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HUGO MÜNSTERBERG
Die Willenshandlung
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"Die Naturwissenschaft, welche, um nicht einseitig zu sein, inkonsequent wird, gibt sich selber verloren; will sie aber die Konsequenz ihres Standpunktes ziehen, so darf die Unfähigkeit, ihr Postulat zu erfüllen, sie nicht abhalten, mit absoluter Strenge die Annahme zu postulieren, daß jede Willensleistung, seien es die groben Kräfte unserer Arm und Beinmuskeln, sei es die fein bemessene Tätigkeit unserer Finger oder unseres Sprachapparates, die notwendige Wirkung lediglich materieller Ursachen sei."

Einleitung

Der Wille und die Willenshandlung spielen in sämtlichen unter dem Begriff der Philosophie herkömmlich zusammengefaßten Wissenschaften eine wichtige, zum Teil maßgebende Rolle. Die Ethik und Rechtsphilosophie, die Logik und Erkenntnistheorie, die Psychologie und die Metaphysik haben sich, besonders in der neueren Zeit, so eingehend, jede von ihrem Standpunkt aus, mit dem Willen beschäftigt, daß man annehmen müßte, wenigstens die nächstliegende Frage, wie eine Willenshandlung zustande komme, sei endgültig oder wenigsten in sich widerspruchslos beantwortet. Tatsächlich aber gilt KANTs aufrichtiges Wort: "Daß mein Wille meinen Arm bewegt, ist mir nicht verständlicher, als wenn jemand sagte, daß derselbe auch den Mond in seinem Kreis zurückhalten könnte" in gewissem Sinn auch noch für unsere Zeit. Weder die "Innervationsgefühle" [Nervenimpulse - wp]) der Psychologie, noch die "motorischen Rindenfelder" der Physiologie können uns darüber hinwegtäuschen, daß die empirische positive Wissenschaft an dieser Stelle dem Wunder eine letzte Zufluchtsstätte läßt. Eben diese Frage "wie mein Wille meinen Arm bewegt" ist das Problem unserer Untersuchung und nur diese Frage und keine andere.

Die  sittliche  Wertschätzung der Willenshandlung liegt uns hier mithin völlig fern; ja, wir können nicht verkennen, wie es den psychophysischen Willenstheorien durchaus nicht förderlich war, daß meist Erörterungen über Moral und Recht den Anlaß zur Prüfung des Willens boten. Je mehr die Ethik verinnerlicht wurde, je mehr die sittliche Betrachtung an die Motive und nicht an den Erfolg anknüpfte, desto mehr mußt die eigentliche Willenshandlung zurücktreten; daß, sobald der Entschluß vollendet ist, die entsprechende Körperbewegung eintritt, das gilt dem Ethiker für etwas Selbstverständliches. Selbst wenn er bemüht ist, die menschlichen Handlungen, ohne Rücksicht auf ihren Wert, zu analysieren, folgt er gar zu leicht dem Trieb jeder Wissenschaft, die Endresultate auf die Wahl und Formulierung der Prämissen unwillkürlich einwirken zu lassen. Wir werden jenen Spezialfall menschlichen Handelns, die sittliche Tätigkeit, vor allem deshalb zurücktreten lassen müssen, um nicht durch die praktische Bedeutsamkeit derselben ein fremdes Element in die theoretische Untersuchung hineinzutragen. Eine Fehlerquelle kann aus diesem negativen Verhalten nicht entstehen, da die ethische Norm, die Stimme des Gewissens, das Gefühl der Verantwortung Elemente sind, welche das eigentliche Zustandekommen der Handlung nicht beeinflussen, alle anderen Faktoren aber auch in der indifferenten Tätigkeit gegeben sind.

Noch weniger kümmert uns hier natürlich die dogmatisch  metaphysische  Spekulation, die sich in gewissem Sinne zu allen Zeiten an den Willen knüpfte, getrieben von einem tiefsinnigen Glauben, daß dort das Geheimnis des Lebens ruhe, wo Bewußtsein und Bewegung zusammenfallen. Sicher war es eine der poetischen Ideen, die je das Erscheinungsweltall von einem Punkt aus zu erleuchten strebten, als man das Chaos innerer und äußerer Erscheinungen so erfaßte, als sei es durch einen dunklen zur Vorstellung sich emporringenden gewaltigen Willensdrang entstanden und geordnet, aber die "Welt als Wille" zu denken, bleibt nur ein Gleichnis und wird nie zur Erklärung. So wertvoll die ästhetische Bedeutung jenes Gleichnisses für das Gemüt sein mag, das sich in jene Mystik versenkt, für eine theoretische Erklärung des Willens ist es nicht nur unbegründet, unwissenschaftlich, wertlos, sondern hemmend und schädlich. Wenn der Wille so maßlos verallgemeinert wird, so kann von seinem empirischen Inhalt nur mehr wenig übrig bleiben; wenn er überall gefunden werden soll, darf man in ihm nicht mehr das suchen, was wir beim Menschen unter Wille verstehen; statt die gegebene bekannte Verbindung zu analysieren, hat man ihre Elemente künstlich verflüchtigt, um nur diejenigen übrig zu behalten, die in der Tat überall nachgewiesen werden können. Es ist offenbar der entgegengesetzte Weg, den wir einschlagen müssen: uns gilt es, nicht einen willkürlich konstruierten Willen spekulativ zu verwerten, sondern lediglich seiner selbst wegen den Willen zu prüfen.

Aber noch gegen ein drittes Gebiet müssen wir unsere Aufgabe abgrenzen und gerade das ist von der allergrößten Wichtigkeit; unsere Antwort auf die Frage des Problems will psychophysisch und nicht  erkenntnistheoretisch  sein; wir untersuchen die Willenshandlung, wie sie uns in äußerer und innerer Erfahrung gegeben ist und lassen die kritische Grundfrage nach der absolut wirklichen Ursache dieser doppelten Erscheinung ganz bei Seite. Unmittelbar ist uns ja nur die Tatsache des Bewußtseins gegeben, keine materielle Körperwelt und keine Seele. Hat doch die kritische Richtung unserer neuesten Philosophie vollkommen die Wege nachgewiesen, auf denen wir dazu gelangen, unseren Bewußtseinsinhalt unbewußt in zwei getrennte Reihen zu zerlegen, in ein System der Vorstellungen von der sehbaren und tastbaren Außenwelt, deren Substrat nur in den Lageverhältnissen wechselnd gedacht wird und ein System von seelischen Vorgängen, welche die empirische innere Persönlichkeit konstituieren. Beide Reihen enthalten aber nur Erscheinungen, die uns freilich in so enger wechselseitiger Beziehung gegeben sind, daß wir eine befriedigende Erklärung nur in der Annahme finden, sie seien zwei verschiedene Erscheinungsformen desselben einheitlichen, von unserem Bewußtsein unabhängigen, wirklichen Geschehnissesf. Nicht hier ist der Ort, diese so wichtigen, in ihren wesentlichsten Punkten allen Richtungen notwendig gemeinsamen Untersuchungen auch nur irgendwie anzudeuten. Es genügt uns hier, nur das eben zu betonen, wie anders sich die Frage erkenntnistheoretisch, wie anders sie sich psychophysisch darstellt, vor allem, wie notwendig die scharfe Trennung der Untersuchungswege ist. Wenn wir fragen: wie kommt mein seelischer Wille dazu, meinen Körper zu bewegen?, so muß der Kritizismus antworten: die Fragestellung ist überhaupt falsch! die körperliche Bewegung und der psychische Wille sind nur die auf zwei verschiedene unwirkliche Substrate bezogenen Erscheinungen desselben unbekannten wirklichen Vorgangs; die Frage müßte also richtig gestellt werden: wie kommt ein Geschehnis dazu, unserem Bewußtsein in doppelter Erscheinungsform, als Wille und als Bewegung gegeben zu sein? und diese Frage gehört offenbar in die Erkenntnistheorie, nicht in die Psychophysik.

So zweifellos richtig nun aber auch diese tiefer eindringende Fragestellung ist, so berechtigt bleibt dennoch jene der positiven Wissenschaft, die uns beschäftigen sollte; es gilt nur, beide nicht achtlos zu vermengen. Die positiven Wissenschaften, hier also Psychologie und Physiologie haben, geradeso wie das praktische Leben, sich um jene kritische Grundfrage gar nicht zu kümmern, sondern in der Verfolgung ihrer speziellen Aufgaben die Welt so aufzufassen, als wäre die gegebene Erscheinung das absolut Wirkliche; das Vorhandensein der körperlichen und seelischen Welt ist die unbedingte und ungeprüft notwendige Voraussetzung ihrer empirischen Untersuchung; die Bewegungsvorgänge der einen, die Bewußtseinsvorgänge der anderen kausal und logisch, in sich widerspruchslos zu erforschen, ist ihre einzige Aufgabe. Wenn nun die Naturwissenschaft die Erfahrungen über die Körper zu sammeln und die Hypothese von der zur Erklärung angenommenen Materie so auszubauen hat, daß sie einheitlichem Verständnis dient; wenn ebenso die Geisteswissenschaft die Tatsachen des Bewußtseins prüft und zu einer Theorie über die Seele gelangt als Hilfsvorstellung zur einheitlichen Verbindung und Erklärung der Vorgänge; so ist dann auch einer  Psychophysik  - das Wort im weitesten Sinn genommen, als Lehre vom Zusammenhang zwischen Körper und Bewußtsein - ihre Aufgabe vorgezeichnet. Sie hat nichtnur die Tatsachen der Beziehung zwischen beiden zu prüfen und zu erforschen, sondern auch über den Zusammenhang von Materie und Seele eine hypothetische Hilfsvorstellung zu schaffen, welche den auf beiden Seiten gesammelten Erfahrungen gerecht wird, die in beiden Gebieten hergestellten Ordnungen anerkennt und dennoch beide ohne inneren Widerspruch vereint.

Für die  passiven  Vorgänge des körperlich-seelischen Lebens, für seine sensoriellen Vorgänge ist diese Aufgabe in hohem Maße erfüllt. Die Beziehungen zwischen den auf den Körper physisch einwirkenden Reizen und den von der Seele wahrgenommenen Empfindungen sind aufs eingehendste geprüft und wurden allezeit schon vom naiven Bewußtsein durch die wechselseitige Kontrolle der verschiedenen Sinne bestätigt. Vor allem aber genügte für die sensoriellen Vorgänge jene einfachste landläufige Hypothese vom Parallelismus der physischen und psychischen Vorgänge. Es ist ja freilich eine etwas unkritische Hilfsvorstellung jene Annahme, daß die materiellen von Reizen ausgelösten Vorgänge im Gehirn vom Bewußtsein gleichsam von der Innenseite angeschaut werden und so jede Reizung elementaren Nervengebildes dem Auftreten elementaren Bewußtseinsinhaltes entspricht. Trotzdem hat sich diese Hypothese aufs glänzendste bewährt und es liegt gar kein Grund vor, eine neue Erklärungshilfe einzuführen; man muß sich nur bewußt bleiben, daß diese Vorstellung nicht erkenntnistheoretisch geprüfte Wirklichkeit sein will, sondern hypothetische Annahme, der eine Wirklichkeit gar nicht entsprechen soll, die vielmehr ihren Dienst erfüllt, wenn sie scheinbar widersprechende Erfahrungen in einer einheitlichen Anschauung verschmilzt, sich immer neuen Erfahrungen anpaßt und vor allem zur Aufdeckung neuer Tatsachen mithilft. Gerade dieses letztere hat sie bekanntlich so vielfach geleistet, daß sie heute die unbestrittene Grundlage der physiologischen Psychologie geworden ist.

Eine solche anschauliche Hilfvorstellung, solche widerspruchslose Verschmelzung der materiellen und der psychischen Vorgänge besteht nun für die  aktive  Seite der körperlich-seelischen Erfahrungen nicht; eine einfache Parallelsetzung zwischen Wille und Nerv-Muskelbewegung nützt da wenig; Unklarheit, Verwirrung und deshalb Willkür herrschen auf diesem Gebiet. Das ist ja kklar: zu einer Verschmelzung der physiologischen und psychologischen Daten, zu einer psycho-physischen Theorie darf es erst dann kommen, wenn beide Disziplinen einzeln je ein zusammenhängendes widerspruchslose Resultat erreicht haben und dieses gerade fehlt. Was der Wille, das Begehren oder gar die Innervationsgefühle eigentlich sind, ist von den Psychologen durchaus noch nicht wirklich klargestellt; viel schlimmer aber sieht es bei den Physiologen aus. Zwar drängt sich hin und wieder das logische Postulat hervor, daß jede Körperbewegung aus materiellen Bedingungen erklärt werden müsse, aber die Ausführung im einzelnen setzt sich über die allgemeine Forderung hinweg; wenn es wirklich gilt, höhere Bewegungsformen etwa sittliche Handlungen zu erklären, so wird ohne weiteres die Zuflucht zur immateriellen Seele genommen: kurz, weder Physiologie noch Psychologie haben in sich geschlossene Kausalreihen für die Willensvorgänge fertig gestellt, kein Wunder, wenn da die Hypothesen zur Verschmelzung der beiderseitigen Tatsachen meist das eigenartige Bild zeigen, daß man, was nicht körperlich erklärt werden kann, der Seele zumutet und was die Seele nicht in sich findet, der fertigen Körperanlage zuschiebt. Unsere Untersuchung muß daher notwendig erst die physischen, dann die psychischen Vorgänge absolut gesondert prüfen und darf erst dann wagen, den Ausbau einer psychophysischen Hilfshypothese zur Verschmelzung der beiden Kausalreihen zu versuchen.


Die Willenshandlung als Bewegungsvorgang

Die Willenshandlung tritt in die äußere Erscheinung, wenn wir von den theoretisch gleichwertigen Bewegungshemmungen absehen, als Muskelkontraktion, d. h. als Lageveränderung gewisser materieller Teile. Ohne Zweifel liegt darin für die Naturwissenschaft zureichender Berechtigungsgrund, auch ihrerseits den Willen von dem ihr eigentümlichen Standpunkt zu betrachten, also, von allem unräumlichen, immateriellen abstrahierend, den körperlichen Bewegungsvorgang nur als solchen aufzufassen und gleich wie bei jeder anderen Entwicklung lebendiger Kraft die  vollständigen Ursachen  der Veränderung in einem  materiellen Bedingungskomplex  zu suchen. Sicher ist jeder von uns empirisch gegebene Willensakt weit mehr als nur ein physikalisch-chemischer Prozeß; ebenso sicher aber verläßt die Naturwissenschaft den ihr notwendigen Standpunkt und wird ihrer Aufgabe untreu, sobald sie im Willen mehr als den materiellen Vorgang sucht. Die Naturwissenschaft, welche physische Bewegung aus psychischen Akten ableitet, statuiert damit ein absolutes Wunder; die endliche Stoffmasse wird zu unendlicher Kraftquelle. Wenn der tierischen Spontaneität im Mechanismus der Natur eine Sonderstellung überlassen wird, so geht die Bedeutung gesetzmäßiger Beziehungen zwischen aktueller und potentieller Energie verloren. Die Naturwissenschaft, welche, um nicht einseitig zu sein, inkonsequent wird, gibt sich selber verloren; will sie aber die Konsequenz ihres Standpunktes ziehen, so darf die Unfähigkeit, ihr Postulat zu erfüllen, sie nicht abhalten, mit absoluter Strenge die Annahme zu postulieren, daß jede Willensleistung, seien es die groben Kräfte unserer Arm und Beinmuskeln, sei es die fein bemessene Tätigkeit unserer Finger oder unseres Sprachapparates, die notwendige Wirkung lediglich materieller Ursachen sei.

An theoretischen Gegeneinwendungen hat es freilich nie gefehlt. Bald glaubte man die Gesetzmäßigkeit bestehen lassen zu können und in den Erfolgen des Willens nur kleine Ausnahmen zugestehen zu dürfen, eine Auffassung, die nicht nur theoretisch widersinnig, sondern auch praktisch den Begriff der Ausnahme etwas weit dehnt, da die Zahlen der absoluten Muskelkraft in der Tierwelt keine geringe Kraftsumme für jedes der unzähligen Geschöpfe berechnen lassen. Bald wieder verlange man vom psychischen Willen, daß er zwar keine physische Leistung vollbringe, wohl aber Einfluß darauf ausübe, zu welcher Zeit die potentielle Nervenkraft sich in lebendige umsetze; selbstverständlich kann die Ursache der Auslösung latenter Kraft aber auch nur in einem Bewegungsvorgang gesucht werden; vermag der Wille eben diesen hervorzubringen, so ist ihm damit gerade das zugeschrieben, was ihm durch jene künstliche Hypothese entzogen werden sollte. Schließlich hat man verkündet, daß alle Gesetze von der Erhaltung der Energie nur aussagen, daß keine Kraft verschwinden kann, sehr wohl aber könne fortwährend durch die Psyche neue Kraft entstehen. Diesem Einwand aus ganz unnaturwissenschaftlicher Sphäre ähnelt sonderbarerweise eine Idee, die im Kreis exaktester Naturforschung entstanden. PREYER glaubt nämlich neuerdings das Rätsel der organischen Vorgänge damit gelöst zu haben, daß er der Materie Empfindung zuschreibt. Da diese Empfindung materielle Vorgänge erklären soll, so kann darunter nicht die immaterielle Begleiterscheinung verstanden werden, die in der Biologie bisher als Empfindung galt, es muß vielmehr eine neben den physikalisch-chemischen, also in letzter Linie mechanischen Kräften gesondert wirkende Kraft sein, kurz eine Kraft, die in der konstanten Kraftsumme im System der Natur nicht enthalten ist, sondern sich stets neu erzeugt und aus sich heraus Arbeit leistet. Gegenüber solchen Vorstellungen reicht die Berufung auf die Erfahrung nicht aus; daß, weil mechanische Arbeit, Wärme, Elektrizität usw. kurz die paar bekannten Kräfte stets aus anderen Kräften abgeleitet werden können, auch die Muskelkraft mechanisch umsetzbaren Energien entspringt, das wäre als bloßer Analogieschluß wohl kaum beweisend. Das zwingende Moment ergibt sich nur aus der erkenntnistheoretischen Würdigung, daß unsere Gesetze von der Erhaltung des Stoffs und der Kraft gar nicht nur Erfahrungen, sondern zugleich notwendige Denkvoraussetzungen für unsere Vorstellungen von der Materie sind. Die Formen für die Umsetzung der Energie hat uns erst die neueste Zeit gelehrt, das Axiom vom Beharren der Materie und ihrer Wirkungsfähigkeit hat aber zu allen Zeiten die Wissenschaft begleitet, ihre Erfahrungen umgedeutet, die Atomistik geschaffen und hat so sich nicht etwa zufällig bewährt, sondern hat sich deshalb in der Natur als richtig erwiesen, weil wir Natur nur vom Beharren der Substanz ausgehend denken können. Das Postulat, den Willenseffekt als Mechanik der Atome zu erklären und die Kausalreihe bis zu den bekannten Faktoren zurückzuführen, bleibt also mit gutem Grund bestehen und wir müssen wenigstens die Richtung verfolgen, in der sich die bisherigen Untersuchungen dieses dunklen Problems bewegen.

Offenbar haben nun die beiden nächstliegenden Hauptfragen, nämlich auf welchem Weg die Kontraktion auslösende Kraft zum Muskel gelangt und welcher Art diese Kraft ist, sehr verschiedenwertige Beantwortung erfahren. Die zweite Frage muß völlig theoretischer Erörterung überlassen bleiben, die freilich ihre Anhaltspunkte und Analogien aus der Erfahrung nimmt; die Frage nach den Bahnen des motorischen Impulses wendet sich dagegen an die exakt empirische Untersuchung, die ihr eine Fülle von Methoden zur Verfügung stellt. Die normale, die pathologische, die komparative, die embryologische Anatomie, das physiologische Experiment, die klinische Erfahrung, alle haben an der Feststellung ihr Interesse und können die Punkte, in denen sie übereinstimmen, als umso fester stehende Resultate betrachten, je mannigfaltiger die Wege sind, auf denen sie hingelangen. Zweifellos ist die Wissenschaft von einer wirklichen Erkenntnis aller Bahnen noch weit entfernt, ja gerade die Mannigfaltigkeit der Methoden bringt oft solche schweren Widersprüche in die Resultate, daß besonders in der Hirnphysiologie bedauerliche Unsicherheit das ganze Gebiet beherrscht; trotz alledem ist dem Postulat nach physikalisch-chemischer Begreiflichkeit, nach Zurückführung auf anschaulich verständliche Vorgänge schon heute vollauf Genüge geleistet. Die Wissenschaft wird fortschreitend zwischen den verschiedenen Hypothesen zu entscheiden haben, wir die Einzelheiten immer klarer erkennen; das Kausalbedürfnis ist aber schon damit zufrieden, wenn die erkannten Tatsachen überhaupt ausreichen, eine in sich geschlossene Theore der Erklärung hypothetisch aufzustellen. Die Mannigfaltigkeit der Theorien ist für den Naturforscher freilich ein Zeichen unserer Unkenntnis: seine Arbeit geht dain, die von der Hypothese überbrückten Lücken durch Erkenntnis auszufüllen, daß wir von den Möglichkeiten nur die übrig behalten, welche die Wahrheit ist oder was der Naturforscher Wahrheit nennen muß. Für denjenigen aber, der von allgemeinem biologischen Interesse geleitet wird, ist diese Mannigfaltigkeit der Theorien eine erfreuliche Befriedigung seines Kausalbedürfnisses, auch er wird die einzelne Hypothese nicht deshalb schon für Wahrheit nennen, aber jede einzige Theorie, welche in sich widerspruchslos sämtliche bisher bekannten Tatsachen berücksichtigt und sie auf bekannte Gesetze zurückführt, ist ihm hinreichender Beweis dafür, daß sein Postulat für mechanische Erklärbarkeit der Willenshandlung an sich erfüllbar ist und widerlegt absolut die gegnerische Behauptung von der Unmöglichkeit mechanischer Erklärung. Er wird sich bewußt bleiben, daß die Theorie von der fortschreitenden Wissenschaft im einzelnen ausgebaut werden wird, daß sie selbst in Grundfragen von wachsender Erkenntnis wird verändert werden müssen, ja vielleicht schließlich von ganz neuer Wahrheit verdrängt wird, aber für den jeweiligen Stand der Wissenschaft hat sie ihren absoluten Wert; die Theorie soll gar nicht die Wahrheit entdecken, sondern soll die erkannten Tatsachen in sich widerspruchslos kausal verknüpfen. Daß Theorien in diesem Sinne heute möglich sind - und dieser ganze Abschnitt versucht lediglich eine solche Theorie zu entwickeln - während sie noch vor wenigen Dezennien einfach unmöglich war, das dürfte auf einen Fortschritt der Wissenschaft hinweisen, dem gegenüber die Menge der unbeantworteten Einzelfragen nicht entmutigend wirken darf.

Der Zusammenhang zwischen Muskel, Nerv und Gehirn, eine durchaus nicht so nahe liegende Erkenntnis, ist freilich schon lange bekannt und der Materialismus, der das notwendige Prinzip der Naturanschauung zum unberechtigten Prinzip der Weltanschauung erhob, hat allezeit auf diesen Zusammenhang seine einseitige Psychologie gestützt. Dennoch gehört erst unserer Zeit das Verständnis für den feineren Zusammenhang zwischen motorischem Nerv und Muskel einerseits und Zentralorgan andererseits. Von einer Erledigung des Problems ist ja freilich auch heute noch keine Rede und gerade die Vorstellungen über motorische Nervenenden haben, beim Fortgang der Untersuchung, in ihrem Wert als Substrat einer anschaulichen Kontraktionstheorie manches eingebüßt. Hatte es doch eine Zeit lang den Anschein, als setze sich der Nerv in seiner letzten Verästelung unmittelbar in die kontraktile Substanz der einzelnen Muskelfaser fort, die offenbar anschaulichste Vorstellung, ebenso wie in der vergleichenden Anatomie die Neuromuskeltheorie, welche Nerv und Muskel als Differenzierung einer ursprünglich einheitlichen Zelle auffaßt, (1) also als Trennung und Selbständigwerden verschiedener Zellenteile, von vornherein viel für sich haben mußte. Die Wissenschaft hat beide Annahmen beseitigt: wir wissen jetzt, daß das Nervensystem erst sekundär mit dem Muskel in Verbindung trat (2) und daß sich die Sohlengranulosa völlig trennend zwischen Nervenfaser und Muskelfaser einschieben kann. (3) So wären dann die Anhaltspunkte für einen unmittelbaren Zusammenhang des reizleitenden und kontraktilen Gebildes als unzulässig erkannt, wenn nicht besonders KÜHNEs Arbeiten, welche unbestritten den Höhepunkt der Wissenschaft repräsentieren, so sehr für die einfache Vorstellung sprächen, daß in den gliösen Elementen das eigentlich Kontraktile, in der Rhabdia nur elastische Gebilde vorliegen. (4)

Es kann nicht im Sinne unserer Aufgabe liegen, hier die mannigfachen Ansichten in derartigen Fragen kritisch zu sondern oder gar die anatomischen und physiologischen Einzelheiten zusammenzustellen, die zum Gemeingut der betreffenden Wissenschaften geworden sind. Wir müssen den Bau des Muskels, die makroskopische Innervation, en Weg der trotz Plexusbildung isoliert zum Zentralapparat verlaufenden Nerven als bekannt voraussetzen und dürfen nur daran erinnern, wie die Feststellung des Verlaufs motorischer Bahnen im Rückenmark eine verhältnismäßig weitgehende Übereinstimmung zwischen den verschiedenen Disziplinen aufwies. FLECHSIGs entwicklungsgeschichtliche Untersuchung, TÜRKs Beobachtung der sekundären Degeneration, die besonders von SCHIFF ausgebildete Methode experimenteller Reizung nach Anlegung partieller Längs- und Querschnitte und schließlich der pathologisch-anatomische Sektionsbefund bei Krankheiten mit genau-studierter Bewegungsstörung, alles verweist übereinstimmend auf den Verlauf motorischer Bahnen in den weißen Vorder- und Seitensträngen, auf ihre Kreuzung in der Pyramidengegend, auf ihre Verflechtung in der grauen Substanz, ihren Eintritt in Ganglien und ihren schließlichen Austritt in den vorderen Wurzeln, nachdem eine Vermehrung (5) der fasern in der grauen Substanz eingetreten ist. Weit unsicherer, weil viel komplizierter, werden alle diese Verhältnisse im Gehirn. Was dort über die Kreuzung in der Brücke, über die motorischen Bahnen in Großhirnschenkeln und innerer Kapsel, über die Leitung zur Rinde und ihre Beziehung zu letzterer sowie zu den großen Ganglien bekannt ist, das kann uns im Detail hier nicht bekümmern; es genügt uns, aus der Fülle der Einzelheiten den Grundgedanken hervorzuheben, daß von der Großhirnrinde zur motorischen Spinalbahn und somit weiter bis zum Muskel eine unendlich verzweigte, aber absolut kontinuierliche Bahn läuft. Nicht mehr als dieses entnehmen wir an dieser Stelle den Arbeiten über Rindenreizung, die durch HITZIG, FERRIER, SCHIFF, EXNER, GOLTZ, MUNK u. a. bekanntlich heute im Mittelpunkt physiologischer Diskussion stehen. Erst wenn wir erörtert haben werden, was der Wille psychologsich ist, werden wir bei der psychophysischen Untersuchung die Frage eingehender aufnehmen, wodurch bei elektrischer Rindenreizung die isolierte Muskelkontraktion eigentlich erzeugt wird, ob es da wirklich um Zentren handelt, ob motorische Bahnen gereizt werden oder ob vielleicht die Bewegung nur reflektorisch von dort ausgelöst wird. In jedem Falle steht das ja fest, daß sich an der konvexen Hirnoberfläche eine Reihe von kleinen Feldern umschreiben läßt, deren isolierte elektrische Reizung, selbst wenn sie rings umschnitten sind, bestimmte Extremitätsbewegungen hervorruft, während die Unterschneidung jener Felder den Effekt aufhebt. (6) Die  Kontiguität  der reizleitenden Bahn  von der Hirnrinde zum Muskel  ist damit sichergestellt und dadurch der erste Faktor einer die Willenshandlung mechanisch erklärenden Theorie in einer Form gegeben, die dem Kausalbedürfnis entschieden genügt, wie sehr auch das weitere Vordringen in der Einzelkenntnis zu wünschen und zu erwarten ist.

Viel geringere Anhaltspunkte bietet die Erfahrung für die zweite Vorfrage: welcher Art die Veränderung im Nerv während der Reizleitung, im Muskel während der Kontraktion ist. Besonders für den Muskel hat eine Theorie die andere verdrängt, bald sollten elastisch, bald elektrische, bald thermisch Kräfte das Maßgebende sein und für den heutigen Stand der Frage scheint ein der Koagulation analoger chemischer Vorgang am ehesten den Erscheinungen der kontrahierten Muskelfaser zu entsprechen. (7) Wenn dagegen wirklich gliöse Elemente das kontraktile Gebilde vorstellen, so würde, wie uns scheint, schon eine der amöboiden Bewegung ähnliche Verschiebung und Formveränderung kleinster Teilchen zur Erklärung genügen. So unberechtigt auch die unmittelbare Übertragung des phylogenetisch frühesten Stadiums auf die differenzierten Organe, so wichtig ist es doch, bei einer Theorie der Kontraktion daran zu erinnern, daß sich die mannigfaltigen Bewegungen des einfachen Protoplasmas hinreichend mechanisch erklären lassen durch Kugelung kleinster Teile und Ausstreckung derselben, die sehr wohl durch Quellung bei Wasseraufnahme erklärbar wäre. (8)
LITERATUR - Hugo Münsterberg, Die Willenshandlung, Freiburg 1898
    Anmerkungen
    1) KLEINBERG, Hydra, Seite 10f; GEGENBAUR, Grundriß der vergleichenden Anatomie, 1878, Seite 40f
    2) CARL CHUN, Ctemophoren, 1880, Seite 215f
    3) WILLY KÜHNE, Motorische Nervenendigungen, in Zeitschrift für Biologie, Bd. 23, Seite 1f
    4) WILLY KÜHNE, ebenda, Seite 92
    5) WOROSCHNIKOFF, Verlauf der motorischen und sensorischen Bahnen, in LUDWIGs Arbeiten, 1874
    6) EXNER, Motorische Rindenfelder, 1881; PANETH, Lage der absoluten motorischen Felder, in Archiv für die gesamte Physiologie, Bd. 37, Seite 523f
    7) HERMANN, Allgemeine Muskelphysiologie, in Hermanns "Handbuch der Physiologie", Bd. I, Seite 253f
    8) ENGELMANN, Flimmer und Protoplasmabewegung, in Hermanns "Handbuch etc." Bd. I, Seite 375