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THEODOR GEIGER
Ideologie und Wahrheit
- eine soziologische Kritik des Denkens -
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"Die Aufklärung ist von einem optimistischen Rationalismus getragen. Sie nimmt an, daß es auf jede beliebige - theoretische oder praktische - Frage eine vernunftgemäße und somit wahre Antwort gibt, die es nur zu finden gilt. Sie nimmt ferner an, daß dem Menschen die reine und volle Wahrheit grundsätzlich zugänglich ist. Der Mensch ist imstande, einwandfrei richtig und sachgemäß zu denken."


Kapitel I
Überblick über die Lehrmeinungen

Das Wort Ideologie taucht zum ersten Mal bei den Enzyklopädisten CONDILLAC und DESTUTT de TRACY auf. Bei ihnen bezeichnet es genau das, was der Name: die ... logie, d. h. die Lehre von den Ideen, den geistigen Gebilden im Gegensatz zu den Lehren von stofflichen Dingen und wahrnehmbaren Erscheinungen.

NAPOLEON I. übernimmt die Bezeichnung mit einem Ton der Verachtung, als Scheltwort geradezu. Er, der Täter, Geschichtemacher, Diktator, kann - wie seinesgleichen vor und nach ihm - die Männer des blassen Gedankens nicht leiden. Im ewigen Spiel und Gegenspiel von Geist und Macht steht er auf der anderen Seite. Ideen sind ihm Hirngespinste. Er betet die Wirklichkeit an - oder das, was er für Wirklichkeit hält: die Tat, welche die Welt verändert. Die Philosophen taumeln in einer Traumwelt. Das Reich des politischen Täters ist "die Wirklichkeit". Hier also treten zum ersten Mal zwei Elemente des Ideologiebegriffs auf, die ihm nachmals anhaften, nämlich
    1. die Nicht-Übereinstimmung mit "der Wirklichkeit" und
    2. der negative Wertakzent.
Bis auf den heutigen Tag ist das Wort Ideologie im Sprachgebrauch der politischen Rednertribüne und Zeitungsschreibe eine magische Formel zur Entwertung gegnerischer Behauptungen. Was man selber vorbringt, sind Feststellungen und Wahrheiten, was der Gegner sagt, sind "bloße Ideologien". Die angeprangerte "Abweichung von der Wirklichkeit" mag dann bald als glatte Lüge verstanden sein, bald als Verhüllung der Wahrheit, als Rationalisierung von Willenszielen, als gutgläubige Verblendung. Schon dadurch ist der Ideologiebegriff zu so vielfarbig schillernder Unbestimmtheit verurteilt, daß er heute ohne vorherige Revision wissenschaftlich nicht zu gebrauchen ist. Schlimmer noch! -: als "der Wirklichkeit" entgegengesetzt nimmt der Ideologiebegriff verschiedene, ja geradezu einander widersprechende Bedeutungen an, abhängig davon, was der Sprecher unter "Wirklichkeit" versteht. Was man vernünftigerweise darunter verstehen kann, wird nachmals eingehend zu prüfen sein. An gegenwärtiger Stelle ist nur darauf hinzuweisen, daß der Wirklichkeitsbegriff selbst zu sehr umstritten ist, als daß die Ideologie durch ihre "Abweichung von der Wirklichkeit" zureichend bestimmt sein könnte.

Dem Leser ist aber kaum die Lektüre eines Buches zuzumuten, dessen Gegenstand nicht eingangs zumindest umrissen wäre, sei es auch mit dem Vorbehalt einer laufenden Korrektur und näherer Bestimmung. Mit diesem Vorbehalt, und ganz vorläufig sei also hier der Begriff der Ideologie - nicht definiert, sondern umschrieben. Zunächst also: der Ideologiebegriff bezieht sich auf Denkerzeugnisse. Da muß ich dann schon von den meisten meiner Vorgänger Abstand nehmen. Sie glauben wahrhaftig, sich über die Denkprozesse in den Hirnen anderer aussprechen zu können. Für meinen Teil muß ich gestehen, daß ich darüber unmittelbar nichts weiß. Was der andere denkt und wie er denkt, ist meinem Zugriff entzogen. Ich habe mich an das zu halten, was er in Worten und durch Handlungen zum Ausdruck bringt. Wo ich auf eine Rechnung spreche, bezieht sich also der Ideologiebegriff auf Aussagen, nicht aber auf die Denkprozesse, die hinter den Aussagen liegen, sie zeitigen. - Der Ideologiebegriff hat einen kritischen Sinn. Er mißt das "Denken", also vielmehr die Aussage, an der Wirklichkeit, was immer nun mit Wirklichkeit gemeint sein mag. Bestünde nicht die Vorstellung völlig wirklichkeits-adäquater Aussagen zumindest als theoretische Möglichkeit, so hätte der Ideologiebegriff keinen erdenklichen Sinn. - Offenbar bezielt aber der Ideologiebegriff nicht schlechthin jede Abweichung einer Aussage von der Wirklichkeit. Wenn XY feststellt, daß es mehr Witwen als Witwer gibt und daraus schließt, daß die Frauen durchschnittlich älter werden als die Männer, nennen wir das einen logischen Schnitzer, aber keine Ideologie. Er gibt allerdings logische Fehler, die ideologischen Ursprungs sind - davon später -, der hier als Beispiel erwähnte gehört aber kaum dazu. Ideologisch sind also nicht alle verkehrten Aussagen, sondern nur die Fehlaussagen einer besonderen Art. Man hat das dahin ausgedrückt, daß der Ideologiebegriff sich nicht auf logisch falsche, sondern auf schiefe, verzerrte, voreingenommene Aussagen bezieht. Ich unterschreibe das in dieser Form nicht unbedingt. Auch das erfordert aber Erwägungen, die an dieser Stelle verfrüht wären. Beschreibt man - sehr allgemein - die Ideologie als die durch außertheoretische Faktoren bedingte Befangenheit einer Aussage, so befindet man sich zwar in Übereinstimmung mit den meisten Ideologie-Theoretikern, hat aber gegen sich eine Handvoll Existentialisten und andere Irrationalisten, denen Befangenheit als ein Ziel, des Strebens der Edlen wert, erscheint, Sachlichkeit aber als ein Verbrechen wider das Leben.

Lose und konturlos, wie diese Kennzeichnung der Ideologie ist, mag sie doch als Auftakt für einen geschichtlichen Überblick über die Lehrmeinungen zur Frage genügen. Eine strengere Bestimmung des Begriffs wird allmählich aus den teils historischen, teils systematischen Analysen herauswachsen.

Das Wort Ideologie stammt aus der Aufklärungszeit. Seinen heute üblichen, abfälligen Sinn hat NAPOLEON I. ihm angehängt. Das heißt folglich, daß die Welt auf NAPOLEON warten mußte, um endlich darüber belehrt zu werden: "Menschen denken zuweilen verdreht." Diese Erkenntnis ist uralt, ebenso alt wahrscheinlich wie das abstrakte Denken selbst.

Mehr als 200 Jahre vor NAPOLEON ist sogar zum ersten Mal eine regelrechte Theorie des befangenen Denkens geschrieben worden - von keinem Kleineren als FRANCIS BACON im ersten Teil seines "Novum Organon" (1605). Das ist ansich nicht weiter verwunderlich. BACON war der große Vorkämpfer der Aufklärung (in einem allgemeineren als dem üblichen Sinn). Sein großes Anliegen ware, das Dunkel des mittelalterlichen Aberglaubens zu zerstreuen, das Menschendasein auf Vernunft zu gründen. Er glaubt an den Fortschritt der Menschheit durch einen rechten Gebrauch der Vernunft. Manches von dem, was er über Vorurteile zu sagen weiß, ist heute noch so frisch und gültig wie am ersten Tag, und es wird in diesem Buch mehr als einmal Anlaß dazu sein, späteren Ideologiekritikern die reiferen Barockphilosophen entgegenzuhalten. Ich gebe darher das Gerüst seiner Lehre in wenigen Sätzen wieder.

Die äußeren Täuschungsquellen, die zu Fehlschlüssen und Fehlaussagen führen können, sind nach BACON von untergeordneter Bedeutung. Sie lassen sich ohne weiteres ausschalten, und der Aussage-Inhalt ist damit berichtigt. Die eigentliche Gefahr der Verirrung liegt in jenen Fehlerquellen, die der menschlichen Natur innewohnen. "Der Verstand ist kein reines Licht." Die auf der Wirkungsweise des Verstandes beruhenden Fehlerquellen lassen sich nicht einfach verstopfen, das durch sie verunreinigte Erkennen kann nicht durch einen kritischen Filter geleitet und so zur reinen Wahrheit geläutert werden. Indem wir uns aber die Gefährdungen unseres Denkens zu Bewußtsein bringen, uns von ihnen Rechenschaft ablegen, neutralisieren wir sie und machen sie unschädlich. Unsere eigenen Denkergebnisse kritisch prüfend, können wir den Einfluß der ins Bewußtsein gehobenen Fehlerquellen in Rechnung stellen. Der Gedanke, sich mit Hilfe eines "Umrechnungsschlüssels" von der Befangenheit des Denkens zu befreien ("aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit zu emanzipieren", um mit KANT zu sprechen), ist hier schon entwickelt, wenn auch der neuzeitliche Ausdruck nicht gebraucht wird.

Dieser Fehlerquellen, mit denen die Wirkungsweise des menschlichen Verstandes behaftet ist, sind vier. BACON nennt sie "die Idole" oder Götzenbilder. Man kann stattdessen einfach von Vorurteilen sprechen.
    1. Die Götzenbilder der Gattung (idola tribus) haben ihre Wurzeln in der gemeinsamen Natur des Menschengeschlechts. Die Wirklichkeit ist uns nicht zugänglich so wie sie selbst ist ("nach der Natur des Weltalls"), sondern wie unsere wahrnehmenden Sinne und unser Verstand sie ("nach der Natur des Menschen") erfassen. Der Verstand des Menschen wird mit einem Krummspiegel verglichen. Indem er die äußeren Gegenstände widerspiegelt, verzerrt er ihre Umrisse, indem er seine eigenen Krümmungen mit ihren Linien vermengt.

    2. Die Götzenbilder der Höhle (idola specus) sind das, was man heute "die persönliche Gleichung" nennen würde. Dem Menschen ist nicht nur die gemeinsame Menschennatur der Gattung eigen, sondern auch seine persönlich besondere. Ein jeder lebt in seiner eigenen Höhle, seinem Gehäuse, in die das natürliche Licht der Außenwelt nur getrübt und verdunkelt eindringt.

    3. Die Götzenbilder des Verkehrs (idola fori) sind jene Störungen reiner Erkenntnis, die im zwischenmenschlichen Gedankenaustausch ihren Ursprung haben. Die Menschen verkehren miteinander durch das Mittel des Wortes, der Sprache. Die Dinge aber werden einem Sprachgebrauch nach benannt ("nach der Auffassung des großen Haufens"). Konventionelle Mißbezeichnungen hindern oft die richtige Erkenntnis. Das Wort ist eine Zwangsjacke des Gedankens. Er verleitet die Menschen zu einem endlosen Streit um nichts. - Max Stirner war sich dessen tief bewußt. "Was ich sage, das meine ich nicht, und was ich meine, vermag das Wort nicht zu sagen."

    4. Die Götzenbilder des Schauplatzes (idola theatri) endlich sind jene Niederschläge und eingefleischten Vorstellungen, die auf Tradition, Autorität und Irrlehren der Vorzeit zurückzuführen sind. Wenn eine Auffassung, ein Dogma erst einmal Anerkennung gefunden hat, wird es bald zu einem ausgefahrenen Geleis. Es bedarf einer besonderen Anstrengung, das Vehikel der Erkenntnis in neue Bahnen zu lenken. Im Zeitalter Bacons, in dem die Scholastik mit ihrer Vorliebe für den Autoritätsbeweis noch sehr lebendig war, hatte diese Vorurteilsquelle eine besondere Bedeutung.
Man könnte sagen, daß BACON hier dem denkenden und wahrheitssuchenden Menschen einen Beichtspiegel vorhält, nach dessen vier Punkten er sein Gewissen erforschen soll, ehe er selber für wahr hält, was er ausgedacht hat. BACON spricht hier ganz im Geist der späteren kritischen Aufklärung. Solange die Vorurteile naiv mitgeschleppt werden, verfälschen sie das Erkennen. Sind sie als solche aufgewiesen und in Rechnung gestellt, werden sie zu bewußten Begrenzungen der Erkenntnis.

Eine lange Zeitspanne liegt zwischen BACON und den nächsten wesentlichen Beiträgen zur Ideologienlehre.

Als ein interessanter Fall darf JOHN MILLER hervorgehoben werden. In seinen 1771 erschienenen "Observations Concerning the Distinction of Ranks in Society" findet sich ein kurzer Abschnitt, in dem nicht nur die "Denkweise", sondern der gesamte psychische Habitus des Menschen auf Einflüsse seiner natürlichen und gesellschaftlichen Umgebung zurückgeführt wird.
    "Auf der Suche nach den Ursachen dieser besonderen Systeme (der Gesellschaftsordnung) hat man sich zweifellos vor allem an die Verschiedenheit der äußeren Umstände zu halten, die den Einwohnern eines Landes besondere Auffassungsweisen und Handlungsmotive nahelegen. Solche Umstände sind Fruchtbarkeit oder Dürftigkeit des Bodens, die Art seiner Erzeugnisse, die Form der zur Lebensfristung erforderlichen Arbeit, die Zahl der in einer Gemeinschaft zusammenlebenden Personen, die Entfaltung der Geschicklichkeit in allerlei Künsten, die für den wirtschaftlichen Verkehr und die Aufrechterhaltung eines engen Gedankenaustausches gebotenen Gelegenheiten. Die vielfachen Unterschiede im Hinblick auf diese und andere Einzelheiten des Daseinsrahmens müssen den denkbar größten Einfluß auf die Bevölkerung im Allgemeinen haben. Indem sie die Antriebe und Bestrebungen der Menschen in eine besondere Richtung lenken, müssen sie entsprechende Gewohnheiten, Neigungen und Formen des Denkens hervorrufen."
Der Satz, daß alles menschliche Denken eine Funktion der Gesellschaftsstruktur ist, ist also hier schon ausgesprochen. Achtzig Jahre später wird er von KARL MARX in ein System gesetzt und gegen Ende des Jahrhunderts von EMILE DURKHEIM und seiner Schule zur Grundlage einer soziologischen Erkenntnistheorie gemacht.

Die Aufklärungsphilosophie hat zwei ihrer Art und Richtung nach völlig verschiedene Beiträge zur Ideologienlehre geliefert - ohne selbst das Wort Ideologie in diesem Sinne zu gebrauchen.

Der eine dieser Beiträge ist als Interessentheorie bekannt. Die Aufklärung ist von einem optimistischen Rationalismus getragen. Sie nimmt an, daß es auf jede beliebige - theoretische oder praktische - Frage eine vernunftgemäße und somit "wahre" Antwort gibt, die es nur zu finden gilt. Sie nimmt ferner an, daß dem Menschen die reine und volle Wahrheit grundsätzlich zugänglich ist. Der Mensch ist imstande, einwandfrei richtig und sachgemäß zu denken. Wenn er es nicht tun, ist das entweder ein Fehler seiner Erziehung oder sein eigenes Verschulden. Er läßt seine Geühle und Willensimpulse Einfluß auf seine Verstandestätigkeit gewinnen. Der Verstand wird dadurch von der Wahrheit abgelenkt. Man hat also hier einen psychologischen Ideologiebegriff, und man hat, wie bei BACON, Ideologie als Abweichung von der Wahrheitserkenntnis. Freilich ist diese Aufklärungsphilosophie des 18. Jahrhunderts erheblich optimistischer als BACON. Indem sie die Verstandestätigkeit und das Triebleben sozusagen als zwei getrennte Ressorts betrachtet, hält sie die vollkommene Emanzipation des Verstandes von Triebeinflüssen für möglich. BACON ist vorsichtiger und verlegt die erste Irrtumsquelle schon in die Wirkungsweise unseres Wahrnehmungsapparates.

Die Interessentheorie besagt, daß die im Gefühls-, Trieb- und Willensleben wurzelnden Interessenmotive die Gedankengänge des Menschen vom geraden Weg zur objektiven Wahrheit ablenken. Diese Interessentheorie tritt aber in verschiedenen Schattierungen auf, zum Teil ohne daß ihre Vertreter sich dessen recht bewußt sind.

Zuweilen wird angenommen, daß der Denkende durch seine Wünsche und Befürchtungen, seine Interessen und Wallungen aus dem Gleis gebracht wird. Er ist verblendet, er denkt befangen, er sieht die ihm unangenehme Wahrheit nicht. Hier ist der Denkende im guten Glauben. Das Verschulden, das man ihm vorwerfen kann, ist ein rein intellektuelles. Er befolgt nicht die gute Mahnung des PASCAL: Gott hat uns mit der Fähigkeit des Denkens ausgestattet - lasset uns also richtig denken. - Die Ideologie ist hier "Verhüllung" in dem Sinne, daß dem Denkenden selbst durch seine Gefühlsbeteiligung, sein Interessiertsein die Wahrheit verhüllt ist. Hätte er gelernt, seine Triebe und Gefühle zu beherrschen, wäre er imstande, den Schleier zur Seite zu schieben.

Die Interessentheorie hat aber auch eine andere Variante. Der Interessent entwickelt einen Gedankengang, der dazu dient, die Wahrheit vor anderen zu verbergen. Die verhüllte Wahrheit mag da wiederum zweierlei sein. Entweder nämlich ist dem Sprechenden daran gelegen, seinem Interessengegner einen Sachverhalt zu verhüllen. Der Sprecher nimmt nämlich an: wenn mein Gegner den wahren Sachverhalt nicht kennt, erleichtert mir das die Erreichung meines Interessenziels. Oder aber, der Sprechende ist bemüht, seine Interessiertheit zu verbergen, indem er z. B. für ein durch sein Interesse motiviertes Verhalten eine "harmlose" Erklärung erfindet. Überflüssig zu sagen, daß beide Verhüllungen gelegentlich Hand in Hand gehen.

In diesen beiden letztgenannten Fällen trifft den Sprechenden offenbar nicht so sehr ein intellektueller Vorwurf - er erweist sich ja als besonders schlauf - wohl aber ein moralischer. Er ist unaufrichtig, macht den anderen etwas vor. Man ist damit dem Begriff der Lüge schon sehr nahe.

Die Interessentheorie in dieser Form fließt dann auch unmerklich mit einer anderen zusammen, nämlich der Lehre vom Priester- und Herrentrug. Sofern die Interessentheorie besagt, daß der Urteilende durch seine Triebnatur von der Wahrheitserkenntnis abgelenkt wird, ist die Ideologie eine erkenntnis-psychologische Erscheinung. In der Lehre vom Priester- und Herrentrug aber ist von Ideologien als politischen Institutionen die Rede. Diese Richtung der Ideologienlehre gehört dann auch ganz der Gesellschafts- und Staatsphilosophie der Aufklärung an und war eine bewußte Kampfthese gegen das ancien régime [alter Staat - wp]. Schon die frühe Aufklärung des 17. Jahrhunderts dachte sich den Staat als eine Vernunftordnung des gesellschaftlichen Daseins. Die Verwirklung dieses Ideals wurde vom Wohlfahrts- und Polizeistaat erwartet. Der absolute Fürst ist für eine vernunftgemäße Gesetzgebung, Regierung und Verwaltung verantwortlich (vor Gott). Als politische Theorie des revolutionären Dritten Standes liefert die Aufklärungsphilosophie des 18. Jahrhunderts eine bittere Kritik des degenerierten Selbstherrschertums und entwickelt als Gegenbild die demokratische Staatsform. Dem absoluten Fürsten und seinem Anhang ist es offensichtlich nicht darum zu tun, der Vernunft im Staatsleben zum Sieg zu verhelfen, nach Vernunftgrundsätzen zu regieren, sondern vielmehr, ihre Machtstellung aufs Äußerste zu ihrem Vorteil auszunutzen. Dies wird ihnen durch die Unwissenheit der Untertanenmassen erleichtert. Der Herrscher ist daran interessiert, die Untertanen im Aberglauben zu halten. Hier findet die politische Philosophie der Aufklärung den Anschluß an den allgemeinen Rationalismus der Zeit und insbesondere die in ihm wurzelnde Kirchenfeindschaft. Die Geistlichkeit ist Handlangerin der Herrschenden, indem sie das Volk im Köhlerglauben des dunklen Mittelalters niederhält. Es fehlt nicht an verallgemeinernden Rückblicken auf die Geschichte, in deren Verlauf immer die Medizinmänner und Priester im besoldeten Dienst der politischen Machthaber das Volk verdummt und ihm die Ohren mit Ammenmärchen vollgeredet hätten.

Eine vernünftige Gesellschafts- und Staatsordnung ist erst möglich, wenn ein allgemein aufgeklärtes, im autonomen Gebrauch seiner Verstandeskräfte geübtes Volk die Entscheidungen und Maßnahmen der Regierung zu kontrollieren vermag - das heißt aber in einer Demokratie.

Der so angegriffene Priester- und Herrentrug ist also ein bewußt und in selbstsüchtiger Absicht erfundenes Lügengewebe der Herrscher und der ihnen nahestehenden Oberschichten (Privilegienträger). Er ist eine politische Institution, ein Bestandteil des Machtapparates, welcher der Niederhaltung des Volkes dient.

Hier ist die Ideologie also keineswegs ein befangenes Denken, sondern ein exoterisches Lehrgebäude, dessen Urheber selbst aufgeklärt sind. Die Lehre vom Priester- und Herrentrug ist auf der Ebene der politischen Philosophie entwickelt, und hat daher als Verhüllungsmotiv die Machtbewahrung im Auge. Der eine oben genannte Zweig der Interessentheorie, wonach ein Gedankengang zu Verhüllungszwecken vorgebracht wird, unterscheidet sich von der Priestertrugtheorie eigentlich nur dadurch, daß hier in erster Linie nicht an politische Macht, sondern an den ökonomischen Vorteil als Schutzobjekt der Verhüllung gedacht ist. Der Form nach sind beide kritisierte Sachverhalte einander gleich. Nur die Theorie von der Selbsttäuschung bezieht sich auf einen wesentlich anderen, in gewissem Sinne geradezu entgegengesetzten Sachverhalt. Auch hier werden aber gelegentlich die Grenzen verwischt, indem - ganz richtig - erkannt wird, daß zwischen Selbstbetrug und der Täuschung anderer oft schwer zu unterscheiden ist.

Die in den Lehren der Aufklärung enthaltenen, verschiedenen Gesichtspunkte sollen nun abschließend rekapituliert werden: Immer ist die Ideologie Verhüllung. Bald ist aber dem Urheber der Ideologie etwas verhüllt, bald verhüllt er anderen etwas. Bald ist die Wahrheit durch Interessen verhüllt. Bald wird die Wahrheit vom Interessenten verhüllt. Bald camoufliert der Interessent sein Interessiertsein. Von größter Bedeutung auch für künftige systematische Erörterungen ist aber ein anderer Unterschied. Wo von Verblendung des Interessierten selbst die Rede ist, handelt es sich offensichtlich darum, daß seine Denkprozesse beeinflußt sind, die Ideologie ist ein falsches Denken. Im Fall der Täuschung anderer aber bezieht sich der Ideologiebegriff notwendigerweise auf den zum Ausdruck gebrachten Gedankengang, auf einzelne Aussagen der ganze Aussagengebäude. Der Unterschied mag gering erscheinen, in gewissen Theorien gewinnt er aber entscheidendes Gewicht.

Von nun an können die das Ideologieproblem betreffenden Lehrmeinungen nicht mehr in der zeitlichen Reihenfolge mitgeteilt werden, in der sie auftraten. Verschiedene Linien laufen nebeneinander her. Die chronologische Darstellung würde daher verwirrt wirken und viele Wiederholungen notwendig machen. Es erscheint demnach zweckmäßig, eine gewisse, wenn auch grobe Gruppierung in Richtungen vorzunehmen.

Die sogenannte Gegenaufklärung, die Irrationalisten und diesen nahestehende Verfasser knüpfen an die Interessentheorie der Aufklärung an, ziehen aber entgegengesetzte Konsequenzen. Hier stehen wir zum ersten Mal einer Alternative der Gesichtspunkte gegenüber, die späterhin von größter Wichtigkeit wird (Kapitel VI). Man kann Denkweisen und Aussagen theoretisch, vom Standpunkt ihres Wahrheitsgehaltes aus beurteilen, oder pragmatisch, von einem außertheoretischen Standpunkt. In diesem Fall wird die Wahrheit selbst zum Objekt einer relativen Bewertung (im Vergleich mit anderen Qualitäten einer Aussage).

Gleich der Aufklärung sind auch die Verfasser, deren Bekanntschaft wir nunmehr machen werden, von der Überzeugung durchdrungen, daß es der Erkenntnis möglich ist, die Wirklichkeit getreu und vollständig abzubilden, und daß grundsätzlich jedermann einer solchen Erkenntnis fähig ist. Nur im zweiten Punkt weicht der im Folgenden zuletzt besprochene VILFREDO PARETO von den beiden ersten, NIETZSCHE und SOREL, ab.

Auch diese Autoren gehen also vom Gegensatz zwischen Wahrheit und Ideologie aus. Auch sie finden die Quelle der Ideologie im Triebleben des Menschen. Die Aufklärungsphilosophen aber sind praktische Rationalisten. Da es eine Wahrheitserkenntnis gibt, steht es für sie außer Zweifel, daß sie auch das persönliche und insbesondere soziale Dasein der Menschen leiten sollte. Und als Fortschrittsoptimisten sehen sie das Goldene Zeitalter kommen, in dem die Menschen reine Vernunftwesen sein, d. h. sich von der Knechtschaft ihrer Trieb- und Instinktnatur freigemacht haben werden. - Darin nehmen nun aber die Irrationalisten den entgegengesetzten Standpunkt ein.

Man höre ihren großen Propheten NIETZSCHE:
    "Die Falschheit eines Urteils ist uns noch kein Einwand gegen das Urteil." - " ... die falschen Urteile (sind) die uns unentbehrlichsten." - "Verzichtleisten auf falsche Urteile (wäre) ein Verzichtleisten auf Leben, eine Verneinung des Lebens."
Gelegentlich versteigt er sich in seiner Überspanntheit zum dem Satz: "Wahrheit ist die Art von Irrtum, ohne die der Mensch nicht leben könnte."
Indem NIETZSCHE vom Gegensatz wahr - falsch ausgeht, anerkennt er den üblichen, an Erkenntnisaussagen kritisch angelegten Maßstab. Was "falsch" ist, das ist implizit als Erkenntnis minderwertig. Aber er anerkennt den Maßstab nur innerhalb der Grenzen der Wissenschaft. In zweiter Linie "wertet er alle Werte um" und degradiert im weiteren Rahmen einer Kulturphilosophie die Wahrheit selbst und die Wissenschaft, indem er etwas anderes als wichtiger und wertvoller bezeichnet, nämlich "das Leben". Die Wahrheit einer Aussage interessiert nur den Gelehrten. Der Wert einer Aussage aber wird dadurch entschieden, "wie weit sie lebensfördern, lebenserhaltend, vielleicht gar artzüchtend ist". In dieser Verherrlichung des "Lebens" geht er gelegentlich so weit, daß er nicht nur den Wert der Wahrheit auf die Wissenschaft begrenzt, sondern sogar die Forschung darauf beschränken will, lebensförderliche Erkenntnis zu suchen: "Nur soweit die Geschichte dem Leben dient, wollen wir der Geschichte dienen" (wobei er von Geschichte im Sinne von "Geschichtswissenschaft" spricht). In anderen Zusammenhängen ist er etwas maßvoller und meint, daß allerdings um des "Lebens" willen zum Teil die Anpassung an den wirklichen Sachverhalt nötig und eine objektive Erkenntnis der Wahrheit erforderlich ist. Davon abgesehen sind aber gewisse Jllusionen unentbehrlich. Der Intellekt hat eben einen unabhängigen Eigenwert, sondern ist nur ein Mittel im Daseinskampf, und nur im Dienst des Daseinskampfes ist er zu gebrauchen.

Es ist klar, daß NIETZSCHE außerstande ist, zu begründen, wieso und warum das "Leben" als oberster Wert zu setzen ist. Zudem ist aber "Leben" ein ansich ganz sinn- und inhaltsloses Wort. Es müßte erst auseinandergesetzt werden, was mit Leben gemeint ist. Das können sehr verschiedene Dinge sein. Bei NIETZSCHE wird deutlich, daß er nicht das "Menschenleben", sondern das der "Art" meint und daß für ihn das "Leben der Art" sich in freier Entfaltungsmöglichkeit ihrer höchstgezüchteten Exemplare kristallisiert. Daher seine den Nationalsozialisten so willkommene Verherrlichung des Stärkeren, der "blonden Besite", seine rücksichtslose Machtphilosophie und die brutale Empfehlung der Ausrottung der im Lebenskampf Benachteiligten. - Das alles sind aber einfach Postulate. Warum das Leben der Art und nicht des Einzelnen? Warum das Leben Weniger und nicht das der Vielen? Und woher kommt der Auslese-Maßstab, nach dem bestimmte Vertreter der Art als deren höchste Blüten bewertet werden? Warum gerade "die blonde Bestie?" Warum nicht die schlauesten Schieber und Schwarzhändler? oder die stärksten Boxer? oder die gescheitesten Köpfe? - Auf solche Fragen gibt es keine Antworten.

Zur erkenntnistheoretischen Untersuchung oder psychologischen Erklärung des ideologischen Denkens hat NIETZSCHE nicht das Geringste beigetragen. Vor die Wahl zwischen Wahrheit und "Leben" gestellt, entscheidet er sich für das "Leben" und seine Philosophie ist eine einzige Paraphrase dieses Wahlaktes.

GEORGES SORELs Irrationalismus ist von etwas anderer Art. SOREL ist Aufklärungspessimist, insofern er nicht daran glaubt, die breiten Massen könnten jemals zu einer objektiven Wahrheitseinsicht erzogen werden. Sein Anhänger FRANCIS DELAISI bemerkt in seinem "Widersprüchen in der Welt der Gegenwart" (1925), daß "die Verfahren der Vernunft und der Wissenschaft den Massen unzugänglich sind". SOREL bedauert das nicht einmal. Bei ihm ist nicht von Ideologien die Rede, sondern von Mythen. Er ist der Urheber dieses seither beliebt gewordenen Ausdrucks zur Bezeichnung einer politischen Philosophie der Straße. Diese Mythen sind Ideologien, die sich auf die Gesellschaft beziehen - sonstiges Fehldenken liegt außerhalb der Betrachtungen SORELs. Der Mensch bedarf eines orientierenden Gesamtbildes von der Gesellschaft, in der er lebt und sich bewegt. Sich aber ein objektives, streng wirklichkeitsgemäßes Bild von den gesellschaftlichen Zusammenhängen zu erarbeiten, wäre mühsam, und zudem für die Lebenspraxis unbequem, denn es wäre problematisch. Der Durchschnittsmensch hält sich daher lieber an vereinfachende, einseitige und verzerrte Vulgär-Vorstellungen, eben Mythen. Die Kenntnis der objektiven Wahrheit über die gesellschaftlichen Zusammenhänge würde auf die soziale Tatenlust und Tatkraft lähmend wirken, weil sie auf Schritt und Tritt überparteiliche Bedenken erzeugen würde. Gerade dank seiner bornierten Einseitigkeit, seiner Verzerrungen und Übertreibungen des wahren Sachverhalts enthält der vulgäre Mythos Antriebe zu sozialer Tat ohne zarte Bedenken.

SOREL übersieht nicht, daß soziale Massenbewegungen oft durch Gesellschaftstheorien in Gang gebracht werden. Er sagt aber - mit vollem Recht -, daß diese Theorien zumeist nicht rein wissenschaftlich sind, sondern eine Mischung von sachlicher Erkenntnis und Mythos. Was die Massen für solche Theorien empfänglich macht, ist eben nicht ihr wissenschaftlicher, sondern ihr mythologischer Gehalt. Je weniger Wahrheit und je mehr Mythos, desto besser.
SOREL ist ein eminent politischer Mensch, ein radikaler Aktivist. Er ist Philosoph der "direkten Aktion". Insofern ein Mythos geeignet ist, die proletarischen Massen zu einer direkten Aktion des Generalstreiks zu bewegen, zieht er diesen Mythos der leidenschaftslosen Erkenntnis soziologischer Wahrheit vor. Wie im Fall NIETZSCHEs hat man es auch hier nicht mit einer erklärenden Ideologienlehre zu tun, sondern mit philosophisch-politischen Betrachtungen über die gesellschaftliche Funktion des falschen Denkens.

Eine solche Bewertung begegnet uns auch bei PARETO, der aber doch außerdem Wesentliches zur Erklärung der Ideologie als Erscheinung beiträgt. Der Grundgedanke der Gegenaufklärung wird in PARETOs Naturalismus bis zum bitteren Ende durchgeführt. Es gibt keine Befreiung des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit, es gibt keinen intellektuellen Fortschritt. Die Menschennatur bleibt sich ewig gleich und zur Natur des Menschen gehört der ideologische Hang.

PARETO entwickelt seine Ideologienlehre im Rahmen seiner Soziologie, deren Kernbegriff der des menschlichen Handelns ist. Es gibt logische und nicht-logische Handlungen. Die letzten sind weitaus in der Mehrzahl. Logisch sind diejenigen Handlungen, die einem Handlungsziel, einer Absicht objektiv angemessen sind. Die Begründung, die der Handelnde in solchen Fällen für seine Handlungsweise anführt, stimmen mit seinen Beweggründen (Motiven) überein. Zumeist aber handelt der Mensch alogisch, d. h. er läßt sich von seinen Affekten und Emotionen leiten. Da ihm jedoch der logische Sinn angeboren ist, sucht er auch diese alogisch motivierten Handlungen logisch zu begründen, und zwar sowohl sich selbst als auch anderen gegenüber. Er erfindet eine nachträgliche Rationalisierung seiner Willensentschlüsse.

Der wissenschaftliche Betrachter einer menschlichen Handlung hat also zuerst zu untersuchen, ob sie logisch oder alogisch ist. Dazu ist die Sozialwissenschaft nach PARETO imstande. Ist die Handlung alogisch, so hat man zu unterscheiden zwischen der vom Handelnden vorgegebenen scheinlogischen Begründung und den wirklichen zugrundliegenden affektiven, emotionalen Antrieben. PARETO nennt die Scheinbegründungen Derivate, d. h. Ableitungen. Wenn man sie abhebt, so bleibt das Residuum, der Rückstand, übrig, nämlich die den Handelnden wirklich treibenden Affekte. Diese aber sind - infolge der Unveränderlichkeit der Menschennatur - im Wesentlichen durch alle geschichtliche Zeit hindurch immer die gleichen. Nur die Derivate, die nachträglich erfundenen Rationalisierungen, ändern sich.

Daraus folgt, daß der Ideologiebegriff PARETOs auf diejenigen Aussagen oder Aussagengebäude begrenzt bleibt, die zur Begründung eines Handelns entwickelt werden. Dagegen steht seiner Meinung nach das logisch-experimentell wissenschaftliche Denken über dem Ideologieverdacht. Die ernste Frage, die man gegenüber PARETO aufwerfen muß, lautet aber: wenn die Menschennatur im Grunde durch alle Zeiten unveränderlich triebhaft und affektiv bleibt, wenn es einen intellektuellen Fortschritt im Sinne der Aufklärung nicht gibt - woher kommt dann eine ideologiefreie, logisch-experimentelle Wissenschaft von der Gesellschaft, d. h. vom sozialen Handeln?

Gleich NIETZSCHE und SOREL schreibt auch PARETO den Ideologien weit größere Bedeutung zu als der Wahrheit. Gelegentlich drückt er, der Wissenschaftler, sich sogar in sehr höhnischen, ja hämischen Worten über die Wissenschaft aus. Er ist ein klassischer Vertreter des intellektuellen Defätismus [Überzeugung keine Aussicht auf Erfolg zu haben - wp]. Allen dreien - und ihren Anhängern - ist gemeinsam, daß in ihren Augen nicht etwa die Ideologie ob ihrer Unwahrhit minderwertig ist, sondern umgekehrt: die Wahrheit ist ob ihrer Ohnmacht verächtlich.

Die Triebnatur des Menschen als Ursprungsschicht der Ideologie ist auch das Thema der Psychoanalyse, zumeist aber, ohne daß hieraus pessimistische Folgerungen gezogen werden. Im Gegenteil.

Auf eine völlig andere Gedankenbahn führen uns die Soziologen der von AUGUSTE COMTE begründeten Richtung, d. h. jener Art von Soziologie, die auf den zentralen Platz im gesamten System der Wissenschaften Anspruch erhebt. Die wichtigsten Namen dieser Richtung, was die Ideologienlehre angeht, sind LUDWIG GUMPLOWICZ, EMILE DURKHEIM, HENRI LÉVY-BRUHL, und WILHELM JERUSALEM. Zu ihnen gesellt sich als wenig bedeutsamer Epigone MAX HERMANN BAEGE.

Das, warum es sich hier handelt, tritt in schärfstes Licht durch einen Satz, der GUMPLOWICZ in einem unbedachten Augenblick entschlüpft ist. Es ist, sagt er, ein Irrtum, daß der Mensch denkt, "... was im Menschen denkt, das ist gar nicht er, sondern seine soziale Gemeinschaft". Der Satz bedarf hier keiner ernsthaften Kritik, seine Sinnlosigkeit, wenn man ihn buchstäblich nimmt, liegt auf der Hand. Sogar JERUSALEM muß bei aller Sympathie für GUMPLOWICZ' Lehre zugeben, daß er den Mund reichlich voll genommen und "manches zu stark oder zu grobschlächtig formuliert" hat. Uns kann hier vorläufig nur daran gelegen sein, die Grundauffassung zu kennzeichnen, die in diesem Satz überspitzt zum Ausdruck kommt. GUMPLOWICZ und die anderen Soziologen des 19. Jahrhunderts sind allen Ernstes der Überzeugung, daß "die Gesellschaft" als solche eine Art von Überpersönlichkeit ist, die ein von ihren Gliedern unabhängiges Leben hat. Sie meinen diese Personifizierung nicht etwa nur als sprachliches Bild, sondern als vollgültige Kennzeichnung des wirklichen Sachverhalts. Der Einzelne ist völlig abhängig von der Gesellschaft, in der er lebt. Seine Gedanken und Auffassungen werden unentrinnbar durch seine gesellschaftliche Umwelt bestimmt. Er "kann gar nicht anders denkens als so, wie es sich aus den ... Einflüssen der ... sozialen Umwelt mit Notwendigkeit ergibt". - Kaum nötig zu sagen, daß für diese Behauptung ein Erfahrungsbeweis weder geführt noch auch nur versucht wird - er kann nämlich nicht geführt werden. Wir können ja nicht wissen, wie der Mensch dächte, wenn er außerhalb des Einflußbereichs seiner Gesellschaft stünde.

DURKHEIMs Lehre ist der des GUMPLOWICZ eng verwandt. Sie ist weniger apodiktisch, sie bemüht über die bloße grundsätzliche Behauptung hinaus weit mehr ins Einzelne zu gehen, verstrickt sich aber dabei in Widersprüche. Bald wird von der Gesellschaft behauptet, sie habe nicht nur den logischen Vorrang vor dem Individuum, sondern ist auch tatsächlich in der Zeit vor ihm da (!!). Bald werden aber Sätze ausgesprochen, die stillschweigend voraussetzen, daß der Einzelmensch "vor der Gesellschaft" da ist (Dieser uralte Streit zwischen den Universalisten und Individualisten ist völlig sinnlos, sein Gegenstand ist heute als ein Scheinproblem erkannt. "Die Gesellschaft" existiert nur als eine Daseinsform von Menschen - oder Tieren -, der Mensch andererseits existiert nur in Gesellschaften. Fachlich ausgedrückt: Sozialität ist ein Daseinsmodus des Menschen, ebenso wie und gleichgeordnet mit der Individualität. "Die Gesellschaft" wie auch "das Individuum" sind gar keine in der körperlichen Welt als solche vorfindbaren Realien, sondern beide sind begriffliche Ausdrücke für Abstraktionen.)

Leider setzt der ontologische Widerspruch bei DURKHEIM sich in seiner soziologischen Erkenntnislehre fort. Zunächst wird nämlich dem Einzelmenschen ein intellektuelles Eigenleben zugestanden. Daneben aber hat "die Gesellschaft" ein von den einzelnen unabhängiges intellektuelles Leben, das "zu dem des Einers hinzutritt". Infolge der Übermacht der Gesellschaft über ihre Glieder wird aber das Denken im Einzelnen durch das der Gesellschaft umgemodelt. - In einem anderen Zusammenhang, und in einer späteren Periode seines Schaffens, geht DURKHEIM aber noch viel weiter. Die geistige Tätigkeit des Einzelnen beschränkt sich auf Wahrnehmung und Vorstellung. Zum logischen Denken ist er unfähig. Denn - und nun folgt eine der haarsträubendsten "wissenschaftlichen Beweisführungen", die man sich denken kann: Logisches Denken ist losgelöst von der Person, denn es sist ein Suchen nach zeitlos gültiger Wahrheit. Diese normative Idee der Wahrheit kann nur ein Erzeugnis der "über die Persönlichkeit erhabenen" Gesellschaft sein. Hierauf folgt dann - im gleichen Stil - eine Beweisführung dafür, daß die Kategorien des Denkens, Raum, Zeit, Gattung, Art nur Abbilder sozialer Tatsachen sind. Die "Beweisführung" besteht im Aufweis ziemlich an den Haaren herbeigezogener Analogien, z. B.: "Soziales Leben vollzieht sich in einem gewissen Rhythmus - der Begriff der Zeit ist nur das Abbild dieses Rhythmus." Keine Rede davon, daß auch das Naturgeschehen sich in einem Rhythmus vollzieht (von dem der Rhythmus des sozialen Lebens sogar weitgehend abhängt), daß also der hypothetisch isolierte Einer den Zeitbegriff sehr wohl aus dem Naturrythmus abstrahieren könnte. -

Es hat heute kaum noch einen Sinn, sich mit diesen Ausgeburten einer sozialen Mystik ernsthaft auseinanderzusetzen. Für die dogmengeschichtliche Rückschau ist nur entscheidend, daß sowohl GUMPLOWICZ wie auch DURKHEIM das menschliche Denken als unentrinnbar und ausnahmslos abhängig von der örtlich und zeitlich verschiedenen sozialen Umwelt, als eine Funktion derselben ansehen. Das heißt aber, daß sie die Urheber eines Panideologismus sind : alles Denken ist ideologisch. Denn die Begriffe selbst, in denen die Außenwelt erfaßt wird, haben ihren Ursprung in einer sozialen Daseinsform.

Nicht mit Unrecht hat man diese Verfasser als "Gesellschaftsanbeter" bezeichnet (BOSQUET, TROELTSCH).

Auch JERUSALEM ist Universalist, d. h. er schreibt der Gruppe eine "vom Menschen unabhängige" Existenz zu. Von den beiden vorigen trennt er sich aber in einem sehr wesentlichen Punkt: Objektiven Denkens ist nur "das Individuum" fähig.

JERUSALEM behauptet, daß der Primitive keinerlei Eigenpersönlichkeit hat, sondern "im Zustand völliger sozialer Gebundenheit" dahinlebt und demgemäß nur Kollektivvorstellungen hat. - Hier sei Folgendes eingeschaltet: Die gesamte Vorstellungs- und Begriffswelt des Primitiven scheint weniger artikuliert zu sein als die der zivilisierten Völker. Das bedeutet aber nur, daß "kollektives und individuelles Bewußtsein" nicht deutlich auseinandertreten. Zwischen einer zunehmenden Polarisierung des Kollektiven und Individuellen und dem von JERUSALEM angenommenen späteren Entstehen des Individuums aus dem Kollektivum ist aber ein erheblicher Unterschied. - Die allmähliche Individualisierung des Menschen ist nach JERUSALEM die Folge einer inneren Differenzierung der Gruppe. (Warum nicht umgekehrt?) Erst der "selbständig gewordene Einzelmensch gibt seinem Vorstellen von selbst die Richtung aufs Objektive". Hiermit erfolgt die Wendung zum theoretischen Denken und eine Schärfung des Intellekts.

Da aber die Individualität selbst nur ein Produkt der gesellschaftlichen Entwicklung ist, so ist der Einzelmensch "in seinem ganzen Wesen und Werden soziologisch bedingt" - und hiermit soll "der Glaube an eine zeitlose sich immer gleichbleibende Struktur der menschlichen Vernunft ... als unbegründet erwiesen" sein. - Im Nachweis der sozialen Abhängigkeit der logischen Struktur ist JERUSALEM über Andeutungen nicht hinausgekommen. Sein Tod trat dazwischen.

Gegen die eben angeführte Schlußfolgerung sei hier nur ein einziger Einwand erhoben (viele wären möglich). Niemand wird bestreiten, daß der Einzelmensh in seinem gesmten Sein und Werden gesellschaftlich (nicht: "soziologisch") mitbedingt (nicht: ausschließlich bedingt) ist. Die Tatsache aber, daß logisches Denken nur beim sozial lebenden Menschen vorkommt, und daß im Verlauf der Sozialgeschichte die logischen Werkzeuge geschärft, die logischen Verfahren verfeinert wurden, berechtigt keineswegs zu dem Schluß, daß die Begriffe selbst und die Erkenntnis der in ihnen erfaßten Wirklichkeit "Erzeugnisse" der Gesellschaft und inhaltlich von deren jeweiligem Zustand abhängig sind.

Die ganze Frage, ob "die Logik" sozialgeschichtlich wandelbar ist, oder ob nur die Begriffsmodelle eine Verfeinerung und Korrektur erfahren, ob ferner diese Entwicklung der Begriffsmodelle sozial bedingt oder ein erkenntnis-immanentes Fortschreiten ist - diese Frage ist erst im systematischen Teil des Buches aufzunehmen und wird dort zu einer Auseinandersetzung mit LÉVY-BRUHL, MAX SCHELER und ALEXANDER von SCHELTING führen.
LITERATUR: Theodor Geiger, Ideologie und Wahrheit, Stuttgart/Wien 1953