ra-2E. KaufmannL. ZunzD. KoigenW. HasbachR. Treumann    
 
GEORG JELLINEK
(1851-1911)
Das Recht der Minoritäten

"Dem religiösen Gefühl ist Achtung vor der Mehrheit fremd. Ein Erwählter ist mehr wert als zehntausend Verworfene. Der Wert der Einzelpersönlichkeit ist ein unendlicher geworden. Nur in untergeordneten Dingen könnte da die Mehrheit entscheiden. Steht aber die ganze Ordnung des Gemeinwesens in Frage, dann müßte Einstimmigkeit zur Änderung erforderlich sein."

"Bei Rousseau ist ein Schutz der Minoritäten nicht notwendig, da er es für undenkbar erklärt, daß der Allgemeinwille den Einzelnen absichtlich schaden will."

"Die altrömischen Vorstellungen von der Staatsomnipotenz liegen den Romanen zu sehr im Blut. In ihren Verfassungen haben sie zwar, die Franzosen allen voran, die amerikanischen Sätze von den Rechten der Individuen und den zu Minderheiten vereinten Individuen verkündet, in Wahrheit hat aber dort, und zwar wiederum vornehmlich in Frankreich, die Staatsräson stets die ihr widerstrebenden Minderheiten schonungslos niedergetreten."

"In den Vereinigten Staaten von Amerika wirkt noch immer jener alte religiös-naturrechtliche Gedanke nach, daß die Majorität nur innerhalb enger Grenzen unbegrenzte Verfügungsgewalt haben soll. Das entspricht auch am meisten dem germanischen Individualismus, der in keiner Demokratie so kräftig hervorgetreten ist wie in der amerikanischen."


I.

Das Recht der Minoritäten, namentlich wenn man den Begriff "Recht" nicht in einem streng juristischen Sinn, sondern in einer weiteren politischen Bedeutung nimmt, ist ein Thema von so großer Ausdehnung, daß sofort der Stoff, den ich zu erörtern gedenke, engumgrenzt werden muß. Ihn allseitig zu erschöpfen ist schon deshalb unmöglich, weil heute das gesamte hier zu behandelnde geschichtliche Material auch nicht im entferntesten gesammelt vorliegt. Daß eine Mehrheit dort den Ausschlag gibt, wo es gilt Beschlüsse zu fassen, sie es bei Wahlen, sei es in der Gesetzgebung oder in verwaltenden und richtenden Kollegien, erscheint uns heute so selbstverständlich, daß wir auf eine nähere Begründung verzichten zu müssen glauben. Und dennoch ist der Satz, daß Mehrheit entscheidet, nichts weniger als selbstverständlich. Im Gegenteil, er hat wie alle Rechtssätze seine Geschichte, und zwar eine sehr verwickelte Geschichte. Über seinen Ursprung lassen sich nur Vermutungen aufstellen, die meist dahin gehen, daß er anstelle eines ungeregelten Kampfes trat (1), oder daß im Mehrheitsentscheid ein Gottesurteil erblickt wurde. Die Demokratien des Altertums haben ihn gekannt und in verschiedenartiger Weise durchgebildet, dabei häufig die Rechte von Minoritäten anerkennend. Die mittelalterliche Welt aber hat ihn nur langsam und mit Vorbehalten angenommen. Daß zwei von vornherein mehr wert sein sollten als einer, widersprach dem kraftvollen Individualitätsgefühl, das namentlich die germanischen Völker auszeichnete. Wenn ein kühner Mann im offenen Kampf fünf überwinden konnte, warum sollte er sich im Rat der Mehrheit beugen? Daher finden wir für mittelalterliche Ständeversammlungen oft den Satz, die  pars sanior  [Partei der besseren Einsicht - wp] soll entscheiden, nicht die  pars maior  [Mehrheit - wp] (2), oder die Stimmen sollen gewogen, nicht gezählt werden. Es gab ständische Körperschaften, in denen bis in die neuere Zeit eine geregelte Stimmzählung überhaupt nicht stattfand, so namentlich der ungarische Reichstag (3). Im öffentliche Leben der Germanen wurden ursprünglich Beschlüsse - vor allem Wahlen - einstimmig, meistens durch Akklamation [Zuruf - wp] vorgenommen, die wohl hie und da eine kleine dissentierende Minorität übertönte. (4) Noch heute sind Reste dieser alten Rechtsanschauung deutlich in jenem Recht zu erkennen, das die geschichtliche Kontinuität am reinsten bewahrt hat, im englischen. Noch heute gilt im englischen Gerichtsverfahren der Satz, daß das Verdikt der Geschworenen, ob es verurteilt oder freispricht, einstimmig gefaßt sein muß, und bis vor kurzem wurde die Jury im Land der Freiheit solange eingesperrt, bis sie zu einer Einigung gekommen war. Selbst bei Parlamentswahlen kommt unter Umständen heute noch der altgermanische Gedanke der Einhelligkeit der Wahl zum Ausdruck. Ursprünglich ernannte nämlich die Grafschaftsversammlung die Abgeordneten zum Haus der Gemeinen. Eine die Zahl der zu wählenden Abgeordneten übersteigende Mehrheit von Kandidaten kam da lange Zeit überhaupt nicht vor. Vielmehr wurden die künftigen Abgeordneten von zwei Mitgliedern der Versammlung vorgeschlagen. Erhob sich kein Widerspruch, so galten sie als einstimmig gewählt. So ist es aber noch bis auf den heutigen Tag, trotzdem sich eine gründliche Änderung im Wahlverfahren vollzogen hat. Ein Wähler proponiert [schlägt vor - wp], ein zweiter sekundiert [pflichtet bei - wp], acht Wähler stimmen der Nomination zu, die nicht mehr wie früher mündlich, sondern schriftlich erfolgt. Tritt kein Gegenkandidat auf, so gelten die Vorgeschlagenen,  nemine contradicente  [niemand widerspricht - wp], als einstimmig gewählt. Sind aber mehrere Kandidaten vorhanden, dann erst findet eine "bestrittene Wahl" mit Stimmenabgabe statt (5). Das reine Majoritätsprinzip ist also noch in der Gegenwart bei den englischen Parlamentswahlen nicht anerkannt.

Auf welchem Weg sich das Majoritätsprinzp allmählich Bahn gebrochen hat, das ist im einzelnen noch gar nicht festgestellt. Wahrscheinlich war es zuerst die Kirche, die es unter dem Einfluß romanistischer Vorstellungen einführte (6) und deren Beispiel vom Staat nachgeahmt wurde. Während nämlich die Kirche anfänglich den Papst durch die benachbarten Bischöfe und den Klerus von Rom unter Akklamation des Volkes wählen ließ (7), hat sie, den Prinzipien der römischen Korporationstheorie folgend, später einer Zweidrittelmajorität der Kardinäle das Recht, den Stuhl  Petri  zu besetzen, eingeräumt, hingegen für die Bischofswahlen seit 1215 nur eine einfache Majorität der Domkapitel gefordert. (8) Nach diesem Beispiel, wie erst jüngst nachgewiesen wurde (9), hat die goldene Bulle für die deutsche Königswahl eine einfache Majorität der Kurfürsten verlangt. Im späteren Mittelalter begegnen wir auch in zahlreichen Weistümern [historische Rechtsquellen - wp] dem Satz: Minderheit soll der Mehrheit folgen. Keineswegs aber ist nun etwa in deutschen Landen zu Zeiten des alten Reiches überall das Majoritätsprinzip durchgedrungen. Eine monarchisch-aristokratische Gesellschaft und die aus ihr hervorgehende Gestaltung der Staatsordnung kann es ihrer Natur nach nur innerhalb enger Schranken anerkennen. Daher mußten im Reich der Kaiser und alle drei Kollegien des Reichtstags übereinstimmen, damit ein Reichsbeschluß zustande kam und ähnlich lag die Sache in allen Staaten mit ständischen Institutionen. Wohl suchte hie und da die Theorie die Notwendigkeit einhelliger Beschlüsse zu leugnen, aber mit welchen geistigen Mitteln! So hat es Reichspublizisten gegeben, die, sei es zur Stärkung der kaiserlichen Gewalt, sei es um einen minder schleppenden Geschäftsgang in Reichssachen herbeizuführen, die Behauptung aufstellten, die Gewalt des Reiches sei gleich zwölf Zwölfteln - der Beweis für diesen sonderbaren Satz wird aus einer Stelle bei SUETON geführt -, der Kaiser habe hiervon sechs Zwölftel, jedes Reichskollegium hingegen zwei Zwölftel, so daß der Kaiser mit einem Kollegium den Ausschlag geben kann. (10) Allein diese arithmetische Weisheit hat keine praktische Anerkennung gefunden.

Wenn ich nunmehr meine Aufgabe umgrenze, so schließe ich von ihr alles aus, was sich auf die Stellung der Minoritäten bei Wahlen bezieht, da dieses Thema bereits eingehend untersucht wurde und noch immer an vielen Orten Gegenstand eifriger politischer Diskussion ist. Die Frage nach der Minoritätenvertretung, die zahlreichen Theorien über die Proportionawahlen, die Verwirklichung, welche sie bereits gefunden haben, zu untersuchen, muß ich an dieser Stelle unterlassen, da solches uns viel zu weit wegführen würde von den bisher wenig oder gar nicht erörterten Problemen, die das Recht der Minoritäten berühren. Es genügt darauf hinzuweisen, daß sich eine umfassende Darstellung der politischen Stellung der Minoritäten auch mit jener Frage eingehend zu beschäftigen hätte.

Ferner genügt es, wenn ein zweiter wichtiger Punkt hier kurz berührt wird. Seit den ältesten antiken Verfassungen bis in die Gegenwart wurde und wird Minoritäten durch Bevorrechtung ein wirksamer Schutz und Anteil an der Entscheidungsgewalt erteilt. Die Gliederung der Völker in Klassen, Zenturien, Tribus, Kurien, der Stände in mehrere Kollegien, der Parlamente in zwei Häuser mit verschiedener Zusammensetzung, die Berufung von Abgeordneten durch die Krone und nach Interessengruppen, die Zensuswahlen usw., selbst die Sanktion des Monarchen und das Veto eines Präsidenten haben unter anderem den Zweck, den reinen, auf die Kopfzahl gegründeten Mehrheitsentscheid zu verhindern. Mit der Stellung derartiger verfassungsmäßig bevorrechteter Minoritäten haben wir uns auch nicht weiter zu befassen: es reich für unsere Zwecke aus, das Dasein solcher Institutionen festzustellen.

Auch die zahlreichen Rechte, die dem Individuum und den Minoritäten durch die Organisation der Justiz und der Verwaltung gegeben sind, fallen nicht in den Bereich unserer Untersuchung - könnte doch sonst das ganze Verwaltungs- und Prozeßrecht unter diesem Gesichtspunkt abgehandelt werden. Ja, selbst das gesamte Verfassungsrecht müßte hier eingehend untersucht werden. (11) Die modernen Theorien von der Teilung der Gewalten bezwecken nicht in letzter Linie Schutz der Einzelnen vor der Majoritätsherrschaft, wie dann auch die Forderungen nach Selbstverwaltung und Verwaltungsgerichtsbarkeit in einem nachweisbaren Zusammenhang mit dem Mißtrauen gegen wechselnde Majoritäen und der von ihnen beeinflußten Regierungen stehen.

Das hier zu untersuchende Problem ist einzig und allein das Recht der Minoritäten bei Entscheidungen in gesetzgebenden Kollegien und bei Volksabstimmungen. Die geschäftsordnungsmäßigen Rechte, welche Minoritäten in den Parlamenten genießen, werden auch nur soweit berührt werden, als sie mit jenem Problem in Zusammenhang stehen. Sie haben übrigens alle den wesentlichen Zweck, einer Minorität oder einem Einzelnen die Möglichkeit zu verschaffen, sich geltend zu machen und dadurch die Entscheidung des Kollegiums zu beeinflussen.

Während die früher erwähnten Punkte mehr oder weniger eine eingehende Beachtung gefunden haben, ist diese Frage niemals einer systematischen Betrachtung unterzogen worden. Die Literatur ist bisher in der Regel über gelegentliche Äußerungen nicht hinausgekommen. Dieses interessante Problem, zugleich das wichtigste in diesem ganzen Komplex von Fragen, die das Recht der Minderheit betreffen, wird uns zur Genüge beschäftigen. Ja, wir werden selbst bei einer solchen Beschränkung nur in den größten Zügen zeichnen können.

Dieses Recht der Minoritäten kann einen doppelten Zweck verfolgen: den Schutz objektiver staatlicher Institutionen oder subjektiver Interessen. Aber nur in der Theorie, nicht aber praktisch läßt sich beides auseinanderhalten, da Institutionen und Interessen in Wirklichkeit stets eng miteinander verknüpft sind. So würde z. B. eine Veränderung oder Aufhebung des englischen Oberhauses nicht nur in den Bau des englischen Staates eingreifen, sondern auch die öffentlich-rechtliche und soziale Stellung der  Peers  treffen. Es soll nun im folgenden auf diesen theoretischen Unterschied nicht näher eingegangen werden.

Wir wollen nun zuerst einmal nach rückwärts und dann nach vorwärts blicken. Zunächst wollen wir sehen, inwiefern Minoritäten heute ein entscheidendes Recht gegeben, aus welchem Gedankenkreis es entsprungen ist, wie es sich entwickelt hat. Sodann aber wollen wir uns der Zukunft zuwenden und untersuchen, welche Bedeutung die Frage nach dem Recht der Minoritäten für kommende Zeiten hat.


II.

Wir schreiten zur Beantwortung der ersten Frage: hat der Mehrheitswille, d. h. der Wille der absoluten Mehrheit, überall in gesetzgebenden Versammlungen unbeschränkte Entscheidungsgewalt, und wenn nicht, wie und wo sind ihm Schranken gesetzt?

Um diese Frage zu beantworten, müssen wir zurückgreifen in jene Zeiten, in denen die modernen Anschauungen von Verfassung und Gesetz zuerst auftreten.

Gegen das Ende des 16. Jahrhunderts taucht die ganz neue Vorstellung auf, daß es Gesetze gibt, die mit einer besonderen Heiligkeit umkleidet sind, die höheren Wert haben als die übrigen. Das sind die Grundgesetze,  leges fundamentales.  Das Wort  fundamentalis  ist weder klassisch, noch gehört es dem mittelalterlichen Latein an. Bei DUCANGE ist es nicht zu finden, es ist daher zweifellos eine Neubildung. Wenn auch seit der Renaissance der antike Gegensatz von  politeia  und  nomoi,  von Verfassung und Gesetz, wie ihn ARISTOTELES entwickelt hatte, allgemein bekannt war, so entstammt dennoch die Vorstellung eines Grundgesetzes wesentlich den großen Kämpfen zwischen Königtum und Volkstum, wie sie seit Beginn der neueren Zeit namentlich im Gefolge der Reformation eingetreten waren. Grundgesetze sollen nicht einseitig vom König geändert werden können. Schon im 16. Jahrhundert heißt es bei den Monarchomachen, die  "leges quae dicuntur fundamentales"  (12) seien dem königlichen Willen entrückt. LOYSEAU erklärt zu Anfang des 17. Jahrhunderts, daß die "loix fundamentales de l'Estat" für den König von Frankreich, der ja schon damals ein absoluter Herr war, eine feste Schranke bilden (13) und auch der pedantische Despot JAKOB I. beruft sich auf das Dasein von  fundamental laws,  die er in seinem Sinne deutet (14). Der Osnabrücker Frieden führt den Begriff des Grundgesetzes in das deutsche Staatsrecht ein (15).

Was aber ist ein Grundgesetz? In der gelehrten Literatur vermag es niemand zu sagen. Im  Leviathan  erwähnt HOBBES den Unterschied zwischen einem Grund- und anderen Gesetzen, fügt aber hinzu, er habe bei keinem Autor eine Definition des Grundgesetzes gefunden. (16) Hierauf sucht er selbst dem Wort einen festen Sinn zu geben: ein Grundgesetz soll ein solches sein, dessen Aufhebung den Staatskörper zerstören und völlige Anarchie hervorrufen würde. Das Grundgesetz ist daher nichts anderes als der Grundvertrag, auf den HOBBES das ganze Gebäude seiner Staatslehre gründet, sowie die nächsten Konsequenzen, die er aus diesem Vertrag zieht.

HOBBES hatte nicht geahnt, welch große Bedeutung damals schon dieser neue Begriff des Grundgesetzes außerhalb der zünftigen Gelehrtenwelt gewonnen hatte, daß seine Lösung des Problems nichts weniger als neu war. Der Zusammenhang zwischen Grundgesetz und Gesellschaftsvertrag hat in der gewaltigen Volksbewegung, die England seit dem Beginn des 17. Jahrhunderts durchwühlte, deren Folgen für die ganze Entwicklung des modernen Staates erst heute in ihrem vollen Umfang erkannt werden, eine große und folgenschwere Rolle gespielt.

Die Puritaner nämlich und Independenten, also die Träger der revolutionären Bewegung in England und Schottland, stehen unter der Herrschaft der von ihnen aus den Prinzipien der reformierten Kirche gefolgerten Anschauung, daß alle Gewalt, kirchliche wie weltliche, in die Hand der Gemeinde gelegt ist. (17) Deshalb bedarf es zur Gründung einer Kirchengemeinschaft eines Vertrages der künftigen Gemeindemitglieder, und in der Tat organisieren sich die Anhänger dieser Lehre dadurch, daß sie  "covenants",  Verträge abschließen (18), weshalb die ganze Partei den Namen der  Covenanter  bekam. Aber nicht nur die Kirchen-, auch die Staatsgemeinde ist nach ihrer Anschauung Produkt eines Vertrages. Daher verlangen die Offiziere CROMWELLs unter dem Einfluß der  Leveller  und namentlich deren Führers JOHN LILBURNE, daß eine von ihnen ausgearbeitete und beschlossene Verfassung gleichsam als Grundvertrag Englands vom Parlament allen Engländern zur Unterschrift vorgelegt werden soll. In diesem Instrument, dem  agreement of the people  (Volksvertrag), wird erklärt, daß es die fundamentalen Rechte und Freiheiten des Volkes enthält. Diese Fundamentalrechte werden aber ausdrücklich den Majoritätsbeschlüssen des Parlaments entzogen. Jedes Gesetz, das in dieser Richtung von der Mehrheit einer Minderheit aufgezwungen werden soll, sei null und nichtig. Über diese Grundgesetze kann das Parlament überhaupt nicht befinden, sondern nur das Volk, dessen Willen das Parlament selbst seinen Auftrag und seine ganze Existenz verdankt. Über die Formen jedoch, in denen die Änderung der verfassungsmäßigen Grundsätze durch das Volk vor sich gehen soll, ist in diesem merkwürdigen Dokument, dessen ursprüngliche Gestalt erst vor einigen Jahren wieder ans Licht gezogen wurde (19), nichts gesagt. Doch hätten ihren Prinzipien gemäß diese frommen Männer eine Einstimmigkeit des gesamten Volkes zur Verfassungsänderung verlangen müssen. Dem religiösen Gefühl ist Achtung vor der Mehrheit fremd. Ein Erwählter ist mehr wert als zehntausend Verworfene. Der Wert der Einzelpersönlichkeit ist ein unendlicher geworden. Nur in untergeordneten Dingen könnte da die Mehrheit entscheiden. Steht aber die ganze Ordnung des Gemeinwesens in Frage, dann müßte Einstimmigkeit zur Änderung erforderlich sein.

Diese revolutionäre Bewegung geht aber in England vorüber. Das alte Parlament kehrt mit dem Königtum zurück und überdauert dieses Königtum, es wird durch die glorreiche Revolution von 1688 die unbestritten herrschende Macht in England. In diesem Parlament hatte jedoch schon seit langem in jedem der beiden Häuser die einfache Mehrheit entschieden, und so ist es bis auf den heutigen Tag der Fall. Das englische Recht weiß von keiner Angelegenheit, welche zur Beschlußfassung eine qualifizierte Mehrheit erfordern würde. Diese realen Verhältnisse wirken nun auch auf die politische Literatur ein, die selbst da, wo sie reformieren will, viel öfter, als man zu glauben geneigt ist, nur die gegebenen Verhältnisse widerspiegelt. In seinem berühmten Buch über die Regierung untersucht LOCKE die Lehre vom Sozialvertrag, die nun in England von allen Seiten anerkannt wurde, zumal die Revolution und die Reaktion, JOHN LILBURNE und THOMAS HOBBES, ihr gehuldigt hatten. Ein Vertrag, und zwar ein Vereinigungsvertrag ist es, durch den der Staat gegründet wird. Einstimmig muß dieser ursprüngliche Vertrag geschlossen werden, stillschweigend tritt ihm jeder bei, der in die entsprechenden Jahre kommt. Aber dieser Vertrag hat kraft Naturrechts eine wichtige Klausel: Im Staat soll künftig der Mehrheitswille widerstandslos gelten. (20) Schranken sind diesem Mehrheitswillen nur durch die Zwecke der Vereinigung gesetzt: Bewahrung des Eigentums des Einzelnen, in welchem auch Leben und Freiheit enthalten sind. In einem solchen Fall ist dem Volk ein Widerstandsrecht selbst gegen den Gesetzgeber gegeben, dem es die übertragene Gewalt entziehen kann. Aber LOCKE unterläßt es anzugeben, durch welche legalen Mittel die durch ungerechte Gesetze verletzten Einzelnen oder Minoritäten instand gesetzt werden sollen, sich wehren zu können.

Auch auf dem Kontinent hatte man in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts begonnen, das Recht der Minoritäten gegenüber den Grundgesetzen zu untersuchen. Zuerst hat PUFENDORF darüber eine bestimmte Ansicht geäußert. Das den Staat konstituierende  pactum unionis  muß einstimmig abgeschlossen werden. Das aufgrund dieses  pactum  erlassene Dekret über die  forma regiminis  hingegen wird mit Mehrheit beschlossen. Nur diejenigen, die den Vereinigungsvertrag bedingt eingegangen sind, brauchen sich ihm nicht zu fügen, bleiben aber dafür außerhalb des sich bildenden Staates. (21) Noch eingehender hat sich die Literatur des 18. Jahrhunderts mit dieser Frage beschäftigt. Am energischsten hat CHRISTIAN WOLFF betont, daß die gesetzgebende Gewalt an den Grundgesetzen eine unüberwindbare Schranke hat, nur Herrscher und Volksgesamtheit können sie gemeinsam ändern (22). Von den Schülern WOLFFs hat namentlich EMER de VATTEL das Problem eingehend erörtert. Er schreibt dem Volk zwar volle Freiheit zu, die Verfassung nach Belieben durch Mehrheitsbeschlüsse zu ändern, entzieht aber dieser Mehrheit das Recht, sie der Minderheit aufzudrängen. Fügt sich die Minderheit nicht, so kann sie unbelästigt den Staat verlassen und anderswo ein neues Gemeinwesen gründen. (23) Am wichtigsten sind aber die Ausführungen ROUSSEAUs. Er kehrt zu dem Satz LOCKEs zurück, daß aufgrund des ursprünglichen, einstimmig abgeschlossenen Vertrages die Mehrheit die Minderheit verpflichtet, fühlt aber den tiefen Widerspruch dieser Behauptung mit dem von ihm so energisch verteidigten Satz, daß jeder im Staat frei und daher nur seinem eigenen Willen unterworfen sein darf. Er löst ihn durch die sophistische Ausführung, daß der bei einer Volksabstimmung in der Minderheit Gebliebene sich über den Inhalt der  volonté générale  [allgemeiner Wille - wp], die ja auch die Essenz seines Willens bildet, getäuscht hat. Der Mehrheitswille enthält stets den wahren Allgemeinwillen, an dessen Bildung auch der Dissentierende durch Stimmgebung teilnimmt. (24) Doch fühlt er das Bedenkliche dieser Deduktion selbst, indem er empfiehlt, die Stärke der zum Beschluß notwendigen Majorität nach der Wichtigkeit und Dringlichkeit des Gegenstande festzusetzen. (25) Niemals aber ist ein Schutz der Minoritäten notwendig, da ROUSSEAU es für undenkbar erklärt, daß der Allgemeinwille den Einzelnen absichtlich schaden will. (26)

Alle diese Untersuchungen sind aber vorläufig rein akademischer Natur. Wo waren die Verfassungen, wo die Grundgesetze, die durch den Mehrheitswillen oder den Willen aller hätten geändert werden können? In der Wirklichkeit war damals auf dem Kontinent davon nur wenig zu finden. Zu praktischer Bedeutung gelangt diese ganze Lehre fern von der Stätte, die sie erzeugt hatte, jenseits des Ozeans, in Amerika.

Da müssen wir aber etwas zurückgreifen. Jene englischen revolutionären Lehren vom einstimmigen Gesellschaftsvertrag als Grund des Staates hatten eine merkwürdige Verkörperung gefunden in den amerikanischen Kolonien Britanniens. Wenn dorthin Ansiedler aus dem Mutterland zogen, so hielten sie es für selbstverständlich, feierliche Pflanzungsverträge abzuschließen, die sie alle Mann für Mann für sich, ihre Weiber und Kinder unterzeichneten. Das bekannteste dieser Dokumente ist der Vertrag, den die "Pilgrimväter" am 11. November 1620 an Bord des Schiffes "Mayflower" abgeschlossen hatten. Das bedeutsamste aber sind die  Fundamental Orders of Connecticut  vom 14. Januar 1638, in denen eine detaillierte Staatsverfassung aufgestellt wurde. Alle diese Verträge gelten als dem Willen der Mehrheit entnommen. Ganz wie die Leveller in der Heimat dachten diese englischen Ansiedler: was alle beschlossen haben, kann auch nur von allen geändert werden. Nun erhielten aber diese Kolonien im Laufe der Zeit, sei es von den englischen Königen, sei es von ihren Eigentümern, wie z. B. Pennsylvanien von WILLIAM PENN,  Charters,  verbriefte Rechte, die Vorläufer der modernen Verfassungsurkunden. Auf diese Kolonialcharten, die häufig nichts anderes als eine Bestätigung der durch eigene Beschlüsse der Kolonie festgesetzten Organisation und der den Staatsgenossen gewährten Rechte enthielten, überträgt sich unvermerkt die Vorstellung des Grundvertrags oder Grundgesetzes, das dem Majoritätswillen entrückt sein soll.

Diese Vorstellung wird von der größten praktischen Bedeutung seit 1776. Die vom britischen Mutterland sich losreißenden amerikanischen Kolonien geben sich kraft der nun erlangten Machtvollkommenheit in diesem und den folgenden Jahren Verfassungen - die ersten Verfassungsurkunden im modernen Sinn. Alle diese Verfassungsurkunden werden als unmittelbare Ausflüsse des Willens des vereinigten Volkes betrachtet: sie sind gleichsam der geschriebene Grundvertrag, auf dem nach amerikanischer Anschauung bis auf den heutigen Tag der Staat ruht. Bald erhebt sich aber die Frage: Können diese Verfassungen geändert werden, und wenn es geschehen kann, in welchen Formen? Die alte, auf kirchlichen und naturrechtlichen Anschauungen beruhende Lehre von der Einstimmigkeit als Erfordernis der Verfassungsänderung kann selbstverständlich nicht aufrechterhalten werden, einem allem Doktrinarismus so abholden Volk wie den Amerikanern lag nichts ferner als das polnische  liberum veto  seinen Institutionen einzufügen. Aber komplizierte und kräftige Hinderungsmittel der Verfassungsänderung werden beschlossen, so daß es nirgends schwerer ist, eine solche ins Werk zu setzen, als in den Vereinigten Staaten. Die amerikanischen Verfassungen sind rigide Verfassungen im Gegensatz zu den biegsamen, die Europa in nicht geringer Zahl kennt. Die nunmehr geschaffenen Formen für die Verfassungsänderungen verfolgen verschiedene Zwecke. Einmal sollen häufige Änderungen hintangehalten werden, daher finden wir Verbote, sie innerhalb einer bestimmten Zeit vorzunehmen, sodann soll das Volk selbst darüber in letzter Instanz entscheiden können, daher eingehende Bestimmungen über Art der Volksentscheidungen. Ein großer Teil dieser Formen bezweckt aber einen Schutz der parlamentarischen Minorität, der ein Recht des Widerspruchs gegen die geplante Änderung gegeben ist. Selbst für die ein Amendment [Zusatz - wp] zur Verfassung der Einzelstaaten sanktionierende Volksabstimmung ist nicht immer eine einfache Majorität genügend. In jenem Rhode Island, das sich im 17. Jahrhundert als eine der ersten Kolonien aufgrund von Pflanzungsverträgen konstituiert hatte, kann bis auf den heutigen Tag nur durch eine Dreifünftel-Majorität des abstimmenden Volkes die Verfassung geändert werden, so daß einer allerdings bedeutenden Minorität das Recht des Widerspruchs gegeben ist. (27) In der Regel ist aber in den Legislaturen, die überall zunächst über die Verfassungsänderung zu befinden haben, eine größere als die einfache Mehrheit zu einem gültigen Beschluß notwendig, und zwar sind hier die mannigfachsten Kombinationen vorhanden: Dreifünfte- oder Zweidrittel-Majorität in jedem Haus, Zweidrittel-Majorität in einem Haus, in den anderen einfache Majorität, Abstimmung in zwei aufeinanderfolgenden Legislaturen mit einfacher Mehrheit in der einen und Zweidrittel-Mehrheit in der nächsten oder sogar (in Delaware) mit Zweidrittel-Mehrheit in der einen und Dreiviertel-Mehrheit in der anderen usw. Wo solche Bestimmungen fehlen ist aber häufig eine einfache Majorität in einer zweiten Legislatur vorgeschrieben, um zu erkunden, ob die ursprüngliche Mehrheit noch fortbesteht. (28)

Dieses System des Minoritätenschutzes ist aber auch durchgeführt worden in der Verfassung der amerikanischen Union selbst. Zwei Drittel beider Häuser des Kongresses müssen die Verfassungsänderung beschließen und drei Viertel der Staatenlegislaturen müssen sie ratifizieren, so daß sowohl die Minderheit in jedem Haus des Kongresses wie auch eine noch geringer bemessene Minderheit von Staaten das Recht besitzt, das Zustandekommen eines Amendments zu verhindern. Diese Minoritätenrechte sind nun in der Tat so weitgehend, daß in diesem Jahrhundert nur vier Zusätze zur Verfassung angenommen worden sind und seit mehr als dreissig Jahren keiner der zahlreichen auf eine Verfassungsänderung zielenden Vorschläge durchgedrungen ist. Kraft dieses Rechts der Minoritäten ist die Unionsverfassung die rigideste, die es überhaupt gibt, daß manches, was nicht formell beschlossen wurde, durch die Mächte des Lebens auf dem Weg gewohnheitsmäßiger Übung sich Bahn bricht, so daß aus der Unveränderlichkeit des Buchstabens der Verfassung nicht auf die Starrheit der Verfassung selbst geschlossen werden darf. (29)

Der amerikanische Gedanke des Minoritätenschutzes vereinigt sich nun bald auch in Europa mit der naturrechtlichen Vorstellung vom Wesen der Verfassung, um die Forderung nach einem Recht der Minoritäten zu erwecken, Verfassungsänderungen durch ihren Einspruch hemmen zu können. Diesen höchst interessanten Prozeß im einzelnen zu verfolgen, würde uns hier zu weit führen. Nicht alle, aber doch viele Verfassungen haben diese Idee akzeptiert und in der verschiedenartigsten Weise ausgeführt. Unberührt sind von ihr geblieben die Staaten mit alten Verfassungen, also England (30) und Ungarn, ferner zum Teil jene Verfassungen, die unter dem Einfluß der französischen Theorie vom  pouvoir constituant  [konstituierte Macht - wp] entstanden sind; manche von ihnen lassen nämlich besondere Revisionskammern wählen, die gleichsam ein Spezialmandat des Volkes besitzen. Bezeichnend ist es auch, daß heute die romanischen Staaten entweder wie Italien (31) und Spanien gar keine, oder wie Portugal und Frankreich nur solche Formen kennen, die keinen oder doch nur einen geringfügigen Schutz der Minderheit in sich schließen. Was namentlich Frankreich anbelangt, so hat es nur in den ephemeren Konstitutionen der Revolutionszeit und der zweiten Republik den amerikanischen nachgebildete Erschwerungen der Verfassungsänderung gekannt. Die Charte von 1814 hingegen und die revidierte Charte von 1830 schweigen gänzlich über diesen Punkt. Die Scheinverfassungen der beiden Kaiserreiche kommen kaum in Betracht. Heute aber wird eine Verfassungsänderung zunächst mit einfacher Mehrheit in jeder Kammer beschlossen und sodann an die zur Nationalversammlung vereinigten beiden Kammern gebracht, wo dann ebenfalls eine einfache Majorität, hier aber allerdings sämtlicher Kammermitglieder entscheidet. Ist also die Majorität vollzählig auf dem Platz, so aknn sie jeden Widerstand, auch den der bedeutendsten Minderheit, brechen. Gewiß hat zu diesen Bestimmungen die Erfahrung der Franzosen beigetragen, wie nutzlos alle weitgehenden Schutzmittel der Stabilität der Verfassung waren. Aber andererseits ist die Achtung der Minderheiten niemals ernstlich die Sache des romanische, vor allem des französischen Volkstums gewesen. Die altrömischen Vorstellungen von der Staatsomnipotenz liegen den Romanen zu sehr im Blut. In ihren Verfassungen haben sie zwar, die Franzosen allen voran, die amerikanischen Sätze von den Rechten der Individuen und den zu Minderheiten vereinten Individuen verkündet, in Wahrheit hat aber dort, und zwar wiederum vornehmlich in Frankreich, die Staatsräson stets die ihr widerstrebenden Minderheiten schonungslos niedergetreten.

In den meisten anderen Verfassungen aber der Gegenwart hat die Idee des Minoritätenschutzes einen mehr oder weniger kräftigen Ausdruck gefunden. So in den Niederlanden, in Belgien, Norwegen, den Staaten der Balkanhalbinsel, dann in der Schweiz, wo nicht nur die Mehrzahl der Schweizer Bürger, sondern auch die vielleicht eine Minderheit der Bevölkerung repräsentierende Mehrheit der Kantone zustimmen muß. (32) So in Österreich, sowohl im Reich, als in den Ländern. So im Deutschen Reich, in dessen Bundesrat vierzehn Stimmen ein Veto gegen jede Verfassungsänderung haben, so in den meisten Staaten des Reiches, unter denen aber gerade Preußen eine Ausnahme macht, da dort einfach eine wiederholte Abstimmung in beiden Kammern zur Verfassungsänderung genügt.

Hier erhebt sich eine zweite Frage: was ist denn eigentlich der Inhalt einer Verfassung, was gehört in das Grundgesetz, das Minoritätenschutz verheißt, was nicht? Wenn HOBBES heute lebte, er fände noch immer in der Literatur keine befriedigende Antwort auf diese Frage. In den verschiedenen Staaten sind neben den Grundzügen der Organisation und der Kompetenz des Staates die verschiedenartigsten Bestimmungen in die Verfassung aufgenommen worden, die anderswo sogar zu den untergeordnetsten Bestandteilen einfacher Gesetze zählen würden. Treffende Beispiele hierfür bietet die Verfassung des Deutschen Reiches in der Aufzählung der vermittelnden Funktionen, die sie dem Reich auf dem Gebiet des Eisenbahnwesens zuweist (33). Je kleiner der Staat, desto länger pflegt seine Verfassung zu sein. So sind z. B. die Verfassungen von Oldenburg und Braunschweig mehr als doppelt so umfangreich wie die von Preußen. Welche Prinzipienlosigkeit in der Abgrenzung der Verfassungs- von der einfachen Gesetzgebung herrscht, dafür bietet Österreich ein schlagendes Beispiel, indem dort die Reichsratwahlordnung ein einfaches, die Landtagswahlordnung hingegen Verfassungsgesetzt ist. Was ein Volk alles seiner Verfassung zuweisen kann, das hat vor einigen Jahren die Schweiz im Zusatzartikel 25b der Bundesverfassung gezeigt, der das Schächtverbot enthält (34). Der Begriff der modernen Verfassung ist daher in den Staaten mit besonderen Verfassungsurkunden oder Staatsgrundgesetzen ein rein formeller geworden, demzufolge ein Verfassungsgesetz dasjenige ist, welches ausdrücklich als solches bezeichnet wurde.

Aber gerade jene Unmöglichkeit, das Gebiet der Verfassungsgesetzgebung anders als durch rein äußerliche Merkmale von dem der einfachen Gesetzgebung zu sondern, hat in neuester Zeit, und zwar wiederum in Amerika, zu einer höchst merkwürdigen und bedeutsamen Erscheinung geführt. Wenn man nämlich die heutigen Verfassungsurkunden der Einzelstaaten mit den ursprünglichen vergleicht, so ergibt sich, daß sie dem Umfang nach ein geradezu ernormes Wachstum aufweisen. In der Folio-Ausgabe sämtlicher nordamerikanischer Verfassungen, die 1877 vom Senat der Vereinigten Staaten veranstaltet wurde, zählt z. B. die Verfassung Virginias aus dem Jahr 1776 vier, die aus dem Jahr 1870 hingegn 21 Seiten, die erste Verfassung von Texas (1845) sechzehn, die Verfassung von 1876 dagegen 32 Seiten usw. Woher kommt das? Weil immer mehr und mehr Gegenstänäde der einfachen Gesetzgebung entzogen und der Verfassungsgesetzgebung zugewiesen werden. So finden wir in den neueren Verfassungen Sätze, die Lotterien oder den Verkauf geistiger Getränke verbieten, Grundzüge für den Strafvollzug entwerfen, einen Normalarbeitstag festsetzen, das Gehalt der Beamten regeln, genaue Vorschriften für alle Arten von Schulen geben, die Bedingungen für die Verleihung von Korporationsrechten an Eisenbahen normieren und noch anderes, das im kontinentalen Europa nicht einmal Sache der einfachen Gesetzgebung, sondern der Regierung ist. (35)

Diese merkwürdige Erscheinung hat eine ganze Reihe von Ursachen. Einmal ist es die Rücksicht auf die Stellung des Richters, der in den Vereinigten Staaten, sowohl in der Union als auch im Einzelstaat, das Recht hat, verfassungswidrige Gesetze für nichtig zu erklären und von diesem Recht den ausgiebigsten Gebrauch macht. Will man ein Gesetz vor den Angriffen des Richters ganz sicher stellen, so muß man es eben in die Verfassung selbst aufnehmen. (36) Sodann das Streben des Volkes, die letzte Entscheidung über praktisch wichtige Dinge selbst in die Hand zu bekommen, verbunden mit dem heute überall verbreiteten Mißtrauen gegen die Parlamente. Dieses Mißtrauen treibt gerade in Amerika zu höchst merkwürdigen Maßregeln. (37) In den meisten Staaten ist nicht nur, um die rasche Gesetzesfabrikation zu verhindern, die früher eine jährliche Einberung der Legislatur abgeschafft und eine zweijährige Sessionsperiode eingeführt worden, es ist sogar ein Maximum von Sitzungstagen für jede Sessionsperiode vorgeschrieben, damit nicht zu viele Gesetze gemacht werden und damit nicht die Aussicht auf einen längeren Diätenbezug die Volksvertreter zur Ausdehnung der Session veranlaßt (38). Allein ein wichtiges Motiv der Hypertrophie [Übermaß - wp] der Verfassungsgesetzgebung ist zweifellos auch die Rücksicht auf die parlamentarischen Minderheiten gewesen. Durch Aufnahme einer Bestimmung in die Verfassung ist in der größeren Zahl der Staaten der parlamentarischen Minorität eine bedeutsame Waffe in die Hand gegeben, um einer rücksichtslosen Ausbeutung der Gesetzgebung durch die Mehrheit wirksame Schranken zu bereiten. Noch immer wirkt hier jener alte religiös-naturrechtliche Gedanke nach, daß die Majorität nur innerhalb enger Grenzen unbegrenzte Verfügungsgewalt haben soll. Das entspricht auch am meisten dem germanischen Individualismus, der in keiner Demokratie so kräftig hervorgetreten ist wie in der amerikanischen. Soweit dies in der Demokratie überhaupt möglich ist, haben die Amerikaner dem reinen Majoritätsprinzip entgegengearbeitet. Sie haben nicht nur in der Union, sondern auch in allen Staaten das Zweikammersystem durchgeführt, und überall ist für die obere Kammer, den Senat, die Wählbarkeit namentlich durch höheres Alter und längere Ansässigkeit eingeschränkt, so daß die Gewählten gegenüber den der unteren Kammer einer Minderheit angehören. Ferner steht in der Union dem Präsidenten, in den meisten Staaten dem Gouverneur, als einem Einzelnen, ein sehr wirksames suspensives Veto gegen die Beschlüsse der Legislaturen zu (39). Es sind nämlich in der Union und 28 Einzelstaaten (40) Zweidrittel-Majoritäten in jedem Haus nötig, um ein mit einem Veto belegtes Gesetz von neuem passieren zu lassen. In einigen Staaten besteht sogar die Bestimmung, daß ein einfaches Gesetz nur durch die Mehrheit aller erwählten Mitglieder beschlossen werden kann (41), wodurch unter anderem auch der Minderheit ein Schutz gegen leichtfertige Ausbeutung der Macht der Majorität gewährt wird. Alle diese Mittel gegen eine widerstandslose Herrschaft der Mehrheit bezeichnen den Selbstschutz, den die transatlantische Demokratie aufgrund der Prinzipien gefunden hat, aus denen sie hervorgewachsen ist. Ja, dieser Schutz geht noch viel weiter als hier im einzelnen gezeigt werden kann, da in den Städten in der Regel ähnliche Einrichtungen - Zweikammersystem, Veto des Bürgermeisters, das nur durch einen neuen Beschluß mit Zweidrittel-Majorität aufgehoben werden kann - getroffen sind, um auch die Lokalverwaltung vor der Majorität schlechthin sicherzustellen. Es mag allerdings dahingestellt bleiben, ob all diese Mittel stets den ihnen innewohnenden Zweck erreichen, und ob die Demokratie in Amerika auch in späterer Zukunft stets die Einsicht besitzen wird, die Schranken, die sie dem Majoritätsprinzip gezogen hat, unangetastet zu lassen. Denn alle Demokratie hat die niemals ganz auszuschließende Tendenz, die einfache Mehrheit zum allein entscheidenden Faktor zu erheben.

Aus der Betrachtung der gegebenen Zustände hat sich das Resultat ergeben, daß aufgrund einer eigentümlichen Entwicklung bei wichtigen Beschlüssen, die einer besonderen Form der Gesetzgebung, nämlich der verfassungsändernden zugewiesen sind, in sehr vielen Staaten eine größere als die einfache Majorität gefordert wird, wodurch einer mehr oder weniger starken Minorität die Macht gegeben ist, die geplante Änderung zu hemmen. Eine befriedigende allgemeine Antwort konnte aber nicht gegeben werden. Wie alles auf dem Gebiet parlamentarischen Wesens tragen auch die Versuche, einer Minderheit Rechte zu gewähren, den Charakter des Zufälligen, Unsicheren, Tastenden an sich. Ein festes Prinzip konnte aus zwei Gründen nicht gefunden werden. Einmal weil sich der Begriff der Verfassung als ein schwer zu umgrenzender dargestellt hat. Sodann aber, weil der Umfang der einspruchsberechtigten Minorität nur nach einem ganz äußerlichen Moment einer Quote der Gesamtheit der Stimmberechtigten oder einer fixen Zahl berechnet wird, so daß die konkrete Festsetzung meist etwas Willkürliches hat.

Von der Frage  de lege lata  [nach geltendem Recht - wp] wollen wir uns nun zur  de lege ferenda  [nach künftigem Recht - wp] wenden. Zunächst haben wir da eine andere Frage zu erörtern. Ist hierin nämlich alles der Empirie zu überlassen oder gibt es dennoch auch für dieses Gebiet feste Prinzipien, die sich dem Kundigen enthüllen.
LITERATUR Georg Jellinek, Das Recht der Minoritäten, Wien 1898
    Anmerkungen
    1) vgl. die interessanten Bemerkungen von BERNATZIK, "Das System der Proportionswahl" in Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft, Bd. 17, Seite 417.
    2) Ausgebildet durch die kanonistische Korporationslehre. Vgl. die eingehende Darstellung von GIERKE, Genossenschaftsrecht, Bd. 3, Seite 324f.
    3) VIROSZIL, Das Staatsrecht des Königreich Ungarn, Bd. 3, Seite 50f.
    4) Auch später, als das Mehrheitsprinzip zur Geltung kam, wurde noch immer am Erfordernis der Einstimmigkeit insofern festgehalten, als der Minderheit die Pflicht auferlegt wurde, dem Mehrheitsbeschluß zuzustimmen.
    5) ANSON, Law and Custom of the Constituion, Vol. I, Seite 121f
    6) Auf dem Weg der Fiktion, daß der Mehrheitswille identisch ist mit dem Gesamtwillen. Vgl. GIERKE, a. a. O., Seite 153, 291f, 323, 470f.
    7) Bei zwiespältigen Wahlen galt schon früh nach römischem Vorbild das Mehrheitsprinzip. Vgl. den Beschluß der römischen Synode von 499 bei HINSCHIUS, "Das Kirchenrecht der Katholiken und Protestanten, Bd. 1, Seite 218 und 8.
    8) Auch hier galt aber ursprünglich der Satz, daß die Majorität nur dann entscheiden soll, wenn sie der  sanior pars  ist.
    9) BRESSLAU, Zur Geschichte der deutschen Königswahlen, Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Jahrgang 1897/98, Seite 122f. Bis zum Kurverein zu Rense wurde am Prinzip der Einhelligkeit der Wahl festgehalten; SCHRÖDER, Lehrbuch der deutschen Rechtsgeschichte, Seite 459 und 464.
    10) REININGK, De regimine seculari et ecclesiastica, 1622, Seite 319. Vgl. auch PÜTTER, Beiträge zum deutschen Staats- und Fürstenrecht, Bd. 1, Seite 91f.
    11) Der Zusammenhang einer ganzen Reihe verfassungsmäßiger Institutionen mit dem Recht der Minoritäten wurde bereits energisch betont von GUIZOT, Histoire des origines du governement répresentatif en Europe, Bd. 1, Seite 112.
    12) TREUMANN, Die Monarchomachen (in JELLINEK-MEYER, Staats- und völkerrechtliche Abhandlungen I) Seite 77, Nr. 5
    13) Traité des Seigneuries, 1608, Seite 26
    14) PROTHERO, Select Statutes and other Constitutional Documents illustr. of the reign Elizabeth and James, Vol. I, Oxford 1894, Seite 400.
    15) J. P. O. VIII, 4: De caetero omnes laudabiles consuetudines et Sacri Romani Imperii constitutiones et leges fundamentales, imposterum religiose serventur.
    16) "Ich konnte bei keinem anderen Autor finden, was ein Grundgesetz ausmacht." - The English Works of Thomas Hobbes, London 1839, Vol. III, Seite 275. In der lateinischen Ausgabe fehlt diese Stelle.
    17) JELLINEK, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, Seite 31f
    18) BORGEAUD, Établissement et revision des constitutions, Paris 1893, Seite 8
    19) Der erste Entwurf, abgedruckt bei GARDINER, History of the great civil war, Vol. III, London 1891, Seite 608f. Der definitive Text bei GARDINER, The Constitutional Documents of the Puritan Revolution, Oxford 1889, Seite 270f. In ihm ist von einem verfassungsändernden Recht des Volkes nicht mehr die Rede, dafür sind im achten Absatz (Seite 279/80) sechs Punkte aufgezählt, welche parlamentarischen Majoritätsbeschlüssen entnommen sein sollen.
    20) JOHN LOCKE, Two treatises of government, Buch II, Kap. VIII, Seite 96-99. Schon HOBBES hatte erklärt, daß im einstimmig abzuschließenden Sozialvertrag die Bestimmung enthalten ist, sich dem von der Mehrheit bezeichneten Herrscher zu unterwerfen. Ist der Herrscher ein  concilium,  dann gilt dessen Mehrheitswille. (De cive, V, 8, Leviathan, Kap. XVIII, a. a. O., Seite 159). Vor HOBBES hatte HUGO GROTIUS, De iure belli ac pacis, II, V, 17 aufgrund antiker Lehren behauptet, daß "naturaliter pars maior ius habet integri" [Die Natur gibt der Mehrheit das Recht - wp].
    21) De iure naturae et gentium, VII, 2, § 8.
    22) Jus naturae methodo scientifica per tractatum VIII, § 815: Potestati legislatoriae non subsunt leges fundamentales.
    23) Le droit des gens, I, Kap. III, § 33.
    24) ROUSSEAU, Du contrat social, IV, II.
    25) Plus les déliberations sont importantes et graves, plus l'avis qui l'importe doit approcher de l'unanimité. [Bei wichtigen und ernsthaften Beratungen sind sie der Meinung, daß die Angelegenheit einstimmig zu regeln ist. - wp]
    26) ROUSSEAU, a. a. O. I, 7.
    27) Ursprünglich wurde in mehreren Staten Zweidrittel-Majorität der Wähler zur Bestätigung der Verfassungsänderung verlangt; vgl. BORGEAUD, Seite 171f und 177.
    28) vgl. die Zusammenstellung bei ELLIS PAXON OBERHOLTZER, The Referendum in America (Publications of the University of Pennsylvania), Philadelphia 1893, Seite 41 und die näheren Daten dabei im Appendix.
    29) Vgl. hierüber die interessanten Ausführungen von JAMES BRYCE, The American Commonwealth, Vol. I, Kap. XXXIV, Seite 381f
    30) MAINE, Popular Government, Seite 124f, hebt energisch die die Majoritätswillkür begünstigenden Nachteile des englischen Systems im Gegensatz zum amerikanischen hervor.
    31) von BRUSA, Das Staatsrecht des Königreichs Italien (in MARQUARDSENs Handbuch des öffentlichen Rechts), Seite 14/15 gebilligt.
    32) Anders in den Kantonen, wo die großen Räte oder besondere Verfassungsräte unter einer Sanktion des Volkes durch die einfache Mehrheit die Verfassung revidieren.
    33) Zum Beispiel Artikel 45: "Dem Reich steht die Kontrolle über das Tarifwesen zu. Dasselbe wird namentlich dahin wirken:
      1. daß baldigst auf allen deutschen Eisenbahnen übereinstimmende Betriebsreglements eingeführt werden;
      2. daß die möglichste Gleichmäßigkeit und Herabsetzung der Tarife erzielt, insbesondere, daß bei größeren Entfernungen für den Transport von Kohlen, Koks, Holz, Erzen, Steinen, Salz, Roheisen, Düngemitteln und ähnlichen Gegenständen ein dem Bedürfnis der Landwirtschaft und Industrie entsprechend ermäßigter Tarif, und zwar zunächst tunlichst der Einpfennigtarif eingeführt wird."
    34) "Das Schlachten der Tiere ohne vorherige Betäubung vor dem Blutentzug ist bei jeder Schlachtart und Viehgattung ausnahmslos untersagt."
    35) BRYCE, a. a. O., I, Seite 427; OBERHOLTZER, a. a. O., Seite 44f.
    36) In einigen Staaten besteht sogar die verfassungsmäßige Einrichtung, daß die Richter dem Gouverneur oder jedem Haus der Legislatur auf Verlangen ein Gutachten über Rechtsfragen abzugeben haben. BRYCE I, Seite 432; HERSHEY, Die Kontrolle über die Gesetzgebung in den Vereinigten Staaten, Heidelberg 1894, Seite 39f.
    37) Vgl. auch die interessanten Ausführung von HOLST, Das Staatsrecht der Vereinigten Staaten von Amerika (in MARQUARDSENs Handbuch, a. a. O., Seite 144f)
    38) BRYCE, a. a. O. I, Seite 467
    39) In der Union wurden von 1789-1889 433 Bills mit einem Veto belegt. Von ihnen sind nur 29 Gesetz geworden. MASON, The Veto Power, Boston 1891, Seite 124 und 125.
    40) Darunter 13 Staaten die eine Zweidrittel-Majorität aller Mitglieder fordern. Außerdem verlangen zwei Staaten eine Dreifünftel-Majorität in jeder, einer Zweidrittel-Majorität in einem Haus, sieben Majoritäten aller Gewählten in jedem Haus (MASON, Seite 215f).
    41) von HOLST, a. a. O., Seite 147