cr-4ra-1p-4cr-2W. WindelbandA. BrunswigK. TwardowskiW. Moog    
 
GOTTFRIED WILHELM LEIBNIZ
(1646 -1716)
Von der Erkenntnis

"Nimmt man die Erkenntnis in einem engeren Sinne, d. h. als Wahrheitserkenntnis, so sage ich, daß sich die Wahrheit immer auf Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung gründet, aber das ist nicht allgemein wahr, daß unsere Erkenntnis der Wahrheit eine Wahrnehmung der Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung ist. Denn wenn wir die Wahrheit nur empirisch wissen, weil wir sie erfahren haben, ohne die Verknüpfung und den Grund der Sachen zu kennen, welcher das von uns Erfahrene beherrscht, so haben wir von dieser Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung keine Wahrnehmung."

"Die Grundwahrheiten unter den Vernunftwahrheiten sind solche, welche ich mit einem Gesamtnamen identische nenne, weil sie nur dasselbe zu wiederholen scheinen, ohne uns etwas zu lehren. Sie sind bejahend oder verneinend; die bejahenden sind wie die folgenden: Jedes Ding ist, was es ist. Und in sovielen Beispielen als man will, ist A = A, B = B. Ich werde sein, was ich sein werde. Was ich geschrieben habe, habe ich geschrieben. Und Nichts in Versen wie in Prosa ist nichts oder sehr wenig. Ein gleichseitiges Rechteck ist ein Rechteck."

"Leibniz reduziert also die von Locke vorgeschlagenen vier Arten der Übereinstimmung, bzw. Nichtübereinstimmung auf zwei, nämlich auf die Vergleichung und den Zusammenhang. Die Relation wird dabei verallgemeinert und die Existenz als Zusammenhang des Objekts mit dem (sich selbst als real vorstellenden) Ich betrachtet. Das Letztere erklärt sich einfach aus der von Leibniz gemachten Voraussetzung einer vorherbestimmten Harmonie der Dinge, worin dann auch die Korrespondenz des vorstellenden Ichs mit den von ihm vorgestellten Gegenständen gegeben ist."

"Die Skeptiker verderben das, was sie Gutes behaupteten, dadurch wieder, daß sie es zu weit treiben und ihre Zweifel selbst auf die unmittelbaren Erfahrungen und bis auf die geometrischen Wahrheiten und auf die übrigen Vernunftwahrheiten ausdehnen wollten, was etwas zu weit gegangen ist."


Kapitel I
Von der Erkenntnis im allgemeinen

§ 1. Philaletes: Bis hierher haben wir von den  Vorstellungen  und den sie vertretenden  Worten  gesprochen; jetzt wollen wir auf die Erkenntnisse kommen, welche die Vorstellungen liefern, denn auf diesen beruhen jene. § 2. Die  Erkenntnis  nun ist nichts anderes als die Wahrnehmung der Verbindung und Übereinstimmung oder des Gegensatzes und der Nichtübereinstimmung zwischen  zweien unserer Vorstellungen.  Mag man auch phantasieren, vermuten oder glauben, es ist doch immer so. Wir werden dadurch z. B. inner, daß das Weiße nicht das Schwarze ist und daß die Winkel eines Dreiecks und der Umstand, daß sie zwei Rechten gleich sind, eine notwendige Verbingung miteinander haben.

Theophilus: Erkenntnis hat noch eine allgemeinere Bedeutung (1). Es gibt eine solche auch in den Vorstellungen und Ausdrücken, ehe man noch zu den Sätzen oder Wahrheiten kommt. Und man kann sagen, daß derjenige, welcher mit Aufmerksamkeit mehr Abbildungen von Pflanzen und Tieren, mehr Figuren von Maschinen, mehr Beschreibungen oder Darstellungen von Häusern oder Festungen gesehen, wer mehr geistreiche Romane, nämlich mehr interessante Erzählungen gelesen hat - dieser, sage ich, wird auch mehr Erkenntnis als ein anderer haben, wenn auch kein Wort eigentlicher Wahrheit in all dem, was man ihm vorgemalt oder erzählt hat, enthalten war, denn seine Übung, sich im Geiste viele Begriffe oder ausdrückliche und willkürliche Vorstellungen zu vergegenwärtigen, macht ihn geeigneter, das, was man ihm vorlegt, zu begreifen; und er wird sicherlich unterrichteter und fähiger sein als ein anderer, der nichts gesehen, gelesen oder gehört hat, - wenn er nur in jenen Geschichten und Darstellungen nicht das für wahr annimmt, was nicht wahr ist, und jene Eindrücke ihn nicht auch sonst verhindern, das Wahre vom Eingebildeten oder das Wirkliche vom Möglichen zu unterscheiden. Aus diesem Grund haben gewisse Logiker des Reformationszeitalters, die sich einigermaßen der Partei der Ramisten anschlossen, nicht unrecht zu sagen, daß die  Topen [Themen - wp] oder  loca inventionis [Fundstellen - wp] (die  Argumenta,  wie sie sie nannten) sowohl zur Erklärung oder weitläufigen Beschreibung eines  zusammengesetzten Gedankens,  d. h. eines Dinges oder einer Vorstellung, als zum Beweis eines  zusammengesetzten Gedankens  dienen, d. h. einer Behauptung, eines Urteils oder einer Wahrheit. Und eine Behauptung kann sogar, um ihrem Sinn und ihrer Geltung nach verstanden zu werden, erklärt werden, ohne daß es sich dabei um die Wahrheit und den Beweis handelt, wie man an den Predigten oder Homilien [Gespräche - wp] sieht, welche gewisse Stellen der hl. Schrift erklären, oder am Wiederholen oder den Vorlesungen über gewisse Sätze des bürgerlichen oder kanonischen Rechts, deren Wahrheit dabei vorausgesetzt wird. Man kann sogar sagen, daß es Gedankenvorwürfe gibt, welche zwischen einer Vorstellung und einem Satz die Mitte halten. Dies sind diejenigen  Fragesätze,  welche nur  ja  und  nein  als Antwort fordern, und diese stehen den Urteilen am nächsten. Allein es gibt auch solche, in welchen es auf das Wie und die Umstände ankommt, um davon Urteile zu bilden. Man kann allerdings sagen, daß bei den Beschreibungen (selbst der rein idealen Dinge) eine stillschweigende Annahme der Möglichkeit stattfindet; aber ebenso wahr ist es auch, daß man die Erklärung und den Beweis einer Unwahrheit unternehmen kann, was mitunter am besten dazu dient, dieselben zu widerlegen. Ferner lassen sich noch von einem Unmöglichen Beschreibungen geben. Damit ist es so, wie mit den Erdichtungen des Grafen SCANDIANO, dem ARIOSTO gefolgt ist, auch dem AMADIS von Gallien und anderen alten Romanen, auch den Feenmärchen, die vor kurzen wieder in die Mode gekommen sind, mit der wahrhaften Geschichte des LUKIAN und den Reisen CYRANOs von BERGERAC, (2) um nicht noch vom Grotesken in der Malerei zu reden. Ebenso weiß man, daß bei den Rhetorikern die Fabeln unter die  Progymnasmata  oder Vorübungen gezählt werden.

Nimmt man aber die  Erkenntnis  in einem engeren Sinne, d. h. als Wahrheitserkenntnis, wie Sie es hier tun, so sage ich, daß sich die Wahrheit  immer  auf Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung gründet, aber das ist nicht allgemein wahr, daß unsere Erkenntnis der Wahrheit eine Wahrnehmung der Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung ist. Denn wenn wir die Wahrheit nur empirisch wissen, weil wir sie erfahren haben, ohne die Verknüpfung und den Grund der Sachen zu kennen, welcher das von uns Erfahrene beherrscht, so haben wir von dieser Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung keine Wahrnehmung, wenn man nicht das darunter versteht, daß wir sie verworren empfinden, ohne uns derselben deutlich bewußt zu sein. Ihre Beispiele aber deuten, wie mir scheint, darauf hin, daß Sie immer da eine Erkenntnis fordern, wo man sich der Verbindung oder des Gegensatzes bewußt ist, und das kann ich Ihnen nicht zugeben. Ferner kann man einen zusammengesetzten Gedanken nicht allein so abhandeln, daß man die Beweise für seine Wahrheit ucht, sondern auch, indem man ihn auf andere Weise, wie ich es schon bemerkt habe, der Topik gemäß erläutert und erklärt. Schließlich habe ich über Ihre Definition noch eine Bemerkung zu machen, daß sie nämlich nur auf kategorische Wahrheiten zu passen scheint, wobei  zwei Vorstellungen,  das Subjekt und das Prädikat, vorkommen; es gibt aber noch eine Erkenntnis der hypothetischen Wahrheiten oder derjenigen, die sich wie die disjunktiven [unterscheidenden - wp] und andere darauf zurückführen lassen. Bei diesen finden zwischen einem Urteil als Antezendens [Vorhergehendem - wp] und einem zweiten als Konsequens [Nachfolgendem - wp] eine Verknüpfung statt; es können also mehr als zwei Vorstellungen dabei vorkommen.

§ 3. Philaletes: Wir wollen uns jetzt auf die Erkenntnis der Wahrheit beschränken, und um die kategorischen und die hypothetischen Urteile zusammenzufassen, das, was von der Verbindung der Vorstellungen zu sagen sein wird, auch auf die der Urteile anwenden. Ich glaube nun, daß man diese Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung auf vier Arten zurückführen kann, nämlich:
    1) Einerleiheit oder Verschiedenheit;
    2) Relation;
    3) Zugleichsein oder notwendige Verknüpfung;
    4) wirkliches Dasein.
(§ 4.) Denn daß die eine Vorstellung nicht die andere ist, z. B. daß das Weiße nicht das Schwarze ist, bemerkt der Geist unmittelbar, (§ 5.) weil er ihre Beziehung bemerkt, indem er sie miteinander vergleicht, z. B. daß zwei Dreiecke, deren Grundlinie gleich ist, und die zwischen zwei Parallellinien liegen, einander gleich sind. (§ 6.) Dann kommt das Zugleichsein in Betracht (oder vielmehr der Zusammenhang), wie z. B. die Feuerbeständigkeit all die anderen Vorstellungen vom Gold begleitet. (§ 7.) Endlich gibt es noch ein wirkliches Dasein außerhalb des Geistes, wie wenn man sagt: Gott ist.

Teoph. Man kann, wie ich glaube, sagen, daß die Verbindung nichts anderes ist als die  Beziehung  oder Relation, dieselbe allgemein genommen. Auch habe ich vorhin bemerklich gemacht, daß jede Beziehung entweder eine Beziehung des  Vergleichens  oder des  Zusammenhanges  ist. Die des  Vergleichs  ergibt die Verschiedenheit und die Einerleiheit, sei es die durchgängige oder teilweise, wodurch sich die Begriffe des Nämlichen und Verschiedenen, des Ähnlichen oder Unähnlichen bilden. Der  Zusammenhang  begreift dasjenige in sich, was Sie das Zugleichsein nennen, nämlich die Daseinsverknüpfung. Wenn man aber sagt, daß ein Ding da ist, oder daß es ein wirkliches Dasein hat, so ist dieses Dasein selbst das Prädikat, d. h. es hat einen mit der Vorstellung, um welche es sich handelt, verbundenen Begriff, und zwischen diesen beiden Begriffen finden ein Zusammenhang statt. Auch kann man sich das  Dasein  des Gegenstandes einer Vorstellung als den Zusammenhang dieses Gegenstandes mit dem Ich denken. Ich glaube also, man kann sagen, daß es nur den Vergleich oder Zusammenhang gibt, aber daß der Vergleich, welcher Einerleiheit oder Verschiedenheit bezeichnet, und der Zusammenhang des Dings mit dem Ich Beziehungen sind, welche unter den übrigen hervorgehoben zu werden verdienen. (3) Vielleicht könnte man noch genauere und tiefere Untersuchungen darüber anstelen, doch begnüge ich mich hier, bloß Bemerkungen zu machen.

§ 8. Philaletes: Es gibt eine Erkenntnis  in der Gegenwart,  welche die jedesmalige Wahrnehmung der Beziehung der Vorstellungen ist, und eine auf  Gewohnheit beruhende,  wann der Geist sich der Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung der Vorstellungen so klar bewußt geworden ist und sie dergestalt in sein Gedächtnis eingeordnet hat, daß er jedesmal, wenn er über den Satz nachdenkt, sofort der darin enthaltenen Wahrheit, ohne im Geringsten daran zu zweifeln, sicher ist. Denn da man immer nur eine einzige Sache zu gleicher Zeit klar und deutlich zu denken imstande ist, so würden die Menschen, wenn sie nur den jedesmaligen Gegenstand ihrer Gedanken erkennen würden, alle sehr unwissend sein, und der, welcher das meiste erkennt, würde nur eine einzige Wahrheit erkennen.

Theophilus: Allerdings muß unsere Wissenschaft, selbst die am meisten auf Beweisen beruhende, da man sie sehr häufig durch eine lange Kette von Schlüssen erwerben muß, das Andenken an eine frühere Beweisführung, welche man nach gemachtem Schluß nicht mehr deutlich übersieht, in sich enthalten; sonst würde man dieselbe Beweisführung immer wiederholen müssen. Und selbst während ihrer Dauer würde man sie nicht ganz auf einmal umfassen können, denn nicht alle ihre Teile können zu gleicher Zeit dem Geist gegenwärtig sein. Indem man sich also immer den vorhergehenden Teil vor Augen hält, würde man niemals bis zum letzten, der den Schluß vollendet, fortschreiten können. Aus diesem Grund würde es auch schwer sein, ohne Schrift die Wissenschaften herzustellen, da das Gedächtnis nicht sicher genug ist. Hat man aber eine lange Beweisführung schriftlich aufgesetzt, wie z. B. die des APOLLONIUS sind, und sie allen ihren Teilen nach durchlaufen, wie wenn man eine Kette Ring für Ring untersucht, so kann man seinem Vernunftgebrauch vertrauen, wozu auch die Proben dienen; und schließlich rechtfertig der Erfolg das Ganze. Dabei erkennt man dann auch, daß, da der Glaube stets in der Erinnerung an den getanen Überblick der Beweise oder Gründe besteht, es nicht in unserer Macht oder in unserem freien Willen gelegen ist, zu glauben oder nicht zu glauben, weil das Gedächtnis nicht von unserem Willen abhängig ist.

§ 9. Philaletes: Allerdings enthält unsere auf Gewohnheit beruhende Erkenntnis zwei Arten oder Stufen. Mitunter erkennt unser Geist, wenn die gleichsam im Gedächtnis aufbewahrten Wahrheiten sich ihm darstellen, sofort die Beziehung, welche zwischen den dazu gehörigen Vorstellungen stattfindet; aber mitunter begnügt sich der Geist, sich der Überzeugung zu erinnern, ohne die Beweise davon zu behalten und oft sogar ohne sie, wenn er wollte, sich wieder zurückrufen zu können. Man könnte dabei auf den Gedanken geraten, dies wäre mehr ein Glaube an das Gedächtnis als ein wirkliches Erkennen der in Frage stehenden Wahrheit; und vordem ist mir dies als ein Mittleres zwischen der Meinung und der Erkenntnis erschienen und als eine Gewißheit, welche den einfachen, auf das Zeugnis eines anderen gegründeten Glauben übertrifft. Nachdem ich die Sache jedoch reiflich überdacht habe, finde ich, daß diese Erkenntnis eine vollständige Gewißheit in sich schließt. Ich erinnere mich d. h. ich erkenne, (da die Erinnerung ja nur eine Wiederauffrischung eines früheren Dinges ist), daß ich einmal der Wahrheit dieses Satzes, daß die drei Winkel eines Dreiecks zwei Rechten gleich sind, sicher gewesen bin. Nun bildet die Unveränderlichkeit derselben Beziehungen zwischen denselben unveränderlichen Dingen augenblicklich die  vermittelnde Vorstellung,  welche mir zeigt, daß wenn sie einmal gleich gewesen sind, sie es noch immer sein werden. Auf dieser Grundlage liefern in der mathematischen Wissenschaft die  besonderen Beweisführungen  allgemeine Erkenntnisse; sonst würde die Erkenntnis eines Geometers sich nicht über diejenige besondere Figur hinauserstrecken, welche er sich beim Beweisen vorgezeichnet.

Theophilus: Die  vermittelnde Vorstellung,  von welcher Sie reden, setzt die Treue unseres Gedächtnisses voraus, aber mitunter geschieht es, daß unsere Erinnerung uns täuscht, und wir nicht alle nötige Sorgfalt angewendet haben, obgleich wir es gerade jetzt glaubten. Dies zeigt sich klar bei der Revisioni der Rechnungen. Es gibt mitunter amtlich bestellte Revisoren, wie bei unseren Bergwerken im Harz, und man hat, um die Einnehmer der einzelnen Bergwerke aufmerksamer zu machen, auf jeden Rechnungsfehler eine bestimmte Geldstrafe gesetzt, und trotzdem kommen dergleichen vor. Je sorgfältiger man jedoch dabei verfährt, desto mehr kann man den früheren Berechungen trauen. Ich habe eine Art, die Rechnungen zu schreiben, entworfen, wonach der, welcher die Summen der Kolonnen zusammenzieht, auf dem Papier die Spuren der Fortschritte seiner Berechnungen auf eine solche Art zurückläßt, daß kein Schritt unnütz gemacht wird. Er kann stets revidieren und die letzten Fehler verbesser, ohne daß sie auf die ersten zurückwirken; auch die Revision, welche ein anderer darüber vornehmen kann, kostet auf diese Art fast keine Mühe, weil er dieselben Spuren mit einem Überblick prüfen kann. Außerdem gibt es noch Mittel, auch die Rechnungen jedes einzelnen Artikels durch eine sehr bequeme Probe zu verifizieren, ohne daß diese Bemerkungen die Arbeit des Rechnens sonderlich vermehren. Dies alles macht wohl begreiflich, daß man auf dem Papier strikte Beweisführungen haben kann und deren zweifelsohne in unendlicher Zahl hat. Aber ohne sich zu erinnern, dabei eine vollkommene Strenge gebraucht zu haben, kann man in seinem Innern diese Gewißheit nicht haben. Und diese Strenge besteht in einem ordnungsmäßigen Verfahren, dessen Beobachtung jedem Teil eine Sicherheit für das Ganze ist, wie in der Ring für Ring geschehenden Prüfung der Kette, wo man durch Untersuchung eines jeden, um zu sehen, ob er fest ist, und durch ein Messen mit der Hand, um keinen zu überspringen, sich von der Güte der Kette überzeugt. Durch dieses Mittel erhält man all diejenige Gewißheit, deren die menschlichen Dinge überhaupt fähig sind.

Aber ich gebe nicht zu, daß in der Mathematik die  besonderen Beweisführungen  für die Figur, welche man zeichnet, jene allgemeine Gewißheit gewähren, wie Sie es zu fassen schienen. Denn man muß wissen, daß es nicht die Figuren sind, welche bei den Geometern die Beweise liefern, obgleich der Stil des Vortrags dies glauben machen kann. Die Kraft der Beweisführung ist von der gezeichneten Figur ganz unabhängig, welche nur dazu dient, das Verständnis dessen zu erleichtern, was man sagen will, und die Aufmerksamkeit zu fesseln; die allgemeinen Sätze, d. h. die Definitionen, Grundsätze und die schon bewiesenen Lehrsätze sind es, welche den Beweis bilden und ihn auch, wenn keine Figur dabei wäre, aufrechterhalten würden. Aus diesem Grund hat ein gelehrter Geometer, SCHEUBELIUS, die Figuren des EUKLID ohne ihre Buchstaben gegeben, weil man sich dieselben mit der von ihm beigefügten Beweisführung verknüpft denken könnte, und ein anderer, HERLINUS, hat eben die Beweise in Syllogismen und Prosyllogismen aufgelöst.


Kapitel II
Von der Graden unserer Erkenntnis

§ 1. Philaletes: Die  Erkenntnis  ist also  intuitiv wenn der Geist sich der Übereinstimmung zweier Vorstellungen unmittelbar durch sie selbst, ohne Dazwischenkunft irgendeiner anderen, bewußt ist. In diesem Fall hat der Geist keine Mühe nötig, um die Wahrheit zu beweisen oder zu prüfen. Es ist so, wie das Auge das Licht sieht, wie der Geist sieht, daß das Weiße nicht das Schwarze, ein Kreis kein Dreieck ist, zwei und eins drei sind. Diese Erkenntnis ist die klarste und gewisseste, deren die menschliche Schwäche fähig ist; sie wirkt auf eine unwiderstehliche Art, ohne dem Geist Zögerung zu verstatten. Man erkennt intuitiv, wenn die Vorstellung so im Geiste ist, wie man sich ihrer bewußt ist. Wer eine größere Gewißheit verlangt, weiß nicht, was er verlangt.

Theophilus: Die  Grundwahrheiten,  welche man durch Intuition weiß, sind wie die  abgeleiteten  von zwei Klassen. Sie sind entweder  Vernunftwahrheiten  oder  tatsächliche  Wahrheiten. Die Vernunftwahrheiten sind notwendige und die tatsächlichen sind zufällige. Die Grundwahrheiten unter den Vernunftwahrheiten sind solche, welche ich mit einem Gesamtnamen  identische  nenne, weil sie nur dasselbe zu wiederholen scheinen, ohne uns etwas zu lehren. Sie sind bejahend oder verneinend; die  bejahenden  sind wie die folgenden:  Jedes Ding ist, was es ist.  Und in sovielen Beispielen als man will, ist  A = A, B = B. Ich werde sein, was ich sein werde. Was ich geschrieben habe, habe ich geschrieben.  Und  Nichts  in Versen wie in Prosa  ist nichts  oder sehr wenig.  Ein  gleichseitiges Rechteck ist ein Rechteck. Die Kopulativ-, Disjunktiv- und andere Sätze sind gleichfalls dieser Identitätsform fähig, und ich rechne unter die bejahenden sogar folgenden Satz: Nicht A ist Nicht-A. Und folgenden hypothetischen:  Wenn A Nicht-B ist, so folgt, daß A nicht B ist.  Ebenso:  Wenn Nicht-A BC ist, so folgt, daß Nicht-A, BC ist. Wenn eine Figur, die keinen stumpfen Winkel hat, eine regelmäßiges Dreieck sein kann, so kann eine Figur, die keinen stumpfen Winkel hat, regelmäßig sein. 

Ich komme jetzt zu den identischen Verneinungssätzen, die entweder unter  das Prinzip des Widerspruchs  fallen oder  disparate [verschiedene - wp] sind. Das Prinzip des Widerspruchs ist im allgemeinen:  Ein Satz ist entweder wahr oder falsch;  dies schließt zwei andere Urteile ein:  zuerst,  daß das Wahre und das Falsche in demselben Satz nicht zusammen bestehen können, oder  daß ein Satz nicht zugleich wahr und falsch sein kann;  zweitens, daß das Entgegengesetzte oder die Verneinung des Wahren und Falschen nicht zugleich stattfindet, oder daß es zwischen Wahrem und Falschem kein Mittleres gibt, oder auch,  daß sein Satz unmöglich zugleich weder wahr noch falsch sein kann.  Dies alles nun ist ebenso im Besonderen wahr in allen nur denkbaren Sätzen, z. B.:  Was A ist, kann nicht Nicht-A sein.  Ebenso:  es ist wahr, daß wenn sich ein Mensch findet, er kein Tier ist.  Man kann diese Urteile auf viele Arten abändern und sie mit Kopulativ-, Disjunktiv- und anderen Sätzen verbinden.

Was die  disparaten  Sätze betrifft, so sind dies solche, welche besagen, daß der Gegenstand einer Vorstellung nicht Gegenstand eines anderen ist, z. B.  daß die Wärme nicht dasselbe ist wie die Farbe;  ebenso, daß der  Mensch und das lebende Wesen nicht dasselbe sind,  obgleich der Mensch ein lebendes Wesen ist. All das läßt sich bejahen, unabhängig von jeder Probe oder jeder Zurückführung auf das Entgegengesetzte oder auf das Prinzip des Widerspruchs - wenn die Vorstellungen hinlänglich verstanden werden, um nicht eine Analyse dabei nötig zu machen, sonst ist man Irrtümern unterworfen; denn wenn man sagt:  ein Dreieck und eine dreiseitige Figur ist nicht dasselbe,  so würde man sich irren, weil man bei richtiger Betrachtung findet, daß die drei Seiten und die drei Winkel immer beisammen sind. Wenn man sagt: ein  vierseitiges Rechteck und ein Rechteck  ist nicht dasselbe, würde man sich auch irren, denn man findet, daß bloß die Figur mit vier Seiten alle ihre Winkel als rechte haben kann. Indessen kann man immer  in abstracto  sagen,  daß ein Dreieck keine dreiseitige Figur ist,  oder daß die  formellen Gründe  für das Dreieck und die dreiseitige Figur, wie die Philosophen sagen, nicht dieselben sind. Es sind verschiedene Beziehungen derselben Sache.

Wenn nun jemand das, was wir bisher gesagt haben, mit Geduld angehört hat, wird er sie am Ende verlieren und sagen, daß wir uns mit leeren Sätzen die Zeit vertreiben, und alle identischen Wahrheiten zu nichts dienen. Aber man würde so nur urteilen, wenn man über diese Gegenstände nicht gehörig nachgedacht hat. Die logischen Folgerungen werden z. B. durch die identischen Grundsätze bewiesen, und die Geometer haben das Prinzip des Widerspruchs in ihren Beweisführungen nötig, welche auf das Unmögliche zurückführen (4).

Begnügen wir uns hier, die Anwendung der identischen Sätze in den Beweisen aus den logischen Folgerungen zu zeigen. Ich sage also, daß das bloße Prinzip des Widerspruchs genügt, um die zweite und die dritte syllogistische Figur durch die erste nachzuweisen. Man kann z. B. in der ersten Figur nach Modus  Barbara  schließen:
    Alles B ist C,
    Alles A ist B,
    also Alles A ist C.
Setzen wir, daß der Schluß falsch sei (oder es sei wahr, daß einiges  A  nicht  C  ist), so muß auch einer der beiden Vordersätze falsch sein. Setzen wir, daß der Untersatz wahr ist, so muß der Obersatz falsch sein, welcher behauptet, daß alles  B C  ist. Es muß also das Gegenteil wahr sein: Einiges  B  ist nicht  C.  Und dies ist der Schlußsatz eines neuen Syllogismus, der aus der Falschheit des Schlußsatzes und der Wahrheit des einen Vordersatzes des vorhergehenden gezogen wird. Folgendes ist der neue Syllogismus:
    Einiges  A  ist nicht  C. 
Dies ist das Gegenteil des als falsch angenommenen vorherigen Schlußsatzes.
    Alles A ist B.
Dies ist der vorher als wahr angenommene Untersatz.
    Also ist Einiges  B  nicht  C. 
Dies ist der nunmehrige wahre Schlußsatz, welcher dem früheren falschen Vordersatz entgegengesetzt ist. Dieser Syllogismus ist aus dem Modus  Disamis  der dritten Figur, welcher sich also offenbar und auf den ersten Blick aus dem Modus  Barbara  der ersten Figur ableiten läßt, ohne etwas anderes als das Prinzip des Widerspruchs anzuwenden. Schon in meiner Jugend, als ich diese Dinge genauer untersuchte, machte ich die Bemerkung, daß alle Modi der zweiten und dritten Figur durch diese Methode allein aus der ersten hergeleitet werden können, indem man voraussetzt, daß der Modus der ersten richtig ist und folglich, wenn der Schlußsatz falsch oder sein kontradiktorisches Gegenteil als wahr angenommen und auch einer der Vordersätze als wahr angenommen wird, das kontrdiktorische Gegenteil des anderen Vordersatzes wahr sein muß. Allerdings bedient man sich in den logischen Schulen lieber der Umkehrungen, um die  weniger ursprünglichen Figuren  aus der ersten, welche die  ursprüngliche  ist, abzuleiten, weil dies für die Schüler bequemer scheint. Für diejenigen aber, welche die Beweisgründe suchen, wo man so wenig wie möglich Voraussetzungen anwenden muß, wird man nicht durch die Voraussetzung der Umkehrung dasjenige beweisen, was man durch das Grundprinzip allein beweisen kann; und dies ist das des Widerspruchs, welches weiter nichts voraussetzt. Ich habe sogar folgende bemerkenswerte Beobachtung gemacht, daß nämlich allein diejenigen,  weniger ursprünglichen Figuren,  welche man  direkte  nennt, nämlich die zweite oder dritte, ganz allein durch das Prinzip des Widerspruchs bewiesen werden können; die  weniger ursprüngliche indirekte  Figur aber, welches die  vierte  ist, und deren Erfindung die Araber dem GALEN zuschreiben, obwohl wir in dessen uns noch übrigen Schriften nichts davon finden und auch nicht in den übrigen griechischen Autoren, diese vierte sage ich, hat den Nachteil, daß sie aus der ersten oder ursprünglichen nicht durch diese Methode allein gezogen werden kann, sondern daß man noch eine andere Voraussetzung, nämlich die Umkehrungen, anwenden muß, so daß sie um einen Grad ferner steht, als die zweite und dritte, welche sich gleich verhalten und von der ersten gleichmäßig entfernt sind, während die vierte noch die zweite und dritte nötig hat, um bewiesen zu werden. Denn es trifft sich gerade, daß die Umkehrungen, deren sie nötig hat, aus der zweiten und dritten Figur bewiesen werden, welche ihrerseits von Umkehrungen unabhängig sind, wie ich soeben gezeigt habe (5). Schon PETRUS RAMUS hat diese Bemerkung über die Beweisbarkeit der Umkehrung durch diese Figuren gemacht und warf, wenn ich mich nicht irre, den Logikern, welche sich der Umkehrung bedienen, um diese Figuren zu beweisen, einen Zirkelschluß vor, obgleich es nicht nur ein Zirkelschluß war, den er ihnen hätte vorwerfen sollen (denn sie bedienten sich ihrerseits gar nicht dieser Figuren, um die Umkehrungen zu rechtfertigen), sondern auch ein  Hysteron Proteron,  d. h. das  Spätere früher,  weil die Umkehrungen eher durch diese Figuren, als diese Figuren durch die Umkehrungen nachgewiesen zu werden nötig hätten. Da aber dieser Nachweis der Umkehrungen noch die Anwendung der  bejahenden Identitätssätze,  welche einige für ganz nicht ansehen, zeigt, so wird es umso passender sein, sie hierher zu setzen. Ich will nur von den Umkehrungen ohne Kontraposition sprechen, die mir hier genügen, und welche entweder einfache oder, wie man sie nennt,  per accidens [zufällige - wp] sind.

Die einfachen Umkehrungen sind zwei Arten, die der allgemeinen Negation, z. B.  kein Quadrat hat einen stumpfen Winkel,  als  ist keine Figur mit stumpfem Winkel ein Quadrat;  und die der besonderen Bejahung, z. B.  einige Dreiecke haben einen stumpfen Winkel,  also  sind einige Figuren mit stumpfem Winkel dreieckig.  Die Umkehrung  per accidens  aber, wie man sie nennt, betrifft die allgemeine Bejahung, z. B.  jedes Quadrat ist ein Rechteck,  also  sind einige Rechtecke Quadrate.  Hier versteht man unter einem  Rechteck  immer eine Figur, deren Winkel sämtlich recht sind und unter einem Quadrat ein regelmäßiges Viereck.

Jetzt handelt es sich darum, diese drei Arten von Umkehrungen zu zeigen, wie folgt:
    1. Kein  A  ist  B;  also kein  B  ist  A. 
    2. Einiges  A  ist  B;  also einiges  B  ist  A. 
    3. Alles  A  ist  B;  also einiges  B  ist  A. 
Nachweis der ersten Umkehrung im Modus  Cesare,  welcher der zweiten Figur angehört:
    Kein  A  ist  B, 
    Alles  A  ist  B, 
    also Kein  B  ist  A. 
Nachweis der zweiten Umkehrung im Modus  Datisi,  welcher der dritten Figur angehört:
    Alles  A  ist  A, 
    Einiges  A  ist  B, 
    also Einiges  B  ist  A. 
Nachweis der dritten Umkehrung, im Modus  Darapti,  welcher der dritten Figur angehört:
    Alles  A  ist  A, 
    Alles  A  ist  B, 
    also Einiges  B  ist  A. 
Dies zeigt, daß die reinsten und scheinbar unnützesten identischen Sätze einen großen Nutzen im  Abstrakten  und  Allgemeinen  haben, und dies lehrt uns, daß man keine Wahrheit verachten darf. Was jenen von Ihnen noch als ein Beispiel intuitiver Erkenntnisse angeführten Satz anbelangt, daß  drei so viel ist, wie zwei und eins,  so will ich bemerken, daß dies nur die Definition des Ausdrucks  drei  ist, denn die einfachsten Definitionen der Zahlen werden so gebildet:  zwei  ist eins und eins;  drei  ist zwei und eins;  vier  ist drei und eins usw. Allerdings steckt darin ein verhülltes Urteil, wie ich schon bemerkt habe, nämlich daß diese Vorstellungen möglich sind; und dies wird hier intuitiv erkannt. Man kann daher sagen, daß eine intuitive Erkenntnis in den Definitionen enthalten ist, wenn ihre Möglichkeit sofort einleuchtet. Und auf diese Art enthalten alle  adäquaten  Definitionen ursprüngliche Vernunftwahrheiten und folglich intuitive Erkenntnisse. Schließlich kann man im Allgemeinen sagen, daß alle ursprünglichen Vernunftwahrheiten als unmittelbare aus einer  Unmittelbarkeit von Vorstellungen  stammen.

Was die  ursprünglichen, tatsächlichen Wahrheiten  anbelangt, so sind dies die unmittelbaren inneren Erfahrungen aus einer  Gefühlsunmittelbarkeit.  Hierher gehört die erste Wahrheit der Kartesianer oder des hl. AUGUSTIN:  Ich denke, also bin ich, d. h. ich bin ein Wesen, das denkt. (6) Man muß aber wissen, daß ebenso wie die identischen Sätze allgemeine oder besondere, und wie die einen ebenso klar wie die anderen sind - weil es ebensoviel ist, zu sagen, daß  A A  ist, als zu sagen,  daß ein Ding das ist, was es ist, - sich dies mit den ersten tatsächlichen Wahrheiten ebenso verhält. Denn mir ist nicht allein unmittelbar klar, daß ich denke, sondern es ist mir ganz ebenso klar, daß ich  verschiedene Gedanken  habe, daß ich bald  A  und bald  B  denke usw. Also ist das kartesianische Prinzip gültig, aber es ist nicht das einzige seiner Art. Man sieht daraus, daß alle  ursprünglichen  Vernunft- oder auch tatsächlichen  Wahrheiten  dies miteinander gemein haben, daß man sie nicht durch etwas Gewisseres beweisen kann.

§ 2. Philaletes: Ich bin ganz damit einverstanden, daß Sie das, was ich hinsichtlich der  intuitiven  Erkenntnisse nur angedeutet habe, weiter ausführen. Die  demonstrative  Erkenntnis ist also nur eine Verkettung der intuitiven Erkenntnisse in allen Verknüpfungen der mittelbaren Vorstellungen. Denn oft kann der Geist die Vorstellungen nicht miteinander verbinden, vergleichen oder in eine unmittelbare Beziehung setzen, was ihn nötigt, sich anderer vermittelnder Vorstellungen (einer oder mehrerer) zu bedienen, um die Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung, welche gesucht wird, zu entdecken, und dies nennt man eben  schließen.  Um z. B. zu beweisen, daß die drei Winkel eines Dreiecks zwei rechten gleich sind, sucht man einige andere Winkel, welche man als entweder den drei Winkeln des Dreiecks oder den beiden rechten gleich erkennt. § 3. Diese Vorstellungen, welche man dazwischen treten läßt, heißen  Beweise,  und die Anlage des Geistes, sie zu finden,  Scharfsinn.  § 4. Und selbst wenn sie gefunden sind, erwirbt man eine solche Erkenntnis nicht ohne Mühe und Aufmerksamkeit, auch nicht durch einen bloßen flüchtigen Blick, denn man muß sich auf eine fortschreitende Reihe von Vorstellungen einlassen, die nur allmählich und schrittweise entsteht. § 5. Auch geht dem Beweisverfahren der Zweifel voraus. § 6. Diese demonstrative Erkenntnis ist weniger klar als die intuitive. Wie das durch mehrere Spiegel von einem zum andern geworfene Bild bei jeder Zurückwerfung schwächer wird und nicht mehr gleich so erkennbar ist, besonders für schwache Augen - ebenso verhält es sich mit einer durch eine lange Folge von Beweisen hervorgebrachten Erkenntnis. § 7. Und obwohl jeder Schritt, den die Vernunft beim Beweisen tut, eine intuitive oder einfach anschauende Erkenntnis ist, so nehmen nichtsdestoweniger die Menschen in dieser langen Folge von Beweisen, da das Gedächtnis diese Verbindung von Vorstellungen nicht so genau behält, häufig Falschheiten für Beweise.

Theophilus: Außer dem natürlichen oder durch Übung erlangten  Scharfsinn  gibt es eine Kunst, die mittleren Vorstellungen (den Medius) zu finden, und diese Kunst ist die  Analyse.  Nun ist zu bemerken, daß es sich hierbei bald darum handelt, die Wahrheit oder Falschheit eines gegebenen Satzes zu finden, was nichts anderes ist, als die Beantwortung der Frage: An? d. h. ist es so oder nicht? Bald handelt es sich, auf die -  unter übrigens gleichen Umständen - schwerere Frage zu antworten, wo man z. B. fragt:  wodurch und wie?  und wo man noch mehr zu ergänzen hat. Dies sind eigentlich die von Mathematikern  "Probleme  genannten Fragen, welche einen Teil des Satzes unentschieden lassen, wie, wenn man einen Spiegel zu finden verlangt, der allen Sonnenstrahlen auf einen Punkt vereinigt, d. h. man fragt nach seiner Gestalt oder wie er sein muß. Was die erste Art von Fragen anbelangt, wo es sich bloß um das Wahre und Falsche handelt und im Subjekt oder Prädikat nichts weiter zu ergänzen ist, findet weniger  Erfindung  statt, indessen doch einige, und das bloße Urteil genügt dazu nicht. Allerdings kann jemand, der Urteil hat, d. h. welcher der Aufmerksamkeit und Überlegung fähig ist und die nötige Muße, Geduld und Freiheit des Geistes hat, den schwersten Beweis verstehen, wenn er ihm gehörig vorgelegt wird. Aber der scharfsinnigste Mensch auf Erden wird ohne andere Hilfe niemals diesen Beweis zu finden imstande sein. Also ist auch noch Erfindung dabei, und ihrer gab es bei den Geometern sonst mehr als jetzt. Denn als die Analyse noch weniger geübt wurde, brauchte man mehr Scharfsinn, um zum Ziel zu gelangen, und deshalb haben noch einige Geometer vom alten Schlag oder andere, welche in den neuen Methoden noch nicht genug geübt sind, Wunder was zu tun geglaubt, wenn sie den Beweis irgendeines Lehrsatzes fanden, den andere vor ihnen erfunden hatten. Aber die in der Kunst des Erfindens Geübten wissen, wann dies schätzbar ist oder nicht. Wenn z. B. jemand die  Quadratur  eines von einer krummen und einer geraden Linie eingeschlossenen Raumes veröffentlich, welche in allen ihren Segmenten gelingt, und die ich eine  allgemeine  nenne, so ist es nach unseren Methoden immer in unserer Macht, den Beweis davon zu finden, wenn man sich nur die Mühe dazu nehmen will. Es gibt aber besondere Quadraturen gewisser Abschnitte, wo die Sache so verwickelt sein kann, daß man es nicht immer  in seiner Gewalt  hat, sie zu entwirren. Auch geschieht es, daß die Induktion uns in den Zhlen und Figuren auf Wahrheiten bringt, deren allgemeinen Grund man noch nicht entdeckt hat. Denn es fehlt viel daran, daß man zur Vollendung der Analyse in der Geometrie und Zahlentheorie gelangt sei, wie sich mehrere auf die Prahlereien einiger sonst ausgezeichneter, aber ein wenig vorschneller oder zu ehrgeiziger Männer hin sich eingebildet haben.

Viel schwerer aber ist es, bedeutende Wahrheiten zu finden, und noch mehr, die Mittel zu finden, das, was man sucht, gerade dann, wenn man es sucht, zu vollbringen, als den Beweis der von einem anderen entdeckten Wahrheiten. Man gelangt oft zu schönen Wahrheiten durch die  Synthese,  indem man vom Einfachen zum Zusammengesetzten fortschreitet; aber wenn es sich darum handelt, gerade das Mittel zu finden, um das, was man sich vorsetzt, zu vollbringen, so genügt die Synthese gewöhnlich nicht, und oft würde dies heißen, ein Meer austrinken, wenn man all die erforderlichen Kombinationen machen wollte. Freilich könnte man sich dabei häufig durch die  Methode der Ausschließungen  helfen, welche einen guten Teil der unnützen Kombinationen fortschafft, und oft läßt die Natur der Sache keine andere Methode zu. (7) Aber man hat nicht immer die Mittel, sie fördersam anzuwenden. Die Analyse hat uns also in diesem Labyrinth den Faden zu geben, wenn dies möglich ist, denn es gibt Fälle, wo die Natur der Frage selbst fordert, daß man überall herumtasten geht, indem die Abkürzungen nicht immer möglich sind.

§ 8. Philaletes: Da man nun beim Beweisen immer die intuitiven Erkenntnisse voraussetzt, so hat dies, denke ich, zu dem Grundsatz Veranlassung gegeben:  daß jeder Schluß aus schon Bekanntem und Zugestandenem hervorgeht  (ex praecognitis et praeconcessis). (8) Wir werden aber Gelegenheit haben, die in diesem Grundsatz enthaltene Unrichtigkeit zu besprechen, wenn wir von den Maximen handeln werden, welche man fälschlich für die Grundlage unserer Beweise nimmt.

Theophilus: Ich bin neugierig zu vernehmen, welche Unrichtigkeit Sie in einem Grundsatz finden können, der so vernünftig erscheint. Müßte man immer alles auf intuitive Erkenntnisse zurückführen, so würden die Beweise oft von unerträglicher Weitschweifigkeit sein. Aus diesem Grund haben die Mathematiker die Geschicklichkeit gehabt, die Schwierigkeiten zu teilen und die dazwischenfallenden Sätze besonders zu beweisen. Und auch dabei gibt es noch Kunstgriffe, denn da die vermittelnden Wahrheiten, (welche man die  Lemmata - hinzugenommene Lehrsätze - nennt, da sie nebenher zu gehen scheinen) auf mancherlei Weise ausgefunden werden können, so ist es zur Unterstützung der Fassungskraft und des Gedächtnisses gut, diejenigen davon auszuwählen, welche zur Abkürzung dienen und für sich allein behaltenswert und des Beweises würdig erscheinen. Aber es gibt noch ein anderes Hindernis, daß es nämlich nicht leicht ist, alle Grundsätze zu beweisen und die Schlüsse gänzlich auf intuitive Erkenntnisse zurückzuführen. Hätte man auch darauf warten wollen, so würden wir vielleicht die Wissenschaft der Geometrie noch nicht besitzen. Aber wir haben darüber schon in unseren ersten Unterredungen gesprochen und werden Gelegenheit haben, noch mehr davon zu reden.

§ 9. Philaletes: Wir werden bald dazu kommen; jetzt werde ich nur noch bemerken, was ich schon mehr als einmal berührt habe, daß der allgemeinen Meinung nach nur die mathematischen Wissenschaften einer auf Beweis beruhenden Gewißheit fähig sind; aber da die Übereinstimmung und Nichtübereinstimmung, welche intuitiv erkannt werden kann, nicht ein den Vorstellungen der Zahlen und Figuren allein anhaftendes Privilegium ist, so mag es vielleicht aus seinem Mangel an Fleiß von unserer Seite geschehen sein, daß die Mathematik allein auf Schlüsse gebracht ist. § 10. Verschiedene Gründe haben dazu beigetragen. Die mathematischen Wissenschaften sind von sehr allgemeinem Nutzen, und der geringste Unterschied der Größe ist sehr leicht zu erkennen. § 11. Diejenigen übrigen einfachen Vorstellungen, welche in uns hervorgerufene Erscheinungen oder Zustände sind, haben zwar kein genaues Maß hinsichtlich ihrer verschiedenen Grade, (§ 12) aber wenn die Verschiedenheit solcher z. B. sinnlichen Qualitäten groß genug ist, um im Geiste klar unterschiedene Vorstellungen zu erwecken, wie etwa die des Blauen und Roten, so sind auch diese des Beweises ebenso fähig, wie die der Zahl und der Ausdehnung.

Theophilus: Es gibt recht ansehnliche Beispiele von Schlußverfahren außer der Mathematik, und man kann sagen, daß ARISTOTELES deren schon in seiner ersten Anlytik gegeben hat. In der Tat ist die Logik ebenso beweisfähig wie die Geometrie, und man kann sagen, daß die Logik der Geometer oder die Schlußmethoden, welche EUKLID bei seiner Lehre von den Sätzen erläutert und aufgestellt hat, eine besondere Erweiterung oder Entwicklung der allgemeinen Logik bilden. ARCHIMEDES ist der erste, der in seinen uns erhaltenen Schriften die Kunst des Beweisens bei einer Gelegenheit ausgeübt hat, wo er Physik behandelt, wie er in seinem Buch vom Gleichgewicht getan hat. Ferner kann man sagen, daß die Rechtsgelehrten mehrere gute Beweisführungen enthalten,, vor allem die alten römischen Juristen, deren Bruchstücke uns in den Pandekten aufbewahrt worden sind. Ich bin durchaus der Ansicht des LAURENTIUS VALLA, der diese Schriftsteller nicht genug bewundern kann, unter anderem, weil sie alle sich so richtig und präzise ausdrücken und in der Tat auf eine Weise argumentieren, die sich der beweisenden gar sehr nähert und oft gänzlich die beweisende ist. Auch weiß ich keine Wissenschaft außer der des Rechts und des Krieges, in welcher die Römer etwas Bedeutendes dem von den Griechen Empfangenen hinzugefügt hätten.
    Tu regere imperio populos, Romane, memento;
    Hae tibi erunt artes pacisque imponere morem,
    Parcere subjectis et debellare superbos. (9)

    [Du, o Römer, beherrsche des Erdreichs Völker mit Obmacht, der du gebeut [gebietest - wp] Anordnung des Friedens; Demutsvolle geschont, und Trotzige niederkämpfst!]
Diese Präzision des Ausdrucks ist der Grund, daß alle diese Juristen der Pandekten, obgleich sie der Zeit nach mitunter einander ganz fern stehen, doch ein einziger Autor zu sein scheinen, und man viel Mühe haben würde, sie zu unterscheiden, wenn die Schriftstellernamen nicht an der Spitze der Auszüge ständen, wie man EUKLID, ARCHIMEDES und APOLLONIUS auch mit Mühe unterscheiden würde, wenn man ihre Beweise über Gegenstände liest, welche der eine ebensogut wie der andere berührt hat. Man muß gestehen, daß die Griechen in der Mathematik mit aller nur möglichen Schärfe argumentiert und dem Menschengeschlecht die Vorbilder der Kunst zu beweisen hinterlassen haben, denn wenn die Babylonier und Ägypter eine ein wenig mehr als erfahrungsmäßige Geometrie gehabt haben, so ist davon zumindest nichts mehr übrig; aber zum Erstaunen ist es, daß eben diese Griechen, sobald sie sich nur ein wenig von den Zahlen und Figuren entfernten, gleich so weit davon (10) abgekommen sind, indem sie zur Philosophie übergingen. Denn auffallenderweise sieht man im PLATO und im ARISTOTELES (die erste Analytik ausgenommen) nicht einen Schatten vom Beweis und ebensowenig bei allen übrigen alten Philosophen. PROKLUS war ein guter Geometer, aber wenn er von Philosophie spricht, scheint er ein anderer Mensch zu sein. Aus diesem Grund ist es dann auch viel leichter gewesen, in der Mathematik mit Beweisverfahren [momend] zu argumentieren, und zwar hauptsächlich darum, weil dabei die Erfahrung in jedem Augenblick für die Argumentation Gewähr leistet, wie es auch bei den Schlußfiguren der Fall ist. Aber in der Metaphysik und Moral findet dieser Parallelismus von Gründen und Erfahrungen nicht statt, und in der Physik erfordern die Erfahrungen Mühe und Ausgaben. So haben dann die Menschen gleich von vornherein in ihrer Aufmerksamkeit nachgelassen und sind folglich in die Irre geraten, nachdem sie sich von diesem treuen Führer, der Erfahrung, entfernt hatten, welcher sie auf ihrem Weg unterstützte und aufrechthielt, wie jene kleine rollende Maschine, welche die Kinder verhindert, beim Gehen zu fallen. Dabei fand eine gewisse  Stellvertretung  statt, was man aber nicht genug bemerkt hat und jetzt noch nicht genug bemerkt. Ich werde seiner Zeit davon reden. Übrigens sind Blau und Rot nicht imstande, Gelegenheit zu Beweisen mittels der Vorstellungen, die wir ihnen haben, zu liefern, weil diese Vorstellungen eben verworrene sind. Diese Farben liefern zu Schlüssen nur insofern eine Veranlassung, als man sie erfahrungsmäßig von gewissen deutlichen Vorstellungen begleitet findet, deren Zusammenhang aber mit den sie betreffenden Vorstellungen nicht klar ist.

§ 14. Philaletes: Außer der  Intuition  und  Demonstration  (Beweisführung), welches die zwei Stufen unserer Erkenntnis sind, ist alles übrige  Glaube  oder  Meinung  und nicht Erkenntnis, zumindest hinsichtlich aller  allgemeinen Wahrheiten.  Aber der Geist hat noch eine andere Art der Wahrnehmung, welche das besondere Dasein der endlichen Wesen außer uns betrifft, und das ist die  sinnliche Erkennnis. 

Theophilus: Diejenige  Meinung,  welche in der Wahrscheinlichkeit begründet ist, verdient vielleicht auch den Namen der Erkenntnis, sonst würden fast die gesamte historische Erkenntnis und viele andere wegfallen. Aber ohne über Worte zu streiten, nehme ich an, daß die  Untersuchung der Wahrscheinlichkeitsgrade  sehr wichtig sein würde und uns noch fehlt, was ein großer Mangel in unseren Logiken ist. Denn wenn man auch nicht schlechthin die Frage entscheiden kann, so könnte man immerhin den Grad der Wahrscheinlichkeit  aus den vorliegenden Umständen  (ex datis) bestimmen und folglich vernunftgemäß entscheiden, welche Wahl zu empfehlen ist. Wenn die jetzigen Moralisten (ich verstehe darunter die weisesten, solche wie den neuen Jesuitengeneral) das Gewisseste mit dem Wahrscheinlichsten verbinden und das Gewisse sogar dem Wahrscheinlichen vorziehen, so entfernen sie sich in der Tat nicht vom Wahrscheinlichsten, denn die Frage der  Gewißheit  dabei ist eben die nach der geringen Wahrscheinlichkeit des zu befürchtenden Übels. Der Fehler der in diesem Artikel fahrlässigen Moralisten hat zum großen Teil darin bestanden, daß sie einen zu beschränkten und zu unzureichenden Begriff des  Wahrscheinlichen  gehabt haben, welches sie mit dem  Endoxon  oder dem  Angenommenen  des ARISTOTELES verwechselt haben, denn ARISTOTELES hat in seiner Topik sich nur den Meinungen anderer, wie Redner und Sophisten, anbequemen wollen. "Endoxon" ist ihm das, was von der größten Zahl oder von den besten Autoritäten angenommen ist: er hat Unrecht, seine Topik darauf beschränkt zu haben, und dieser Gesichtspunkt ist der Grund, daß er sich nur an angenommene, größtenteils unsichere Grundsätze gehalten hat, als ob man nur mittels eines Quodlibets [wie es beliebt - wp] oder Sprichwörter Schlüsse ziehen wollte. Das Wahrscheinliche aber hat einen größeren Umfang; man muß es aus der Natur der Dinge gewinnen, und die Meinung derer, deren Autorität von Gewicht ist, ist nur einer der Umstände, welche dazu beitragen können, eine Meinung wahrscheinlich zu machen, aber nicht von der Art, die Wahrscheinlichkeit in ihrer Ganzheit voll zu machen. Während KOPERNIKUS fast allein seiner Meinung war, war sie immerhin unvergleichlich  wahrscheinlicher,  als die der übrigen Menschheit. Ich weiß also nicht, ob die Aufrichtung der  Kunst, die Wahrscheinlichkeiten abzuschätzen,  nicht nützlicher sein möchte, als ein guter Teil unserer demonstrativen Wissenschaften; und ich habe mehr als einmal an sie gedacht.

Philaletes: Die  sinnliche Erkenntnis,  oder diejenige, welche das Dasein der besonderen Wesen außer uns dartut, geht über die bloße Wahrscheinlichkeit hinaus, aber sie hat nicht die ganze Gewißheit der beiden eben besprochenen Erkenntnisgrade. Daß die von uns empfangene Vorstellung eines äußeren Gegenstandes in unserem Geiste sei - nichts ist sicherer als das, und dies ist eine intuitive Erkenntnis; aber zu wissen, ob wir von da aus sicher schließen dürfen auf ein dieser Vorstellung entsprechendes Dasein eines Dings außerhalb von uns, das kann nach der Meinung gewisser Leute in Zweifel gezogen werden, weil die Menschen dergleichen Vorstellungen ihres Geistes haben können, wenn nichts davon in der Wirklichkeit da ist. Was mich betrifft, so glaube ich dennoch, daß damit ein Grad von Evidenz verbunden ist, welcher uns über den Zweifel erhebt. Man ist unwiderstehlich davon überzeugt, daß zwischen den Vorstellungen, welche man hat, wenn man am Tag die Sonne betrachtet und wenn man nachts an dieses Gestirn denkt, ein großer Unterschied obwaltet; und die mit Hilfe des Gedächtnisses wiedererneuerte Vorstellung ist sehr verschieden von derjenigen, welche uns durch die Vermittlung der Sinne tatsächlich entsteht. Will jemand sagen, daß ein  Traum  dieselbe Wirkung haben kann, so antworte ich zuerst,  daß nicht viel daran gelegen ist, diesen Zweifel zu heben,  weil Vernunftschlüsse, wenn alles ein Traum ist, ohne Nutzen sind, da Wahrheit und Erkenntnis dann gar nicht mehr stattfinden. An zweiter Stelle wird er meiner Ansicht nach den Unterschied zwischen Träumen, in einem Feuer zu sein, und dem wirklich im Feuer-Sein, anerkennen. Und wenn er dabei bleibt, sich als Skeptiker zu zeigen, so werde ich ihm sagen, es genüge die sichere Beobachtung, daß Lust und Schmerz die Folge der Einwirkung gewisser Gegenstände, wahrer oder erträumter, auf uns sind, und daß diese Gewißheit ebenso groß wie unser Glück und unser Unglück ist: zwei Dinge, über welche unser Interesse nicht hinausgeht: So glaube ich also, daß wir mit drei Arten von Erkenntnis rechnen dürfen: die  intuitive,  die  demostrative  und die  sinnliche. 

Theophilus: Ich glaube, Sie haben recht, und denke sogar, daß sie diesen Arten der  Gewißheit  oder der  gewissen Erkenntnis die des Wahrscheinlichen  hinzufügen können; so wird es zwei Arten von Erkenntnissen geben, wie es zwei Arten von  Beweisen  gibt, davon die einen die  Gewißheit  hervorrufen und die andern nur bis zur  Wahrscheinlichkeit  reichen. Aber lassen Sie uns zu dem Streit kommen, welchen die Skeptiker mit den Dogmatikern über das Dasein der Dinge außerhalb von uns haben. Wir haben denselben schon berührt, müssen aber jetzt darauf zurückkommen. Ich habe ehemals mündlich und schriftlich darüber sehr viel mit dem seligen Abbe FOUCHER, Kanonikus von Dijon, gestritten, einem gelehrten und scharfsinnigen, aber ein wenig zu sehr für seine Akademie eingenommenen Mann, deren Schule er gern wiederbelebt hätte, wie GASSENDI die der Epikureer wieder auf die Bühne gebracht hatte. Seine Kritik der "Untersuchung der Wahrheit" und die übrigen kleinen nachher von ihm veröffentlichten Abhandlungen haben ihren Verfasser von einer sehr vorteilhaften Seite bekannt gemacht. Er hat auch in das "Journal des Savants" Einwürfe gegen mein System der vorherbestimmten Harmonie einrücken lassen, als ich dasselbe nach mehrjähriger Überlegung in die Öffentlichkeit brachte; aber der Tod hat ihn verhindert, auf meine Antwort zu erwidern. Er predigte immer, daß man sich vor Vorurteilen hüten und große Genauigkeit anwenden muß; aber außerdem, daß er selbst es sich nicht zur Pflicht machte, das, was er anderen riet, auszuführen, worin er wohl zu entschuldigen war, schien er mir auch nicht darauf zu achten, ob ein anderer es tat, ohne Zweifel voraussetzend, daß niemand es je tun würde. Ihm nun machte ich bemerklich, daß die Wahrheit der sinnlichen Dinge nur in der Verknüpfung der Erscheinungen, die ihren Grund haben müßte, bestände, und daß dieser Umstand sie von den Träumen unterscheidet, aber daß die Wahrheit unseres Daseins und der Ursache der Erscheinungen von einer anderen Beschaffenheit ist, weil sie auf die Annahme von Substanzen führt; und daß die Skeptiker das, was sie Gutes behaupteten, dadurch wieder verderben, daß sie es zu weit treiben und ihre Zweifel selbst auf die unmittelbaren Erfahrungen und bis auf die geometrischen Wahrheiten (was FOUCHER eben nicht tat) und auf die übrigen Vernunftwahrheiten ausdehnen wollten, was etwas zu weit gegangen ist.

Um aber zu Ihnen zurückzukehren, so haben Sie recht zu sagen, daß für gewöhnlich zwischen sinnlichen Empfindungen und Phantasiebildern ein Unterschied ist, aber die Skeptiker werden sagen, daß das Mehr oder Weniger dabei im Wesentlichen nichts ändert. Obgleich übrigens die sinnlichen Empfindungen lebhafter als die Phantasiebilder zu sein pflegen, so weiß man doch, daß es Fälle gibt, wo Personen von starker Einbildungskraft durch ihre Phantasiebilder ebenso oder vielleicht mehr als ein anderer durch die Wirklichkeit gefesselt werden.

Ich halte daher für das wahre  Kriterion  hinsichtlich der Sinnengegenstände  den Zusammenhang der Erscheinungen,  d. h. die Verknüpfung dessen, was an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten und in der Erfahrung der verschiedenen Menschen vor sich geht, welche in dieser Hinsicht einander selbst sehr wichtige Erscheinungen sind. Die Verbindung der Erscheinungen aber, welche die  tatsächlichen Wahrheiten  im Hinblick auf die sinnlichen Dinge außerhalb von uns verbürgt, wird mittels der  Vernunftwahrheiten  bewährt, wie die Erscheinungen der Optik durch die Geometrie ihre Aufklärung erhalten. Allerdings muß man zugeben, daß diese ganze Gewißheit nicht eine des höchsten Grades ist, wie Sie ganz richtig anerkannt haben. Denn es ist, metaphysisch gesprochen, nicht unmöglich, daß es einen so konsequenten und langandauernden Traum geben kann, wie das Leben eines Menschen; aber das ist etwas so Vernunftwidriges, als wenn man sich ein Buch denken wollte, das durch Zufall gebildet würde, indem man die Drucklettern bunt durcheinander wirft. Übrigens ist, wenn die Erscheinungen nur verbunden sind, wirklich auch nichts daran gelegen, ob man sie Träume nennt oder nicht, weil die Erfahrung zeigt, daß man sich in den um der Erscheinungen willen genommenen Maßregeln nicht täuscht, wenn sie nach Maßgabe der Vernunftwahrheiten genommen werden. (11)

§ 15. Philaletes: Übrigens ist die Erkenntnis nicht immer klar, wenngleich die Vorstellungen es sein mögen. Jemand, welcher von den Winkeln eines Dreiecks und dem Gleichsein derselben mit zwei rechten so klare Vorstellungen hat, wie irgendein Mathematiker in der Welt, kann gleichwohl eine sehr dunkle Erkenntnis ihrer Übereinstimmung miteinander haben.

Theophilus: Wenn die Vorstellungen gründlich verstanden werden, leuchten gewöhnlich auch ihre Übereinstimmungen und Nichtübereinstimmungen ein. Indessen gibt es, wie ich zugestehe, dabei mitunter so zusammengesetzte, daß es viel Mühe macht, das darin Verborgene zu entwickeln; und insofern können gewisse Übereinstimmungen oder Nichtübereinstimmungen noch dunkel bleiben. Was Ihr Beispiel betrifft, so bemerke ich, daß wenn man die Winkel des Dreiecks in der Phantasie hat, man darum noch keine klare Vorstellung davon zu haben braucht. Die Einbildungskraft kann uns kein gemeinsames Bild von spitz- und stumpfwinkligen Dreiecken liefern, und doch ist beidem die Vorstellung des Dreiecks gemeinschaftlich: also besteht diese Vorstellung nicht in den Phantasiebildern, und es ist auch nicht so leicht, wie man denken könnte, die Winkel eines Dreiecks gründlich zu verstehen.
LITERATUR: Gottfried Wilhelm Leibniz, Philosophische Werke Bd. III, Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand, Leipzig 1904 [mit Anmerkungen von Carl Schaarschmidt]
    Anmerkungen
    1) Während LOCKE sich bei der Bestimmung des Begriffs der Erkenntnis im Wesentlichen an die aristotelische Erklärung hält, daß die Wahrheit (als Gegenstand oder Ziel des Erkennens) in der - angemessenen - Verbindung oder Trennung der Vorstellungen - in einem Urteil also - besteht, will LEIBNIZ die Sache allgemeiner gefaßt wissen und behauptet, die Erkenntnis bezieht sich auch auf die Vorstellungen als solche, ehe man zu Wahrheiten, d. h. dem Sachverhalt entsprechenden Verknüpfungen von Vorstellungen kommt. Soll eine Vorstellung als solche Erkenntnis gewähren, so versteht es sich, daß in ihr ein Inhalt mitgedacht ist, welcher sich mittels einer oder mehrerer Definitionen entwickeln läßt. Insofern läuft doch wieder die von LEIBNIZ ausgedrückte Meinung auf das hinaus, was LOCKE und vor ihm ARISTOTELES aufgestellt hat. - Daß ferner Wahrnehmungen und Beobachtungen in der Tat das reichste Material der Erkenntnis gewähren, ehe es zu förmlichen Urteilen kommt, ist selbstverständlich, darum sind aber Wahrnehmungen als solche noch nicht Erkenntnisse im eigentlichen Sinn des Wortes.
    2) LUKIANs "wahrhafte Geschichte" ist eines der geistreichsten Werke des witzigen Satirikers. Bestimmt, die phantastische, lügenhaften Darstellungen der späteren griechischen Historiker zu persiflieren, ist sie zahlreichen Neueren zum Vorbild poetischer Schöpfungen geworden. Auf CYRANO de BERGERAC und SWIFT z. B. hat LUKIANs Werk unzweifelhaft anregend gewirkt.
    3) LEIBNIZ reduziert also die von LOCKE vorgeschlagenen vier Arten der Übereinstimmung, bzw. Nichtübereinstimmung auf zwei, nämlich auf die Vergleichung und den Zusammenhang (concours). Die Relation wird dabei von LEIBNIZ verallgemeinert und die Existenz als Zusammenhang des Objekts mit dem (sich selbst als real vorstellenden) Ich betrachtet. Das Letztere erklärt sich einfach aus der von LEIBNIZ gemachten Voraussetzung einer prästabilierten [vorherbestimmten - wp] Harmonie der Dinge, worin dann auch die Korrespondenz des vorstellenden Ichs mit den von ihm vorgestellten Gegenständen gegeben ist.
    4) Beim sogenannten indirekten Beweis nämlich, welcher das kontradiktorische Gegenteil des zu Beweisenden - einstweilen - annehmend, aus der gefundenen Unmöglichkeit dieser Annahme - mittels des Satzes vom Widerspruch - auf die Richtigkeit der zu beweisenden Thesis schließt.
    5) Die Beurteilung der Richtigkeit der Schlüsse nach den Modi der drei letzten Figuren ist durch eine Reduktion derselben auf die erste Figur meistens nur schwer zu erreichen; es ist daher vorzuziehen, sich an die in den Vordersätzen gegebenen Begriffsverhältnisse oder an die aus den logischen Grundprinzipien folgenden Prinzipien derselben zu halten.
    6) Es war zur Zeit des LEIBNIZ noch nicht bekannt, daß das 'Cogito ergo sum' des DESCARTES, welches diesem als die erste Gewißheit des Geistes den Ausgangspunkt alles übrigen Wissens bildet, schon in AUGUSTINs Schriften vorkommt. So, um nur eine Stelle anzuführen, aus den Solil. II., 1.: "Tu qui scis te nosse, scis te esse? Scio! Unde scis? Nescio! Simplicem te sentis an multiplicem? Nescio! Cogitare te scis? Scio!" Im Wissen des 'Cogitare [Denken - wp] beruht also das Wissen des Esse [Sein - wp].
    7) Die Methode der Ausschließung oder Elimination geht von einem disjunkten Urteil aus, dessen Prädikat mit der Summe seiner Teilungsglieder alle überhaupt möglichen Bestimmungen des Subjekts erschöpfend umfaßt. Indem nun nachgewiesen wird, daß einzelne der Teilungsglieder nicht mit dem Subjekt zu einem kategorischen Urteil verbunden werden dürfen, bleibt als wirkliches Prädikat zur gültigen Bestimmung des Subjekts nur dasjenige zurück, dessen Trennung vom Subjekt nicht zu vollziehen ist.
    8) Der Satz, daß jeder Schluß aus schon Bekanntem und Zugestandenem hervorgeht, beruht auf der fast gleichlautenden Erklärung des ARISTOTELES in dessen "Analytica Posteriora". Alles vernünftige Lernen, so heißt es dort, geschieht aus einem vorher vorhandenen Wissen.
    9) Die Verse sind aus dem sechsten Gesang der 'Aeneis VERGILs (851-853) entnommen.
    10) Bei LEIBNIZ, der in seiner Jugend den ARISTOTELES und später auch PLATO so gründlich studiert hatte, muß diese Äußerung Wunder nehmen. Bei beiden alten Philosophen finden sich Beweisführungen, welche der Präzision der Pandekten sicherlich nichts nachstehen. Was LEIBNIZ von PROKLUS sagt, hat freilich seine Richtigkeit, und doch ist auch bei diesem die Konsequenz des dialektischen Prozesses so groß, daß man sehr wohl auch ihm eine durchgeführte Methode zusprechen darf.
    11) LEIBNIZ berührt hier einen wichtigen Punkt der Erkenntnislehre, die Evidenz des sinnlichen Erkennens. Die Gewähr der Richtigkeit findet LEIBNIZ beim Letzteren in der "Verbindung der Erscheinungen", wodurch die größtmögliche Gewißheit erlangt wird. Wenn nämlich die Erscheinungen immer und immer wieder in gleicher Weise auftreten und in gleicher Weise einander folgen, gewinnen sie für uns den Charakter der Objektivität, dergestalt, daß sich selbst aus dem Eintreten der einen Erscheinung das zukünftige Eintreten der andern voraussagen läßt. HUME sprach daher von Prinzip der Gewohnheit als dem Kriterium der Wahrheit bei der Erkenntnis von Tatsachen. LEIBNIZ fügt hinzu, daß die Vernunftwahrheiten, namentlich die Anwendung der logischen Grundsätze zur Erfahrungskonsequenz hinzukommen müssen, um die Gewähr der Richtigkeit sinnlicher Erkenntnisse zu gewähren.