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WILHELM WUNDT
Willensvorgänge

"Willensvorgänge sind also tatsächlich immer Affekte. Der affektive Gefühlsverlauf kann unter Umständen, wie ja auch zuweilen bei den eigentlichen Affekten, ein sehr kurz dauernder, oder die Gefühle können von relativ geringer Intensität sein: ein Wollen ohne Affekt gibt es aber ansich ebensowenig wie einen Affekt ohne Gefühle."


I. Begriff und Eigenschaften
der Willensvorgänge


a. Begriff des Willens

Auf keinem Gebiet der Psychologie spielt wohl die Neigung, Aussagen über den Inhalt seelischer Vorgänge nicht auf diese selbst, sondern auf irgendwelche populäre oder philosophische Antizipationen zu stützen, eine größere und verhängnisvollere Rolle als in der Lehre vom Willen. Schon im Begriff, den wir unmittelbar mit dem Wort "Wille" zu verbinden geneigt sind, prägt sich das deutlich aus. Während niemand daran denkt, in Ausdrücken wie Vorstellung, Empfindung und dgl. etwas anderes zu sehen als eine abstrakte Generalbezeichnung für eine Menge von einzelnen Tatsachen, die überall nur als konkrete Einzelinhalte des Bewußtseins vorkommen, und von denen vielleicht keiner dem anden völlig gleicht, ist man geneigt, im "Willen" eine allgemeine seelische Kraft zu sehen, die mindestens in jedem Individuum immer dieselbe ist und den sonstigen einzelnen Vorgängen des Bewußtseins gewissermaßen als ein selbständiges Wesen gegenübersteht. Es wird später, nachdem wir erst die Willenserscheinungen im einzelnen analysiert haben, am Platz sein, auf diese und andere Annahmen über die Natur des Willens näher einzugehen. Einstweilen aber wollen wir von allen solchen Antizipationen und Assoziationen, die das Wort "Wille" anzuregen pflegt, völlig abstrahieren. Wir wollen versuchen, die einzelnen Vorgänge, die wir unter den Namen "Wille" und "Willenshandlung" zusammenfassen, so zu beschreiben, wie wir sie unmittelbar erleben, nicht anders, als wenn es sich nicht um die Beschreibung dieser, wie SCHOPENHAUER meinte, uns allervertrautesten und bekanntesten, sondern als wenn es sich um die einer neuen, noch niemals näher beobachteten Erscheinung handelte. Da ergibt sich dann als nächste Antwort auf die Frage, was denn eine solche Willenshandlung sei, vor allem die, daß ein abstrakter "Wille", der immer und überall derselbe wäre, überhaupt nicht existiert, sondern daß es immer und überall nur ein konkretes  Wollen  gibt. Was wir aber bei einem solchen einzelnen Wollen stets in uns wahrnehmen, das ist ein  Gefühlsverlauf,  der zugleich mit einem mehr oder weniger deutlichen Empfindungs- und Vorstellungsverlauf verbunden ist. Dabei ist dieser Verlauf ein in sich zusammenhängendes Geschehen, weshalb dann auch jeder einzelne Willensvorgang als eine relativ geschlossene seelische Einheit erscheint. Natürlich soll übrigens dieses Wort "Gefühlsverlauf" nicht bedeuten, daß jeder Willensvorgang eine besonders lange Zeit in Anspruch nehmen muß, und daß in ihm stets eine größere Zahl wechselnder Gefühlsmomente enthalten ist. Darin finden sich vielmehr offenbar ebenso große Unterschiede, wie etwa in der Zusammensetzung einer Vorstellung. Nur dies steht fest, daß ein Willensvorgang niemals ein momentaner Akt ist, und daß er in der kürzeren oder längeren Dauer, die er in Anspruch nimmt, immer einen Gefühlswechsel einschließt.

Nun ist es augenfällig, daß diese Beschreibung eines Willensvorganges vollständig mit der eines Affekts, wie sie im vorigen Kapitel gegeben wurde, zusammenfällt, daß wir also nach ihr berechtigt sein würden, die Willensvorgänge als eine Klassen von  Affekten  zu definieren. Zugleich muß sich aber diese Klasse vor den andern, gewöhnlich im engeren Sinn sogenannten Affekten durch Eigenschaften auszeichnen, die diese Sonderstellung rechtfertigen und es daher begreiflich machen, daß die Zusammengehörigkeit von Wille und Affekt herkömmlicherweise so ganz übersehen zu werden pflegt. Ist doch die Praxis bekanntlich gewohnt, "Handlungen aus Affekt" und "Willenshandlungen" als spezifisch verschiedene Arten menschlichen Tuns einander gegenüberzustellen. Dennoch überzeugt eine eindringendere psychologische Beobachtung, daß diese Gegenüberstellung, wenn sie nicht bloß eine auf den ersten Anlauf brauchbare Art- und Gradunterscheidung ansich verwandter Vorgänge, sondern einen spezifischen Gegensatz bedeuten soll, auf einem doppelten Irrtum beruth: erstens auf dem Irrtum, als ob Willensvorgänge auf rein intellektueller Grundlage, also von völlig gefühlsfreier Natur überhaupt existierten, und zweitens auf dem anderen, als ob nur solche Verlaufsformen, die sich durch besonders intensive, mit Ausdrucksbewegungen verbundene Gefühle auszeichnen, wirkliche Affekte sind. Die erste dieser Annahmen ist, wie schon eine oberflächliche Selbstbeobachtung lehrt, völlig unhaltbar. Wir können etwas nicht wollen, ohne daß irgendein Antrieb dazu, ein sogenanntes Motiv existiert. Motive ohne Gefühle gibt es aber nicht. Selbst KANT, der den moralischen Wert einer Willenshandlung darin erblickte, daß sie ohne jeden Antrieb der Lust oder Unlust, aus reinem Gehorsam gegen das Sittengesetz erfolgt, sah sich doch hinterher genötigt, ein spezifisches "moralisches Gefühl" zu konstruieren (1). Wie ein Willensvorgang ohne Gefühle eine inhaltsleere Fiktion ist, so läßt sich aber auf der anderen Seite die Einschränkung des Begriffs "Affekt" auf die starken und stärksten Affekte allenfalls für den praktischen Gebrauch rechtfertigen, weil für unsere praktische Beurteilung der Menschen und ihrer Handlungen hauptsächlich das Vorhandensein oder Fehlen starker Affekt maßgebend ist. Theoretisch ist jedoch dieser praktische Gesichtspunkt nicht maßgebend. Für den Psychologen ist es daher ebenso untunlich, solche schwächere Grade von Affekten vernachlässigen zu wollen, wie es untunlich ist, die ästhetischen oder moralischen Gemütsbewegungen erst bei den vollkommeneren Graden des ästhetischen Genusses oder der sittlichen Entwicklung beginnen zu lassen.

Willensvorgänge sind also tatsächlich immer Affekte. Der affektive Gefühlsverlauf kann unter Umständen, wie ja auch zuweilen bei den eigentlichen Affekten, ein sehr kurz dauernder, oder die Gefühle können von relativ geringer Intensität sein: ein Wollen ohne Affekt gibt es aber ansich ebensowenig wie einen Affekt ohne Gefühle. In der Tat bestätigt das überall die psychologische Beobachtung der Willensvorgänge, mögen diese nun einfacher oder zusammengesetzter Art sein, mögen sie in äußeren Handlungen zutage treten oder sich als rein innere Vorgänge abspielen. In einem Hungrigen, der eine ihm dargereichte Speise ergreift, treten zunächst die den Hunger begleitenden Unlustgefühle hinter den an den Anblick sich anschließenden Lustgefühlen zurück, es treten Erregungs- und Spannungsgefühle, je nachdem der Bewegung Widerstände entgegenstehen, von größerer oder geringerer Intensität hinzu, usw. Oder in einem Menschen, der sich eines ihm im Augenblick entfallenen Namens erinnern will, regen sich meist sogleich starke Spannungsgefühle, begleitet von mimischen Spannungsempfindungen. Dazu kann sich dann noch ein wachsendes Unlustgefühl und eine mehr oder minder intensive Erregung gesellen, bis endlich, falls der gewollte Erfolg erreicht wird, alle diese Gefühle für einen Moment in ihre Kontrastgefühle umschlagen. Überall ist hier der Vorgang, so verschieden er im einzelnen sein mag, seinem allgemeinen Charakter nach ein zusammenhängender Gefühlsverlauf oder ein Affekt. Nicht darin wird man daher die Natur des Willensvorgangs suchen dürfen, daß man ihn als ein von Gefühl und Affekt von vornherein spezifisch verschiedenes Geschehen auffaßt. Vielmehr ordnet er sich zunächst ganz und gar unter den Begriff des Affekts. Er erscheint lediglich als eine besondere, durch spezielle Merkmale ausgezeichnete Verlaufsform des letzteren; und die Frage lautet nicht mehr: was für ein spezifischer Bewußtseinsinhalt ist der Wille? sondern: welche besonderen Eigenschaften muß ein Affekt annehmen, damit er zu einem Willensvorgang wird? Diese Eigenschaften können aber wiederum nicht äußere sein, etwa in den als Willenshandlungen gedeuteten Bewegungen bestehen. Denn abgesehen davon, daß solche Bewegungen als reine Ausdrucksbewegungen auch bei den Affekten im engeren Sinne vorkommen, gibt es, wie das oben angeführte Beispiel des willkürlichen Besinnens zeigt, zweifellos auch Willensvorgänge, bei denen äußere Handlungen fehlen. Damit stimmt die Tatsache überein, daß wir eine bloße Ausdrucksbewegung und eine Willenshandlung im allgemeinen gar nicht nach ihren äußeren Merkmalen, sondern nur nach ihren  psychischen  Begleiterscheinungen unterscheiden, sei es nun daß wir diese in uns selbst unmittelbar erleben, oder daß wir sie in einem anderen Wesen nach sonstigen Indizien annehmen.

Nun lehrt weiterhin die psychologische Beobachtung, daß wir einen Willensvorgang von einem eigentlichen Affekt in den Anfangsstadien des Gefühlsverlaufs niemals mit Sicherheit unterscheiden können. Vielmehr tritt das, was das Wollen als solches charakterisiert, immer erst im  Endstadium,  im Vorgang der  Lösung  des Affekts hervor. Wo der Willensverlauf ein sehr kurz dauernder ist, da kann natürlich dieses Stadium der Lösung sehr nahe an den Anfang heranrücken. Aber das begründet keinen irgend wesentlichen Unterschied, ebensowenig wie ein solcher in dem Umstand gesehen werden kann, daß kompliziertere Willensvorgänge sich häufig aus einer größeren Anzahl solcher Lösungen mit zwischen ihnen liegenden neuen Affekterregungen zusammensetzen. In diesen Fällen handelt es sich eben um eine Reihe eng verbundener Willensakte, die in jenen intermittierenden [unterbrechenden - wp] Verlaufsformen des Affekts ihre Analoga haben, von denen sie sich freilich wiederum durch die die Remissionen [Nachlassen - wp] bedingenden, dem Willensvorgang eigentümlichen Lösungsprozesse unterscheiden. Hiernach liegt der spezifische Charakter der Willensvorgänge gegenüber den eigentlichen Affekten lediglich in dieser besonderen Form der Affektlösung. Erstens endet ein Willensakt stets mit einer rasch und, wenn es sich nicht um eine Reihenverbindung der oben gedachten Art handelt, vollständig eintretenden Affektlösung, während die eigentlichen Affekte sehr häufig allmählich abklingen oder unmittelbar in neue Affekte übergehen. Zweitens aber ist der Lösungsvorgang darin ein eigenartiger, daß er in der Erzeugung von Gefühlen mit begleitenden Vorstellungen besteht, die den Affekt selbst zum Stillstand bringen. Demnach können wir die Willensvorgänge allgemein definieren als  Affekte,  die durch ihren Verlauf ihre eigene Lösung herbeiführen.'

Zur Entstehung eines solchen Lösungserfolges sind nun, wie in dieser Definition schon angedeutet ist, im ganzen Affektverlauf die Bedingungen gegegeben, sei es daß dieser schon vom Moment seiner Entstehung an auf jene plötzliche Lösung abzielt, sei es daß sich die Antriebe zu einer solchen erst in seinem Verlauf selbst entwickeln. Alle diese entweder vom Anfang oder von einem bestimmten Verlaufsstadium an auf die Affektlösung hinzielenden und dadurch den Verlauf mitbestimmenden Affektbestandteile aber bilden diejenigen Inhalte des Willensvorgangs, die man, eben mit Rücksicht auf diesen schließlichen Enderfolg, die  Willensmotive  nennt. So wenig der Willensvorgang ein spezifischer, allen anderen Gemütsbewegungen fremd gegenüberstehender Akt ist, gerade so wenig ist das Motiv wiederum ein spezifisches Willenselement. Für sich allein betrachtet, besteht es in einem Gefühl, das von einer mehr oder weniger klaren Vorstellung oder auch von einer ganzen zu einem einheitlichen Komplex verdichteten Vorstellungsmasse begleitet ist. Wollen wir diese Gefühls- und Vorstellungselemente eines Motivs durch besondere Ausdrücke scheiden, so können wir die ersteren als die "Triebfedern", die letzteren als die "Beweggründe" bezeichnen. Die Sprache wendet freilich beide Ausdrücke ziemlich unterschiedslos an. Immerhin liegt im Begriff der "Triebfeder" die direktere Beziehung zur Handlung oder, allgemeiner ausgedrückt, die unmittelbarere Vorbereitung zu jener momentanen Lösung, die den Willensvorgang gegenüber einem gewöhnlichen Affektverlauf charakterisiert. Der Beweggrund liegt dieser Lösung ferner, und der Begriff des "Grundes" weist bei ihm auf die Beziehung zur intellektuellen Seite des Seelenlebens hin. Dabei muß man aber im Auge behalten, daß, wie Vorstellung und Gefühl überhaupt, so auch Triebfeder und Motiv zusammengehörige Seiten eines und desselben psychischen Inhaltes sind, die eigentlich erst durch unsere abstrahierende Analyse gesondert werden. So können etwa als Beweggründe einer verbrecherischen Handlung das Streben nach Aneignung eines fremden Besitzes, nach Beseitigung eines Gegners und dgl., als Triebfedern das Gefühl des Mangels, Haß, Rache usw. wirksam werden. Dabei weisen aber schon Ausdrücke wie Trieb, Streben, Begehren, die wir gerade den Beweggründenn hinzufügen, auf die notwendige Ergänzung der Vorstellungs- durch die Gefühlsseite der Vorgänge hin.

Wo nun die Vorstellungs- und Gefühlsinhalte eines Affektverlaufs vom  Beginn  des Vorgangs an jene auf die Affektlösung gerichtete Beschaffenheit besitzen, vermöge deren wir sie zusammenfassend "Motive" nennen, da spielt sich das ganze Prozeß unmittelbar als ein Willensvorgang ab. Von den eigentlichen Affekten unterscheiden sich demnach solche Willensvorgänge dadurch, daß den einzelnen Affektinhalten von Anfang an eine  Zweckrichtung  innewohnt, welche die schließliche Affektlösung als eine "Zweckerfüllung" erscheinen läßt. Wir wollen derartige Vorgänge "primäre Willensvorgänge" nennen. Ihnen können dann als "sekundäre" diejenigen gegenübergestellt werden, bei denen erst im Verlauf eines eigentlichen Affekts einzelne Vorstellungs- und Gefühlsinhalte den Charakter von Motiven gewinnen. Der Übergang zwischen beiden Formen ist natürlich ein fließender. Nur soviel läßt sich mit Sicherheit sagen, daß unter einfacheren Bewußtseinsbedingungen die primären Willensvorgänge weitaus vorwalten, daher wir wohl annehmen können, daß die einfachsten Willenshandlungen überhaupt nur primärer Natur sind. Das hängt zugleich mit ihrer kürzeren Dauer und der viel geringeren Anzahl wirksamer Motive zusammen. Im entwickelten Bewußtsein dagegen lassen es Gefühlsimpulse von verschiedener Richtung so oft nicht zur vollen Entwicklung bestimmter einzelner Motive kommen, oder es werden Inhalte, die anfänglich die Natur von Motiven besitzen, nachträglich so sehr durch entegenwirkende Gefühle gehemmt, daß sich hier sehr häufig ein Vorgang zunächst nur in der Form eines Affektes abspielt, um dann entweder als solcher abzuklingen oder erst sekundär durch ein allmählich zur Herrschaft gelangendes Motiv als Willensvorgang zu enden. Doch pflegen auch im entwickelten Bewußtsein fortan die unter einfacheren Bedingungen entstehenden Willensvorgänge primäre zu sein. So handelt unter einem primären Willensmotiv wer sich etwa gegen eine plötzlich eindringende Gefahr sofort zu schützen sucht. Beim Zornigen dagegen, der erst, nachdem der Affekt eine gewisse Grenze erreicht hat, zu Tätlichkeiten übergeht, ist der Willensvorgang ein sekundärer, und er hebt sich oft sehr deutlich gegen den anfänglich bloßen Affekt ab.

Diese Verhältnisse bringen es mit sich, daß die primären Willensvorgänge einerseits solche sind, bei denen überhaupt verhältnismäßig wenig einfache Vorstellungs- und Gefühlsinhalte als Motive wirksam werden, und daß sie andererseits meist einen nur kurzen Verlauf zeigen, so daß das einleitende Motiv und die Affektlösung, auf die es abzielt, unmittelbar einander folgen können. Willenshandlungen von dieser Beschaffenheit pflegt man  Triebhandlungen  zu nennen, und die ältere Psychologie hat sie meist als spezifisch verschiedene Vorgänge dem Willen gegenübergestellt. Die einfachste Selbstbeobachtung lehrt jedoch, daß in all den Fällen, wo es sich um einen wirklichen Bewußtseinsvorgang, nicht etwa um eine bloße Reflexbewegung handelt, zu einer solchen Scheidung nicht der allergeringste Grund vorliegt. So kann z. B. die auf ein unmittelbares Motiv eintretende Schutzhandlung gegen eine drohende Gefahr durchaus den Charakter einer Willenshandlung an sich tragen. Man könnte daher viel eher umgekehrt behaupten, jene sekundären Willensvorgänge, die sich aus vorausgehenden Affekten allmählich entwickeln, seien keine reinen Willensvorgänge, weil eben hier den zunächst vorhandenen Bewußtseinsinhalten der Charakter von Motiven fehlt.

Aus dem Bedürfnis, die Triebhandlungen unter einem spezifischen Allgemeinbegriff zusammenzufassen, ist nun auch die verbreitete Unterscheidung von "Trieb" und "Wille" hervorgegangen. Es bedarf nach dem Gesagten kaum noch der Bemerkung, daß es einen solchen abstrakten Trieb ebensowenig wie einen abstrakten Willen gibt. Wohl kommen Fälle vor, wo zunächst die psychischen Bedingungen zu einer Triebhandlung gegeben sind, wo es aber zu dieser trotzdem nicht kommt, sei es weil widerstrebende Triebe, sei es weil äußere Hindernisse im Weg stehen. Dann besitzt aber dieser nicht zur Lösung gelangte Trieb gerade so wie das nicht zur Lösung führende Wollen mit dem offenbar der sogenannte Trieb vollkommen identisch ist, lediglich den Charakter eines Affekts, in welchem einzelne Gefühls- und Vorstellungsinhalte bereits die Beschaffenheit von Motiven angenommen haben, aber gleichwohl nicht über den Affekt hinausgediehen sind. Man mag also zweckmäßig den Ausdruck "Triebhandlung" beibehalten, um ein kurzes Wort für primäre Willenshandlungen von einfachster Beschaffenheit zur Verfügung zu haben. Da jedoch solche Triebhandlungen keine vin den Willenshandlungen spezifisch verschiedene Erscheinungen, sondern eben nur Willenshandlungen von verhältnismäßig einfacher Beschaffenheit sind, so wird auch das Wort "Trieb" natürlich nicht im Sinne einer spezifischen seelischen Kraft, sondern nur als zusammenfassender Ausdruck für gewisse Gefühls- und Affektanlagen angewandt werden können, denen mehr als andern die Eigenschaft innewohnt, in Motive von Willenshandlungen überzugehen.

Mit den Begriffen  Wille  und  Trieb  hängen schließlich noch zwei andere zusammen, denen man eine mittlere und vermittelnde Stellung zwischen beiden anzuweisen pflegt: die des  Strebens  und des  Begehrens.  Beide werden in der Regel als Ausdrücke für einen im wesentlichen übereinstimmenden Tatbestand aufgefaßt, wobei nur das "Streben" mehr die nach außen gerichtete, das "Begehren" die innere Seite desselben bezeichnen soll. Wir können etwas begehren, ohne es zu erstreben. Das Streben wird demnach auch als ein Begehren definiert, mit dem sich bereits die Vorbereitung zur Handlung verbindet; und insofern nun eine Handlung je nach den Umständen eine Trieb- oder eine Willenshandlung sein kann, so werden auch Begehren und Streben zusammen als Vorbedingngen sowohl der Triebe wie des Wollens betrachtet, nur daß man meist, um den Trieben von vornherein ihren niedrigeren Rang anzuweisen, das ihnen zugrunde liegende Streben als ein "dunkles" zu bezeichnen pflegt. Von solchen Erwägungen ausgehend ordnete die WOLFFsche Psychologie sämtliche Erscheinungen des Strebens, Wollens und der Triebe unter das "Begehrungsvermögen".

Geht man den Tatsachen nach, die diesen Unterscheidungen zugrunde liegen, so erkennt man aber unschwer, daß alle die erwähnten Begriffe lediglich Schöpfungen einer Reflexion sind, die an die Stelle der Tatsachen eine aus logischen Erwägungen abgeleitete Stufenfolge von Begriffen setzt.

LITERATUR - Wilhelm Wundt, Grundzüge der physiologischen Psychologie, Bd. 3, Leipzig 1903