ra-2R. HirzelA. H. PostS. KornfeldJ. MausbachL. Stein    
 
FRANZ KLEIN
(1854-1926)
Die psychischen Quellen des
Rechtsgehorsams und der Rechtsgeltung

[1/3]

"Abgesehen davon, daß sich die verschiedenen Theorien über den Grund der Geltung des Rechts gegenseitig zu Tode kritisiert haben, befriedigen sie auch deswegen nicht, weil doch die Rechtsordnung für die  Massen  da ist, für die feinen gebildeten philosophischen Gedanken der meisten dieser Theorien wird aber außerhalb enger Kreise geistiger Elite in der Regel der Boden fehlen. Sofern diese Theorien psychologisch sind und demgemäß notwendig einen generell für alle  Natur- und Seinsgesetze  einen gleichen Geltungsgrund suchen müssen, geben sie Erklärungen von zu allgemeiner Anwendbarkeit."

"Den Rechtsgehorsam einzig auf Triebe stellen, hieße den intellektuellen Entwicklungsgang des Menschengeschlechts auslöschen und auf tiefere Kulturstufen oder gar zu den niedrigen Bewußtseinsformen der Tiere zurückkehren. Nur das eine könnte in Frage kommen, ob nicht vermöge des Zusammenwirkens aller sozialen Instinkte und unterstützt von einem Drang der Selbsterhaltung ein Gefühl der Abhängigkeit von überirdischen und gesellschaftlichen Autoritäten sich allmählich in den Menschen festgesetzt hat."


Vorwort

Die vorliegende Arbeit ist aus Vorträgen entstanden, die im März diesen Jahres in Berlin und Dresden gehalten wurden. Sie behandelt ein Thema der Rechtspsychologie unter dem Gesichtspunkt einer gesellschaftlichen Gesamterscheinung. Sie könnte sich deshalb vielleicht soziologische Studie nennen, doch bei der vorläufigen Uneinigkeit über Aufgaben und Theorie der Gesellschaftslehre würde dieses Epitheton [Zusatz - wp] wenig bedeuten. Welcher Partei in diesem Streit sie sich anschließt, darüber läßt sie keinen Zweifel. Sie ist ein Teil eines größeren Arbeitsplans, der den seelisch-geistigen Unterbau des Rechtslebens unserer Tage zum Gegenstand hat, und zwar mit besonderem Interesse für die wichtige Frage, inwiefern dieser Unterbau dem der übrigen Funktionen der Gesellschaft gleicht oder davon abweicht. In den ökonomischen Wissenschaften beginnt man in derselben Richtung zu suchen. Jener Unterbau schließt Denken und Handeln der Menge in sich, aus Initiative und Initiatoren allein lassen sich gesellschaftliche Erscheinungen und Entwicklungen wohl nie verstehen. Der geistige Anteil der Menge an einem der großen gesellschaftlichen Phänomene ist nicht leicht wissenschaftlich zu fasse, mit einiger Verläßlichkeit kann er, wenn überhaupt, nur für die Gegenwart ermittelt werden. Diese wird deshalb für viele Probleme der Soziologie den einzigen möglichen Ausgangspunkt bilden, man wäre denn damit zufrieden, Schaustücke für ethnologische Museen oder für Raritätenkammern zu erwerben.

Die Untersuchung wird vorzugsweise eine psychologische sein, ohne daß deswegen das Juristische vernachlässigt wird. Weit entfernt zu glauben, Neues entdecken zu können oder entdeckt zu haben, will diese Schrift zunächst nur in großen Strichen Zusammenhänge hervorheben, die mehr Aufmerksamkeit verdienen dürften als ihnen zuteil wird. Ihre Absicht, in rascher Folge mehrerer Bilder einen halbwegs vollständigen Überblick zu geben, wäre durch eine gleichzeitige dogmatische und geschichtliche Durchforschung aller einzelnen in diesen Zusammenhang eingeordneten Elemente beeinträchtigt worden und am Schlußergebnis hätte sich dadurch kaum etwas geändert. Letzteres wird vielleicht bestritten werden. Diese Blätter werden jedoch ihre Bestimmung auch dann erfüllt haben, wenn sie Widerspruch begegnen und die Kritik, die sie veranlassen, zu richtigeren Ergebnissen führt. Anders als durch schrittweises kontradiktorisches Aufhellen wird man in der Erkenntnis mancher sozialen Vorgänge kaum vorwärts kommen.



Einleitendes

Anstatt von Menschentum zu schwärmen, wie es während eines großen Teils des 19. Jahrhunderts geschah, betonen sich die Menschen jetzt wieder mehr als Einzelwesen und in ihren Spezialisierungen durch gruppenbildende Momente. Die handelnden Personen des Rechtslebens werden von der Wissenschaft nun ebenfalls mit anderen Augen gesehen. Der Richter, den sie herkömmlich als einen Mechanismus für angewandte Logik betrachtet hat, scheint ihr jetzt berufen, die Rechtsordnung selbständig wertend, zuende zu denken. Im Strafrecht tritt anstelle des abstrakten farblosen Täterbegriffs der verbrecherische Mensch in seinen verschiedenen Arten und aus dessen Genesis, Anlagen und Lebensführung werden Forderungen an Gesetzgebung und Strafjustiz abgeleitet. Der Zeuge im Prozeß, früher nicht viel mehr als eine sprechende Urkunde, erhält ein interessantes geistiges Relief. Im Zivilrecht eine ähnliche Befreiung von der Schablone: aus der Person, dem versprechenden Teil und ähnlichem ist für Gesetzgebung und Wissenschaft die Frau, der Jugendliche, der Landwirt, der Kaufmann, der Lohnarbeiter geworden, mit ihren besonderen Bedürfnissen und Horizonten, die sich auch im Recht auswirken. Der Mensch, wie er leibt und lebt, und die mannigfachen Prägungen seines Wesens, das ist der Gedanke dieser Wendung, müssen im Recht mehr Beachtung finden, die Personen dürfen diesem nicht bloß Quantitäten kahler gleichförmiger Figuren sein. Von größter Bedeutung ist dieser Gesichtspunkt für die Frage, was die Menschen an das Recht bindet, worauf sich die Herrschaft des Rechts, sein Gelten gründet. Sie fällt nach der Meinung neuerer Nurjuristen nicht in die Kompetenz der Rechtswissenschaft. Darüber läßt sich streiten. Eine Plejade angesehener juristischer Schriftsteller nahm sie für diese Disziplin in Anspruch, jedenfalls ist sie die Hauptfrage des Rechts als gesellschaftliches Agens und zugleich diejenige, wo der wirkliche Mensch schwer übersehen werden kann und wo voll Gleichheit, wenn man auf die Menge um sich auch nur einen flüchtigen Blick wirft, sehr unwahrscheinlich ist. Abgesehen davon, daß sich die verschiedenen Theorien über den Grund der Geltung des Rechts gegenseitig zu Tode kritisiert haben, befriedigen sie auch deswegen nicht, weil doch die Rechtsordnung für die Massen da ist, für die feinen gebildeten philosophischen Gedanken der meisten dieser Theorien wird aber außerhalb enger Kreise geistiger Elite in der Regel der Boden fehlen. Sofern diese Theorien psychologisch sind und demgemäß notwendig einen generell für alle "Natur- und Seinsgesetze" einen gleichen Geltungsgrund suchen müssen, geben sie Erklärungen von zu allgemeiner Anwendbarkeit, denn eine Prüfung der Vorgänge des eigenen Inneren setzt es außer Zweifel, daß Recht oder Sittengesetze im Bewußtseins andere Reaktionen zur Folge haben, als z. B. kosmische, physikalische oder chemische Gesetzmäßigkeiten, auf welche die menschliche Tätigkeit Rücksicht zu nehmen hat. Es lohnt sich deshalb vielleicht, auch dieses Problem einmal mehr realistisch anzuschauen und zwar soll dem früher erwähnten Gedanken gemäß, statt unmittelbar nach den Gründen der Verbindlichkeit des Rechts zu forschen, vorher in subjektiver Fassung danach gefragt werden, warum von den Normunterworfenen das Gesetz befolgt und das Recht geübt wird. Darüber können nur die seelischen Prozesse Klarheit verschaffen, die dem rechtgemäßen Handeln vorausgehen, weil sie von allem Geistigen, das dabei mitwirkt, Spuren enthalten müssen. Soweit sich auch die Ansicht, die man vom Recht hat, von den hergebrachten Lehren entfernen oder über die Erfahrungsgrenzen erheben mag, diese psychischen Vorgänge werden sich in jedem Fall abspielen, sie sind eine empirische Notwendigkeit, sie lassen sich in einem größeren oder geringeren Grad ermitteln und beweisen und welches auch immer die Aufschlüsse sind, die sie gewähren, es werden verläßlichere Daten sein als die der reinen Spekulation. Umso verläßlicher und unersetzbarer, wenn es, wie hier, beabsichtigt ist, ein Stück wirklichen Lebens und seiner natürlichen Vielförmigkeit einzufangen.



1. Gesellschaft oder Individuum

Zuerst ist eine Vorfrage zu erledigen. Ursächlich wird das gesellschaftliche Geschehen verschieden erfaßt. Man kann vom Individuum oder von der Kollektivität ausgehen, die Tatsachen des gesellschaftlichen Lebens aus der Psychologie der Einzelnen erklären oder als das Produkt gesellschaftlicher Einwirkungen irgendeines Namens ansehen, für die das Individuum nur Spielball, Objekt oder Stoff ist. Letztere Ansicht ist am konsequentesten von einem der führenden soziologischen Schriftsteller des heutigen Frankreichs, EMILE DURKHEIM, herausgearbeitet worden (1). In den von der Gesellschaft angenommenen, für richtig und maßgebend erkannten Denk- und Handlungsweisen würde danach dem Einzelnen eine Kraft gegenüberstehen, der er sich beugt, weil er die Superiorität der Gesellschaft und seine Abhängigkeit von ihr, seine Schwäche im Vergleich zum Reichtum, zur Vielseitigkeit und Dauer des sozialen Wesens einsieht und sich in ihm auf diese Art Gefühle der Anhänglichkeit und des Respekts ausbilden. Dieser soziale Zwang soll allerdings mittels der Vorgänge im individuellen Bewußtsein wirken, er bestimmt diese aber von außen, im Gegensatz zum sonstigen Handeln des Individuums, zu dem der Einzelne sich selbst mittels der in seinem Bewußtsein auftauchenden Antriebe bestimmt. Diesen beiden Ansichten entsprechen natürlich verschiedene Methoden des Untersuchens sozialer Erscheinungen und es muß daher diese Kontroverse zumindest so weit berührt werden, als es unerläßlich ist, um zwischen den möglichen Wegen wählen zu können. Für das Individuum dürften wohl nach beiden Theorien die allgemeinen psychischen Gesetze gelten, die wir heute zu kennen glauben, und es werden sich deshalb Gemeingeist, Traditionen, gesellschaftliche Anstalten usw., kurz alle angeblich von außen auf die Menschen einwirkenden Kräfte, unter deren Druck das gesellschaftliche Tun vor sich gehen soll, im Grunde doch nicht anders als mittels motivierender Vorstellungen und Gefühle in Wollen und Handeln umsetzen können. Es kann nur darauf ankommen, von welcher Intensität der soziale Zwang "von außen" ist. Kann ihm widerstanden werden oder ist er unwiderstehlich. Letzteres hätte die Erfahrung gegen sich, die oft genug unbeugsamen Widerstand gegen allgemein anerkannte soziale Pflichten und eine Verletzung wichtiger staatlicher oder gesellschaftlicher Einrichtungen zeigt. Daß die Geselschaft gegen solche Widerstände allenfalls reagiert, hat nichts zu sagen; in diesem Zusammenhang ist nur wesentlich, daß ungeachtet eines sozialen Zwangs im gegenteiligen Sinn gehandelt wird, der Zwang demnach kein unwiderstehlicher sein kann. Die gesellschaftliche Reaktion beseitigt den Widerspruch nur äußerlich, in seinen äußeren Folgen. Die Pression aller auf den Einzelnen, wie DURKHEIM einmal den sozialen Zwang umschreibt, würde somit nach dem normalen psychologischen Schema in der Gestalt von Ideenassoziationen von mehr oder weniger motivierender Kraft in das individuelle Bewußtsein eintreten. Der soziale Zwang könnte sich dann nur dem Grad nach von sonstigen Assoziationen unterscheiden. Doch auch Ideenassoziationen anderen Ursprungs können im einzelnen Fall dem sozialen Zwang an Kraft gleichkommen oder ihn sogar übertreffen. Not kennt kein Gebot! Es gibt kein Gesellschaftsphänomen ohne ein von außen auf uns Wirkendes, aber auch keines ohne ein inneres Geschehen im Individuum und ohne Abhängigkeit von diesem Geschehen. Von dieser Doppelseitigkeit oder Doppelfunktion kann nichts abgebrochen werden, solange man sich daran hält, daß alles Gesellschaftliche zugleich ein Menschliches ist.

DURKHEIM konstruiert allerdings das soziale Leben in etwas anderer Art. Indem die Geister sich vereinigen, durchdringen und ineinander auflösen, entsteht nach ihm eine neue psychische Individualität, die anders denkt, fühlt und handelt als die einzelnen Individuen für sich und deren Wesen vom Individuum ausgehend nicht zu begreifen ist. Die kollektiven Vorstellungen, Gefühle und Richtungen sollen ihren Entstehungsgrund in den Verhältnissen des sozialen Körpers haben, sie entspringen nicht aus den Seelenzuständen der Individuen. Daran ist soviel richtig, daß man sich die Gesellschaft, sie einem Komplex von Religion, Recht, Sitte, Familie, Wirtschaft usw. gleichsetzend, als ein Besonderes vorstellen kann, und insofern mag selbst eine gewisse, relative Unabhängigkeit vom Geistesleben der Individuen zugegeben werden, doch das ist eine Denkform und nicht die Realität. Gerade dort, wo die gesellschaftlichen Elemente am meisten überindividuell erscheinen, haben sie in der Regel von mächtigen Persönlichkeiten Gehalt und Gestalt empfangen und die Mittel, um sich durchzusetzen, sind ausnahmslos auf die individualistische Gefühlswelt und deren Werte berechnet. Nicht jede Norm gesellschaftlichen Zusammenwirkens ist für jedes Individuum eine Objektivierung seines eigenen ursprünglichen Denkens und Empfindens, das Gesellschaftliche muß aber auch nicht immer unter Mitwirkung sämtlicher Glieder einer Gemeinschaft zustande kommen. Aufbau und Entfaltung der gesellschaftlichen Einrichtungen stellen geschichtlich eine Stufenleiter des Zusammenwirkens der Individuen in den verschiedensten Beitragsverhältnissen dar. Gesellschaftliche Institutionen wir Recht, Wirtschaft usw. können daher auf Gedanken fußen oder Tendenzen in sich tragen, die mit den Ansichten und Wünschen sehr vieler einzelner Individuen nicht im Einklang stehen, es wird jedoch zwischen ihnen und dem Individuum nicht jedes Band fehlen können. Ganz unmöglich wäre es, die gesellschaftlichen Einrichtungen den Einzelnen geradezu als eine besondere psychische Individualität gegenüber zu stellen. Unmöglich zumindest dann, wenn man nicht in das Übersinnliche, Mystische geraten will. Denn dorthin würde eine psychische Individualität gehören, die aus den Geistes- und Seelenkräften der Menschen geformt, als etwas spezifisch anderes, den Individuen eventuell sogar entgegengesetztes außerhalb der Letzteren bestehen soll. Es genügt auf das zu verweisen, was gegen eine ähnliche Auffassung des Volksgeistes der historischen Schule vorgebracht wurde und wird. Da nicht anzunehmen ist, daß die von irgendjemandem verkannt werden könnte, würde nur ein durchaus unsoziologischer Apriorismus übrig bleiben. Der Versuch, dem Grübeln über die Geheimnisse des Sozialen ein Ende zu machen, indem man ihm eine allmächtige Urkraft unterlegt, konnte nicht ausbleiben. Es wird damit nur ein Gedanke auf das Gesellschaftliche angewendet, der seit dem  Brahman  der Veden die Menschen anzieht. Einer solchen Sozialtheorie ist aber entgegenzuhalten, ob Wissenschaften wie Gesellschafts- oder Volkswirtschaftslehre, Staats- oder Rechtswissenschaft nicht ihre Aufgabe verfehlen, falls sie hinter gewisse Grenzmarken verstandesmäßigen Erkennens zurückgehen. Zu behaupten, die Wissenschaft habe immer menschlich nutzbare Erkenntnis zu liefern, wäre vielleicht zu viel gesagt. Eine Gesellschaftslehre, die nichts anderes bieten wollte, als die letzten dunklen Gründe des gesellschaftlichen Geschehens, mögen sie nun richtig oder unrichtig sein, würde sich aber selbst aufheben. Wie sich die Naturwissenschaften durch die Theorien von Kraft und Energie, Molekülen, Atomen usw. nicht abhalten lassen, die Naturerscheinungen durch Abstammung und Entwicklung, Anpassung, Auslese und Vererbung verständlich zu machen, so hat die Gesellschaftslehre - unabhängig vom Nachdenken über gesellschaftsphilosophische Probleme - die Vorgänge des sozialen Lebens zu zergliedern, durchsichtiger zu machen, sie zumindest sozusagen aus zweiter Hand, aus den abgeleiteten Kräften und in ihrem letzten, der unmittelbaren Erkenntnis noch fähigen Gefüge zu erklären. Sie wird vollständig zufrieden sein können, wenn sie dabei soviel leistet wie die Naturlehre geleistet hat, und halbwegs sichere Resultate auch nur in dieser Beschränkung würden zweifellos ihren Wert haben.

Das Denken der Gruppe, sei es als freier beweglicher Gedankenfluß, sei es erstarrt zu gesellschaftlichen Anstalten wird sich vom Denken aus der Einzelperspektive in manchem unterscheiden, schon deshalb, weil, um zu einem für das gesellschaftliche Leben brauchbaren Gedanken zu gelangen, jeder von seinen Prätensionen [Ansprüchen - wp] einen Teil dem Durchschnitt opfern muß. Ob rein individualistisch oder mit sozialen Beziehungen, immer denken und fühlen jedoch die Menschen. Der Inbegriff ihrer durch soziale Ziele, Assoziationen und Motivgruppen charakterisierten und daher in den großen Grundlinien übereinstimmenden Gedankenzüge und Maßstäbe ist es, was man kollektive Anschauungen und Tendenzen nennt. Daß im letzten Grund das individuelle Denken die Substanz der gesellschaftlichen Einrichtungen ist, wird durch die heute überaus durchsichtige Art der Rechtsbildung unwiderleglich bewiesen und frappant äußert es sich auch darin, daß gewisse für das Recht typische Eigentümlichkeiten, wie z. B. die Fiktionen nach einer neueren Philosophie immanente Notwendigkeiten des menschlichen Denkens überhaupt sind, die sich deshalb allüberall in theoretischer und praktischer Anwendung finden. So wie man die Gesellschaft genannte "psychische Individualität" in die Menschen selbst zu verlegen gezwungen ist, verschwindet sie; sie wird durch die Zersplitterung zerstört und könnte sich auch nicht als eine zweite koordinierte Psyche erhalten. Im einzelnen Menschen kann diese psychische Individualität nur in der Form seelischer Gebilde, als ein Bestandteil des einheitlichen Geisteslebens sein. Zwei getrennte Sphären können umso weniger angenommen werden, als erfahrungsgemäß einerseits das individuelle Ich als Interesse oder Charakter die "sozialen" Gedankengänge und Gefühle häufig färbt und modelt und andererseits die politische, religiöse oder sittliche Auffassung einer Person deren Denkweise und Gehaben in den allerpersönlichsten Dingen bis zum ästhetischen Urteil hin beeinflußt, beides Zeichen des engen Konnexes der beiden Gedankenmassen im einzelnen Gehirn.

Das Eigenartige des sozialen Zwangs liegt also weder in seiner Energie noch darin, wie er die Personen unterjocht, eher in der Sorgfalt, welche die Gesellschaft auf seine Pflege verwendet. Sie wartet seit langem nicht mehr darauf, ob und wie sich die einander folgenden Geschlechter von selbst in die Gemeinsame Existenz hineinfinden, sie präpariert sie vielmehr planmäßig dafür unter Mithilfe aller geistig aktiven Glieder der Gesellschaft und auch der früheren Generationen. Dabei geht im Ziel des sozialen Zwangs im Laufe der Geschichte eine Änderung vor sich. Ursprünglich darauf gerichtet, die Gesellschaftsglieder durch Grauen, Furcht und das Gefühl ihrer Ohnmacht im Zaum zu halten, später Willenlosigkeit und unbedingte Gefügigkeit der Menge erstrebend, wird es mit der Zeit immer mehr sein Zweck, die Individuen zu befähigen, wie es die Gesellschaft jeweils braucht, sich selbst zu bestimmen und aus eigenem Antrieb so zu leben. Das geht Hand in Hand mit der Hebung von Zivilisation und Kultur und mit dem allmählichen Übergang der physischen, materiellen Herrschafts- und Abhängigkeitsverhältnisse in geistige. Was der soziale Zwang heute erreichen will, ist das im gesellschaftlichen Sinne wollende Individuum, der sozial taugliche intelligente Mensch. Dieses Ziel drängt sich mit zunehmender Einsicht in das Wesen des Sozialen notwendig auf, denn nur durch sozial wollende Menschen kann sich die Gesellschaft erhalten, nur sie können die soziale Eignung weiter übertragen, das Werk der Gesellschaft fortführen und die gesellschaftlichen Einrichtungen durch neue Gedanken verjüngen. Zumal in Perioden, wo sich die Gesellschaft demokratisiert, wird ihr Bestand und Aufblühen erheblich von der Menge der sozial wollenden Individuen und von der Art abhängen, wie sie die gesellschaftlichen Aufgaben begreifen und ihnen korrigierend und entwickelnd dienen. Ein gegebener Zustand der Gesellschaft kann aus sich selbst heraus, rein mechanisch nicht einen anderen Gesellschaftszustand erzeugen, und DURKHEIM fragt mit Recht, was uns anregt, vorwärts zu schreiten? Seiner Meinung nach die Veränderungen im Volumen und in der dynamischen Dichte des sozialen Milieus, da diese das Gesellschaftsleben intensiver machen, den geistigen Horizont und den Aktionskreis jedes Einzelnen ausdehnen und die grundlegenden Bedingungen des kollektiven Daseins modifizieren. Damit ist der Anteil des Individuums im Prozeß des gesellschaftlichen Fortschreitens nur schwach angedeutet. Je höher die Kulturstufe, desto hervorragender wird er. Die Errungenschaften der Technik, die Verkehrssteigerung, die Wunder der Geld- und Kreditwirtschaft, der Parlamentarismus, Sozialpolitik und internationale Rechtsbeziehungen, das Blühen der Künste und Wissenschaften usw. und die durch diese Veränderungen gekennzeichnete Entwicklung sind ohne das denkende und erfindende Individuum, ohne größere innere Selbständigkeit der Einzelnen in ihrem Verhältnis zu den Instituten des sozialen Zwangs nicht denkbar. Ein anderes ist es, wie weit die Umwandlung des Verhältnisses zwischen sozialem Zwang und Individuum in den konkreten gesellschaftlichen Verbänden tatsächlich gelangt ist und ob sie für alle Schichten und Klassen schon im gleich Grad eingetreten ist oder sich einstweilen auf einzelne höhere Gruppen beschränkt. Die Tendenz zu dieser Umwandlung ist aber mit der geschichtlichen Evolution der Gesellschaften des abendländischen Zivilisationskreises eng verbunden und wird durch sie gefördert.

Nach dem Gesagten wird man über den Kurs, der im Folgenden einzuschlagen ist, kaum mehr schwanken. Wenn der Rechtsgehorsam zu erklären ist, werden die gesellschaftlichen Einrichtungen, speziell der Einfluß des Rechts nicht vernachlässigt werden dürfen, doch sie allein erklären die tatsächliche Rechtsübung nicht. Was immer auch für eine Macht von ihnen ausgeht, die Entscheidung über den Erfolg steht beim Individuum. Die gesellschaftlichen Einrichtungen sind kraftlos, wenn der Einzelne sich ihnen verschließt oder sich ihnen geistig überlegen fühlt und aller historischen und sozialen Würde zum Trotz, die sie umgibt, sich ihnen nicht beugt. Die Gründe des Rechtsgehorsams, wenngleich er ein soziales Phänomen ist, werden demnach auch im Individuum und seiner Psychologie zu suchen sein. Man kann noch so oft die Psychologie der Soziologie entgegenstellen und ihren Wert für letztere verkleinern, ein bedeutender Teil gesellschaftlicher Arbeit wird mittels der Psychologie der Individuen geleistet. Namentlich in Dingen des Rechts, dessen Bestimmung für die Gesellschaft zwar sonnenklar ist, das jedoch seine Zwecke, zumindest im Umfang des Privatrechts und in wichtigen Stücken des öffentlichen Rechts nur dadurch erreicht, daß es die von überwiegend individualistischen und finalen Gesichtspunkten beherrschten Verhältnisse der Einzelnen zueinander ordnet. Selbst wenn der Rechtsgehorsam nichts wäre als ein Reflex der Rechtsordnung im Einzelnen, müßte auf die Vorgänge im individuellen Bewußtsein Bedacht genommen werden, weil diese Reflexe bei völlig gleichem äußeren Tatbestand auch ausbleiben können. Das gibt einen Fingerzeig, wo sich das einfallende Licht bricht.


2. Der Rechtstrieb

NIETZSCHE erzählt am Anfang seiner Abhandlung "Schopenhauer als Erzieher" von einem Reisenden, der befragt, welche Eigenschaft der Menschen er überall wiedergefunden habe, die Antwort gab: sie haben einen Hang zur Faulheit. Wer die Geschichte der menschlichen Gesellschaften von ihrer ursprünglichen Form bis in die Gegenwart überblickt, könnte ähnlich sagen: die Menschen tun und unterlassen immer und überall, was das Recht anbefiehlt oder verbietet, das Gegenteil ist immer und überall nur in geringem Umfang zu beobachten, so daß es den Charakter einer Ausnahme kaum je verliert. Diese Erscheinung versetzt niemanden in Staunen, man ist daran gewöhnt und nimmt es einfach als etwas hin, das sein muß. Das Staunen läßt sich aber bei aller Abstumpfung kaum unterdrücken, wenn daran gedacht wird, welche schwierigen Verhältnisse der Rechtsgehorsam äußerlich unerschüttert überwunden hat. Man braucht sich nur an geschichtlich und juristisch interessante Situationen zu erinnern, wie das Nebeneinander von  ius civile  und  ius honorarium  in Rom, an den Kampf der geistlichen und weltlichen Ordnung im Mittelalter oder an die ineinander geschachtelten autonomen Rechtssatzungen. Dergleichen Verhältnisse muten dem Volk Einsichten, Unterscheidungsgaben, Beweglichkeiten und Leistungen zu, die nur dann richtig eingeschätzt werden, wenn berücksichtigt wird, welche Schwierigkeiten die Bewältigung solcher Gegensätze selbst dem geschulten juristischen Kopf bereiten. Daß trotzdem das geschäftliche und gesellschaftliche Leben in der Regel innerhalb der durch das Recht vorgezeichneten Linien dahinfloß, gehört daher jedenfalls zu den Dingen, deren Erklärung nicht leicht ist. Wie der Reisende NIETZSCHEs sich über die weitverbreitete Faulheit nicht lange den Kopf zerbricht, sondern sie auf einen allgemeinen Menschenhang zurückführt, so liegt es nahe, die unter den verschiedensten anthropologischen, geographischen und kulturellen Bedingungen immer vorkommende Rechtsbefolgung in ähnlicher Weise zu begründen.

Eine von diesem Gesichtspunkt geleitete Untersuchung hat ein vor nicht langer Zeit erschienenes Buch über die psychologische Grundlage des Rechts geboten (2). Nach Meinung seines Verfassers existiert in allen Menschen auf der Erde eine psychologische Analge, Gesetze zu geben und in der Übung Recht zu üben, und diese Anlage zwingt mit ihrem Rechtsgefühl den Menschen, dem Gesetz als Recht zu gehorchen und der vollendeten Übung anderer sich als Recht zu fügen, so verschieden der historische Rechtsinhalt sein mag und selbst wenn man mit diesem unzufrieden wäre (innerer Rechtszwang). Das Rechtsgefühl ist ein Rechtsinstinkt, für den sich Anläufe in der Tierwelt finden sollen, und es ist geworden durch historisch entwickelten psychologischen Zwang an Gesetz und Übung. Der Rechtsgehorsam ist dieser Schrift zufolge zurückzuführen auf einen embryologisch bedingten, ererbten Mechanismus. Es bedarf daher hierzu keines Unterrichts. Er ist Gefühls-, nicht Intellektsache. Der Normengehorsam als psychologischer Zwang im Menschengehirn ist fest und innig mit der menschlichen Natur historisch verbunden. Der Rechtstrieb bleibt menschlich immer derselbe.

Diese Skizze muß genügen. Die Kernsätze der Lehre, soweit sie sich auf die hier behandelte Frage beziehen, sind mit den eigenen Worten des Autors gegeben, der nach den häufigen Wiederholungen in seinem Buch zu schließen, gerade auf diese Formulierungen Gewicht zu legen scheint. Die These, daß man kraft zwingenden Triebes dem Recht gemäß handelt, kann nicht apodiktischer, vorbehaltsloser hingestellt werden und es wird jeder Zweifel, ob damit in der Tat ein wirklicher, echter Trieb gemeint ist, abgeschnitten, sowohl durch die Anknüpfung an die Tierwelt, wie durch die biologisch-anatomische Grundlage. Die Wissenschaft anerkennt soziale Instinkte und Anlagen, die "eine Neigung zum Zusammenleben begründen und dieses Zusammenleben in einer für die Gesamtheit vorteilhaften Weise ordnen": sozialer Altruismus, Ehrbedürfnis oder erweitert Anerkennungs- und Rivalitätstrieb, sexuelles Schamgefühl und andere moralische Anlagen. Der Rechtstrieb - eine neue Entdeckung, denn einen Trieb von so merkwürdiger Wirkung hat bisher niemand behauptet - wäre zu den sozialen Instinkten zu zählen. Die sozialen Anlagen der Menschen sind mit den sozialen Instinkten der Tiere identisch, sie sind aber "schwach entwickelte, abgeschwächte Instinkte". SCHALLMAYER (3) bemerkt geradezu, daß die erblichen sozialen Anlagen des historischen Menschen bei weitem nicht ausreichen würden, um seine jetzige soziale Ordnung aufrechtzuerhalten, wenn diese nicht durch die Entwicklung von Sitte und Recht gestützt würde. Das ist ein Argument, das die Hypothese eines Rechtstriebes ins Herz trifft, wenn diese Ansicht auch von anderen Naturhistorikern geteilt wird. Vorläufig spricht für sie, daß sie durch unbestreitbare geschichtliche Tatsachen und durch Erfahrungen des gewöhnlichen Lebens bestätigt wird. Man nehme einen elementaren Trieb wie den der Selbsterhaltung. Er reicht über Jahrhunderte hinweg, beherrscht den Menschen heute wie in den Anfängen geschichtlicher Überlieferung. Er ist bei einem Wilden ebenso vorhanden wie bei einem gebildeten, gut erzogenen modernen Europäer, und doch wie verschieden sind je nach Zeitalter, Gesellschaftsstufe und Individuum die Arten, wie sich dieser Trieb betätigt und die Mittel, die ihm dienen müssen! Der Kampf ums Dasein ist ein Ausfluß dieses Triebes und das Bild, das sich ergibt, wenn die Formen des Kampfes ums Dasein historisch oder vergleichend gesammelt werden, ist eine Probe dafür, in wie grell voneinander abweichenden Aktionen und Methoden sich dieser Trieb verwirklichen kann, welche konstatierenden Tatsachen der gleiche Trieb innerlich eint. Bevor er Kultureinflüssen unterliegt, reißt der Selbsterhaltungstrieb die Menschen mit sich, sie geben sich ihm ungezügelt hin, nur auf ihr Ich bedacht und unbekümmert um alles, was sie seiner wegen vernichten. Mit der Entfaltung der Kultur stellen sich allmählich Hemmungen ein, der Trieb bleibt derselbe, doch seine rohen Methoden mildern sich, die ungestüme Maßlosigkeit schwindet, es mischen sich in seine Explosionen Vernunft- und Zweckerwägungen, schließlich auch ethische und soziale Rücksichten, kurz, es bilden sich im Kampf ums Dasein Formen aus, die zum Teil jede Verwandtschaft mit der ehemaligen Kampfesweise verleugnen. Um vom Beispiel zum generellen Satz zu schreiten: Die Gleichheit der Triebe hat keineswegs die Gleichheit des Handelns zur Folge. Es ist eine Art Entwicklungsgesetz, daß mit dem Wachstum der Zivilisation und Geistigkeit die menschlichen Triebe entweder unmittelbar an Kraft verlieren oder doch bei ihren Entladungen zunehmend auf individuell erworbene Assoziationen und Gefühle stoßen, die sie schwächen oder auf die Bahnen vernünftigen und erlaubten Tuns drängen. Es geht nach den Worten SCHMOLLERs das impulsive Handeln in ein überlegtes, durchdachtes, durch die Erziehung modifiziertes über. Diese Wahrnehmung führt zu einer wichtigen Erkenntnis. Der Trieb ist treibende Kraft, Anstoß zu einer Bewegung von gewisser Richtung und gewissem Inhalt. Der Effekt dieses Anstoßes ist aber verschieden, je nach dem Medium, durch das sich die ausgelöste seelische Energie den Weg in die Außenwelt brechen muß, verschieden, also nach dem Vorrat an Vorstellungen, Gefühlen und Willen, den sie im betreffenden Individuum in Vibration versetzt. Der Trieb kann sich dem ersten Anstoß gemäß verwirklichen, die Kraft kann aber auch leer laufen, sie findet irgendwo ein Hindernis, das sie nicht überwinden kann, es bleibt bei einer bloß inneren Willenshandlung. Ebenso kann das Ziel des Triebe durch die Zwischenglieder Veränderungen aller Art erfahren, kurz das Vorhandensein eines Triebes beweist ansich, von pathologischen Fällen abgesehen, noch gar nichts. Trieb und äußere Handlung sind nur Anfang und Ende einer vielgliedrigen Kette. Wer sagt, eine Handlung beruth auf einem Trieb, gibt deshalb damit allein keine erschöpfende Analyse des seelischen Geschehens. Darum ist die Frage des Rechtstriebes für die Erklärung der psychischen Grundlagen des Rechtsgehorsams keine zentrale. Wenn wirklich ein solcher "exakt" bewiesen würde, könnte es nicht dabei sein Bewenden haben, weil dieser Trieb für die Mehrzahl der Fälle nur eines der vielen beim rechtgemäßen Handeln konkurrierenden seelischen Elemente ist und von letzteren aus seiner Richtung abgelenkt oder ganz gelähmt werden kann. Der bündigste Beweis dafür ist auch hier wieder das Intermittieren [Zurücktreten - wp] des Rechtstriebes, indem ein und dieselbe Person in derselben Viertelstunde rechtgemäß und rechtswidrig handeln kann. Der Intellekt kann mit anderen Worten aus dem Rechtsgehorsam nicht ausgeschaltet werden. Ein Kenner von Java berichtete jüngst, daß dort die Dynastien der Kaiser und Sultane, die früher das Land beherrschten, den Glanz und Prunk, die Ehren und das höfische Zeremoniell ihrer früheren Souveränität bewahrt haben, wiewohl sie politisch vollständig depossediert [entmachtet - wp] sind. Die holländischen Gewalthaber regieren unumschränkt über das Land, die Fürsten und deren Höfe führen politisch ein Scheindasein, die niederländische Regierung achtet aber sorgsam darauf, den Glauben der Eingeborenen nicht zu erschüttern, daß ihr Kaiser oder Sultan der wahre Herr des Landes ist, denn es wäre zu befürchten, daß die Eingeborenen Gesetzen, die nicht von ihren angestammten Herrschern erlassen werden, den Gehorsam verweigern möchten. Intellektuelle Momente wie hier die Politik oder anderswo historische oder religiöse Legenden und dgl. haben nachweislich selbst bei Naturvölkern Anteil am Rechtsgehorsam.

Wenn sich früher ergeben hat, daß die psychische Erklärung des Rechtsgehorsams statt in den äußeren gesellschaftlichen Einrichtungen im Inneren des Menschen zu suchen ist, so zeigt sich nun, daß nicht ein einzelner gattungsmäßiger seelischer Zwang, sondern das ganze geistige Wesen des Menschen und alle Qualitäten der Persönlichkeit das soziale Phänomen des Rechtsgehorsams erzeugen. Den Rechtsgehorsam einzig auf Triebe stellen, hieße den intellektuellen Entwicklungsgang des Menschengeschlechts auslöschen und auf tiefere Kulturstufen oder gar zu den niedrigen Bewußtseinsformen der Tiere zurückkehren. Nur das eine könnte in Frage kommen, ob nicht vermöge des Zusammenwirkens aller sozialen Instinkte und unterstützt von einem Drang der Selbsterhaltung ein Gefühl der Abhängigkeit von überirdischen und gesellschaftlichen Autoritäten sich allmählich in den Menschen festgesetzt habe, das in einer Prädisposition zum Gehorsam gegenüber den Befehlen solcher Autoritäten Ausdruck findet und in der Folge der Jahrhunderte dazu geführt oder beigetragen hat, daß die Notwendigkeit eines solchen Gehorsams rascher und leichter erkannt wird. Ähnlich wird von Einzelnen ein instinktives Gefühl der Abhängigkeit von der Meinung der Genossen als Grundlage von sittlichen Urteilen und der Bildung des Gewissens angenommen.


3. Das bewußte rechtgemäße Handeln

Der Einzelne hat sich mit dem Recht auseinanderzusetzen, wenn er im Bereich seiner Beziehungen zu anderen oder zum Staat und dessen Organen Absichten und Wünsche hat und für das dazu notwendige Handeln irgendwie Rechtsnormen erheblich sind. Vorstellungen rechtlichen Inhalts werden sich dann in der psychischen Bewegung, die dem Handeln (Unterlassen) vorausgeht, bei der Bildung des entscheidenden Motivs oder bei der inhaltlichen Bestimmung der Handlung geltend machen. Sie können sich im Bewußtsein in dreifacher Gestalt vorfinden:
    1. als Wissen von abstrakten Rechtssätzen und Rechtsregeln, als Kenntnis der Gebote und Verbote, nach denen sich unser Verhalten zu richten hat,

    2. als Kenntnis der Rechtsfolgen, die ein gewisses Tun oder Unterlassen nach sich zieht, und

    3. als Erinnerung an Geschehnisse, in denen das Recht in praktischer Anwendung wahrnehmbar wurde, also Erinnerung an selbst erlebte oder durch Mitteilung bekannt gewordene Rechtsfälle, geschäftliche Erfahrungen rechtlichen Charakters oder sonstige bemerkenswerte Vorkommnisse des Rechtslebens.
Da das Recht "die Lebensverhältnisse zu ordnen" hat, rechtliches Handeln deshalb immer mit den mannigfachen Lebensinteressen im Zusammenhang steht, so ist selbstverständlich unter den Vorstellungen und Gefühlen, aus denen die Handlung hervorgeht, auch nichtjuristisches Vorstellungs- und Motivmaterial und es wird letzteres der Menge und dem Gefühlswert nach in der Regel sogar überwiegen. Wissen wollen, aus welchen Gründen das Recht befolgt wird, heißt feststellen, wie es kommt, daß innerhalb der verschiedenartigen Motive, die sich im Bewußtsein begegnen, die Vorstellung dessen, was die Rechtsordnung oder das subjektive Recht eines anderen verlangt, zur entscheidenden wird. Ohne zu zögern wird man antworten: weil durch die Unlustgefühle, die der Gedanke an Zwang und Rechtsnachteile unvermeidlich erweckt, die Vorstellung des einschlägigen Rechtsgebotes oder Verbotes stärker wird als die entgegenwirkenden Motive. Sie schlägt diese aus dem Feld. Es wird das Recht befolgt, weil man muß. Das trifft teilweise zu, ist aber nicht schlechthin richtig. Einige Entwicklungen in der Geschichte der Sanktionen werden hier von Bedeutung. Erstens nimmt überall im Laufe der Zeit die Schwere der Sanktionen ab. Die Körperstrafen fallen weg, die Strafen werden durchgehend milder, ihr Vollzug menschlicher, anstelle von Strafen treten Reparationspflichten. Die Verwandlung aller Arten von Leistungen in Geld wird erleichtert, das Prinzip der Verhältnismäßigkeit mach das Übel kleiner, durchwegs bekannte Prozesse, für die Beispiele entbehrlich sind. Eine zweite Bewegung ergibt sich aus dem historischen Abstand von Kollektiv- und Einzelhaftung. Es kam in früheren Zeiten nicht selten vor, daß für begangenes Unrecht nicht der Täter allein verantwortlich gemacht wird, sondern daß es von seiner Familie, seinem Stamm oder Dorf usw. gebüßt werden mußte, und auch die Bestimmungen über die Komplizität dienten oft dazu, die Mithaftung auf Personen auszudehnen, denen die Tat nach heutigen Begriffen niemals imputiert [angelastet - wp] werden könnte. Reste davon finden sich zeitgemäß adaptiert noch in einigen Strafgesetzen des verflossenen Jahrhunderts bei Delikten gegen Bestand und Sicherheit des Staates, Desertierung und dgl. Im Zivilrecht bietet die Geschichte der nicht paktierten Solidarhaftungen Beispiele. Der Übergang zur Einzelhaftung gibt natürlich eine viel freiere Verfügung über die Sanktion. Es wird gelegentlich aus dem sozialen Charakter der Rechtsordnung gefolgert, es sei Pflicht eines jeden Mitgliedes der Gesellschaft, auf das rechtgemäße Verhalten aller hinzuwirken und darauf zu sehen, daß gewisse Zwecke als soziale Zwecke von allen verwirklicht werden. Würde mit diesem Gedanken, an den die Offizialanklage in Strafsachen und einzelnes in der freiwilligen Gerichtsbarkeit Anklänge enthalten, Ernst gemach, so müßte sich der Druck und die determinierende Kraft der Sanktionen in mancher Hinsicht wieder steigern. Ein anderer Prozeß, der auch für die sozialen Sanktionen wichtig ist, geht von der Umbildung der rechtsetzenden Autorität und der Lockerung der gesellschaftlichen Verbände aus. Je weniger individuell, je vielköpfiger, körperschaftlicher die gesetzgebende und rechtsprechende Macht wird, desto mehr schwindet der persönliche Charakter der Sanktion, sie verliert ihre Gefühlstöne und wird zu etwas fungiblem, zu einem austauschfähigen Gegenstand, dessen Wert nicht mehr durch die richtende und befehlende Gewalt und ihre überwältigende Höhe über alle anderen Relationen hinausgehoben wird. Wie die Hemmung der persönlichen Scheu vor dem in seinem Gesetz beleidigten Oberhaupt wegfiel, so wurde die Furcht vor dem verdammenden Urteil der Gesellschaft mit der Freizügigkeit, mit dem Ansammeln großer Menschenmassen in den Städten und mit dem Zerfall der festen Organisation des öffentlichen und des Erwerbslebens immer geringer. Die soziale Sanktion behielt nur für die ihren Ernst, die an ihren Ort und ihren sozialen Kreis gebunden sind. Aus Ursachen, die auszuführen kaum nötig sein dürfte, hat übrigens auch das gesellschaftliche Urteil selbst an Strenge und Nachhaltigkeit sehr verloren.

Diese drei Entwicklungen treffen sich in ihrem letzten Effekt insofern, als sie sämtlich die Ausnahmestellung und den Vorrang der für das Recht belangreichen Sanktionen untergraben und den Unterschied zwischen den Motiven, die auf eine Wahrung des eigenen Vorteils bedacht sind, und den Sanktionen verringern. Letztere nähern sich auf diese Weise nach und nach den sonst im Verkehr üblichen Handlungsbegründungen und werden zur Basis eines vernunftmäßigen, von subjektiven Zweck- und Erfolgstendenzen erfüllten Vergleiches zwischen Nutzen und Schaden des Ungehorsams. Am offensichtlichsten ist dies an vielen zivilrechtlichen Sanktionen und bei Geldstrafen, doch auch auf anderen Gebieten, zumal im Strafrecht, wenn überhaupt ein bewußtes Erwägen Platz greift, kann eine derartige Abschätzung stattfinden. Obwohl dabei ein Rechtsbefehl in Frage kommt, beruth dann doch, was zuletzt geschieht, auf mehr oder weniger überlegter, berechnender Wahl. Das Resultat ist, daß zwar das "Müssen" für das rechtliche Handeln zweifellos wichtig, doch nur in verhältnismäßig beschränktem Umfang wirklich ein unentrinnbares Müssen ist. Sonst ist auch das rechtliche Müssen, ungeachtet einer etwaigen Verstärkung durch soziale Sanktionen, in der Regel ein Sollen, das allerdings mitunter durch die Ungleichheit der sich gegenüberstehenden Folgen zu einer bloß theoretischen Wahlmöglichkeit wird, im allgemeinen aber durch die Entwicklungen im Bereich der Sanktionen, die noch nicht zu Ende sind, eine sozusagen freie Alternative, die Freiheit des Abwägens und Handelns nach Wollen in sich schließt.

Das Müssen ist somit keine Erklärung für das rechtgemäße Handeln derjenigen, auf welche die Sanktionen aus diesen oder anderen Gründen überhaupt keinen oder nur einen solchen Eindruck machen, der für sich allein über die Gegenerwägungen nicht den Sieg davon tragen könnte, und außerdem ist zu fragen, ob jedes rechtgemäße Handeln verlangt, daß die Sanktionen sich im Bewußtsein geltend machen, ob sie nicht durch andere Motive ersetzt werden können. Was letzteres betrifft, dürfte es kaum Zweifeln unterliegen, daß unzählige Male dem Gesetz oder Recht gehorcht wird, ohne daß die Sanktionen ein Wort mitsprechen. Wer sich im Leben umsieht, wird dies auf Schritt und Tritt bestätigt finden. Um eine Gesellschaft, in der eine unerzwungene Rechtsübung unbekannt wäre oder nur sporadisch vorkäme, würde es schlecht bestellt sein. Es muß daher Beweggründe geben, die es an motivierender Kraft den Sanktionen gleicht tun. Sie werden dann natürlich auch eindrucksvolle Sanktionen ersetzen und zu schwache unterstützen können. Es ist nicht allzu schwierig, sich für die Gegenwart und unsere Gegenden von diesen Beweggründen ein Bild zu machen. Wo das rechtgemäße Handeln in der Linie des eigenen Nutzens oder Interesses liegt, da ist das liebe Ich rasch bei der Hand und sein Vorteil liefert Motive im Überfluß; von der gewöhnlichen Selbstsucht bis zum Handelsgeist KANTs. So z. B. wenn ein Recht geübt, ein Anspruch erhoben, in Anwartschaft einer Gegenleistung gegeben, die Bedingung für einen Rechtserwerb erfüllt, wenn geklagt, Beschwerde geführt oder sonst ein staatlicher Schutz angerufen wird und dgl. Anders wo die Befolgung von Gesetz und Recht das Dürfen begrenzt oder dem Einzelnen Pflichten, Verzichte, Vermögensverluste, eine Bezwingung heftiger Affekte, mit einem Wort: vom Individuum als unbequem, lästig, nachteilig Empfundenes in Aussicht stellt. Da helfen die Motive aus der engherzigen Ichsphäre nicht, im Gegenteil sie stehen dem Entschluß im Weg. Damit unter solchen Umständen der Rechtsnorm gehorcht wird, sind Motive höherer Ordnung nötig und zwar entweder solche, die das Ich und seine Interessen, wenn nicht ganz eleminieren, so doch zurückdrängen, oder solche, die es indirekt, auf einem Umweg über andere Sphären, nur als einen Teil der Allgemeinheit oder einer größeren Einheit schützen. Ein Beisatz von Eigeninteresse wird auch hier nicht selten zu konstatieren sein, das ist der menschliche Zug, der Beweis gegen eine mechanistische Auffassung des Rechtsgehorsams, es sind aber zum Teil die edleren Arten des Selbstinteresses, zum Teil Selbstinteresse, dem manches verziehen werden kann, weil es um seiner Zwecke willen den gesellschaftlichen Gedanken stärkt, jedenfalls ist es ein sich selbst beschränkendes Eigeninteresse. Aus der Fülle von Einkleidungen und Kombinationen, die sich hier ergeben können, seien nur einige Hauptgruppen herausgegriffen. Dem Ich-Kreis am nächsten steht es, wenn dem Recht gemäß gehandelt wird, weil man seiner geschäftlichen, amtlichen oder gesellschaftlichen Position zuliebe den Ruf eines gerechten, gesetzestreuen und rechtliebenden Mannes genießen möchte, weil man in Sorge um seine Ruhe und Sicherheit nicht das Beispiel einer Gesetzesverletzung geben will, weil man hofft, daß auch der andere das Recht befolgen wird, wenn man es selbst tut, also Überlegungen der sogenannten Klugheitsmoral, dann weil man den Staat mit seinen Ordnungen für das kleinere Übel hält oder wenn Eigensinn oder Rechthaberei den Beweggrund bilden. Altruistische, ethische, ideale Motive sind es dagegen, wenn die Ansicht, daß der Rechtssatz inhaltlich richtig ist, wenn die Tradition, daß das Recht zu befolgen ist, der Glaube an das Recht und ein Rechtsbewußtsein, eine Freude an der Gerechtigkeit, Ehrgefühl oder Gemeinsinn, Nächstenliebe, Rechtschaffenheit, Gewissenhaftigkeit, Edelmut, Liebe zum Guten, Pflichtbewußtsein, sittliche Grundsätze, religiöse Überzeugungen, Mystik und dgl. zum Tun des Gebotenen oder Unterlassen des Verbotenen bestimmen. Ferner werden soziale Motive im engeren Sinne vorkommen, z. B. die Erkenntnis der gesellschaftlichen Funktion des Rechts und der Wichtigkeit seines ungestörten Waltens für Staat, Gesellschaft, Volkswirtschaft usw., die Ehrfurcht vor der im Recht sich verkörpernden Volksüberzeugung oder vor der alten Rechtsüberlieferung, die Erkenntnis, daß die konkretenfalls vom Recht zugemuteten Opfer zur Erhaltung des sozialen Friedens, zur Minderung der Klassenunterschiede oder für die Lebensfähigkeit einzelner Volksschichten notwendig sind, die Rücksicht auf den Verkehr oder auf das Herkommen und die Sitte usw. Sozial ist ferner der Grund, wenn dem Recht gemäß gehandelt wird, weil die Rechtsgenossen es auch tun und von anderer erwarten, das Gegenteil daher ihr Vertrauen täuschen und sie verletzten würde oder weil sie ein von der Regel abweichendes und ihnen nachteiliges Verhalten nicht dulden würden (4). Auch die Politik wirkt mit. Die Rechtsbefolgung kann Frucht des Patriotismus, der Staatstreue oder Staatsgesinnung, der Achtung des Gesetzes oder der gesetzgebenden Gewalt sein, deren Vorschriften man sich unangesehen ihres besonderen Inhalts zu unterwerfen hat, sie kann - wie man in der Zeit des Absolutismus sagte - eine auf Zutrauen zur Einsicht und Gerechtigkeit des Regenten gestützte Folgsamkeit sein und, was sich in der Mitte zwischen politischen und ethischen Erwägungen und Gefühlen hält, man respektiert die verschiedenen im Staat anerkannten Rechtsinstitute und Rechtsgüter und hält sich deshalb an die Normen gebunden, die diese Institute oder Güter betreffen. Ebenso können der Despotismus einer herrschenden Klasse, die vom Volk durch eine Kluft getrennt und deren Recht dem Volksbewußtsein fremd ist, wie manche es von den indischen Untertanen Englands behaupten, Parteizwang oder politische Solidaritätsgefühle die Motive abgeben. Exempel eines rein rationalistisch-politischen Rechtsgehorsams, das zugleich das eben erwähnte illustriert, hat vor kurzem eine Auseinandersetzung zwischen zwei amerikanischen Sozialdemokraten geboten. In einem journalistischen Streit darüber, ob die Arbeiterbewegung auf gesetzlichem Boden bleiben soll oder in ihrem Kampf auch die bestehenden Eigentumsgesetze durchbrechen darf, wandte man sich an eine bekannte wissenschaftliche Autorität der deutschen Sozialdemokratie und diese erklärte ganz und gar unsyndikalistisch, daß ungeachtet aller prinzipiellen Gegnerschaft dort, wo die sozialistische Bewegung den gesetzlichen Boden für ihre Organisation und Propaganda bereits besitzt, jede Ungesetzlichkeit zu vermeiden sei und überhaupt nie der individuelle Kampf gegen die Eigentumsgesetze gepredigt oder geübt werden darf, daß das Privateigentum nicht bloß auf Gesetzen beruth, welche die herrschende Klasse geschaffen hat, sondern auf einem ethischen Empfinden, das in allen Gesellschaftsklassen lebendig ist. Die hier aufgezählten Motive können, wie das letzte Beispiel zeigt, einzeln oder vereint von einem solchen Einfluß sein, daß sie das Individuum zu bestimmen vermögen, eine Norm als Recht anzuerkennen und zu befolgen, deren Inhalt ihm mißfällt oder die es aus anderen Gründen verurteilt.

Von diesem Schema würde sich der Rechtsgehorsam nicht zu weit entfernen, wenn man die Ansicht GEORG JELLINEKs (5) über die Geltung des Rechts zugrunde legt. Die Normen würden danach befolgt, weil man sich dazu verpflichtet weiß, also ein ethisches Motiv, und dieses würde neben dem Zwang durch sozialpsychologische Mächte gegen die widerstrebenden individuellen Motive unterstützt: Gewissenszwang, allgemeine soziale Sitte, Anstandsregeln, kirchliche Verbände, Presse usw. Damit sind im wesentlichen die soeben erwähnten Motivkreise umschrieben. Die Auffassungen, die in einer neueren Schrift von IGNATZ KORNFELD (6) über das rechtmäßige Verhalten geäußert werden, scheinen fürs erste wegen der grundverschiedenen Ausgangspunkte zu einem Vergleich kaum verwendbar. Im Gegensatz zur Normentheorie wird nämlich das Recht als ein System von Regeln des tatsächlichen Verhaltens der Gesellschaftsglieder, als eine empirische Tatsache des gesellschaftlichen Lebens erklärt, deren Vereinigendes in den von allen befolgten Regeln liegt. Letztere beruhen auf Rechtsgesetzen oder auf Rechtsgewohnheit und Rechtsgefühl, was aber durchwegs nicht unmittelbare Rechtsquellen sind, wie man sie heute zumeist versteht, sondern Quellen eines Verhaltens, in dem Recht zur Erscheinung kommen kann. Doch - und daraus ergibt sich eine Art gemeinsamer Basis - die im Verhalten der Genossen waltenden Rechtsregeln enthalten die an jedermann gerichtete ethische Aufforderung, sich ihnen anzuschließen (normative Funktion), und der Hauptgruppe der Rechtsgesetze, den Staatsgesetzen soll schon vor ihrer Erlassung eine "Rechtsregel des Gehorsams" vorangehen. Die motivierende Wirkung der zweiten Gruppen von Rechtsgesetzen, der "rezipierten Gesetze" soll in der Wertschätzung liegen, die ihnen die Gesellschaftsglieder zollen, die Rechtsgewohnheit schließlich ruht auf der Gleichmäßigkeit des Gefühls für die sozialen Interessen. So künstlich dieser Apparat ist, betreffs des Bewegungsprinzips und der letzten motorischen Kräfte ist der Unterschied von der hier vertretenen Auffassung nicht allzu erheblich. Wenn der Einzelne rechtgemäß handelt, folgt er entweder dem Gehorsamsgebot oder der ethischen Aufforderung - in beiden Beziehungen an kein bestimmtes Motiv gebunden - oder er gibt sozialen Ideen nach, welche die Gesellschaft erfüllen. Sowie derlei Motivationen durch Regeln, Grundsätze, Gefühle in Frage kommen, ist der psychologische Prozeß derselbe. Wo es sich bloß um eine Erklärung gegebener Erfahrungsinhalte handelt und die Erklärung ehrlich das Wirkliche ganz zu erfassen trachtet, müssen sich Ansichten, wenn sie auch von entgegengesetzten Standpunkten ausgehen, irgendwo begegnen. Daß sie sich hier im Menschen in dessen inneren Vorgängen treffen, ist ein Indiz dafür, daß in der Tat der Mensch und seine Psychologie den Kern des Problems bildet.

Das bisher besprochene rechtgemäße Handeln unter dem Einfluß von Sanktionen und Motiven befestigt und verbreitet sich nun wie soviel anderes Handeln in der Gesellschaft durch Wiederholung und Nachahmung. GABRIEL TARDE hat darauf den Begriff der  Gesellschaft  gegründet. Man mag nicht soweit gehen wollen, die Bedeutung von Wiederholung und Nachahmung für das Entstehen und Wachsen sozialer Erscheinungen wird kaum zu leugnen sein. Die Rechtsbefolgung bildet keine Ausnahme. Die Sanktion stellt den Einzelnen jedesmal von neuem vor ein Entweder - Oder, vor ein unangenehmes Kalkül, und doch wird, wer sich einige Male den Sanktionen berechnenderweise gefügt hat, damit in sich selbst allmählich Ideenverbindungen großziehen, die ihm das rechtgemäße Handeln in späteren Fällen immer selbstverständlicher erscheinen lassen. Noch mehr gilt das von den angeführten übrigen Motiven, da sie zumeist in Charakter, Denkweise, Lebensauffassung, also in sozusagen organisch gewordenen Eigenschaften der Persönlichkeit ihren Ursprung haben und daher regelmäßig auftreten werden. Die Nachahmung tritt uns schon im Kind entgegen und in der Kleidermode, im geselligen Verkehr, in Politik und Volkswirtschaft sowie in Kunst und Literatur ist die Nachahmung am Werk, um aus Individuellem soziale Tatsachen zu machen. Als vor einigen Jahren, sagen wir irgendwo, während einer politischen Krise die Opposition zur Waffe der Steuerverweigerung griff, breitete sich letztere auf dem Weg der Nachahmung so aus, daß schließlich auch Anhänger der Regierung ihre Steuer schuldig blieben. Die Handelsgebräuche und der Ortsgebrauch, die im Verkehr üblichen Gleichförmigkeiten für Miet-, Versicherungs-, Transportverträge usw., der sogenannte Präjudizienkultus, das Gesetz der Serie bei strafbaren Handlungen sind Nachahmungen. Warum sollte die Nachahmung gerade im Rechtsgehorsam fehlen? Aus Wiederholung und Nachahmung entsteht Gewohnheit, die dem Rechtsgehorsam sehr förderlich ist. Sie ist nur kein selbständiger Faktor neben den Sanktionen oder sonstigen Motiven, sondern lediglich eine Ausstrahlung dieser beiden; ohne ursprünglichen "voraussetzungslosen" Motivkampf hätte sie sich nicht bilden können. Aus Gewohnheit handeln, heißt weder automatisch noch ohne Motiv handeln. Insbesondere bei Aktionen, die wie der Rechtsgehorsam nach der Natur der dabei in Frage kommenden Bedingungen und Ziele ein verzweigtes logisches Denken voraussetzen, ist ein völlig gedankenloses motivfreies Handeln sowohl bei einer Wiederholung wie bei Nachahmung ausgeschlossen. Die Gewohnheit erleichtert nur ein bestimmtes Handeln insofern, als sie den Motivkampf verflacht, in der Konkurrenz der Motive die durch häufige Wiederkehr erstarkten Assoziationen die entgegengesetzten Motive zurückdrängen und der Wille schon auf schwächere Eindrücke die Richtung einschlägt, in der sich zu bewegen, er nun einmal gewohnt ist. Die von der Rechtsbefolgung ablenkenden Beweggründe geraten dadurch von vornherein in eine ungünstige Stellung und, Ausnahmen vorbehalten, verlaufen infolgedessen die seelischen Prozesse immer rascher und glatter und es wird immer leichter, sich zugunsten des Rechtsgehorsams zu entscheiden. Die Gewohnheit hat demnach dieselbe Funktion wie die Erziehung, sie ist ein Stück Erziehung. Wie diese, sei sie noch so gut, ein Straucheln nicht verhindern kann, falls sich einmal die anerzogene Dynamik des Innenlebens verschiebt, so wird die gewohnte Befolgung des Rechts nie verhindern können, daß nicht doch einmal dem Recht zuwider gehandelt wird, wenn außergewöhnlich starke Antriebe nach dieser Seite ziehen. In Wiederholung, Nachahmung und Gewohnheit äußert sich das psychische Phänomen das man mit einer nicht ganz unverfänglichen Metapher "die normative Kraft des Faktischen" zu nennen liebt und das am sozialen Phänomen des Rechtsgehorsams gleichfalls seinen Anteil hat.

Die Absicht rechtlichen Handelns gliedert sich so auf verschiedenen Wegen in die Ideen- und Gefühlsassoziationen ein, die als Ideale, Weltanschauungen, Lebensaufgaben und dgl. den Menschen beherrschen und wird durch sie und die sie umspielenden Impulse der Verwirklichung zugetragen. Es verrät sich darin ein Zug zum Gesamtleben der Gesellschaft. Statt etwas isoliertes zu sein, würde - nach dem Bisherigen zu schließen - der Rechtsgehorsam aus allen Stromgebieten des Zeitgeistes und allen Bereich der Kultur genährt. Die Krisen, die von Zeit zu Zeit das positive Recht heimsuchen, beruhen häufig eben darauf, daß die Kultur, der das Recht entstammt und die Kulturideen der Menschen, die das Recht befolgen sollen, nicht mehr übereinstimmen.
LITERATUR Franz Klein, Die psychischen Quellen des Rechtsgehorsams und der Rechtsgeltung, Berlin 1912
    Anmerkungen
    1) EMILÈ DURKHEIM, Les régles de la méthode sociologique, Paris 1910.
    2) AUGUST STURM, Die psychologische Grundlage des Rechts, 1909
    3) WILHELM SCHALLMAYER, Vererbung und Auslese im Lebenslauf der Völker, 1903, Seite 82
    4) ERICH JUNG, Das Problem des natürlichen Rechts, 1912, Seite 107, 316f.
    5) GEORG JELLINEK, Allgemeine Staatslehre, 1905, Seite 325f. Vgl. ferner HANS KELSEN, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, 1911, Seite 337f.
    6) IGNATZ KORNFELD, Soziale Machtverhältnisse, 1911, Seite 25f, 57f, 77f.