cr-3E. PfleidererJ. E. ErdmannF. Mauthner
 
FRANCIS BACON
(1561-1626)
Aphorismen von der Auslegung der Natur
und der Herrschaft des Menschen

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"Das Bindungsmittel zwischen den Menschen ist die Sprache; allein die Worte werden der Fassungskraft des gemeinen Haufens gemäß gewählt, und so wird der Verstand durch unpassende Wortbezeichnungen oft irregeführt."

  1. Der Mensch, der Diener und Ausleger der Natur, wirkt und weiß so viel, als er von der Ordnung der Natur durch Versuche oder durch Beobachtung bemerkt hat; weiter weiß und vermag er nichts.

  2. Weder die bloße Hand, noch der sich selbst überlaßne Verstand vermag sonderlich viel; durch Werkzeuge und Hilfsmittel wird die Sache gefördert; der Geist bedarf deren nicht minder denn die Hand. Und wie die Werkzeuge die Tätigkeit der Hand lenken und leiten, so stützen und schützen die Werkzeuge des Geistes den Verstand.

  3. Menschliches Wissen und Können fallen in Eins zusammen, weil Unkunde der Ursache uns um den Erfolg bringt. Denn der Natur bemächtigt man sich nur, indem man ihr nachgibt, und was in der Betrachtung als  Ursache  erscheint, das dient in der Ausübung zur  Regel. 

  4. Zur Vollführung vermag der Mensch nichts weiter, als die Naturkörper zu binden und zu trennen; das Übrige bewirkt die Natur im Innern.

  5. Es pflegen sich (hinsichtlich der Werke) in die Natur zu mischen: der Mechaniker, der Mathematiker, der Arzt, der Alchymist und der Magier; aber Alle (wie jetzt die Sachen stehen) mit schwachem Versuche und unbedeutendem Erfolge.

  6. Unsinn und Widerspruch wäre es, zu wähnen, daß Etwas, was bis jetzt nicht zu Stande gebracht ist, anders als durch eine bisher noch unversuchte Methode geschehen könne.

  7. Bücher und Kunstwerke scheinen reich zu sein an Erzeugnissen des Geistes und der Hand; allein diese Mannigfaltigkeit besteht in gesuchter Spitzfindigkeit, woraus wenige und bereits bekannte Dinge abgeleitet werden; nicht aber in einer großen Anzahl neuer Grundsätze.

  8. Auch verdanken wir, was bereits erfunden ist, mehr dem Zufalle und der Empirie als den Wissenschaften. Die Wissenschaften, welche wir jetzt besitzen, sind nichts anderes als eine Zusammenreihung vorher schon erfundener Dinge; nicht aber Erfindungsmethoden oder Entwürfe zu neuen Werken.

  9. Die einzige Ursache und Wurzel alles Unheils in den Wissenschaften ist, daß wir, in falscher Bewunderung der Kräfte des menschlichen Geistes verloren, die wahren Hilfsmittel für ihn aufzusuchen versäumen.

  10. Die Subtilität der Natur übersteigt bei weitem die der Sinne und des Verstandes, sodaß alle jene schönen Meditationen und Speculationen und Auseinandersetzungen unnütze Dinge sind; nur daß Niemand da ist, der es bemerkt.

  11. Gleichwie die gegenwärtigen Wissenschaften nicht zur Erfindung der Werke führen, so ist ebenfalls die jetzige Logik unnütz zur Erfindung der Wissenschaften.

  12. Diese Logik dient eher dazu, Irrtümer, welche auf oberflächlichen Begriffen beruhen, zu begründen und zu befestigen, als zur Aufdeckung der Wahrheit; so bringt sie denn mehr Unheil als Nutzen.

  13. Der Syllogismus wird auf die höchsten Grundsätze der Wissenschaften gar nicht, auf die Mittelsätze vergeblich angewandt, indem er der Subtilität der Natur bei weitem nachsteht; er bemächtigt sich also des Beifalls, nicht der Sachen selbst.

  14. Der Syllogismus besteht aus Sätzen, die Sätze aus Wörtern, die Wörter sind Zeichen für Begriffe. Sind nun die Begriffe selbst, worauf es eigentlich ankommt, verworren und oberflächlich von den Dingen abstrahiert, so hat das, was darauf gebaut ist, keinen Haltpunkt; - daher beruht unsere einzige Hoffnung auf einer richtigen Induction.

  15. An den Begriffen ist nichts Gesundes, weder an den logischen, nach an den physikalischen; die Begriffe von  Substanz,  von  Qualität,  von  Thun,  von  Leiden,  selbst vom  Sein  taugen nichts; noch viel weniger die von  schwer, leicht, dicht, dünn, feucht, trocken,  von  Zeugung  und  Zersetzung,  von  anziehender  und  abstoßender Kraft,  von  Element, Materie, Form  und dergleichen: alle sind phantastisch und übel bestimmt.

  16. Die gemeinen Begriffe vom Menschen, vom Hunde, von der Taube, und die unmittelbaren Sinneswahrnehmungen von  Wärme, Kälte, weiß, schwarz  trügen zwar nicht geradezu, doch werden auch sie zuweilen durch den Strom und die Vermischung der Dinge schwankend gemacht; alle übrigen, deren man sich bis zuletzt bedient hat, sind Verirrungen, indem sie nicht auf die rechte Weise von den Dingen entlehnt sind.

  17. Nicht geringer als in Ableitung der Begriffe ist die Hast und Irrung in Feststellung der Grundsätze; dieses ist der Fall schon bei den Grundprincipien, weit mehr aber noch bei den Folgesätzen, welche der Syllogismus daraus zieht.

  18. Was nun erfunden ist in den Wissenschaften, ist von der Art, daß es den gewöhnlichen Begriffen fast schon zum Grunde liegt; um aber weiter und tiefer in die Natur einzudringen, muß man Begriffe sowohl als Axiome auf einem sichern Wege von den Dingen herleiten; überhaupt muß eine zuverlässigere und bessere Verstandesoperation in Gang kommen.

      
  19. Zwei Wege gibt es zur Untersuchung und Auffindung der Wahrheit - es kann nicht mehrere geben. - Der eine ist ein Sprung von der sinnlichen Wahrnehmung und von Einzelnen zu höchst allgemeinen Grundsätzen; aus diesen höchsten Wahrheiten werden sodann die Mittelsätze aufgefunden; dieser Weg ist der jetzt gewöhnliche. Der andere leitet von der sinnlichen Wahrnehmung und vom Einzelnen ebenfalls Grundsätze her; aber er steigt dann allmählich und stufenweise höher, bis er erst ganz zuletzt zu den allgemeinsten, höchsten gelangt - das ist der wahre Weg, aber noch unbetreten.

  20. Denselben erstbezeichneten Weg geht der Verstand, sich selbst überlassen, ebenso, wie nach der dialektischen Methode. Der Geist nämlich, wird der Erfahrung bald überdrüssig und sucht seiner Bequemlichkeit wegen das Gebiet des Generellen. Dieses Übel ist von der Dialektik herbeigeführt zum Glanz der öffentlichen Disputationen.

  21. Der sich selbst überlaßne Verstand pflegt bei einem nüchternen, ruhigen, ersten Kopfe (besonders wenn nicht schon aufgenommene Ansichten ihn eingenommen haben) jenen zweiten, richtigen Weg einzuschlagen; allein nicht gar lange; da der Verstand ohne Hülfe und Leitung ein unbeständiges Ding ist und gänzlich unvermögend, dunkle Gebiete zu durchdringen.

  22. Beide Wege gehen von der sinnlichen Wahrnehmung und einzelnen Fällen aus und endigen in den höchsten abstracten Sätzen; aber beide unterscheiden sich doch darin unendlich, daß der eine das Gebiet der Erfahrung und das Einzelne nur flüchtig durchstreicht, der andre es aber bedächtig und ordnungsgemäß durchzieht; der eine gleich von vornherein unnütze allgemeine Abstractionen aufstellt, der andre Schritt vor Schritt zu dem aufsteigt, was aus der Natur sich ergibt.

  23. Nicht geringe ist der Unterschied zwischen den Schattenbildern des menschlichen und den Ideen des göttlichen Geistes, das heißt: zwischen gewissen gehaltlosen Meinungen und dem wahren Inhalte der Dinge, ihrem wirklichen Gepräge.

  24. Keineswegs können aus Schlüssen feste Grundsätze zu neuen Erfindungen gezogen werden, weil die Schlußform der genetischen Entstehung der Dinge selbst bei weitem nicht nahe kommt. Allein Axiome, aus den Einzelheiten ordnungsgemäß und folgerecht entwickelt, führen leicht zu neuen Einzelheiten, und so wird die Wissenschaft fruchtbar.

  25. Die Axiome, welche jetzt im Gange sind, sind die Früchte weniger einzelnen Erfahrungen, wie sie sich täglich aufdringen, und nach diesem Maßstabe hat man sie ausgedehnt. Daß man sich also nicht wundre, wenn sie nichts ferneres Neues hervorbringen! Ergibt sichnun dennoch etwas, früher noch nicht Bekanntes, so wird das Axiom durch irgend einen Kunstgriff zu Ehren gebracht, wo man doch, redlicher Weise, es berichtigen sollte.

  26. Des Vortrags wegen nennen wir gewöhnlich diejenige Methode, welche jetzt zur Naturforschung zu dienen pflegt (weil sie etwas Übereiltes und Unreifes ist), die  Anticipationen  der Natur; jene dagegen, die auf dem richtigen Wege aus den Gegenständen selbst entnommen ist, die  Interpretation  der Natur.

  27. Jene Anticipationen sind hinlänglich zum Überreden, weil man ganz gut mit Phantastereien, wenn sie nur mit Methode und Consequenz vorgetragen werden, Proselyten machen kann.

  28. Ja, um Beifall zu gewinnen, sind die Anticipationen besser als treue Darstellung, weil sie, die Resultate einseitiger, meist aus dem täglichen Leben genommener Tatsachen, den Verstand leicht umnebeln und die Phantasie in Anspruch nehmen; wogegen die Interpretationen, aus höchst mannigfachen und verschiedenen Tatsachen hin und wieder zusammengetragen, dem Verstande nicht so plötzlich einleuchten, sodaß sie, im Vergleich mit jenen eingewurzelten Ansichten, wie Glaubensgeheimnisse klingen mögen.

  29. Also in den Wissenschaften, die auf hypothetischen Anischten beruhen, sind solche Anticipationen und Wortkram herrlich; wo es nämlich auf Beifall, nicht auf die Sache selbst abgesehen ist.

  30. Und wenn auch die besten Köpfe aller Zeiten sich vereint und miteinander gearbeitet hätten: durch die Anticipationsmethode wäre in den Wissenschaften kein Schritt weiter gethan; weil jene Radicalirrtümer der ersten geistigen Verdauung mit allen Heilmitteln und Hülfsmittel späterhin nicht mehr hergestellt werden können.

  31. Vergeblich erwartet man sonderliche Fortschritte in den Wissenschaften durch Aufthürmung und Pfropfung des Neuen aufs Alte; aber von dem untersten Fundamente aus muß die Wiederherstellung beginnen, wenn man nicht ewig und mit erbärmlichem Fortschritte sich im Kreise drehen will.

  32. Allen alten Schriftstellern wird hierdurch ihre Ehre um nichts geschmälert, da es ja hier nicht auf eine Vergleichung der Talente und Fähigkeiten, sondern der Wege abgesehen ist, und wir nicht die Rolle eines Richters, sondern eines Wegweisers annehmen.

  33. Über unsern Weg kann nun - offen gestanden - durch die gebräuchliche Anticipationsmethode keine Urtheil erwachsen, noch über dessen Ergebnisse; denn wir können uns nicht nach Gesetzen richten lassen, die wir eben selbst vor den Richterstuhl führen wollen.

  34. Es ist keine Kleinigkeit für uns, unsere Ansichten vorzutragen und einleuchtend zu machen, weil man auch das Neue gewöhnlich auf die alte Weise versteht.

  35. Borgia sagt von dem italienischen Feldzuge der Franzosen: sie seien nicht mit den Waffen, sondern mit einem Stück Kreide in der Hand, um ihre Quartiere zu bezeichnen, gekommen. So ist auch unsre Absicht, für unsre Lehre offne und geneigte Gemüter zu finden; denn Zänkereien führen zu nichts, wo wir über Prinzipien, selbst über Erkenntnisse, ja über die Beweisformen noch uneins sind.

  36. Uns bleibt nur die eine und einfache Methode, die Leser auf die einfachsten Tatsachen in Reihe und Ordnung gestellt zu leiten; wobei sie damit anfangen müssen, vor der Hand die gewohnte Vorstellungsweise bei Seite zu stellen und sich an die Dinge selbst zu gewöhnen.

  37. Die Methode derer, welche Alles unbgreiflich nennen, und die unsrige stimmen in ihren Anfängen gewissermaßen überein; daber die Ausgänge beider sind unendlich verschieden. Jene nämlich sagen: man könne schlechthin gar nichts wissen; wir dagegen: man könne von der Natur nach der bisherigen Methode nicht viel wissen. Jene also sprechen dem Verstande wie dem Sinne alle Zuverlässigkeit ab; wir aber sinnen auf Hilfsmittel für dieselben.

  38. Die  Vorurteilsgötzen,  die falschen Begriffe, welche den menschlichen Verstand bereits eingenommen und sich darin festgesetzt haben, haben ihn nicht bloß höchst schwer zugänglich für das Licht der Wahrheit gemacht, sondern auch, wo es ihm gelungen ist, einzudringen, kehren jene oft belästigend bei der Erneuerung der Wissenschaften zurück, wofern man nicht, dieser Warnung eingedenk, stets dagegen auf seiner Hut ist.

  39. Vier Arten von Vorurteilsgötzen sind es, die sich des menschlichen Geistes bemächtigen. Des Vortrags wegen bezeichnen wir sie mit folgenden Namen:

    1. Vorurteile der Gattung
    2. Vorurteile des Standpunktes
    3. Vorurteile der Gesellschaft
    4. Vorurteile der Bühne

  40. Um die Vorurteile zu vernichten, ist unstreitig die Abteilung der Begriffe und Grundsätze vermöge einer richtigen Induction das Beste; doch ist schon die bloße Angabe dieser Vorurteile von bedeutendem Vorteile. Denn die Lehre von den Vorurteilen verhält sich ebenso zur Naturforschung, wie die von den sophistischen Künsten zur gewöhnlichen Logik.

  41. Die  Vorurteile der Gattung  haben ihren Grund in der menschlichen Natur selbst und im Geschlechte, in der Gattung der Menschen. Es ist eine falsche Annahme: unsere Sinne seien der Maßstab der Dinge. Vielmehr sind alle Wahrnehmungen, sowohl sinnliche als geistige, der Beschaffenheit des Beobachters, nicht dem Weltall analog; und der menschliche Verstand gleicht einem unebnen Spiegel zur Auffassung der Gegenstände, welcher ihrem Wesen das seinige beimischt und so jenes verdreht und verfälscht.

  42. Die  Vorurteile des Standpunkts  sind die dem einzelnen Menschen anklebenden. Denn jeder hat (außer den allgemeinen Verirrungen der Menschennatur) noch einen besonderen Gesichtspunkt, einen eignen Standpunkt, wonach sich das Licht der Natur bricht und zersetzt. Dieser ist Folge der eigentümlichen Natur eines jeden, oder der Erziehung und des Umganges, oder der Beschäftigung mit Schriften und des Nachbetens verehrter Männer, oder er wird bestimmt, je nachdem die Eindrücke ein vorher eingenommenes, oder ruhiges, freies Gemüt ansprechen, und dgl. Der menschliche Geist ist also, nach der jedesmaligen Laune des Einzelnen, ein unbeständiges, schwankendes, vom Zufalle abhängendes Wesen. Trefflich sagt Heraklit, daß die Menschen ihr Wissen aus den kleineren Welten, nicht aus der großen allgemeinen Welt schöpfen.

  43. Auch aus der geselligen Verbindung der Menschen unter einander entspringen gewisse Vorurteile, welche wir daher  Vorurteile der Gesellschaft  nennen. Das Bindungsmittel zwischen den Menschen ist die Sprache; allein die Worte werden der Fassungskraft des gemeinen Haufens gemäß gewählt, und so wird der Verstand durch unpassende Wortbezeichnungen vielfach irre geführt. Die Definitionen und Erklärungen derselben, welche sich die Gelehrten machmal vorbehalten, machen keineswegs dieses Übel gut. Die Worte thun dem Verstande wahrhaft Gewalt an, werfen alles durcheinander und führen zu vielen leeren Streitigkeiten und Einbildungen.

  44. Endlich gibt es Vorurteile, welche sich des menschlichen Geistes bemächtigt haben durch die verschiedenen philosophischen Secten und durch verkehrte Beweismethoden: wir nennen sie  Vorurteile der Bühne.  - Unseres Dafürhalten sind nämlich alle bisher erfundenen oder entlehnten philosophischen Systeme samt und sonders Fabeln und Spiele einer erdichteten Theaterwelt. Dieses behaupten wir nicht bloß von den jetzigen, oder von den älteren philosophischen Secten; da noch viele dergleichen Fabeleien erfunden werden können und doch ganz verschiedenen Irrtümern sehr ähnliche Ursachen zum Grunde liegen können. Auch gilt dieses nicht bloß von ganzen philosophischen Systemen, sondern auch von einzelnen Grundsätzen und Axiomen in den Wissenschaften, die durch Überlieferung, blinden Glauben und Nachlässigkeit Ansehen gewonnen haben. Aber wir müssen jetzt diese Vorurteile einzeln und bestimmter beleuchten, dem menschlichen Geiste zur Warnung.

LITERATUR, Francis Bacon, Neues Organ der Wissenschaften, Darmstadt 1981