ra-2Die Wertlosigkeit der JurisprudenzNaturrecht und deutsches Recht    
 
FRIEDRICH JULIUS STAHL
(1802-1861)
Die göttliche Institution des Staates

"Recht und Politik haben es an und für sich bloß mit dem Grundsatz zu tun, daß der Staat, bzw. der König sein Ansehen aus sich selbst hat, nicht durch die Untertanen. Ob dagegen dieses in sich gegründete Ansehen von Gott ausfließt oder von der Weltsubstanz oder von einer mechanischen Notwendigkeit, ist rechtlich und politisch zunächst nicht die Frage."

Wenn sich der Staat zunächst als ein sittliches Reich der menschlichen Gemeinschaft darstellt, so ist er doch, tiefer betrachtet, zugleich eine göttliche Institution.

Es ruht vor allem das Ansehen des Staates auf der Verordnung - Ermächtigung, Einsetzung - Gottes. Das ist der letzte Grund des ihm selbst innewohnenden ursprünglichen Ansehens. Seine ganze legitime Ordnung - Gesetz, Verfassung, Obrigkeit - hat daraus ihre bindende Macht. Insbesondere hat die Obrigkeit Ansehen und Gewalt von Gott. Sie ist von Gottes Gnaden. Wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott verordnet." Von sich selbst kann kein Mensch obrigkeitliche Gewalt über andere Menschen haben, auch nicht die sämtlichen über den einzelnen, noch auch können die Menschen durch Vertrag obrigkeitliche Gewalt gründen, da sie über ihr Leben und ihre Freiheit nicht verfügen, daher nicht jemandem Gewalt einräumen können. Das ist das göttliche Recht der Obrigkeit.

Es hat seine Geltung in allen Staatsformen, für die Komitien [Versammlungen - wp] und Magistraturen in der Republik nicht minder als für den Köngie in der Monarchie, für den Wahl- wie für den Erbkönig. Denn wenn auch die Personen für die Obrigkeit durch die Wahl bezeichnet werden, so gründet sich doch ihr Amt und Ansehen selbst nicht auf Willen und Ermächtigung der Wähler, sondern allein auf Gottes Gebot und Ermächtigung.

Die göttliche Institution des Staates und seiner Obrigkeit bedeutet nun zwar bloß, daß das Ansehen derselben sich auf Gottes Gebot und Ordnung, nicht daß es sich auf Gottes unmittelbare, die Natur durchbrechende Tat gründet. Es bleibt darum die völlige Freiheit der Menschen, der Nation, in dieser oder jener Verfassung zu leben, unverkürzt. Aber jene göttliche Institution bedeutet wieder nicht bloß, daß der Staat überhaupt Gottes Gebot ist, sondern auch, daß überall die bestimmte Verfassung und die bestimmten Personen der Obrigkeit Gottes Sanktion haben. Hierauf ist nun der Hauptangriff gegen die göttliche Institution des Staates gerichtet.

Man entgegnet, von Gott und seiner Ordnung lasse sich doch immer nur ableiten, daß die Menschen überhaupt in Staaten leben sollen, nicht aber der Bestand des bestimmten Staates, der bestimmten Verfassung, des bestimmten Fürsten. Wie das alles offenbar von Gott unmittelbar nicht vorgeschrieben noch bewirkt sei, sondern immer von den Menschen ausgehen, so könne es auch immerdar nur vom menschlichen Willen abhängen. Der Gehorsam gegen die bestimmte Verfassung, gegen den bestimmten König JAKOB oder WILHELM könne deshalb nicht auf Gottes Sanktion, sondern nur auf die freie Zustimmung der Menschen gegründet werden, - so ROUSSEAU, so auch die Jesuiten.

Dagegen ist zunächst schon das zu erwägen, daß der bestimmte Staat, die bestimmte Verfassung, die bestimmte Dynastie zwar mittels des menschlichen Willens, aber doch nicht durch den menschlichen Willen enstehen, sondern als das unberechenbare Ergebnis vieler sich durchkreuzender und, einzeln betrachtet, auf etwas ganz anderes gerichteter Willen eine höhere bewirkende Ursache voraussetzen, die, wenn nicht ein sinnloser Zufall, so eben Gottes Fügung ist, was sich wohl unterscheidet von unmittelbarer, die Natur durchbrechender Tat Gottes.

Aber selbst die Tatsache zugestanden, daß menschlicher Wille dies alles bewirke, so folgt doch daraus noch gar nicht, daß es auch auf menschlichen Willen sein Ansehen stützt und vom menschlichen Willen abhängt. Sondern, sowie der menschliche Wille, der Wille des Volkes, den bestimmten Staat, die bestimmte Verfassung, die bestimmte Dynastie gegründet hat, so lösen sich diese auch sofort von ihm, sie sind damit eben  Staat geworden  und binden daher allsogleich als Staat, eben weil der Staat göttliche Ordnung ist, alle diejenigen, wenn sie einmal errichtet ist, nicht minder als die Nachkommen, so sich solche vorfinden.

Die Menschen haben daher allerdings unbedingt Macht und Fug, solange noch nichts besteht, die oder jene Verfassung festzusetzen, den JAKOB oder WILHELM zum König zu machen. Allein sowie das geschehen ist, ist eben diese Verfassung Staat, ist der JAKOB König und ist alles dieses nun zur gottverordneten Autorität über ihnen geworden, so daß sie die Verfassung nicht ändern dürfen außer nach ihren eigenen Gesetzen, den König nicht entfernen außer nach ihrem eigenen Willen. Das sagt auch deutlich der Ausspruch: "Wo Obrigkeit ist, da ist sie von Gott." Ähnlich ist ja auch die Ehe eine Ordnung Gottes und obwohl auch hier von Gott weder vorgeschrieben noch sichtbar gefügt ist, daß eine Jungfrau den JAKOB oder den WILHELM eheliche. Sowie sie aber den JAKOB geheiratet hat, ist ihr eheliches Band zu JAKOB in dem Augenblick Gottes Ordnung und Gebot. Der Staat aber, da er nicht ein Werk jedes einzelnen Menschen, sondern nur der Gemeinschaft als eines Ganzen ist, wird in  der  Gestalt Gottes Ordnung, in der er durch die Gemeinschaft, sei es in bewußtem Akt oder in Sitte und Herkommen, gebildet worden ist.

Es ruht aber auch der Beruf des Staates auf dem Dienst Gottes. Es ist Gottes Gebot für das Gemeinleben, - Gerechtigkeit, Zucht, Sitte - das er handhaben, Gottes Herrschaft, die er aufrichten soll. Die Obrigkeit ist nach dem Ausspruch der heiligen Schrift nicht bloß von Gott verordnet, sondern sie ist auch Gottes Dienerin (Dei minister). Das bedeutet auch hier wieder nicht, daß die Anordnungen der Obrigkeit selbst als Gebote Gottes zu betrachten seien, sondern daß es ihr Amt ist, seine Gebote aufrecht zu halten. Die Obrigkeit ist darum von Gott nicht bloß in einem allgemeinen Sinn, wie alle Rechte von Gott sind, sondern in dem ganz spezifischen Sinne, daß es das Werk Gottes ist, das sie versieht. Sie übt ihr Recht nicht bloß nach Gottes Ordnung wie auch der Eigentümer, der Vater, sondern sie übt es für Gottes Ordnung. Es ist nicht ein bloßes eigenes Recht, ein eigener Besitz, sondern eine göttliche Mission. Die Gewalt über Leben und Freiheit der Menschen und zu dem Zweck, eine höhere sittliche Ordnung herzustellen, kann nie das bloß eigene Recht eines Menschen über den anderen sein gleichwie das Recht eines Ehegatten über den anderen, des Vaters über die Kinder, sondern nur ein im Amt Gottes geübtes Recht. Nur als die Dienerin Gottes ist die Obrigkeit die Rächerin zur Strafe über den, der Böses tut. Darum ist auch die Obrigkeit mit der Majestät umkleidet. Denn die Majestät ist die spezifische Attribution Gottes als der absoluten realen und sittlichen Macht und des Rächers des Gesetzes.

Hierin liegt in seinem letzten Grund der generische Unterschied der öffentlichen Gewalt, imperium, von aller Privatgewalt, sei diese Gesellschaftsgewalt oder häusliche Gewalt, potestas, und liegt in seinem letzten Grund der durch und durch öffentliche Charakter des Staates. Nur deswegen, weil der Staat zum Dienst eines Höheren, zum Dienste Gottes, vorhanden ist, muß sich in ihm alles Persönliche, Private, bloß Menschliche unterordnen und das Anstaltliche, das eigentlich Organische hervortreten. Nur deswegen stehen Obrigkeit und Volk gemeinsam unter einer höheren Notwendigkeit, auf die ihre Befugnisse und ihre Wirksamkeit bezogen sind. Es ist aber danach auch der Zweck des Staates nicht bloß eine Erfüllung sittlicher Ordnungen, sondern auch ein Dienst und Gehorsam gegen die Person Gottes und die Aufrichtung eines Reiches zur Ehre Gottes und also sollen Obrigkeit und Volk ihn betrachten.

Es ruht endlich auch die Wirksamkeit des Staates in der Tat, wenngleich verborgen, auch auf dem Einfluß Gottes. Zwar jene Durchdringung Gottes und des Menschengeschlechts, nach welcher er göttliches und menschliches Reich in untrennbarer Einheit wäre, ist im irdischen Zustand der Gottentfernung nicht möglich. Dennoch aber ist es nur der göttliche Hauch, der die Staaten bildet und erhält und der Staat ist ein Werkzeug in Gottes Hand. Gott legt den Menschen, je nach einem jeglichen Zeitalter und jeglichen Volk, ins Herz, welche Ordnung sie herstellen, welche Ziele sie anstreben sollen. Mögen dann einzelne und Massen, Herrschende und Gehorchende ihm auch widerstreben, die Macht der Gemeinschaft über die einzelnen, die Macht der die Geschlechter überdauernden Einrichtung behält den Sieg und wie dann auch die Menschen innerlich zu Gott stehen mögen, für den allgemeinen äußeren Zustand muß mehr oder weniger sein Gebot erfüllt werden. Ja, Gott hat, da er den Menschen die unbegrenzte Freiheit gab, das sittliche Gebot zu befolgen oder nicht, eben diese Macht der Einrichtung befestigt, damit sie eine Schranke sei gegen den äußeren Abfall des ganzen Menschengeschlechts. Desgleichen, wenn der Staat der Führung in der Geschichte dient, welche die Zustände und die Bildung des menschlichen Geschlechtes in künstlerischem und providentiellem [vorherbestimmtem - wp] Gang durch die Völker und Epochen durch zu ihrer letzten Entfaltung bringt, so dient er damit dem lebendigen Gott, der da die Geschichte fügt und steht unter seinem Einfluß.

So hat Gott, nachdem er seine persönliche und unmittelbare Wirksamkeit aus der Zeitlichkit um der menschlichen Schuld willen zurückgezogen, doch auf wunderbare Weise diese Anstalt über die Menschen gesetzt, aus ihnen selbst gebildet, aber mit seinem Ansehen bekleidet und seinem Einfluß zugänglich, daß sie in seinem Namen ihren ganzen äußeren Zustand beherrsche. Der Staat ist demnach die Anstalt Gottes für diesen Zustand. Er soll ihn an Gottes Statt ordnen, fördern, Verletzungen der Ordnung strafen, eben damit aber auch den sittlich-vernünftigen Willen der menschlichen Gemeinschaft bewähren, d. i. ihren Gehorsam, Gottes Ordnung aufzurichten und ihre eigene Einsicht in die Weisheit dieser Ordnung. Dazu ist der Staat ausgestattet mit der Majestät Gottes und seiner Machtvollkommenheit auf Erden. Er ist, wenn auch in der getrübtesten Weise, immerdar ein göttlich-menschliches Reich.

Beruth demnach das Ansehen des Staates in seinem tieferen Grund auf göttlicher Vollmacht, so kommt es doch vermöge der Selbständigkeit, die Gott allen seinen Schöpfungen und Einrichtungen verleiht und vermög der Zurückziehung aller unmittelbaren und sichtbaren Wirkung Gottes aus der Zeitlichkeit dem Staate in völlig selbständiger Weise zu. Es ist zunächst und unmittelbar ein ihm selbst innewohnendes Ansehen und verbleibt ihm unbedingt auch dann, wenn er es gegen den Zweck, für welchen es erteilt ist, gebraucht. Nur hat es vermöge jenes seines Ursprunges eine Grenze da, wo das unmittelbare Gebot Gottes spricht. Man darf der Obrigkeit nicht gehorchen, wenn sie eine Verletzung apodiktischer religiöser oder sittlicher Vorschriften anordnet. Es ist demnach keineswegs der Rechtsgrund des Staates in der göttlichen Vollmacht zu suchen. Diesen hat der Staat in sich selbst, weil er eben die realisierte Rechtsordnung ist. Es ist sein Recht, nicht das Recht Gottes, welches die Untertanen rechtlich bindet.

Nur der tiefere sittliche Grund für den Staat ebenso wie für das Recht selbst liegt in der göttlichen Vollmacht. Darum ist auch ein Staatsbefehl, der Gottes Gebot widerstreitet, keineswegs unrechtmäßig, - denn der Staat ist selbst die Quelle aller Rechtmäßigkeit - sondern bloß sittlich unverbindlich und sittlich zum Nichtgehorsam auffordernd für alle, die Gottes Gebote erkennen. Darum kann auch ein der Religion völlig entkleidetes Volk immer noch eine Anerkennung des Staates als einer höheren, in ihm selbst gegründeten Autorität möglicherweise behalten und es ist umgekehrt auch für das Volk, das den Glauben bewahrt, diese Selbständigkeit der Staatsautorität nicht aus den Augen zu verlieren.

Der Streit über das göttliche Recht der Obrigkeiten scheint deshalb, zunächst betrachtet, mehr ein religiös-philosophischer als ein rechtlich-politischer Streit. Denn Recht und Politik haben es an und für sich bloß mit dem Grundsatz zu tun, daß der Staat, bzw. der König sein Ansehen aus sich selbst hat, nicht durch die Untertanen. Ob dagegen dieses in sich gegründete Ansehen von Gott ausfließt oder von der Weltsubstanz oder von einer mechanischen Notwendigkeit, ist rechtlich und politisch zunächst nicht die Frage.

Einerseits erscheint die Aufgabe des Staates jedoch ganz anders, wenn er von der Person Gottes völlig gelöst wird, andererseits kann sich das Ansehen des Staates tatsächlich nicht erhalten, sowie der Glaube an die göttliche Sanktion entschwunden ist, sondern es ist dann jeder geneigt, seinen Willen und somit das Volk seinen, d. i. der Massen Willen als Quelle und Richtschnur der Staatsgewalt geltend zu machen. Darum hat das göttliche Recht der Obrigkeit dennoch nicht bloß das religiöse Interesse, daß die menschliche Lebensordnung auf Gott bezogen werde, sondern auch das politische Interesse, daß der Staat und seine Verfassung diese tiefere Befestigung und Bürgschaft erhalte. Das menschliche Ansehen im Staate darf nimmermehr theokratisch mit dem göttlichen Ansehen vermengt, aber es muß notwendig religiös auf das göttliche Ansehen gegründet werden.

Mit diesem allem wird das Ansehen des Staates keineswegs auf die Tatsache der Offenbarung gegründet, sondern auf Gottes Ordnung und Ermächtigung, die schon unser Gewissen bezeugt und die Offenbarung nur sicherer und vollkommener kundgibt und ausdrücklich bekräftigt. Und wie die Gebote und Ordnungen Gottes überall nicht von der menschlichen Erkenntnis derselben und den Mitteln für diese Erkenntnis abhängen, so gilt das Ansehen des Staates und der Obrigkeit auch da, wo die christliche Offenbarung nicht gekannt ist oder wo der Unglauben sich von ihr emanzipiert hat.

Die Griechen fassen den Staat in unbefangener Beobachtung als eine gegebene sittliche Autorität auf. Das ist ein Mangel der Erkenntnis des tieferen Grundes dieser Autorität wie auch einer wesentlichen Seite in der Bedeutung des Staates, aber keine Leugnung. Das Mittelalter übertreibt die Gottverordnetheit der Obrigkeit zu einer theokratischen Auffassung. Die Reformation erkennt die göttliche Institution der Obrigkeit in ihrer Reinheit. Die neuere Rechtsphilosophie - GROTIUS bis KANT und ROUSSEAU - entzieht dem Staat die selbständige Autorität und gründet ihn bloß auf die Einwilligung seiner Glieder, aus der sich aber nie ein Staat und eine Autorität ergibt. Die spekulative Rechtsphilosophie - SCHELLING und HEGEL - hat die selbständige Autorität desselben wieder zur Einsicht gebracht, aber sie nimmt diese nicht, wie die Griechen, als eine gegebene an, sondern gründet sie darauf, daß sie den Staat selbst zu Gott, nämlich zu einer und zwar einer der höchsten Entwicklungsstufen Gottes, macht.
LITERATUR Friedrich Julius Stahl, Philosophie des Rechts, Bd. II, §§ 48 - 52 in Georg Mollat Lesebuch zur Geschichte der deutschen Staatswissenschaft Osterwieck/Harz 1891