeichnung der auf Grundlage der Selbstgewißheit gewonnenen Aussagen gebrauche, jedwede Beziehung auf das außerhalb meines Bewußtseins etwa vorhandene Sein, auf das Transsubjektive fern zu bleiben hat. Bei den Wörtern "grün", "Regen", "fallen" - um bei den vorigen Beispielen zu bleiben - darf nicht daran gedacht werden, daß im Bewußtsein anderer Menschen ähnliche Gesichtswahrnehmungen vorkommen, und natürlich erst recht nicht daran, daß auch in einem von allem endlichen Bewußtsein unabhängigen Sein, in einem "Ding-ansich" etwas jenen Gesichtswahrnehmungen Entsprechendes stattfinden könnte. Alle Beziehung auf das Transsubjektive kurzum muß aus der Bedeutung der auf Grundlage der Selbstgewißheit des Bewußtseins gebrauchten Ausdrücke beseitigt werden. Jedes Einmischen einer solchen Beziehung würde die Gültigkeit eines weiter reichenden Gewißheitsprinzips voraussetzen.

So liegt dann in der Selbstgewißheit meines Bewußtseins eine Gewißheitsart vor, an der das Denken in keiner Weise beteiligt ist. (8) Wohl aber wird das durch die Selbstgewißheit meines Bewußtseins Festgestellte vom Denken anerkannt werden müssen. Das Denken muß die Selbstgewißheit des Bewußtseins in vollem Umfang gelten lassen. So wird dann auch das Denken von vornherein zu dem vermöge der Selbstgewißheit meines Bewußtseins Feststehenden eine andere Stellung einnehmen als zu einem Inhalt, der mir nicht unmittelbar im Bewußtsein gegeben ist. (9)
LITERATUR: Johannes Volkelt, Die Quellen der menschlichen Gewißheit, München 1906
    Anmerkungen
    1) So faßt beispielsweise MAX SCHELER in seiner scharfsinnigen und gehaltreichen Schrift "Die transzendentale und die psychologische Methode" (Leipzig 1900) die Erkenntnistheorie mehr wie einen Teil der Güterlehre auf und gibt ihr demgemäß eine kulturphilosophische Grundlage. Durch seine ganze Schrift geht die Verkennung der Notwendigkeit, der Erkenntnistheorie und hiermit der Philosophie einen subjektivistischen Ausgangspunkt zu geben.
    2) THEODOR ZIEHEN verlangt eine ichlos beginnende Erkenntnistheorie. Gegeben seien nur Empfindungsinhalte; eine subjektive Seite an ihnen zu unterscheiden, sei unerlaubt (Erkenntnistheoretische Auseinandersetzungen II, Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, Bd. 33, Seite 94f und 122). Die allen meinen Empfindungsinhalten beiwohnende Selbstgewißheit meines Bewußtseins - das ist die von ZIEHEN erstaunlicherweise für nicht vorhanden erklärte subjektive Seite an den Empfindungsinhalten. Die Erkenntnistheorie muß gerade mit dem beginnen, was ZIEHEN in seinem Bewußtsein nicht zu entdecken imstande ist.
    3) Wollte der Erkenntnistheoretiker, wie RAOUL RICHTER vorschlägt (Der Skeptizismus in der Philosophie, Bd. 1, Leipzig 1904, Seite 159f und 359f), seinen Ausgangsort im Standpunkt des "extremen" oder des "naiven" Realismus (d. h. im Glauben an die Sinneswahrnehmungsinhalte als Abbilder der Außendinge oder gar als mit den Außendingen selbst zusammenfallende Wesenheiten) wählen, so müßte dieser unkritische, haltlose Standpunkt vom Erkenntnistheoretiker allererst kritisch gereinigt und zersetz werden. Dann aber käme der Erkenntnistheoretiker - immer vorausgesetzt, daß er wirkliche Erkenntnistheorie treiben, d. h. voraussetzungslos verfahren will - bei der "Selbstgewißheit des Bewußtseins" an. Jener von RICHTER vorgeschlagene Weg bedeutet, also im besten Fall nur eine kritische Vorarbeit für den Erkenntnistheoretiker, nicht aber den Anfang der voraussetzungslosen Erkenntnistheorie.
    4) Im gewöhnlichen Leben und in den Erfahrungswissenschaften mag man von Erfahrung in einem erweiterten Sinn sprechen, derart, daß auch die zu den Erfahrungstatsachen hinzuerschlossenen nächsten Ergänzungen, besonders soweit sie sich allgemeiner Anerkennung erfreuen, mit zur Erfahrung gerechnet werden. Die Erkenntnistheorie dagegen mindestens sollte es mit dem Erfahrungsbegriff streng nehmen. Sonst entsteht, wie das die Philosophie KANTs lehren kann, Verwirrung. Besonders muß sich die Erkenntnistheorie hüten, die strenge und die losere Bedeutung des Erfahrungsbegriffs unterschiedslos durcheinanderlaufen zu lassen. Am verwirrendsten aber ist es, wenn sich Vertreter der Philosophie der "reinen Erfahrung" dieser Vermischung schuldig machen. So ist es in hohem Grad bei PETZOLDT (Einführung in die Philosophie der reinen Erfahrung, 2 Bände, Leipzig 1902 und 1904). Aber auch ein Erkenntnistheoretiker ganz anderer Art, ERHARDT, legt seiner Erkenntnistheorie die Erfahrung in ungesichtetem, populärem Sinn zugrunde (Metaphysik, Bd. 1, Erkenntnistheorie, Leipzig 1894, Seite 16 - 48). Wiewohl er sagt, daß "in letzter Instanz das eigene persönliche Bewußtsein des Erkenntnistheoretikers selbst es ist, dessen Inhalt dasjenige ausmacht, was allein als Erfahrung bezeichnet werden kann", so gibt er doch alle die Ergänzungen, Verbindungen und Unterbauungen der Erfahrungsbruchstücke, die ich weiterhin als das "transsubjektive Minimum" bezeichnen werde, ja noch weit mehr als das einfach als Erfahrung aus. Dadurch wird freilich das Geschäft der Erkenntnistheorie um vieles bequemer.
    5) Die Frage nach dem "Gegebenen" in diesem Sinn hat PAUL STERN in bemerkenswerter Weise behandelt (Das Problem der Gegebenheit, Berlin 1903).
    6) In der Terminologie von HEINRICH RICKERT könnte ich sagen: die Selbstgewißheit des Bewußtseins ist ein Erlebnis des psychologischen und nicht des erkenntnistheoretischen Subjekts (Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Erkenntnis. Tübingen und Leipzig 1902, Seite 168f). Das "erkenntnistheoretische Subjekt" RICKERTs erscheint mir als ein geradezu unvollziehbares erkenntnistheoretisches Experiment, als ein Begriffsschatten, der uns unter den Händen zerflattert. Wie soll ich mir ein Bewußtsein vorstellen, das weder physisch  noch psychisch  ist?
    7) WILHELM FREYTAG leugnet die Gewißheit der Aussagen über das eigene Bewußtsein (Der Realismus und das Transzendenzproblem, Halle 1902, Seite 122). Es kommt dies daher, weil er in diese Aussagen zuviel hineinlegt. Er faßt sie als eindeutige, begriffliche Benennungsurteile auf. Dann ist freilich Denkarbeit an ihnen beteiligt und auf diese Weise keine Unbezweifelbarkeit vorhanden.
    8) Die entgegengesetzte Ansicht trifft man öfters; so bei ERNST DÜRR, Über die Grenzen der Gewißheit, Leipzig 1903, Seite 88f. Übrigens dringt DÜRR mit vielen seiner Erörterungen in die Tiefe und den Kern der erkenntnistheoretischen Fragen.
    9) Dies gilt beispielsweise gegen BUSSE, Philosophie und Erkenntnistheorie, Bd. 1, Leipzig 1894, Seite 17f und 35. Busse gibt in seiner Erkenntnistheorie der Selbstgewißheit des Bewußtseins nirgends die ihr gebührende Stellung.