tb-2M. PlanckB. BolzanoL. BoltzmannE. MeyersonE. MachH. Kleinpeter    
 
PIERRE DUHEM
Ziel und Struktur
physikalischer Theorien

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"Soll eine physikalische Theorie eine Erklärung sein, so hat sie ihr Ziel erst erreicht, wenn sie jede Sinneswahrnehmung ausgeschaltet und die physische Realität erfaßt hat. So haben uns z. B. die Untersuchungen Newtons über die Lichtstreuung gelehrt, die Empfindung, die Licht von der Art, wie es die Sonne aussendet, in uns hervorruft, zu zerlegen. Sie haben uns gelehrt, daß dieses Licht zusammengesetzt sei, daß es sich in eine gewisse Anzahl einfacherer Lichtarten von bestimmter und unveränderlicher Farbe auflösen läßt. Aber dieses einfache oder monochromatische Licht ist noch eine abstrakte und allgemeine Vorstellung einer bestimmten Empfindung, es ist noch eine sinnlich wahrnehmbare Erscheinung. Wir haben eine komplizierte Erscheinung in andere einfachere zerlegt, wir sind aber nicht bis zur Wirklichkeit gelangt, wir haben keine Erklärung der Farbeneffekte gegeben, wir haben keine Lichttheorie konstruiert."

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Der Verfasser des vorliegenden Buches, PIERRE MAURICE MARIE DUHEM, Professor der theoretischen Physik an der Universität Bordeaux, ist durch seine Leistungen auf allen Gebieten der theoretischen Physik und Chemie, durch seine Forschungen über die ältere Geschichte der Physik, insbesondere auch über LEONARDO da VINCI und dessen Beziehungen zu Vorgängern und Nachfolgern so bekannt und berühmt, daß eine besondere Empfehlung seiner Schriften überflüssig erscheint.

Als ich aber von dem Plan hörte, eine von Dr. FRIEDRICH ADLER besorgte Übersetzung des DUHEMschen Buches "La théorie physique, son objet et sa structure" herauszugeben, folgte ich gern der Einladung des Herrn Verlegers, dieselbe beim deutschen Publikum einzuführen. Denn eine eigenartige philosophische oder genauer erkenntniskritische Arbeit liegt hier vor, zu welcher der Verfasser durch seine vielseitige vorausgegangene Lebensarbeit berufen scheint.

Nicht in trockener, abstrakter Weise, sondern unter fortwährender Beleuchtung durch lebendige historische Tatsachen, zeigt der Verfasser, wie sich die physikalische Theorie allmählich aus einer vermeintlichen Erklärung auf Grundlage einer vulgären oder mehr oder weniger wissenschaftlichen Metaphysik in ein auf wenigen Prinzipien ruhendes System mathematischer, die Erfahrungen ökonomisch beschreibender und klassifizierender Sätze verwandelt. Hierbei wechselt das erklärende Bild vielfach, bis es schließlich ganz abfällt, während der beschreibende Teil fast unverändert in die neue vollkommenere Theorie übergeht. Die Gegenüberstellung von DESCARTES und LAPLACE einerseits, PASCAL und AMPÉRE andererseits zeigt uns die letzteren auf einem höheren Niveau der philosophischen Einsicht. Natürlich nimmt die Individualität der Forscher einen bedeutenden Einfluß auf die historische Entwicklung. Dies wird erläutert durch ansprechende Betrachtungen über den Gegensatz umfassender und tiefer Geister, über Modelle und logisch aufgebaute Theorien, über die englische Schule einerseits, die französische und deutsche Schule andererseits. Das Modell wie das Bild hält DUHEM für ein parasitäres Gewächs. Daß und worin hier DUHEM zu weit zu gehen scheint, habe ich anderwärts ausgeführt.

Dem ersten und allgemeinen Teil folgt ein zweiter, auf das besondere Gefüge der physikalischen Theorie eingehender Teil. Hier werden die Begriffe Quantität, Qualität, Zahl, Größe, Intensität erörtert. Das Streben GALILEIs und DESCARTES', die Qualitäten aus der mathematischen Physik zu entfernen, wird wieder an historischen Beispielen verständlich gemacht und lebendig veranschaulicht. Die Zahl der primären Qualitäten darf, ohne alle Wissenschaft illusorisch zu machen, nicht beliebig vermehrt, dagegen auch nicht willkürlich beschränkt werden, vielmehr sind alle primären Qualitäten als vorläufig nicht reduzierbar anzusehen. FARADAYs elektrodynamische Rotation erkennt AMPÉRE mit einem Blick als nicht reduzierbar auf elektrostatische Kräfte und entdeckt in derselben eine neue primäre Qualität. Wichtig ist die Betonung der engen Verflechtung, der Untrennbarkeit von Experiment und Theorie. Die Sätze der Theorie müssen logisch verträglich und in ihrer Gesamtheit mit dem Experiment in Übereinstimmung sein. Wegen der Genauigkeitsgrenzen der Beobachtung, wodurch einem theoretischen Wert eine Unzahl von experimentellen Werten zugeordnet werden kann, hat jedes theoretische Gesetz nur provisorische Geltung. Lehrreich ist der Hinweis auf Beispiele mathematischer Theorien, welche experimentell überhaupt unprüfbar bleiben. Der Verfasser kommt zu dem Schluß, daß der Unterricht weder rein deduktiv, noch rein induktiv vorgehen kann. Die beste Darlegung sei die historische, welche sich dem Entwicklungsgang der Wissenschaft anschließt, deren Grundannahmen (Hypothesen) ja nicht willkürlich erfunden oder gewählt wurden, sondern, allmählich keimend, sich den Forschern aufgedrängt haben.

Möge das Buch nach Verdienst auch in Deutschland Anerkennung finden, aufklärend und fördernd wirken!

ERNST MACH



Vorbemerkung des Übersetzers

Für die Veranstaltung einer deutschen Ausgabe des vorliegenden Werkes waren im wesentlichen folgende Gesichtspunkte maßgebend.

Die physikalische Theorie ist ein außerordentlich komplizierter Organismus, der nur aufgrund langjähriger praktischer und theoretischer Arbeit vollständig verstanden werden kann. Trotzdem muß eine systematische leicht faßliche Darstellung des Wesens der physikalischen Theorie jedem, der am Anfang physikalischer Studien steht, außerordentlich willkommen sein. Die Klarlegung der verschiedenen Auffassungen des Zieles der Physik, die prinzipielle Aufklärung über den Zusammenhang zwischen Experiment und Theorie, über die Bedeutung der Korrektionen, der mathematischen Symbole usw. wird den Studierenden vor allem vor der Verfolgung von Scheinproblemen schützen und sein Verständnis für die Methoden, die er anwendet, wesentlich beschleunigen. Eine derartige Orientierung erfüllt ihren Zweck natürlich nur, wenn sie leicht zugänglich, also in der Muttersprache lesbar ist.

Aber auch beim selbständigen Forscher erfährt infolge des gewaltigen Anwachsens der Literatur die fremdsprachige naturgemäß oft eine Vernachlässigung. Gerade das DUHEMsche Werk verdient es aber von diesem Umstand verschont zu bleiben, denn es gibt eine Darstellung der Probleme, wie wir sie bisher überhaupt nicht besaßen. Die Elimination aller Metaphysik bildet die Grundtendenz des Werkes und das Prinzip der Ökonomie des Denkens, das MACH als erster formuliert hat, wird konsequent festgehalten. Dadurch kommen eine Reihe von Problemen in vollständig neue Beleuchtung und viele Tatsachen der historischen Entwicklung erfahren eine andere Deutung.

Endlich soll aber durch die Übersetzung auch die kritische Auseinandersetzung mit DUHEM erleichtert werden. Dabei liegt mir vor allem an der Auseinandersetzung mit der MACHschen Auffassung. DUHEM hat die Konsequenzen des Ökonomieprinzips im weitesten Maße gezogen, er hat aber den weiteren Schritt, den MACH getan, die Aufzeigung der "Elemente" als grundlegendes Material der Wissenschaft in keiner Weise berührt. Durch die Betrachtung der Elemente, wird aber die Elimination aller absolut unveränderlichen Körper erreicht und eine Physik, die vom erfahrungsmäßig gegebenen (veränderlichen) Körper ausgeht, möglich. Für diese Auffassung löst sich dann in einfachster Weise die Frage, ob die ökonomische Darstellung auch naturgemäß sei und alle "Realitäten, die hinter den Erscheinungen verborgen sind" werden nicht nur als Objekt der Theorie beseitigt, sondern auch als Objekt der Wirklichkeit mitsamtihrem "Reflex", auf das Nichts, das sie tatsächlich sind, reduziert. Es wird dann wohl auch außer der Anwendung der theoretischen Vorstellungen als Grundlagen (DUHEM sagt "Hypothesen" im etymologischen Sinn des Wortes) für die mathematische Deduktion der Entstehung derselben aus dem Erfahrungsmaterial besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden sein. Es kann jede und muß mindestens eine der Erfahrungen, die sich bei den Deduktionen als Konsequenzen ergeben, als Ausgangspunkt zur Erlangung der theoretischen Vorstellungen dienen. In dieser Hinsicht werden dann wohl die theoretischen Vorstellungen anstatt als Grundlagen als Knotenpunkte im Erfahrungsmaterial (Funktionen) zu bezeichnen sein. Auf die ausführliche Diskussion aller dieser Fragen soll bei anderer Gelegenheit eingegangen werden.

Was die formale Seite betrifft, so habe ich mich möglichst streng an den Wortlaut des Originals und die Terminologie DUHEMs gehalten. Die angeführten Zitate habe ich bis auf einige, die mir nicht zugänglich waren, mit den Originalen verglichen und diejenigen aus anderen Sprachen, dort wo es mir nötig schien, direkt aus dem Urtext übersetzt. Die vorhandenen Übersetzungen fremder Autoren ins Deutsche habe ich soweit es angängig war, direkt übernommen.

Ein Teil der Übersetzung wurde von meiner Frau, der andere von mir hergestellt und auch ersterer von mir durchgesehen. Herr Prof. DUHEM hatte die große Freundlichkeit ein Korrekturexemplar selbst zu lesen, ein weiteres revidierte mein Freund Dr. H. von HALBAN. Die Herren Prof. Dr. H. BURCKHARDT und Prof. Dr. A. KLEINER waren so freundlich, mir in bezug auf verschiedene Fragen Auskunft zu erteilen. Allen, die mich bei der Arbeit unterstützt haben, spreche ich auch an dieser Stelle meinen herzlichsten Dank aus.

FRIEDRICH ADLER



Vorwort zur französischen Ausgabe

In dieser Schrift sollen die Methoden, aufgrund deren die physikalische Wissenschaft sich entwickelt, einer einfachen logischen Analyse unterzogen werden. Vielleicht werden manche Leser die hier dargelegten Überlegungen auf andere Wissenschaften als die Physik ausdehnen wollen, vielleicht werden sie auch über das spezielle Gebiet der Logik hinausgehende Schlüsse zu ziehen wünschen. Wir haben uns jedoch sorgsam vor der einen wie der anderen lgemeinerung zu hüten gesucht. Wir haben unseren Untersuchungen enge Grenzen gesetzt, um in möglichst vollständiger Weise das beschränkte Gebiet, welches wir uns abgesteckt haben, erforscher zu können.

Bevor der gewissenhafte Experimentator ein Instrument zur Erforschung einer Erscheinung verwendet, zerlegt er es prüft jeden Teil, studiert die Einrichtung desselben und unterwirft es verschiedenen Vorversuchen. Er weiß dann genau, was die Angaben des Apparates bedeuten, kenne die Grenzen ihrer Präzision und wird ihn so mit Sicherheit verwenden können.

In der gleichen Weise haben wir die physikalische Theorie analysiert. Wir haben vor allem gesicht ihr Ziel mit Genauigkeit festzustellen. Nachdem wir dasselbe erkannt, haben wir ihre Struktur geprüft. Wir haben der Reihe nach den Mechanismus einer jeden Operation, durch die sie zustande kommt, studiert, wir haben gezeigt, was jede einzelne derselben zur Erreichung des Zieles der Theorie beiträgt.

Wir haben uns Mühe gegeben, unsere Behauptungen durch Beispiele zu erläutern, da wir vor allem Erörterungen, die in keinem unmittelbarem Zusammenhang mit der Wirklichkeit stehen, zu vermeiden suchten.

Überdies ist die in vorliegender Schrift dargelegte Auffassung nicht ein logisches System, das allein aus Betrachtungen über allgemeine Begriffe hervorging. Sie entstand nicht aus einem Gedankengang, der den konkreten Einzeltatsachen feindlich gegenübersteht. Der täglichen Praxis der Wissenschaft verdankt sie ihre Entstehung, aus ihr hat sie sich entwickelt.

Es gibt beinahe kein Kapitel der theoretischen Physik, das wir nicht bis in seine Einzelheiten zu lehren hatten, es gibt kaum eines, für dessen Fortschritt wir nicht wiederholt unsere Kraft eingesetzt haben. Die Gedanken über das Ziel und die Struktur der physikalischen Theorien, die wir heute im Zusammenhang vorlegen, sind die Frucht dieser zwanzigjährigen Arbeit. Wir haben durch diese lange Prüfung uns vergewissern können, daß sie richtig und fruchtbar sind.

PIERRE DUHEM



Erstes Kapitel
Physikalische Theorie
und metaphysische Erklärung


§ 1. Die Auffassung der physikalischen
Theorie als Erklärung

Die erste Frage, die sich uns aufdrängt, ist folgende: Welches Ziel hat eine physikalische Theorie? Auf diese Frage hat man verschiedene Antworten gegeben, die sich jedoch in zwei Hauptgruppen zusammenfassen lassen.

Eine physikalische Theorie, haben gewisse Denker geantwortet, hat die ERKLÄRUNG einer Gruppe experimentell festgestellter Gesetze zum Ziel.

Andere Denker sagten: Eine physikalische Theorie ist ein abstraktes System, welches eine Gruppe experimenteller Gesetze ZUSAMMENZUFASSEN und LOGISCH ZU KLASSIFIZIEREN hat ohne jedoch den Anspruch zu erheben, diese Gesetze zu erklären.

Wir gehen nun daran, diese beiden Antworten nacheinander zu prüfen und die Gründe abzuwägen, die für die Zulassung oder Verwerfung derselben sprechen. Wir wollen mit der ersten, welche eine physikalische Theorie als Erklärung betrachtet, beginnen.

Was ist nun vor allem eine Erklärung?

Erklären (expliquer - explicare) heißt die Wirklichkeit aus den Erscheinungen, die sie wie Schleier umhüllen, herausschälen, um diese Wirklichkeit nackt von Angesicht zu Angesicht zu sehen.

Die Beobachtung physikalischer Phänome macht uns nicht mit der Wirklichkeit, die sich unter den sinnlich wahrnehmbaren Erscheinungen verbirgt, sondern nur mit diesen sinnlich wahrnehmbaren Erscheinungen selbst, die in spezieller und konkreter Form erfaßt werden, bekannt. Die experimentellen Gesetze haben nicht mehr die materielle Wirklichkeit zum Gegenstand, sondern sie handeln von diesen sinnlich wahrnehmbaren Erscheinungen, die allerdings in abstrakter und allgemeiner Form zur Behandlung kommen. Indem die Theorie die Hülle von den sinnlich wahrnehmbaren Erscheinungen ablöst und zerreißt, sucht sie in ihnen und unter ihnen, das was wirklich in den Körpern ist, auf.

Nehmen wir ein Beispiel. Saiten- und Blasinstrumente haben Töne hervorgebracht, auf die wir aufmerksam lauschten, die wir sich verstärken und sich abschwächen, steigen und fallen, sich tausendfach nüancieren hörten, die in uns Empfindungen und Gemütsbewegungen entstehen ließen. Das alles bezeichnen wir als akustische Tatsachen.

Unser Verstand hat entsprechend den Gesetzen, die seine Tätigkeit bestimmen, diese speziellen und konkreten Eindrücke einer Durcharbeitung unterworfen, die uns zu allgemeinen und abstrakten Begriffen wie: Intensität, Tonhöhe, Oktave, ganzer Dur- und Mollakkord, Klangfarbe usw. führt. Die experimentellen Gesetze der Akustik haben die Aufgabe, feste Beziehungen zwischen diesen Begriffen und andern ebenso abstrakten und allgemeinen Begriffen auszudrücken. Zum Beispiel lehrt uns ein Gesetz, welche Beziehung zwischen den Dimensionen zweier Saiten aus gleichem Metall besteht, die Töne von gleicher Höhe oder zwei Töne, deren einer die Oktave des andern ist, hervorbringen.

Aber diese abstrakten Begriffe wie Intensität, Höhe eines Tones oder Klangfarbe, spielen für unseren Verstand nur die Rolle allgmeiner Zeichen für unsere Tonempfindungen. Sie lehren ihn den Ton so kennen, wie er in Beziehung zu uns ist, nicht aber wie er selbst in den tönenden Körpern beschaffen ist. Die Theorien der Akustik gehen darauf aus, uns die Wirklichkeit, von der unsere Eindrücke bloß die Hülle und der Schleier sind, zur Kenntnis zu bringen. Sie wollen uns lehren, daß da, wo wir nur diese Erscheinung, die wir den Ton nennen, wahrnehmen, in Wirklichkeit eine sehr kleine und sehr schnelle Schwingung vorhanden ist. Die Intensität und die Höhe seien nichts anderes als die äußere Erscheinung der Amplitude und der Geschwindigkeit dieser Bewegung, die Klangfarbe, die wahrnehmbare Äußerung der wirklichen Beschaffenheit dieser Bewegung, d. h. eine zusammengesetzte Empfindung, welche aus verschiedenen pendelartigen Schwingungen, in die man die Bewegung zerlegen kann, hervorgeht. Die Theorien der Akustik sind somit Erklärungen.

Die Erklärung, die die Theorien der Akustik von den experimentellen Gesetzen, die die Tonempfindungen beherrschen geben, ist wohl sicher richtig. Die Bewegungen, denen sie diese Erscheinungen zuschreiben, können in einer großen Zahl von Fällen mit den Augen gesehen, mit den Fingern getastet werden.

Meistens kann eine physikalische Theorie keinen solchen Grad von Vollkommenheit erreichen, sie kann nicht als sichere Erklärung der Sinneswahrnehmungen gelten, sie kann die Wirklichkeit, die nach ihrer Behauptung unter den Erscheinungen besteht, unseren Sinnen nicht zugänglich machen. Sie begnügt sich dann darzutun, daß alle unsere Wahrnehmungen so auftreten, wie wenn die Wirklichkeit so beschaffen wäre, wie sie es behauptet. Eine solche Theorie ist eine hypothetische Erklärung.

Betrachten wir z. B. die Gesamtheit der vom Gesichtssinn wahrgenommenen Phänomene. Die wissenschaftliche Verarbeitung dieser Phänomene führt uns zur Feststellung gewisser abstrakter allgemeiner Begriffe, die die Merkmale ausdrücken, welche wir in jeder Lichtwahrnehmung wiederfinden: einfache oder zusammengesetzte Farbe, Helligkeit usw. Die experimentellen Gesetze der Optik lehren uns feste Beziehungen zwischen diesen allgemeinen abstrakten Begriffen und anderen analogen Begriffen kennen. Zum Beispiel zeigt ein Gesetz, wie die Intensität des gelben Lichts, welches von einem dünnen Blättchen reflektiert wird, von der Dicke dieses Blättchens und dem Einfallswinkel der auffallenden Strahlen abhängig ist.

Die Wellentheorie des Lichts gibt eine hypothetische Erklärung dieser experimentellen Gesetze. Sie setzt voraus, daß alle Körper, die wir sehen, die wir tasten, die wir wägen, sich in einem unseren Sinnen unzugänglichen und unwägbaren Medium, das sie Äther nennt, befindet. Diesem Äther schreibt sie mechanische Eigenschaften zu, sie nimmt an, daß alles einfache Licht in kleinen und schnellen transversalen [zur Bewegungsrichtung senkrecht - wp] Schwingungen dieses Äthers besteht, daß von der Frequenz und der Amplitude dieser Schwingungen die Helligkeit und Farbe des Lichts abhängig ist.

Trotzdem sie uns den Äther nicht sichtbar machen kann, trotzdem sie uns nicht einmal in den Stand setzt, durch Augenschein die Hin- und Herbewegung in der Lichtschwingung zu konstatieren, behauptet sie doch, daß ihre Postulate zu Ergebnissen führen, die in jedem Punkt mit den Gesetzmäßigkeiten, welche uns die experimentelle Optik angibt, übereinstimmen.


§ 2. Aufgrund der vorstehenden Ansicht sind die
physikalischen Theorien der Metaphysik untergeordnet.

Soll eine physikalische Theorie eine Erklärung sein, so hat sie ihr Ziel erst erreicht, wenn sie jede Sinneswahrnehmung ausgeschaltet und die physische Realität erfaßt hat. So haben uns z. B. die Untersuchungen NEWTONs über die Lichtdispersion [Lichtstreuung - wp] gelehrt, die Empfindung, die Licht von der Art, wie es die Sonne aussendet, in uns hervorruft, zu zerlegen. Sie haben uns gelehrt, daß dieses Licht zusammengesetzt sei, daß es sich in eine gewisse Anzahl einfacherer Lichtarten von bestimmter und unveränderlicher Farbe auflösen läßt. Aber dieses einfache oder monochromatische Licht ist noch eine abstrakte und allgemeine Vorstellung einer bestimmten Empfindung, es ist noch eine sinnlich wahrnehmbare Erscheinung. Wir haben eine komplizierte Erscheinung in andere einfachere zerlegt, wir sind aber nicht bis zur Wirklichkeit gelangt, wir haben keine Erklärung der Farbeneffekte gegeben, wir haben keine Lichttheorie konstruiert.

Somit muß man, um beurteilen zu können, ob eine gewisse Gruppe von Lehrsätzen den Titel einer physikalischen Theorie verdient, prüfen, ob die Begriffe, die durch diese Lehrsätze in Verbindung gebracht werden, in abstrakter und allgemeiner Form die Elemente, aus denen die materiellen Dinge wirklich bestehen, ausdrücken, oder aber, ob diese Begriffe nur das allgemeine und charakteristische unserer Wahrnehmungen darstellen.

Wenn eine solche Prüfung einen Sinn haben soll, wenn man sich vornehmen will, sie auszuführen, muß man vor allem folgende Behauptung als richtig anerkennen: Unter den sinnlichen Erscheinungen, welche sich unseren Wahrnehmungen kundgeben, gibt es eine Wirklichkeit, die sich von diesen Erscheinungen unterscheidet.

Hat man diesem Satz zugestimmt - und nur wenn das geschieht, ist das Forschen nach einer physikalischen Erklärung verständlich - so muß man, um erkennen zu können, daß man tatsächlich zu einer solchen Erklärung gelangt ist, folgende weitere Frage beantworten: Welcher Art sind die Grundbestandteile, die die materielle Wirklichkeit bilden?

Bei den zwei Fragen:
    - Gibt es eine materielle Realität, die sich von den Sinneserscheinungen unterscheidet?
    - Welches ist diese Realität?
kann man nicht die Experimentaluntersuchung zu Rate ziehen. Diese kennt nichts außer den Sinneserscheinungen und kann nichts, was über diese hinausgeht, entdecken. Die Lösung dieser Fragen geht über die auf Beobachtung beruhenden Methoden, deren sich die Physik bedient, hinaus, sie ist Gegenstand der Metaphysik.

Wenn somit die physikalischen Theorien die Erklärung der experimentellen Gesetze zum Gegenstand haben, ist die theoretische Physik keine autonome Wissenschaft, sondern der Metaphysik untergeordnet.


§ 3. Aufgrund der vorstehenden Ansicht hängt der
Wert einer physikalischen Theorie vom
metaphysischen System, das man anerkennt, ab.

Die Lehrsätze der rein mathematischen Wissenschaften sind im höchsten Maß Wahrheiten, die allgemeine Anerkennung finden; die Schärfe der Ausdrucksweise, die Genauigkeit der Beweisführung verhindern, daß Differenzen in den Ansichten der Mathematiker bestehen bleiben. Durch Jahrhunderte entfalten sich die Lehren in kontinuierlichem Fortschritt, ohne daß etwa früher erworbene Gebiete durch neue Errungenschaften in Verlust gerieten.

Es gibt keinen Denker, der nicht der Wissenschaft, in der er tätig ist, einen so regelmäßigen und ungestörten Gang wünschen würde, wie ihn die Mathematik aufweist, wenn es aber eine Wissenschaft gibt, für die dieser Wunsch besonders berechtigt erscheint, ist es die theoretische Physik, weil sie sich unter allen Zweigen der Wissenschaften zweifellos am wenigsten von der Algebra und Geometrie entfernt.

Es ist nun nicht das richtige Mittel, der physikalischen Theorie allgemeine Anerkennung zu verschaffen, wenn man sie in Abhängigkeit von der Metaphysik bringt. In der Tat könnte kein Philosoph, wie viel Vertrauern er auch zu den Methoden, die bei der Behandlung der metaphysischen Probleme zur Anwendung kommen, haben möge, die tatsächliche Wahrheit bestreiten, daß, wenn man alle Gebiete, in denen der menschliche Geist sich betätigt, Revue passieren läßt, in keinem derselben sie in verschiedenen Epochen entstandene Systeme, ebenso wie die Systeme verschiedener Schulen derselben Zeit, sich tiefgreifender unterscheiden, sich strenger abgrenzen, sich heftiger bekämpfen als auf dem Gebiet der Metaphysik.

Wenn die Physik der Metaphysik untergeordnet ist, werden die Zwistigkeiten, die zwischen den verschiedenen metaphysischen Systemen bestehen, sich in das Gebiet der Physik verpflanzen. Eine physikalische Theorie, die die Zufriedenheit aller Sektierer einer metaphysischen Schule erregt, wird von den Anhängern einer anderen Schule verworfen werden.

Betrachten wir z. B. die Wirkungen, die der Magnet auf das Eisen ausübt und nehmen wir einen Augenblick an, wir seien Peripatetiker [Anhänger des Aristoteles - wp].

Was lehrt uns die Metaphysik des ARISTOTELES über die wahre Natur der Körper? Jede Substanz und speziell jede materielle Substanz geht aus der Vereinigung zweier Elemente, eines bleibenden, des Stoffes, und eines veränderlichen, der Form, hervor. Durch Unveränderlichkeit seines Stoffes bleibt das Stück Eisen, das ich betrachte, immer unter allen Umständen dasselbe Stück Eisen; durch die Veränderungen, die seine Form erleidet, können die Eigenschaften dieses selben Stückes Eisen den Umständen entsprechend wechseln. Es kann fest oder flüssig, warm oder kalt sein, die oder jene Gestalt annehmen.

Wird dieses Stück Eisen in den Bereich eines Magneten gebracht, so erfährt es in seiner Form eine spezielle Änderung, die umso intensiver ist, je näher sich der Magnet befindet. Diese Änderung bezieht sich auf das Auftreten der beiden Pole, sie ist für das Eisenstück ein Bewegungsprinzip. Das Wesen dieses Prinzips ist ein solches, daß jeder Pol sich dem Pol des Magneten mit entgegengesetztem Vorzeichen zu nähern, sich von dem gleichbezeihneten zu entfernen sucht.

Die Wirklichkeit, die sich unter den magnetischen Erscheinungen verbirgt, ist für einen peripatetischen Philosophen so beschaffen, daß man eine vollständige Erklärung geben würde, wenn man alle jene Erscheinungen so weit analysiert hätte, bis sie auf die Eigenschaften der magnetischen Qualität und deren beider Pole zurückgeführt wären. Man hätte damit eine vollständig befriedigende Theorie wären. Man hätte damit eine vollständig befriedigende Theorie formuliert. Eine solche Theorie wurde tatsächlich im Jahre 1629 von NICCOLO CABEO (1) in seiner merkwürdigen "magnetischen Philosophie" aufgestellt.

Ein Peripatetiker könnte sich mit einer Theorie, wie sie Pater CABEO entworfen hat, zufrieden geben, bei einem Philosophen der NEWTONschen Schule, der der Kosmologie des Pater Boscovich treu bleibt, wäre dies aber nicht mehr der Fall.

Gemäß der Naturphilosophie, die BOSCOVICH (2) aus den Prinzipien NEWTONs und seiner Schüler entwickelt hat, heißt es nichts erklären, wenn man die Gesetze der Anziehungen, die der Magnet auf das Eisen ausübt, durch eine magnetische Änderung der substantiellen Form des Eisens erklärt; es heißt geradezu unsere Unkenntnis der Wirklichkeit unter Worten verstecken, die umso besser tönen, je hohler sie sind.

Die materielle Substanz setzt sich nicht aus Stoff und Form zusammen, sondern sie geht aus einer unendlichen Zahl von Punkten, denen Ausdehnung und Gestalt fehlt, die aber mit Masse behaftet sind, hervor; zwischen je zwei beliebigen dieser Punkte besteht eine gegenseitige Wirkung der Anziehung oder Abstoßung, die dem Produkt der Massen der beiden Punkte proportional und eine gewisse Funktion ihres Abstandes ist. Unter diesen Punkten gibt es solche, die die Körper im eigentlichen Sinn bilden; zwischen diesen Punkten besteht eine gegenseitige Wirkung; sobald ihr Abstand eine gewisse Grenze überschreitet, reduziert sich diese Wirkung auf die von NEWTON erforschte allgemeine Gravitation. Andere derselben, die mit dieser Gravitationswirkung nicht versehen sind, bilden imponderable Fluida, wie das elektrische Fluidum oder das Wärmefluidum. Entsprechende Annahmen über die Massen aller dieser materiellen Punkte, über ihre Verteilung, über die Art der Funktionen des Abstandes, von denen ihre gegenseitigen Wirkungen abhängen, sollen von allen physikalischen Erscheinungen Rechenschaft geben.

Um zum Beispiel die magnetischen Wirkungen zu erklären, nimmt man an, daß jedes Molekült des Eisens gleiche Mengen des süd- und nordmagnetischen Fluidums besitzt und daß die Verteilung des Fluidums auf diesem Molekül den Gesetzen der Mechanik entspricht. Die Wirkung, die die beiden magnetischen Massen aufeinander ausüben, ist direkt dem Produkt dieser Massen und indirekt dem Quadrat ihres Abstandes proportional. Die Wirkung ist eine abstoßende oder anziehende je nachdem, ob die beiden Massen von gleicher oder ungleicher Art. Das ist das Wesen der Theorie des Magnetismus, die von FRANKLIN, OEPINUS, TOBIAS MAYER und COULOMB inauguriert wurde und ihre weiteste Entfaltung in den klassischen Abhandlungen POISSONs gefunden hat.

Gibt diese Theorie eine Erklärung der magnetischen Erscheinungen, die einen Atomisten zufrieden stellen könnte? Sicher nicht. Sie anerkennt die Existenz anziehender oder abstoßender Wirkungen zwischen den voneinander entfernten Teilchen der magnetischen Flüssigkeit. Für einen Atomisten sind nun derartige Wirkungen Erscheinungen, die nicht als Realitäten aufgefaßt werden können.

Gemäßt den atomistischen Lehren setzt sich die Materie aus äußerst kleinen Körpern zusammen, die hart und starr sind, verschiedene Form haben und in ungeheurer Zahl im leeren Raum verteilt sind. Wenn zwei solche Teilchen voneinander getrennt sind, können sie sich in keiner Weise beeinflussen. Nur wenn das eine mit dem anderen in Berührung kommt, wenn sie, die beide undurchdringlich sind, aufeinanderstoßen, werden ihre Geschwindigkeiten geändert und zwar nach festen Gesetzen. Die Größen, Gestalten und Massen der Atome und die Normen, die bei ihren Stößen zur Geltung kommen, sollen die einzig befriedigende Erklärung sein, welche physikalische Gesetze erhalten können.

Um die Erklärung der verschiedenen Bewegungen, die ein Stück Eisen in Gegenwart eines Magneten erfährt, möglich zu machen, wird man sich vorstellen müssen, daß Ströme von magnetischen Teilchen, die zwar dicht, dabei aber weder sichtbar noch tastbar sind, aus dem Magneten hervorgehen oder in ihn eindringen. Bei ihrer rapiden Fortbewegung stoßen diese Teilchen verschiedentlich auf die Moleküle des Eisens und diese Stöße bewirken die Drucke, die eine oberflächliche Philosophie magnetischen Anziehungen und Abstoßungen zuschrieb. Das ist das Prinzip einer Theorie der Magnetisierung, die bereits LUCRETIUS entworfen hatte und die im 17. Jahrhundert von GASSENDI entwickelt und seit dieser Zeit oft wieder aufgenommen worden ist.

Werden nicht manche anspruchsvolle Denker dieser Theorie vorwerfen, daß sie nichts erklärt und die Erscheinungen als Realitäten nimmt? Das tun die Cartesianer.

Nach DESCARTRES ist die Materie dem Wesen nach mit der Ausdehnung nach Länge, Breite und Tiefe, die die Geometer behandeln, identisch. Man darf nichts anderes als verschiedene Gestalten und verschiedene Bewegungen in Betracht ziehen. Die cartesische Materie ist, wenn man so sagen will, eine Art ungeheures Fluidum, das inkompressibel und absolut homogen ist. Die harten und unteilbaren Atome, der leere Raum, der sie trennt, sind nur Erscheinungen, sind nur Jllusionen. Gewisse Teil des allgemeinen Fluidums können von dauernden Wirbelbewegungen erfüllt sein, diese Wirbel werden den groben Augen der Atomisten als unteilbare Teilchen erscheinen. Von einem Wirbel zum anderen werden durch das dazwischen befindliche Fluidum Drucke übertragen, die die Anhänger NEWTONs infolge einer unzureichenden Analyse für Fernwirkungen halten. Das sind die Prinzipien einer Physik, deren ersten Entwurf DESCARTES schuf, die MALEBRANCHE tiefer erforscht hat, der WILLIAM THOMSON, gestützt auf die hydrodynamischen Untersuchungen von CAUCHY und HELMHOLTZ, den Umfang und die Präzision gegeben hat, die die mathematischen Systeme heute besitzen.

Diese cartesianische Physik wäre nicht vollkommen ohne eine Theorie des Magnetismus. Schon DESCARTES hat versucht eine solche zu schaffen. Die Spiralen aus feiner Materie, welche in dieser Theorie nicht ohne eine gewisse Naivität die magnetischen Teilchen von GASSENDI ersetzten, haben bei den Cartesianern des XIX. Jahrhunderts, den mit weit größerer Gelehrsamkeit erdachten Wirbeln MAXWELLs Platz gemacht.

So sehen wir jede philosophische Schule eine Theorie predigen, welche die magnetischen Erscheinungen auf die Elemente zurückführt, die das Wesen der Materie bilden. Aber die anderen Schulen verwerfen diese Theorie oder werden wenigstens durch ihre Prinzipien verhindert, in ihr eine befriedigende Erklärung des Magnetismus zu finden.
LITERATUR - Pierre Duhem, Ziel und Struktur physikalischer Theorien, Leipzig 1908
    Anmerkungen
    1) Philosophia magnetica; auctore NICOLAO CABEO Ferrariensi, Societas Jesu, Köln 1709.
    2) Theoria philosophiae naturalis redacta ad unicam legem virium in natura existentium, auctore Padre ROGERIO JOSEPHO BOSCOVICH, Societatis Jesu, Viennae, 1758.