ra-2W. JamesC. GüttlerE. AdickesG. SperlP. Natorp    
 
MAX REISCHLE
Werturteile und Glaubensurteile

"Julius Kaftan hatte die Disjunktion aufgestellt: alle unsere einfachen Urteile sind entweder theoretische Urteile, d. h. sie drücken einen Tatbestand aus, den wir vorstellen, oder Werturteile, d. h. sie drücken ein Verhältnis aus, welches wir als lebendige Wesen zum Vorgestellten einnehmen. Ritschl wendet gegen diese Disjunktion ein, daß jedes theoretische Erkenntnisurteil in Wahrheit selbst ein Werturteil in sich schließe; es ruhe auf einer Wertschätzung, die sich z. B. in der vom Willen geleiteten aufmerksamen Beobachtung der zu erkennenden Dinge betätige. Ritschl sucht daher Kaftans Disjunktion dahingehend zu präzisieren, daß wir uns zwar bei aller unserer Tätigkeit in einer Wertschätzung bewegen, aber im einen Fall in einer direkten Wertschätzung der Dinge selbst, die wir als Mittel für den Zweck unseres Lebens auffassen, im anderen Fall in einer Wertschätzung, die sich nur indirekt auf die Dinge richtet, direkt auf die Erkenntnis selbst, durch die wir den Tatbestand der Dinge festzustellen suchen."


Einleitung

Ist es nötig und ratsam, den vielerörterten Begriff des Werturteils nochmals zu untersuchen? Als der Kampf umd die Theologie ALBRECHT RITSCHLs zuerst in weiteren Kreisen entbrannte, wurde besonders jener Ausdruck in der Streitliteratur hin- und hergeworfen, oft mit recht wenig Verständnis; und unter den Schlagworten, welche für die mit RITSCHLs Anschauungen weniger vertrauten Kämpfer geschmiedet worden sind, ist es auch heutzutage noch der beliebtesten eines, daß RITSCHL alle Glaubenswirklichkeit in bloße Werturteil auflöst. Aber darum wäre eine erneute wissenschaftliche Untersuchung noch nicht geboten; vermag sie doch gegen solche Waffen nur wenig oder nichts auszurichten. - Doch auch in der ernsten wissenschaftlichen Verhandlung sind dem theologischen Begriff des Werturteils schon eingehende Untersuchungen gewidmet worden. Ich nenne aus dem letzten Jahrzehnt die Aufsätze und Schriften von GOTTFRIED SPERL (1), MAX SCHEIBE (2), OTTO RITSCHL (3), auch die sprunghaften, zum Teil aber geistreichen Apercus [geistreiche Bemerkungen - wp] von GUSTAV VORBRODT (4). Man muß sich in der Tat fragen, ob nach diesen dankenswerten Arbeiten ein Zurückkommen auf die Frage nicht überflüssig ist.

Wenn ich mich trotzdem dem vielbesprochenen Problem nochmals zuwende, so bestimmt micht dazu fürs  erste  die Beobachtung, daß neuerdings auch auf philosophischem Gebiet der Begriff des Wertes und Werturteils häufiger gebraucht wird als früher. Da und dort ist er in ganz ähnlichem Zusammenhang verwendet worden, wie in der theologischen Streitverhandlung: auch unter Philosophen wurde darüber verhandelt, ob nicht jede umfassende Weltanschauung auf Werturteilen beruhen müsse. (5) Größtenteils aber ist der Begriff des Wertes und Werturteils in einem anderen Zusammenhang in Angriff genommen worden, nämlich mit dem Zweck, eine umfassende psychologische Theorie der Wertverhältnisse als Grundlage für die Nationalökonomie, Kulturgeschichte und Ethik zu schaffen, so von ALEXIUS MEINONG, (6) CHRISTIAN von EHRENFELS (7), FELIX KRÜGER (8). Vielleicht ist doch manches von diesen philosophischen Untersuchungen auch für die thelogische Verwendung des Wortes bedeutsam und lassen sich umgekehrt auf dem Boden der theologischen Fragestellung einzelne Gesichtspunkte auch für die philosophische Betrachtung des Wertbegriffs gewinnen. Fürs  zweite  aber scheint mir der folgende Versuch, mit dem ich zum Teil auf alte Studien zurückgreife, dadurch gerechtfertigt, daß auch die neueren theologischen Arbeiten über den Wertbegriff uns doch zu keinem einheitlichen Ergebnis führen und zudem auch in manchen Punkten noch der Ergänzung fähig sind. So kann eine neue Prüfung der Frage selbst und der widerstreitenden Ansichten darüber doch wohl einige neue Gesichtspunkte zur Lösung beitragen. Vielleicht lassen sich doch wenigstens einzelne Streitpunkte aufhellen und die entscheidenden Probleme klarer herausarbeiten, auch wenn man sich keine Hoffnung machen darf, den Widerstreit der Meinungen selbst zur Ruhe zu bringen.




Kapitel I

Rückschau auf die theologische Kontroverse
über die Werturteile

1. Was ALBRECHT RITSCHLs  leitender Gedanke  war, wenn er den Begriff des Werturteils zur Charakteristik des religiösen Erkennens verwendete, läßt sich leicht erkunden, vielleicht gerade deshalb umso leichter, weil er den Ausdruck ursprünglich, in der  ersten Auflage  von "Rechtfertigung und Versöhnung" (1874), noch nicht gebraucht, sondern erst später als geschickte Zusammenfassung seiner Ansicht aufgenommen hat. Schon in der ersten Auflage ist es eine seiner grundlegenden Anschauungen, daß Religion und "theoretisches Erkennen" (Bd. III, Seite 170: "Das theoretische Welterkennen") "entgegengesetzte Geistestätigkeiten" (2. Auflage vorsichtiger: "verschiedene Geistesfunktionen") sind, daß also insbesondere auch in der für jede Religion wesentlichen Weltanschauung und der wissenschaftlichen Welterkenntnis zwei "heterogene Erkenntnisarten" (III, 179) vorliegen. Die allgemeine Einsicht in dieses Verhältnis war ansich auch in der Theologie nichts Neues; ist sie doch, von KANT abgesehen, schon von SCHLEIERMACHER (vgl. "Der christliche Glaube I", § 16, Zusatz Seite 117) mit voller Klarheit ausgesprochen. Neu war nur die Konsequenz, mit der RITSCHL die Unterscheidung durchführte; neu zum Teil auch die besondere Art und Weise, wie er den Unterschied zwischen religiösem und wissenschaftlichem Erkennen zu bestimmen versuchte.

Wir werden uns die Ausführungen der ersten Auflage hierüber besser in freier Gruppierung, als in einem fortlaufenden Referat verdeutlichen können. Sie fixieren jenen Unterschied hauptsächlich in  zwei Punkten.  Im  ersten  lenkt RITSCHL von SCHLEIERMACHER völlig ab. SCHLEIERMACHER war überzeugt, daß auch "das rein wissenschaftliche Bestreben, welches die Anschauung des Seins zur Aufgabe hat, wenn es nicht in Nichts zerrinnen soll, ... mit dem höchsten Wesen entweder anfangen oder enden muß" (Christl. Glaube I, Seite 115). RITSCHLs erste Auflage dagegen vertritt in freier Anlehnung an LOTZE den Satz: "an der  religiösen  Weltanschauung ist das  Eigentümliche,  daß sie auf die Vorstellung von einem Ganzen angelegt ist (III 171, mit Verweisung auf LOTZE, Mikrokosmus III, Seite 331). Wo also die Vorstellung von der Welt als einer Einheit oder als einem Ganzen zustande kommt, erblickt RITSCHL darin einen "Erwerb des religiösen Erkennens" (III 172). Das  wissenschaftliche  Erkennen dagegen richtet sich nur auf die "allgemeinen Gesetze" (man vgl. dazu LOTZE am angeführten Ort), und zwar auf die Gesetze "des Erkennens und des Daseins von Natur und Geist (III 178). Ihm ist jene Vorstellung des Weltganzen fremd, "da sie durch die eigentliche Erfahrung und Beobachtung überhaupt nicht zustande kommt" (III 172).

Mit den letzten Worten ist aber schon der  zweite  und entscheidende Punkt angedeutet, in dem RITSCHL den Unterschied des religiösen und wissenschaftlichen Erkennens findet; er liegt nicht nur im verschiedenen Resultat, sondern im verschiedenen Weg dazu. Das  theoretische  oder wissenschaftliche Erkennen ist auf die "Anwendung der genauen Erkenntnismethode" (179) angewiesen: es muß "mit seinen Mitteln der Erfahrung und Beobachtung und mit der gesetzlichen Ordnung der Beobachtungen" (178), unter unbedingter Einhaltung seiner eigenen "logischen Bedingungen" (182), sein Ziel zu erreichen suchen. Dagegen "die  religiöse  Vorstellung von Gott und Welt" stellt sich als "ein Objekt der anschauenden Phantasie" dar (179). Aber die Phantasietätigkeit ist dabei keineswegs eine zufällige und regellose, und "die Einbildung der Gottesidee in der Religion" ist keineswegs eine "leere Einbildung" (185). Vielmehr ist die Religion und damit auch die religiöse Gottes- und Weltanschauung "ein praktisches Gesetz des menschlichen Geistes" (174, 185). Der menschliche Geist hat nämlich gegenüber der ihn umgebenden Welt ein ihm wesentliches und "eigentümliches Selbstgefühl" (174). Es gehört zum ursprünglichen, angestammten Wesen des Menschen, "daß sie sich gemäß ihrer geistigen Kraftausstattung von aller Natur unterscheiden und sich zu einer übernatürlichen Bestimmung angelegt fühlen" (173), zu einer "Erhabenheit oder Freiheit über der Welt und dem gewöhnlichen Verkehr mit ihr" (174), wie er im Erleiden ihrer Einwirkungen und dem Ausüben von Gegenwirkungen vor sich geht. Aber mit diesem ihrem Anspruch auf ein Freiwerden "von der gewöhnlichen natürlichen Bedingtheit ihres Lebens" (174) sind nun die Menschen in einen Kontrast hineingestellt, sofern sie trotz jenes geistigen Selbstgefühls doch "gemäß ihrer natürlichen Ausstattung unselbständige Teile der Welt sind, abhängig und gehemmt von anderen Wesen, welche auch nur Teile der Welt sind" (173). Eben hier ist nun der Punkt, wo die innere Notwendigkeit, die "praktische Gesetzmäßigkeit" der Religion innerhalb des geistigen Lebens hervorspringt: nicht das Erkennen, auch nicht das wissenschaftlich ausgebildete, nicht das Wollen, auch nicht das sittlich geordnete, kann jenen Kontrast lösen; denn auch diese geistigen Funktionen stoßen, bei aller Betätigung der Geistesmacht über die umgebende Welt, doch auf "viele Fälle der Hemmung und aufgenötigten Einschränkung", die uns die Zweifelsfrage wecken, ob der Mensch nicht doch nur "ein materieller Teil der Welt", ob die Idee des Guten, von der er sich in seinem Handeln leiten läßt, nicht doch bloß "eine täuschende Einbildung" sei (174). Einzig und allein die Religion kann dem Menschen zu dem verhelfen, was er in sich selbst noch nicht erreicht: nur in seiner "Beziehung zu Gott" und zwar in seiner "Abhängigkeit von Gott" kann er seinen Wert als geistiges Wesen der Welt gegenüber sichern. Darin, daß die Religion dem Menschen zur "qualitativen Erhebung des Geistes über die Welt" (175) und damit zu seinem höchsten persönlichen Wert der Welt gegenüber verhilft oder (in ihren unvollkommenen Formen) wenigstens zu verhelfen strebt, enthüllt sich zugleich der für das geistige Leben unentbehrliche und unersetzbare  Wert der Religion  selbst.

Eben hiermit ist aber auch das wichtigste Unterscheidungsmerkmal der religiösen  Erkenntnis  in allen ihren Gliedern, in der Gottesidee, Weltanschauung und Selbstbeurteilung, aufgedeckt und der Punkt bezeichnet, von dem aus für die Religion die Vorstellung von einem Ganzen erreichbar ist. Die Gesamtheit der religiösen Anschauungen ist von dem  einen  Punkt aus zu verstehen, daß die Religion dem Menschen "seinen Wert verbürgt, mit und durch Gott ein eigentümliches Ganzes zu sein" (174). Sofern dem Menschen dieses Ziel nur als eine Frucht seiner Abhängigkeit von Gott in Aussicht gestellt wird, ist die  Gottesidee  im Kreis der religiösen Anschauungen der einheitliche beherrschende Mittelpunkt. Sie ist auch "das ideelle Band zwischen der bestimmten  Welt anschauung und der Bestimmung, welche sich der  Mensch  in der so oder so angeschaten Welt gegeben weiß" (173). Sie enthält zugleich die Anweisung, wie der Mensch durch seine "religiöse Willensbewegung" (172), nämlich durch sein symbolisches Kultushandeln oder durch die direkte Gebetsrede zu Gott in Beziehung treten und so jene Bestimmung wirklich für sich realisieren kann. - Vermöge dieses Inhalts aber, der sich allenthalben auf den zu gewinnenden Wert des Menschen der Welt gegenüber bezieht, hat die religiöse Anschauung selbst den Charakter einer für den Menschen  wertvollen  Vorstellung.

Man könnte etwa versuchen, die ganze Darstellung RITSCHLs dahin zu deuten, daß die religiöse Weltanschauung im Unterschied zur wissenschaftlichen Welterkenntnis den Charakter eines  Postulates  habe. Gebraucht doch RITSCHL selbst Wendungen wie die: "um sich seinen Wert als eines Ganzen zu sichern, versucht der Geist eine Weltanschauung im Ganzen" (175). Aber diese Deutung entspricht doch  keineswegs der Absicht  von RITSCHL selbst. Von zwei Punkten aus hat er schon in der ersten Auflage den Postulatscharakter der religiösen Erkenntnis zu überbieten gesucht. Einmal findet er  nach rückwärts  die religiösen Anschauungen der einzelnen Religion ebenso wie ihre kultischen Betätigungen darin begründet, daß ein "Gefühl vom Wert" gewisser besonderer Bedingungen der betreffenden Religion mächtig ist, die als besondere  Offenbarung  Gottes angesehen werden (176, 178).  Keine  Religion ist vollständig verstanden, "wenn das Merkmal der Offenbarung an ihr entweder verneint oder auch nur als gleichgültig beiseite gesetzt wird" (176). Namentlich aber ist im  Christentum  die ganze religiöse Anschauung auf eine besondere "Wertschätzung der Person" des Stifters (353) begründet: er wird nicht nur als "Maßstab für den Umfang und die Art der sittlichen Aufgabe, so wie für die Weltstellung anerkannt, welche der Mensch im Christentum zu nehmen hat", ebenso als "Maßstab, nach welchem die Gottesverehrung, das Gebet berechtigt und voll gültig ist", sondern auch als "Schlüssel für die Weltanschauung" (177). Nur die in ihrer Bedeutung aufgefaßte besondere Offenbarung macht die Religion zu einem  einheitlichen Ganzen  von Weltanschauung: sie bildet das verbindende Mittelglied "zwischen der Geltung der allgemeinen Gottesidee und der Wahrnehmung der einzelnen Teile der Welt" und leitet dazu an, diese nach jenem allgemeinen Gedanken zu verstehen; sie bestimmt die Selbstbeurteilng des Menschen, und damit seine Stellung in der auf Gottes Willen zurückgeführten Welt ebenso seine Gottesverehrung (177). Darum ruhen alle christlichen Glaubenssätze auf der so gewerteten Offenbarung; speziell aber laufen alle Glaubenssätze über JESUM CHRISTUM selbst, die RITSCHL im Laufe der weiteren Darstellung entwickelt, darin zusammen, daß sie den  Wert  JESU CHRISTI für die Gewinnung des ewigen Lebens aufzeigen. -  Sodann  aber erhebt sich RITSCHL über die Auffassung der religiösen Gedanken als Postulate auch dadurch, daß er  nach vorwärts  auf eine Erfahrbarkeit von Gottes wirklichem Sinn hinweist. Die der Gottesidee entsprechende, vielmehr durch sie selbst ermöglichte "Gefühlserregung und Willensbewegung vermittelt dem Geist die Gewißheit, daß er als eigentümliches Ganzes seine Stelle in der Welt und über der Welt" nun auch wirklich gewinnt. Diese Erfahrung aber "verbürgt die  Wirklichkeit  Gottes, sofern sie von der  Wirksamkeit  Gottes überführt" (185).

In der Hervorhebung des Wertbegriffs innerhalb der religiösen Anschauung ist ein scharfer Unterschied zwischen theoretischem und religiösem Erkennen aufgerichtet. Auch darin ist die  Vergleichung  mit SCHLEIERMACHER' besonders instruktiv: RITSCHL hält sich durchaus auf dem Boden SCHLEIERMACHERs mit der Behauptung, daß das religiöse Erkennen mit ganz anderen Mitteln zustande kommt als das theoretische. Aber während SCHLEIERMACHER alle religiösen Anschauungen und Sätze aus dem schlechthinnigen Abhängigkeitsverhältnis ableitet, findet RITSCHL im Gefühl des Menschen von seiner  übernatürlichen  Bestimmung selbst erst die Wurzel für seine Abhängigkeitsstellung gegenüber von Gott und damit auch den Ausgangspunkt der gesamten religiösen Anschauung. Daraus folgt, daß nach RITSCHL vom Gedanken des dem Menschen bestimmten  Wertes  der ganze  Inhalt  der religiösen Gottes- und Weltanschauung durchdrungen und damit auch ihr  Charakter  bestimmt ist, während SCHLEIERMACHER höchstens insofern dem Wertgedanken Raum gibt, als auch er annimmt, daß das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl dem Menschen als die (schlechthin wertvolle) Vollendung seines psychischen Lebens nach der subjektiven Seite hin zu Bewußtsein kommt. - Die von SCHLEIERMACHER abweichende Richtung, die RITSCHL hier nimmt, ist gewiß in erster Linie aus seiner Vertiefung in die christliche Religion zu erklären, in der er den Gedanken eines alle Welt überragenden Wertes und einer überweltlichen Bestimmung der Menschenseele als einen zentralen Gedanken erkannte. Für die formelle Ausprägung dieser Konzeption und besonders für ihre Anwendung auf die Theorie des religiösen Erkennens ist ihm wohl vor allem KANT behilflich gewesen durch seine Gedanken vom unbedingten Wert der sittlichen Persönlichkeit und durch seine Unterscheidung des theoretischen Welterkennens und des praktischen Glaubens; neben ihm aber auch LOTZE. Er hat wohl besonders zur energischen Hervorhebung des Wertbegriffs den Antrieb gegeben. Denn schon LOTZE hat sich nicht nur überhaupt mit dem Wertbegriff gelegentlich beschäftigt, sondern er hat jenseits der Fragen, die theoretisch zu beantworten sind, ein Gebiet anerkannt, auf dem sich die "Bedürfnisse unseres Gemüts" gelten machen (Mikrokosmus II, 310), auf dem die Anschauung von einer "Welt der Werte" und von einem "absolut Wertvollen" hervorbricht und die "wertbestimmende Vernunft" entscheidet. Die erste Auflage RITSCHLs wendet den Wertbegriff etwa in denselben Umfang an wie LOTZE.

2. So viele Veränderungen und Erweiterungen RITSCHLs  zweite Auflage  von 1883 gerade in den Paragraphen über Religion und religiöses Erkennen aufweist, ist doch die Gesamtanschauung im wesentlichen dieselbe geblieben. In dem  ersten Punkt  allerdings, in dem die erste Auflage den Unterschied von religiösem und theoretischem Erkennen gefunden hatte, hat RITSCHL seine Ansicht fortgebildet. (9) Die an LOTZE angelehnte Unterscheidung, daß nur das religiöse Erkennen die Welt als Ganzes begreife, dagegen das philosophische nur die besonderen und die allgemeinen Gesetze der Natur und des Geistes feststelle, faßt RITSCHL nach zwei Seiten hin genauer.  Einmal  behält er es allein dem  Christentum  vor, daß es eine einheitliche Anschauung von der Welt als einem Ganzen und vom Menschen als einem Ganzen in und über ihr wirklich erreiche. Während RITSCHL in der ersten Auflage Seite 171 dies von den monotheistischen Religionen überhaupt ausgesprochen hatte, findet er jetzt in allen anderen Religionen nur Streben nach einem Ganzen der Weltanschauung und Lebenshaltung (III, 186f).  Sodann  aber gesteht er von der  Philosophie  als der Zusammenfassung der theoretischen Erkenntnisarbeit zu: "jede Philosophie verbindet mit dieser Aufgabe (die Gesetze der Natur und des Geistes festzustellen) auch die Absicht, das Weltganze in einem obersten Gesetz zu begreifen" (190). Aber wenn RITSCHL damit auch die Absicht der Philosophie genauer faßt, so ändert dies nichts am Ergebnis, zu dem er gelangt. Nach wir vor hält er daran fest: "mit der Absicht des wissenschaftlichen Erkennens ist keine Bürgschaft dafür verbunden, daß es mit  seinen Mitteln  der Beobachtung und der Verknüpfung der Beobachtungen durch erkannte Gesetze das höchste allgemeine Gesetz der Welt findet, von wo aus die abgestuften Ordnungen der Natur und des geistigen Lebens in ihrer Art erklärt und als ein Ganzes zu begreifen wären" (Seite 193f; es ist damit nur ein Satz aus Seite 178 in genauerer Fassung wiedergegeben). Nach wie vor ist er überzeugt, daß die Philosophen, wenn sie gleichwohl jenes höchste allgemeine Gesetz glauben entdecken zu können, das nicht mehr anhand der genauen Erkenntnismethode, sondern nur durch einen Aufwand von Einbildungskraft erreichen, zu welchem sie die Macht des  religiösen  Triebes führt. Nach wie vor betrachtet er es als das allein richtige Verfahren, daß die Philosophie, statt nur "unter der apokryphen [zwielichtigen - wp] Mitwirkung des religiösen Erkennens" eine Gesamtweltanschauung zu bilden, vielmehr offen die Grenzen anerkennt, die dem theoretischen Erkennen durch seine Mittel gezogen sind, und darum "dem Christentum die Ehre erweist, seine Gesamtweltanschauung eben als  religiöse  Weltanschauung anzunehmen" (aus dem Diktat der Dogmatikvorlesung 1882/83).

Damit aber ist schon gegeben, daß der zweite Unterscheidungspunkt zwischen theoretischem und religiösen Erkennen, welchen die erste Auflage feststellt, durchaus zu Recht bestehen bleibt. Er findet nur einen noch schärferen Ausdruck in dem Satz, daß das religiöse Erkennen im Unterschied vom theoretischen "sich in selbständigen  Werturteilen  bewegt" (Seite 191), "besteht" (191, 193; vgl. auch die posthume Schrift RITSCHLs über  fides implicita,  Bonn 1890, Seite 68) "oder verläuft" (198). - OTTO RITSCHL hat in seiner Schrift über die Werturteile dankenswerte Beiträge zur Geschichte der Begriffe "Wert" und "Werturteil" geliefert. Er überblickt die Verwendung des Wertbegriffs bei KANT, HERBART, SCHLEIERMACHER, de WETTE, ROTHE, LOTZE; außerdem nennt er RÜMELIN, BAUMANN, EUCKEN, WUNDT. Unter denen, die den Ausdruck "Werturteil" gebrauchten, wären außer GUSTAV RÜMELIN (Rede von 1871) wohl besonders Herbartianer anzuführen, so IGNAZ POKORNY, Zeitschrift für exakte Philosophie von ALLIHN und ZILLER, Bd. 8, 1869, besonders Seite 146, und OLAWSKY, Die praktischen oder Werturteile gegen über den theoretischen oder Wissensurteilen, Programm des Gymnasiums zu Lissa, 1873. Es erhellt sich daraus, daß ALBRECHT RITSCHL den schon geprägten Ausdruck "Werturteil" bloß adoptierte; aber er tat es doch nur, weil für dessen Aufnahme bei ihm selbst schon alles bereit lag. Vielleicht nicht ohne Einfluß war dabei unter den genannten Vorgängern GUSTAV RÜMELIN mit seinen Reden und Aufsätzen (Tübingen 1875), die RITSCHL, wie mir aus mündlichen Äußerungen bekannt ist, hoch schätzte. Direkt bestimmend wurde doch erst der Vorgang von HERMANN und KAFTAN. Wenn RITSCHL von einem eigentümlichen Selbstgefühl gesprochen hatte, in welchem der menschliche Geist seinen Wert der Welt gegenüber behauptet, so fließt nach HERMANN aus dem Selbstgefühl des Menschen von seiner höchsten persönlichen Würde "das Werturteil, in welchem er sich über die Natur erhebt" (Die Religion im Verhältnis zum Welterkennen und zur Sittlichkeit, Halle 1879, Seite 81) oder "in welchem der Mensch und die ihn umgebende Natur miteinander verglichen Werden und die letztere als Mittel für den ersteren als den wertvollen Zweck bestimmt wird" (Seite 80). Dieses Werturteil aber ist nach HERMANN charakteristisch für alle Religion und die notwendige Grundlage der Überzeugung, daß die in der Religion verkündete Welt des Glaubens wirklich sei; "das von Werturteilen geleitete Bewußtsein" (Seite 117) ist in den religiösen Vorstellungen die treibende Kraft. Und noch zentraler war bei KAFTAN, das Wesen der christlichen Religion, Basel 1881, die Verwendung des Begriffs Werturteil. Er hatte nicht nur den Satz zugespitzt, daß "schließlich Werturteile als das eigentlich Bestimmende der Frömmigkeit zugrunde liegen" (Seite 38) und daß sie auch für alles Religiöse "Wissen" entscheidend sind (Seite 39), sondern er hatte auch die "verschiedenen Arten der Wertbeurteilung", die natürliche, welche den Begriff des Lebens und höchsten Gutes zum Maßstab hat, die ästhetische und die moralische, unterschieden. Auf dieser Grundlage ergab sich ihm, daß "in aller Religion die natürliche Wertbeurteilung zugrunde liegt", also ein Urteil über das höchste Gut, bzw. die höchten Güter (Seite 55).

Offenbar war es nun hauptsächlich diese Darstellung KAFTANs, die RITSCHL zuerst veranlaßte, sich mit dem Begriff des Werturteils genauer auseinanderzusetzen. Er hat es getan in der Rezension des KAFTANschen Buches in der  Theologischen Literaturzeitung,  1881, Spalte 309. KAFTAN hatte die Disjunktion aufgestellt: alle unsere einfachen Urteile sind entweder theoretische Urteile, d. h. sie drücken einen Tatbestand aus, den wir vorstellen, oder Werturteile, d. h. sie drücken ein Verhältnis aus, welches wir als lebendige Wesen zum Vorgestellten einnehmen. RITSCHL wendet gegen diese Disjunktion ein, daß jedes theoretische Erkenntnisurteil in Wahrheit selbst ein Werturteil in sich schließe; es ruhe auf einer Wertschätzung, die sich z. B. in der vom Willen geleiteten aufmerksamen Beobachtung der zu erkennenden Dinge betätige. RITSCHL sucht daher KAFTANs Disjunktion dahingehend zu präzisieren, daß wir uns zwar bei  aller  unserer Tätigkeit in einer Wertschätzung bewegen, aber im einen Fall in einer  direkten  Wertschätzung der Dinge selbst, die wir als Mittel für den Zweck unseres Lebens auffassen, im anderen Fall in einer Wertschätzung, die sich nur  indirekt  auf die Dinge richtet, direkt auf die Erkenntnis selbst, durch die wir den Tatbestand der Dinge festzustellen suchen. - Diese Unterscheidung nun hat A. RITSCHL von der  zweiten Auflage  seiner "Rechtfertigung und Versöhnung" (1883) an aufgenommen, nur in leicht veränderter terminologischer Prägung. Auch beim wissenschaftlichen Erkennen ist das Gefühl von einem Wert dieser Erkenntnistätigkeit lebendig; Werturteile sind also auch beim theoretischen Erkennen maßgebend, aber es snd nur  begleitende Werturteile.  Neben diese treten die  selbständigen Werturteil,  in denen wir die vorgestellten Gegenstände selbst in ihrem Wert für unser persönliches Leben bestimmen. Diese selbständigen Werturteile sind darin wirksam, daß sie "Lust und Unlust erregen, bzw. den Willen zur Aneignung von Gütern oder zur Abwehr des Gegenteils in Bewegung setzen" (191). Eine  erste Gruppe  der selbständigen Werturteile, an denen diese Wirkungen zu beobachten sind, haben wir in der sittlichen Erkenntnis, also in der Feststellung davon, was ein sittlich wertvoller Zweck und was sittlich wertlos oder zweckwidrig ist. "Eine  andere Klasse  von selbständigen Werturteilen bildet das religiöse Erkennen" (ebd.) Es "bewegt sich in selbständigen Werturteilen, welche sich auf die Stellung des Menschen in der Welt beziehen", d. h. welche aussprechen, daß die von der betreffenden Religion dem Menschen verheißene Stellung zur Welt von höchstem Wert für sein Personleben ist. Dadurch rufen sie auch "Gefühle von Lust oder Unlust hervor, in denen der Mensch entweder seine durch Gottes Hilfe bewirkte Herrschaft über die Welt genießt oder die Hilfe Gottes zu jenem Zweck schmerzlich entbehrt" (ebd.); und sie haben auch die Kraft, den Willen in Bewegung zu setzen, und eben darin erweisen sie sich als selbständige Werturteile. (10)

So ist insbesondere in der  christlichen Religion  das Werturteil leitend, "daß in der bestimmungsgemäßen Erhebung über die Welt im Reich Gottes unsere Seligkeit besteht" (192). Indem aber auf diesen Punkt der Seligkeit im Reich Gottes alle Glieder der christlich-religiösen Anschauungen von Gott, von der Welt und vom Menschen bezogen sind, verläuft das  ganze  religiöse Erkennen in Werturteilen: man kann das Wesen Gottes, ebenso das Wesen CHRISTI nur erkennen, indem man ihren Wert für uns, nämlich die unsere Seligkeit schaffende Wirkung Gottes und Christi innerlich versteht und urteilend feststellt (198); und ebenso lassen sich alle anderen Gegenstände religiöser Erkenntnis nur als "Wertobjekte" auffassen. "Nur in ihrem Heilswert für uns erkennen wir Gott, Christus, die Gemeinschaft der Gläubigen, unsere Bekehrung und Wiedergeburt richtig" (Diktat der Dogmatikvorlesung 1882/83). Aber auch die Erkenntnis der Sünde kann nur gewonnen werden, wenn man am Maßstab des vollkommen Guten ihren Unwert feststellt (306).

RITSCHL war überzeugt, dß diese Art der religiösen Erkenntnis  schon vor Luther festgestellt  worden ist. Denn wenn nach LUTHERs Großem Katechismus Gott nichts anderes bedeutet als den Gegenstand unbedingten Vertrauens und wenn Gott und Vertrauen untrennbare Korrelate sind, so liegt darin, daß man Gott nur in einem vertrauenden Verständnis seines Heil schaffenden Wirkens, also im Werturteil, zu erfassen vermag. Das Gleiche liegt in dem reformatorischen Grundsatz, daß man CHRISTUM nur in seinen Wohltaten recht erkenne (6f, 367f). Schon daraus geht hervor, daß bei den Werturteilen keineswegs an Postulate gedacht ist, so wenig wie beim Wertbegriff der ersten Auflag; ist dochvon der zweiten Auflage an die Bedeutung der Offenbarung, durch welche unsere Werturteile geweckt und reguliert werden, nur noch kräftiger in den Mittelpunkt gerückt.

So hat dann RITSCHLs Gesamtanschauung von der religiösen Erkenntnis im Begriff des Werturteils ihren knappsten Ausdruck gefunden. Da auch HERMANN und KAFTAN ihn gebrauchten und andere an RITSCHL sich anschließende Theologen, besonders FERDINAND KATTENBUSCH, ihn aufnahmen und verteidigten (vgl. Theologische Literaturzeitung, 1882, Spalte 158f), so ist er zu einem  Kennzeichen der "Ritschlschen Schule"  geworden.

3. Er ist es vielleicht noch mehr dadurch geworden, daß er von den Gegnern dieser Theologie als ein  geschickter Angriffspunkt  angesehen wurde. Nicht um einen vollständigen geschichtlichen Bericht über die Angriffe, die sich gegen die Charakteristik des religiösen Erkennens durch den Begriff des Werturteils gerichtet haben, handelt es sich hier, sondern um eine Gruppierung der Haupteinwände, die laut geworden sind.

Der am  weitesten gehende Widerspruch  wandte sich überhaupt gegen die Einordnung des religiösen Erkennens in das Gebiet der Werturteile. Von sehr verschiedenen Motiven war dieser Widerspruch geleitet. Auf der  einen  Seite wurde der Vorwurf erhoben, daß durch die Kennzeichnung der religiösen Urteile als bloßer Werturteile die  Realität der Glaubenswelt verloren  gehe. LUTHARDT hatte schon gegen die erste Auflage von RITSCHLs Werk, also nicht er gegen den Terminus Werturteil, sondern schon gegen die Hervorhebung des Wertbegriffs überhaupt, die Kritik ausgesprochen: indem RITSCHL "mit der Ausscheidung alles Metaphysischen das Christentum unter den ausschließlichen Gesichtspunkt des Wertes, den alles Einzelne für die sittliche Zweckbestimmung des Menschen hat", stelle, gerate er in "ein moralisierende Wertbestimmung des Christentums, welche dasselbe in rationalistischer Verkennung seines göttlichen Wesens entwertet" (Kompendium der Dogmatik, 5. Auflage, 1878, Seite 62). Einen noch schärferen Ausdruck fand dieser Protest, nachdem auf RITSCHLscher Seite der Begriff  Werturteil  aufgekommen war, zuerst in der Abhandlung LUTHARDTs "Zur Beurteilung der Ritschlschen Theologie", Zeitschrift für kirchliche Wissenschaft und kirchliches Leben II, 1881, Seite 621: nach RITSCHL handle es sich im Christentum und der christlichen Theologie "nicht umd das Sein, sondern um die Bedeutung, um Werturteile"; nicht darum, "was Gott, was CHRISTUS, was die Auferstehung ist, sondern welchen Wert sie für uns haben." Demgegenüber bleibe es dabei: "damit, daß alles auf Werturteile reduziert wird, wird das Christentum entwertet; ... wenn wir das Werturteil vom Seinsurteil lösen, so hängt es schließlich in der Luft." Unendlich oft ist dieser Vorwurf wiederholt und variiert worden, besonders LEONHARD STÄHLIN hat in seiner Schrift "Kant, Lotze, Albrecht Ritschl - eine kritische Studie", Leipzig 1888, die scharfe Konsequenz gezogen, daß die RITSCHLsche Theorie des religiösen Erkennens "folgerichtig zur Auflösung aller Theologie und Religion in Jllusionen und Phantasmagorien führe" (Seite 222).

Von ganz  anderer Seite,  nämlich von liberalen Theologen wie A. E. BIEDERMANN (Christliche Dogmatik I, Berlin 1884) und OTTO PFLEIDERER (Die Ritschlsche Theologie kritisch beleuchtet, Braunschweig 1891) sind ähnliche Einwürfe gemacht worden. BIEDERMANN deutet wenigstens an, daß mit der "gewaltsamen Internierung der Religion in Werturteil" (Seite 239) die Objektivität der religiösen Vorstellungen unterzugehen drohe: die religiösen Werturteile haben einen "objektiven Wert" doch nur dann, wenn sie sich durch theoretische Urteile "rechtfertigen" (Seite 233) oder "begründen" (237) lassen. In einem stärkeren Ton äußert sich PFLEIDERER: "Wäre die Religion nur das, als was RITSCHL sie in den späteren Auflagen beschreibt, so stände der Theologe den philosophischen Positivisten von der Art F. A. LANGEs, LAAS' u. a. völlig wehrlos gegenüber, welche bekanntlich alle religiösen Vorstellungen für praktisch zwar ganz nützlich und wertvoll, im übrigen aber für grundlose Einbildungen erklären." RITSCHLs Religionsbegriff stehe aber auch im Widerspruch mit der Erfahrung des frommen Menschen, dem "seine Vorstellungen freilich wertvoll für sein Gefühl sind, aber doch nur unter der Voraussetzung, daß er auch von ihrer Wahrheit überzeugt ist" (Seite 20).

Aber die Kritik von seiten der liberalen Theologie richtet sich doch noch viel stärker auf einen  anderen  Punkt, darauf nämlich, daß durch die Unterscheidung der Werturteile und der theoretischen Urteile  der Wissenschaft entzogen  werde, was ihr gebühre. So erklärt BIEDERMANN: "Es ist einfach ein Überlistungsversuch des Sachwalters der Religion, um durch eine Gebietsabtrennung von Seiten der Philosophie sich als Theologe ihrer Kontrolle zu entziehen" (Seite 236). Besonders erweckt ihm KAFTANs "Bemühen, die Religion durch das Nadelöhr  natürlicher Werturteile  zu zwängen, den starken Verdacht, diese ganze Operation ziele schließlich darauf ab, die theoretische Wissenschaft dadurch gefügig zu machen, mit zugedrücktem Auge auch Kamele nebenbei passieren zu lassen" (Seite 241). Ganz ähnlich PFLEIDERER gegenüber RITSCHLs Satz, daß auch das theoretische Erkennen stets von Werturteilen begleitet sei, und gegenüber verwandten Äußerungen HERMANNs: "Ich kann mir diesen seltsamen Eifer für den  interessierten  Charakter allen Erkennens, welcher dem Geist der deutschen und protestantischen Wissenschaft so fern wie nur möglich steht, bloß erklären aus einem vielleicht halb unbewußten Wunsch, die  objektive Wahrheit,  diese für das Gefühl so unbequeme Macht, ganz aus der Welt zu schaffen, um dadurch freie Bahn zu gewinnen für die Alleinherrschaft der subjektiven Wahrheit, der Gefühle und ihrer Werturteile:  stat pro ratione voluntas."  [Statt der Vernunft entscheidet der Wille. - wp] (Seite 18f) (11)

Neben dem grundsätzlichen Widerspruch gegen die Verwendung des Begriffs Werturteil ist in der Kontroverse besonders auch eine  Gegnerschaft  hervorgetreten,  die den Begriff  selbst  anerkennt, aber ihn modifiziert.  An der Spitze dieser Kritiker steht ADALBERT LIPSIUS. In seinen Untersuchungen über "Philosophie und Religion", Leipzig 1885, glaubt zwar auch er gegenüber RITSCHL, bzw. HERMANN und KAFTAN dafür eintreten zu müssen, daß die Glaubensurteile beanspruchen, als Seinsurteile zu gelten und daß "irgendein religiöser Glaube nicht durch die nackte Berufung auf die persönlichen Wünsche und Interessen eines Subjekts sein Recht auf Geltung legitimieren könne" (Seite 183). Aber LIPSIUS gibt doch in der Auseinandersetzung mit HERMANN unumwunden zu, "daß alle religiöse Erkenntnis auf Werturteilen beruth" (Seite 183). Nur versucht er an RITSCHLs These eine  doppelte Korrektur  vorzunehmen. Fürs  erste  eine  terminologische Verbesserung,  in der ihm KAFTAN schon vorangegangen ist. Wie dieser, will auch LIPSIUS die religiösen Urteile nicht selbst als Werturteile bezeichnen, sondern als theoretische Urteile; denn unter diesem Namen befaßt er wie KAFTAN  alle  Urteile, welche ein Sein oder einen Tatbestand ausdrücken. Die theoretischen Urteile selbst zerlegen sich demnach in zwei Gruppen: in "solche, welche auf der wissenschaftlichen Beobachtung und Erkenntnis eines Tatbestandes beruhen, und solche, welche auf irgenwelche praktischen Nötigungen hin das Vorhandensein eines Tatbestandes behaupten" (Seite 168, Anm.). Theoretische Urteile der zweiten Art sind ihm die religiösen Urteile eben insofern, als sie auf einer praktischen Nötigung oder eine "notwendigen Werturteil" beruhen. Der Zusatz "notwendig" führt auf den  zweiten  Punkt, in welchem LIPSIUS eine  Ergänzung  von RITSCHLs Anschauungen vornimmt. Wenn schon KAFTAN die verschiedenen Arten der Wertbeurteilung unterschieden hatte, so such LIPSIUS die Einteilung dadurch schärfer und klarer zu gestalten, daß er die Werturteile in zwei Hauptklassen zerlegt, in zufällige und notwendige (Seite 183f).  "Zufällige  Werturteile sind solche, welche den besonderen Zecken und Wünschen des naturbestimmten Individuums dienen." Zu ihnen gehören "alle Urteile, welche aufgrund eins Lust- oder Unlustgefühls gefällt werden, welches dieser oder jener vorgestellte Gegenstand dem Individuum erweckt. Ihr Objekt ist das, was dem so oder so beschaffenen Individuum als angenehm oder unangenehm, zweckmäßig oder unzweckmäßig, wünschenswert oder nicht wünschenswert erscheint."  "Notwendige  Werturteile sind solche, welche in einem unzertrennlichen Zusammenhang stehen mit der Selbstgewißheit unserer persönlichen Existenz." Dazu "gehören alle jene Urteile, welche unmittelbar in inneren Erlebnissen des persönlichen Subjekts gegründet sind. Wie diese Erlebnisse selbst, so bilden auch jene Urteile ein Stück seiner persönlichen Existenz, welches es ohne Selbstverzicht nicht aufgeben kann. Das Werturteil ist dann der Ausdruck einer praktischen Nötigung, dier sich die Person überhaupt nicht zu entziehen vermag" (Seite 184). Den Zusammenhang mit solchen praktischen, besonders sittlichen Nötigungen sucht LIPSIUS nun für die Urteile des religiösen Erkennens zu erweisen. - Wir können hier über Recht oder Unrecht dieser Gedanken noch nicht urteilen; aber jedenfalls hat LIPSIUS hiermit, zum Teil im Anschluß an KAFTAN, einen bedeutsamen Beitrag zur Untersuchung des Charakter religiöser Erkenntnisse gegeben.

So haben dann auf dieser Grundlage auch andere weiter gebaut, so namentlich SCHEIBE. Wenn er (a. a. O.) den Satz "Gott ist die Liebe" analysiert, kommt er mit LIPSIUS zu dem Ergebnis: die Urteile des religiösen Erkennens sind zwar nicht Werturteile, sondern Seins- oder theoretische Urteils (Seite 39 und 48), aber sie beruhen auf Werturteilen, die aussagen, was religiös wertvoll oder den wesentlichen religiösen Bedürfnissen und Erfahrungen des Menschen entsprechend ist. Sie sind, kurz gesagt, "Postulate aufgrund von Werturteilen" (Seite 52).

Auch diese Ergänzungen und Umbildungen des Satzes, daß das religiöse Erkennen in Werturteilen verlaufe, haben keinen allgemeinen Beifall errungen. Sie sind nicht nur von den Anhängern RITSCHLs bekämpft worden, so von OTTO RITSCHL (a. a. O.), auch von GUSTAV VORBRODT, der vielfach auch RITSCHL gegenüber seinen eigenen Weg geht, aber gegenüber den Verbesserungen von LIPSIUS und SCHEIBE auf RITSCHLs Terminologie zurücklenkt: "Das religiöse Erkennen muß auf Werturteilen beruhen, verlaufen, oder was man sonst als Mittelding zwischen ruhen und laufen kennt und nennt" (Psychologie des Glaubens, Seite 131).

Aber auch andere Theologen sind von den Verbesserungen nicht befriedigt; so JULIUS KÖSTLIN, der, zwar ganz kurz, aber doch am umfassendsten unter allen Kritikern, in der Schrift "Die Begründung unserer sittlich- religiösen Überzeugung", Berlin 1893, Seite 112 und 113, seine Bedenken gegen die Verwendung des  ganzen  Ausdrucks darlegt. Er stellt zuerst fest, daß unsere Glaubensaussagen oder -urteile jedenfalls Seinsurteile sind, also nicht Werturteile in dem Sinn, "als ob ihr Gegenstand entweder als ein realer schon anderwärts für uns feststände und nun auch als wertvoll für uns anerkannt werden sollte, oder aber bezüglich seiner Realität dahingestellt bleiben und nur etwa Gegenstand des Wunsches, Strebens oder Postulates für uns sein sollte." Wenn KÖSTLIN hierin zum Teil mit LIPSIUS übereinstimmt, wendet er sich doch auch gegen dessen Formulierung: "Unangemessen wäre auch der vermittelnde Ausdruck, daß unsere Glaubensaussagen Seinsurteile aufgrund von Werturteilen seien. Denn da möchte es fälschlich scheinen, als ob zunächst der Wert der Objekte für uns sich unserem Bewußtsein aufdrängte und wir erst durch eine Denkfolgerung hieraus oder gar nur durch den Wunsch, etwas für unser eigenes Wohlsein Wertvolles zu haben, auf einen Glauben an ihre Realität geführt würden." Aber auch eine weitere mögliche Deutung der These von den Werturteilen findet KÖSTLIN mindestens ungenügend: "Man möchte etwa sagen, wir werden ihre Realität in jener inneren Erfahrung unseres sittlich-religiösen Lebensmittelpunktes inne, indem wir in derselben ihren Wert zu empfinden bekommen. Aber dann müßte noch näher bestimmt und untersucht werden, wie sich diese Empfindung des Wertes zu anderen Momenten jenes inneren Vorgangs, namentlich zum Bewußtsein des Sollens verhalte." KÖSTLIN schließt seine Kritik mit den Worten: "Und weiter würde ein Hereinziehen des Begriffs der Werturteile viel schärfere Entscheidungen und Bestimmungen über den Begriff des Wertes auf den verschiedenen Gebieten des sinnlichen, sittlichen, religiösen Lebens, über die verschiedenen Auffassungen des Begriffs und insbesondere auch über die Frage unbedingter Werte im Unterschied von bloß relativ Wertvollem erfordern, als wir bei irgendeinem jener Theologen bis jetzt finden können." Dieses letztere Desiderium findet KÖSTLIN auch durch die Untersuchungen von SPERL und SCHEIBE (a. a. O.) noch nicht befriedigt.

Die Worte KÖSTLINs sind mir eine willkommene Bestätigung der Überzeugung, daß wir  weiter ausholen  müssen, als bis jetzt geschehen ist, wenn wir zum Begriff "Werturteil" und seiner Anwendung auf das religiöse Erkennen eine klare Stelung gewinnen wollen. - Wir setzen demgemäß in unserer systematischen Untersuchung mit einer  Analyse der Begriffe Wert und Werturteil  ein. Freilich wird diese Analyse sich möglichst auf das beschränken müssen, was als Basis für die Lösung unseres Problems notwendig ist.

LITERATUR Max Reischle, Werturteile und Glaubensurteile, Halle a. d. Saale 1900
    Anmerkungen
    1) GOTTFRIED SPERL, Das Wesen der Werturteile und ihre Bedeutung für die Theologie, Neue kirchliche Zeitschrift, Bd. 1 (1890), Seite 556 - 589.
    2) MAX SCHEIBE, die Bedeutung der Werturteile für das religiöse Erkennen, Halle 1893
    3) OTTO RITSCHL, Über Werturteile, Freiburg / Leipzig 1895
    4) GUSTAV VORBRODT, Psychologie des Glaubens, Göttingen 1895, besonders Seite 96f, 127 - 160, 254 - 256
    5) So z. B. ERICH ADICKES, Wissen und Glauben, Deutsche Rundschau, Band 94, 1898, Seite 86f; dagegen HANS VAIHINGER, Kant-Studien, Bd. 3, 1899, Seite 190f [? - wp].
    6) ALEXIUS MEINONG, Psychologisch-ethische Untersuchungen zur Werttheorie, Graz 1894. Vgl. dazu: Archiv für systematische Philosophie, Bd. 1, 1895, Seite 327
    7) CHRISTIAN von EHRENFELS, Aufsätze in der Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. XVII, 1893, Heft 1 bis 4 und Bd. XVIII, 1894, Heft 1. Ferner: System der Werttheorie, Leipzig 1897f
    8) FELIX KRÜGER, Der Begriff des absolut Wertvollen als Grundbegriff der Moralphilosophie, Leipzig 1898
    9) Vgl. zum Folgenden die sorgsam abwägende Darstellung von FRIEDRICH TRAUB, Zeitschrift für Theologie und Kirche, Bd. IV, 1894, besonders Seite 104f; sie ist auch jetzt noch weitaus das Beste, was über RITSCHLs Erkenntnistheorie geschrieben worden ist.
    10) Nur gelegentlich greift ALBRECHT RITSCHL auf den  älteren Sprachgebrauch  zurück und verwendet wieder den Ausdruck "direktes" statt "selbständiges" Werturteil, so in  Rechtfertigung und Versöhnung,  Seite 369; ferner in  fides implicita,  Seite 68 und 70 (zweimal) in dem Satz, daß der Glaube oder das religiöse Erkennen "in direkten Werturteilen besteht."
    11) Wie gründlich damit RITSCHLs Ansicht verkehrt ist, darüber vgl. FR. TRAUB, Zeitschrift für Theologie und Kirche, Bd. IV, 1894, Seite 109f