ra-2A. CartellieriL. J. CampbellF. AnnekeE. BurkeKropotkinCarlyle    
 
ALEXIS de TOCQUEVILLE
(1805 - 1859)
Der alte Staat und die Revolution

"Der Despotismus drängt die Menschen gerade nach der Seite hin, nach der sie sich, einem natürlichen Hang folgend, bereits neigten. Sie werden hier nicht mehr durch Kasten, Klassen, Korporationen und Geschlechter miteinander im Bund erhalten und sind daher nur zu sehr geneigt, sich bloß mit ihren besonderen Interessen zu beschäftigen, immer nur an sich selbst zu denken und sich in einem engen Individualismus abzusperren, wo jede öffentliche Tugend erstickt wird. Der Despotismus, weit entfernt gegen diese Neigung zu kämpfen, macht sie vielmehr unwiderstehlich, denn er entzieht den Bürgern jede gemeinsame Begeisterung, jedes gemeinschaftliche Bedürfnis, jede Notwendigkeit sich miteinander zu verständigen, jede Gelegenheit zu gemeinschaftlichem Handeln; er mauert sie sozusagen im Privatleben ein. Sie waren bereits zur Absonderung geneigt: er isoliert sie; sie erkalten für einander: er läßt sie vollends erstarren."

"Nicht als religiöse Lehre, sondern vielmehr als politisches Institut hatte das Christentum einen wütenden Haß entzündet, nicht weil die Priester sich anmaßten, die Dinge der anderen Welt zu regulieren, sondern weil sie Grundeigentümer, Lehnsherren, Zehntherren, Administratoren in  dieser  Welt waren; nicht weil die Kirche in der neuen Gesellschaft, die man gründen wollte, keine Stelle finden konnte, sondern weil sie damals die am meisten bevorrechtete und festeste Stelle in der alten Gesellschaft einnahm, die in Staub verwandelt werden sollte."


Vorwort

Das Buch, welches ich gegenwärtig veröffentliche, ist keineswegs eine Geschichte der Revolution; diese Geschichte ist auf zu glänzende Weise geliefert worden, um mich an eine Wiederholung derselben denken zu lassen; es ist eine Studie über diese Revolution.

Die Franzosen haben im Jahr 1789 die größte Anstrengung gemacht, welcher sich jemals ein Volk unterzogen hat, um ihre Geschichte sozusagen in zwei Teile zu spalten und durch eine tiefe Kluft dasjenige, was sie bis dahin gewesen ist, von dem zu scheiden, was sie fortan sein wollten. Zu diesem Ende ergriffen sie alle möglichen Vorsichtsmaßregeln, um nichts aus der Vergangenheit in ihren neuen Zustand hinüber zu nehmen; sie taten sich allen möglichen Zwang an, um anders auszusehen als ihre Väter; kurz, sie vergaßen nichts, um sich unkenntlich zu machen.

Es war stets meine Ansicht, daß ihnen dieses sonderbare Unternehmen weit weniger gelungen ist, als man im Ausland geglaubt und als sie es anfangs selbst geglaubt haben. Ich war überzeugt, daß sie, ohne es zu wissen, großenteils die Gesinnungen, Gewohnheiten, ja sogar die Ideen des alten staatlichen Zustandes beibehalten hätten, mit deren Hilfe sie die Revolution, die denselben vernichtete, bewerkstelligten, und daß sie, ohne es zu wollen, sich der Trümmer jenes Zustandes bedient hätten, um das Gebäude der neuen Gesellschaft aufzuführen, so daß man, um die Revolution und ihr Werk richtig zu verstehen, das gegenwärtige Frankreich einen Augenblick vergessen und das ehemalige Frankreich in seinem Grab befragen müßte. Dies ist es, was ich zu tun hier versucht habe; es hat mir jedoch mehr Mühe gekostet, als ich vorausgesetzt hatte.

Die ersten Jahrhunderte der Monarchie, das Mittelalter, die Zeit der Wiedergeburt (Renaissance) sind Gegenstand der bedeutendsten Werke und sehr gründlicher Forschungen gewesen, die uns nicht nur mit den damaligen Ereignissen, sondern auch mit den Gesetzen, den Gebräuchen, dem Geist der Regierung und der Nation in jenen verschiedenen Zeitaltern bekannt gemacht haben. Bis jetzt hat sich noch niemand die Mühe gegeben, das achtzehnte Jahrhundert in solcher Weise und in solcher Nähe zu betrachten. Wir glauben die französische Gesellschaft jener Zeit sehr genau zu kennen, weil wir deutlich sehen, was an ihrer Oberfläche glänzte, weil wir die ausführliche Geschichte der berühmtesten Personen, die damals gelebt haben, besitzen und weil uns eine geistreiche oder glänzende Kritik mit den Werken der hervorragenden Schriftsteller, die in jener Gesellschaft lebten, völlig vertraut gemacht hat. Verworren und oft falsch sind jedoch unsere Vorstellungen von der Art und Weise, wie damals die Geschäfte geleitet, wie die Staatseinrichtungen gehandhabt wurden, von der wechselseitigen Stellung der verschiedenen Klassen, vom Zustand und von den Gesinnungen derjenigen Volksschichten, die sich noch nicht bemerkbar machten, und überhaupt vom eigentlichen Wesen der Meinungen und Sitten.

Ich habe versucht, bis ins Innerste dieses alten Staatswesens einzudringen, das uns, was die Zahl der Jahre anlangt, so nahe ist, jedoch durch die Revolution in Dunkel gehüllt wird.

Um dieses Ziel zu erreichen, habe ich nicht nur die namhafteren Bücher gelesen, die das achtzehnte Jahrhundert hervorgebracht hat, sondern auch viele Werke studiert, die weniger bekannt und auch weniger wert sind, es zu sein, die aber in ihrer ungekünstelten Form das, was die Zeit bewegte, vielleicht umso deutlicher durchblicken lassen. Ich ließ es mir angelegen sein, alle öffentlichen Urkunden genau kennen zu lernen, worin die Franzosen bei Annäherung der Revolution ihre Meinungen und Wünsche ausgedrückt haben mochten. Die Protokolle der Versammlungen der Stände und später die der Provinzialversammlungen haben mir in dieser Beziehung viel Licht verschafft. Einen häufigen Gebrauch machte ich namentlich von den im Jahre 1789 von den drei Ständen angesammelten Aktenstücken. Diese Urkunden, deren Originale eine lange Reihe handschriftlicher Bände bilden, sind gleichsam das Testament der alten französischen Gesellschaft, der letzte Ausdruck ihrer Wünsche, die authentische Kundgebung ihres letzten Willens. Sie bilden eine Sammlung, die einzig in ihrer Art ist; gleichwohl genügte sie mir noch nicht.

In den Ländern, wo die Staatsverwaltung bereits kraftvoll ist, werden sich nicht leicht Ideen, Wünsche, Schmerzen, Interessen oder Leidenschaften regen, ohne sich früher oder später ihr offen kund zu geben. Durchsucht man ihre Archive, so erlangt man nicht nur eine sehr genaue Kenntnis ihres Verfahrens, es offenbart sich darin zugleich das ganze Land. Ein Fremder, dem man gegenwärtig die gesamte vertrauliche Korrespondenz vorlegte, welche die Schränke des Ministeriums des Innern und der Präfekturen füllt, würde bald mehr von uns wissen als wir selbst. Im achtzehnten Jahrhundert war die Staatsverwaltung, wie man beim Durchlesen dieses Buches sehen wird, bereits sehr zentralisiert, sehr mächtig und außerordentlich tätig. Man sah sie unablässig helfen, hindern, erlauben. Sie hatte viel zu versprechen, viel zu geben. Sie übte bereits auf tausendfache Weise Einfluß nicht nur im Allgemeinen auf die Leitung der Geschäfte, sondern auch auf das Schicksal der Familien und auf das Privatleben jedes Menschen. Sie war überdies ohne Öffentlichkeit und daher scheute man sich nicht, vor ihren Blicken selbst die geheimsten Gebrechen zu enthüllen. Ich habe eine sehr lange Zeit darauf verwendet, alles was uns von ihr übrig ist, zu studieren, und zwar nicht nur in Paris, sondern auch in mehreren Provinzen (1).

Da fand ich dann, wie ich erwartet hatte, die alte Staatsverwaltung in voller Lebensfrische mit ihren Ideen, ihren Leidenschaften, ihren Vorurteilen und Gewohnheiten. Dort redete jeder Mensch offen seine eigene Sprache und ließ seine geheimsten Gedanken erkennen. So gelang es mir, über die ehemalige Gesellschaft vielfache Aufklärung zu gewinnen, welche die Zeitgenossen nicht erwerben konnten, denn mir lag offen vor, was ihren Blicken niemals preisgegeben worden ist.

Während ich in diesem Studium weiter schritt, staunte ich, im damaligen Frankreich jeden Augenblick Züge wiederzusehen, die sich am heutigen Frankreich bemerkbar machen. Ich fand dort eine Menge Anschauungen wieder, die ich für Geburten der Revolution gehalten hatte, eine Menge Ideen, die ich bis dahin nur als ihre Erzeugnisse betrachtet hatte, tausend Gewohnheiten, die wir von ihr allein erhalten zu haben glauben; allenthalben fand ich da die Wurzeln der gegenwärtigen Gesellschaft tief eingepflanzt in jenem alten Boden. Je mehr ich mich dem Jahr 1789 näherte, umso deutlicher bemerkte ich den Geist, der die Revolution entstehen, sich entwickeln und wachsen ließ. Ich sah nach und nach vor meinen Augen das ganze Antlitz dieser Revolution sich enthüllen. Schon gab sie ihr Temperament ihre Geist kund: es war sie selbst! Ich erkannte nicht nur die Ursachen dessen, was sie bei ihrem ersten Anlauf ausführen, sondern noch deutlicher vielleicht die Verkündigung dessen, was sie weiterhin begründen sollte; denn die Revolution hat zwei streng getrennte Phasen gehabt: die erste, während deren die Franzosen alles aus der Vergangenheit abschaffen zu wollen scheinen; die zweite, wo sie dieser Vergangenheit einen Teil dessen wieder entnehmen, was sie in ihr zurückgehalten hatten. Es gibt eine große Anzahl Gesetze und politische Gewohnheiten der alten Zeit, welche solchergestalt im Jahre 1789 plötzlich verschwinden und die sich einige Jahre nachher wieder zeigen, wie gewisse Flüsse sich unter der Erde verlieren, um ein wenig weiterhin wieder zu erscheinen, indem sie das nämliche Gewässer an neuen Ufern zeigen.

Der eigentliche Zweck des vorliegenden Werkes ist, begreiflich zu machen, warum diese große Revolution, die sich gleichzeitig beinahe auf dem ganzen Festland Europas vorbereitete, bei uns früher als anderswo ausbrach, warum sie ganz wie von selbst aus der Gesellschaft hervorging, deren Zerstörung ihr Werk sein sollte, und wie endlich die alte Monarchie in einer so vollständigen und so plötzlichen Weise zusammenzubrechen vermochte.

Hierbei darf jedoch das Werk, das ich unternommen habe, meiner Ansicht nach nicht stehen bleiben. Meine Absicht ist, wenn Zeit und Kräfte mir nicht fehlen, durch die Wechselfälle dieser langen Revolution diese nämlichen Franzosen zu begleiten, mit denen ich so traut unter der alten Staatsverfassung gelebt habe, nach welcher sie sich gebildet hatten; zu betrachten, wie sie sich je nach den Ereignissen veränderten und umbildeten, ohne gleichwohl ihre Natur zu wechseln, und wie sie unablässig vor uns mit einer etwas veränderten aber stets erkennbaren Physiognomie wieder erscheinen.

Zunächst werden ich mit ihnen jene erste Epoche von 1789 durchlaufen, wo ihre Herzen für Freiheit und Gleichheit entflammt sind, wo sie nicht nur demokratische, sondern auch freie Institutionen gründen, nicht nur Privilegien zerstören, sondern auch Rechte anerkennen und sanktionieren wollen; eine Zeit jugendfrischer Begeisterung, edlen Stolzes, hochherziger und ungeheuchelter Gefühle, die trotz ihrer Irrtümer unvergänglich im Gedächtnis der Menschen leben und noch lange alle diejenigen aus dem Schlaf schrecken wird, die ihre Mitmenschen verderben oder knechten wollen.

Während ich den Lauf dieser Revolution rasch verfolge, werde ich zugleich nachzuweisen versuchen, durch welche Ereignisse, welche Fehler und Mißgriffe diese Franzosen veranlaßt wurden, sich von ihrem ursprünglichen Ziel abzuwenden und, die Freiheit vergessend, nur noch die gleichgestellten Diener des Weltgebieters werden wollten; wie eine stärkere und weit unumschränktere Regierung als die durch die Revolution gestürzte nunmehr alle Gewalt an sich reißt und konzentriert, alle die so teuer erkauften Freiheiten unterdrückt, um nur noch deren Schattenbilder bestehen zu lassen, indem sie Volkssouveränität die Stimmen von Wählern nennt, die sich weder aufklären, noch besprechen, noch frei wählen können; freie Steuerbewilligung die Zustimmung stummer oder geknechteter Versammlungen; und wie sie, obwohl sie der Nation die Fähigkeit der Selbstregierung, die wichtigsten Garantien des Rechts, die Freiheit zu denken, zu reden und zu schreiben, d. h. das Kostbarste und Edelste entzieht, was man 1789 errungen hatte, sich dennoch mit diesem großen Namen schmückt.

Ich werde bei dem Punkt innehalten, wo es mir scheinen wird, daß die Revolution ihr Werk ziemlich vollendet und die neue Gesellschaft gegründet hat. Alsdann werde ich diese Gesellschaft selbst betrachten; ich werde nachzuweisen suchen, inwiefern sie jener gleicht, die ihr vorausging, inwiefern sie sich davon unterscheidet, was wir bei jenem gewaltigen Umsturz aller Dinge verloren, was wir dabei gewonnen haben, und schließlich werde ich einen Blick in unsere Zukunft zu tun versuchen.

Ein Teil dieses zweiten Werkes ist entworfen, jedoch noch nicht wert, dem Publikum vorgelegt zu werden. Wird mir beschieden sein, es zu vollenden? Wer kann es sagen? Das Schicksal des Einzelnen ist noch dunkler als das der Völker.

Ich glaube, das vorliegende Buch ohne Vorurteil, behaupte aber nicht, es ohne Leidenschaft geschrieben zu haben. Einem Franzosen möchte es kaum erlaubt sein, unaufgeregt zu bleiben, wenn er von seinem Vaterland spricht und an seine Zeit denkt. Ich gestehe also, daß ich, während unsere ehemalige Gesellschaft in allen ihren Teilen studierte, die neue nie gänzlich aus dem Auge verloren habe. Ich wollte nicht allein erkennen, welchem Übel der Kranke erlegen war, sondern auch, wie er sich vom Tod hätte erretten können. Ich machte es wie jene Ärzte, die in jedem erstorbenen Organ die Gesetze des Lebens zu entdecken suchen. Mein Zweck wr, ein Gemälde zu liefern, welches streng richtig wäre und zugleich lehrreich sein könnte. Jedesmal daher, wenn ich bei unseren Vätern einer jener männlichen Tugenden begegnete, die uns sehr nötig sein würden und die wir fast nicht mehr besitzen, z. B. einen echten Unabhängigkeitssinn, die Freude an erhabenen Dingen, den Glauben an uns selbst und an eine Sache, habe ich sie stark hervorgehoben, während ich desgleichen, wenn ich in den Gesetzen, in den Ideen, in den Sitten jener Zeit die Spur eines jener Laster entdeckte, welche, nachdem sie die alte Gesellschaft zu Grunde gerichtet hat, auch uns noch zu schaffen machen, es mir angelegen sein ließ, sie in helles Licht zu setzen, damit man, genau erkennend welchen Schaden sie uns getan haben, umso deutlicher inne werden möchte, welches Unheil sie uns noch bereiten können.

Um diesen Zweck zu erreichen, habe ich, offen gestanden, nie Anstand genommen, irgendwen, einzelne Personen oder Klassen, Ansichten oder Erinnerungen, wie ehrwürdig sie auch sein mochten, zu kränken. Ich tat es oft mit Bedauern, aber stets ohne Gewissensbisse. Mögen diejenigen, denen ich solchergestalt vielleicht mißfallen habe, mir aus Rücksicht auf den uneigennützigen und guten Zweck verzeihen, den ich im Auge hatte.

Manche werden mich vielleicht beschuldigen, in diesem Buch eine sehr unzeitige Vorliebe für die Freiheit zu zeigen, die, wie man mir versichert, jetzt kaum irgendjemand in Frankreich am Herzen liegt.

Ich will diejenigen, die mir einen Vorwurf machen sollten, nur bitten, in Erwägung zu ziehen, daß diese Neigung bei mir sehr alt ist. Vor mehr als zwanzig Jahren, während ich von einer anderen Gesellschaft redete, schrieb ich beinahe wörtlich Folgendes:
    Mitten durch das Dunkel der Zukunft vermag man bereits drei Wahrheiten sehr deutlich zu erkennen. Die erste ist, daß alle Menschen unserer Tage durch eine unbekannte Kraft fortgerissen werden, die man zu regeln und zu mäßigen, aber nicht zu besiegen hoffen kann und die sie bald langsam bald mit heftigem Ungestüm zur Vernichtung der Aristokratie antreibt; die zweite, daß von allen Völkern der Welt diejenigen am schwersten dem Schicksal entgehen werden, lange Zeit das Joch einer absoluten Regierung zu tragen, bei denen die Aristokratie nicht mehr besteht und nicht mehr bestehen kann; die dritte endlich, daß nirgends der Despotismus verderblichere Wirkungen hervorbringen muß, als bei eben diesen Völkern; denn hier begünstigt er mehr denn irgendeine andere Regierungsform die Laster, welchen diese Völker besonders unterworfen sind und drängt sie solchergestalt gerade nach der Seite hin, nach der sie sich, einem natürlichen Hang folgend, bereits neigten.

    Die Menschen werden hier nicht mehr durch Kasten, Klassen, Korporationen und Geschlechter miteinander im Bund erhalten und sind daher nur zu sehr geneigt, sich bloß mit ihren besonderen Interessen zu beschäftigen, immer nur an sich selbst zu denken und sich in einem engen Individualismus abzusperren, wo jede öffentliche Tugend erstickt wird. Der Despotismus, weit entfernt gegen diese Neigung zu kämpfen, macht sie vielmehr unwiderstehlich, denn er entzieht den Bürgern jede gemeinsame Begeisterung, jedes gemeinschaftliche Bedürfnis, jede Notwendigkeit sich miteinander zu verständigen, jede Gelegenheit zu gemeinschaftlichem Handeln; er mauert sie sozusagen im Privatleben ein. Sie waren bereits zur Absonderung geneigt: er isoliert sie; sie erkalten für einander: er läßt sie vollends erstarren.

    Da in einer derartigen Gesellschaft nichts fest steht, so fühlt sich ein jeder teils durch die Furcht herabzukommen, teils durch das Gelüst sich emporzubringen, in beständiger Aufregung; und weil das Geld, während es zugleich das hauptsächliche Abzeichen geworden ist, welches die Menschen klassifiziert und ihren Rangunterschied bedingt, hier eine außerordentliche Beweglichkeit erlangt hat, indem es unaufhörlich aus einer Hand in die andere geht, die Lage der Individuen verändert, die Familien erhebt oder erniedrigt, so gibt es hier fast niemanden, der nicht genötigt wäre, eine verzweifelte und fortwährende Anstrengung zu machen, um sich dasselbe zu sichern oder es zu erwerben. Die Begierde, um jeden Preis reich zu werden, die Neigung Geschäfte zu machen, die Gewinnsucht, das Streben nach Wohlsein und sinnlichen Genüssen sind daher hier die gewöhnlichsten Leidenschaften. Sie verbreiten sich leicht unter allen Klassen, verschaffen sich selbst unter denjenigen Eingang, die ihnen bis dahin fast ganz fremd gewesen waren, und würden bald die ganze Nation entnerven und degradieren, wenn ihnen durch nichts Einhalt geboten würde. Es gehört aber gerade zum Wesen des Despotismus, sie zu begünstigen und auszubreiten. Diese schwächenden Leidenschaften kommen ihm zu Hilfe; sie lenken die Einbildungskraft der Menschen von den öffentlichen Angelegenheiten ab, beschäftigen sie fern von denselben und lassen sie bei dem bloßen Gedanken an Revolutionen erzittern. Nur der Despotismus kann ihnen die Verschwiegenheit und den Schatten verschaffen, unter deren Schutz die Habgier sich wohl fühlt und die ihr gestatten, der Schande zu trotzen und unredlichen Gewinn zu häufen. Ohne ihn wären diese Leidenschaften stark gewesen; mit ihm sind sie Herrscherinnen.

    Die Freiheit allein hingegen kann in derartigen Gesellschaften die ihnen natürlichen Laster erfolgreich bekämpfen und sie auf dem Abhang, den sie hinabgleiten, zurückhalten. Nur sie vermag die Bürger aus der Vereinzelung, worin eben die Unabhängigkeit ihrer Lage sie leben läßt, herauszuziehen, um sie zu nötigen, sich einander zu nähern; sie, die Freiheit, erwärmt und vereinigt sie jeden Tag aufs Neue durch die Notwendigkeit, sich miteinander zu besprechen, einander zu überreden und sich in der Führung gemeinsamer Angelegenheiten wechselseitig gefällig zu sein. Sie allein ist fähig, die Bürger dem Kultus des Geldes und den täglichen kleinlichen Plagen ihrer Privatangelegenheiten zu entreißen, um sie jeden Augenblick das Vaterland über und neben ihnen wahrzunehmen und fühlen zu lassen; sie allein läßt von Zeit zu Zeit die Lust an einem behaglichen Leben durch energischere und erhabenere Leidenschaften verdrängen, bietet dem Ehrgeiz edlere Gegenstände als die Erwerbung von Reichtümern und erzeugt das Licht, welches gestattet, die Laster und Tugenden der Menschen zu erkennen und zu beurteilen.

    Demokratische Gesellschaften, die nicht frei sind, können reich, raffiniert, gebildet, ja selbst glänzend und durch das Gewicht ihrer großen Masse mächtig sein; man kann dort Privattugenden begegnen, guten Familienvätern, ehrlichen Kaufleuten und sehr achtbaren Grundbesitzern; man wird dort selbst gute Christen sehen, denn das Vaterland dieser letzteren ist nicht von dieser Welt und der Ruhm ihrer Religion besteht darin, sie inmitten der größten Sittenverderbnis und unter den schlechtesten Regierungen hervorzubringen: das römische Reich wimmelte von ihnen zur Zeit seines äußersten Verfalls; was man aber in dergleichen Gesellschaften niemals sehen wird, das sind, ich wage es zu sagen, große Bürger und namentlich ein großes Volk, und ich nehme keinen Anstand zu behaupten, daß dort das gewohnte Niveau der Herzen und Geister unablässig fallen wird, solange Gleichheit und Despotismus zu einander gesellt sind.
So dachte und sprach ich vor zwanzig Jahren. Ich gestehe, daß seitdem in der Welt nichts geschehen ist, was mich hätte geneigt machen können, anders zu denken und zu sprechen. Da ich die gute Meinung, die ich von der Freiheit hatte, zu einer Zeit kundgegeben habe, wo sie in Gunst war, so wird man es mir nicht verübeln, wenn ich dabei beharre, während man sie verläßt.

Übrigens möge man erwägen, daß ich mich hierin von meinen Gegnern auch noch weniger unterscheide, als sie vielleicht selbst glauben. Wo gäbe es einen Mann, der von Natur so niedrig gesinnt wäre, daß er lieber von den Launen eines seiner Mitmenschen abhängig sein, als den Gesetzen gehorchen möchte, bei deren Einführung er selbst mitgewirkt hätte, wenn seine Nation ihm die erforderlichen Tugenden zu haben schien, um einen guten Gebrauch von der Freiheit zu machen? Ich glaube, es gibt keinen solchen. Selbst die Despoten leugnen nicht, daß die Freiheit etwas Vortreffliches ist; nur wollen sie dieselbe für sich allein und behaupten, alle anderen seien ihrer durchaus unwürdig. Sonach ist man nicht uneinig über die Meinung, die man von der Freiheit haben soll, sondern über die mehr oder weniger große Achtung, die man den Menschen zu zollen hat; und daher kann man mit vollem Recht sagen, daß die Vorliebe, die man für die unumschränkte Regierung kundgibt, im genauen Verhältnis zu der Mißachtung steht, sie man gegen sein Vaterland zu erkennen gibt. Ich bitte, daß man mir noch ein wenig zu warten erlaube, bevor ich mich zu einer solchen Gesinnung bekehre.

Ich glaube ohne Selbstüberhebung sagen zu dürfen, daß das vorliegende Werk die Frucht eines sehr großen Fleißes ist. Es enthält manches ziemlich kurze Kapitel, welches mehrjährige Forschungen erfordert hat. Ich hätte die Seiten desselben mit Noten überladen können, zog es jedoch vor, sie nur in geringer Anzahl aufzunehmen und sie an das Ende des Bandes zu stellen, indem ich auf die Seiten des Textes verweise, worauf sie sich beziehen. Dort wird man Beispiele und Belege finden. Ich würde noch viele andere liefern können, wenn dieses Buch irgendjemand der Mühe wert schiene, sie zu verlangen.



Erstes Buch

Erstes Kapitel
Widersprechende Urteile über die
Revolution bei ihrem Ausbruch

Nichts ist geeigneter, Philosophen und Staatsmänner zur Bescheidenheit zu mahnen, als die Geschichte unserer Revolution, denn es gab niemals ein größeres, ein länger und besser vorbereitetes und trotzdem weniger vorausgesehenes Ereignis.

Selbst FRIEDRICH der Große hat, trotz seines Genies, keine Ahnung davon. Er steht dicht vor dieser Revolution, ohne sie zu sehen. Noch mehr, er handelt im Voraus in ihrem Geiste; er ist ihr Vorläufer und bereits sozusagen ihr Agent; gleichwohl erkennt er sie nicht, während sie sich nähert; und als sie sich endlich zeigt, entgehen dem Blick anfangs dennoch die neuen und außerordentlichen Züge, die ihre Physiognomie unter der zahllosen Menge der Revolutionen auszeichnen sollen.

Außerhalb Frankreichs ist sie ein Gegenstand allgemeiner Neugier; allenthalben erweckt sie im Geiste der Völker eine gewisse dunkle Ahnung, daß sich neue Zeiten vorbereiten, ein unbestimmtes Sehnen nach Veränderungen und Reformen; aber noch vermutet niemand, welcher Art diese Revolution sein soll. Den Fürsten und ihren Ministern fehlt sogar jenes dunkle Vorgefühl, welches beim Anblick der Revolution sich im Volk regt. Sie betrachten dieselbe anfangs nur als eine jener periodischen Krankheiten, denen die Konstitution aller Völker unterworfen ist und die keine andere Wirkung haben, als der Politik ihrer Nachbarn ein neues Feld zu eröffnen. Sagen sie zufällig einmal die Wahrheit von ihr, so geschieht dies unbewußt. Die im Jahr 1791 zu Pillnitz versammelten mächtigsten Fürsten Deutschlands proklamieren zwar, die Gefahr, die in Frankreich das Königtum bedroht, sei allen alten Mächten Europas gemeinsam, mit jenem seien alle bedroht; im Grunde aber glauben sie es nicht. Die geheimen Urkunden jener Zeit lassen erkennen, daß dies alles in ihren Augen nur ein passender Vorwand war, um ihre Pläne vor den Augen der Menge zu verbergen oder zu beschönigen.

Sie wissen ihrerseits recht gut, daß die französische Revolution ein örtliches und vorübergehendes Ereignis ist, nur geeignet, Vorteil daraus zu ziehen. In diesem Gedanken machen sie Anschläge, treffen sie Anstalten und schließen sie geheime Verträge; sie streiten untereinander beim Anblick dieser nahen Beute, verunreinigen sich, nähern sich wieder einander; sie bereiten sich fast auf alles Mögliche vor, nur nicht auf das, was eintreten soll.

Die Engländer, denen das Andenken an ihre eigene Geschichte und die lange Praxis der politischen Freiheit mehr Licht und Erfahrung verleiht, gewahren wie durch einen dichten Schleier zwar wohl das Bild einer nahenden großen Revolution, allein sie vermögen ihre Gestalt nicht deutlich zu erkennen und der Einfluß, den sie bald auf die Geschicke der Welt und ihres eigenen Landes üben soll, bleibt ihnen verborgen. ARTHUR YOUNG, der in dem Augenblick, wo die Revolution ausbrechen will, Frankreich bereist und der diese Revolution für nahe bevorstehend hält, kennt ihre Tragweite so wenig, daß er sich fragt, ob ihr Resultat nicht eine Vermehrung der Privilegien sein wird. "Sollte diese Revolution", sagt er, "dem Adel und der Geistlichkeit ein noch größeres Übergewicht einräumen, so würde sie, glaube ich, mehr Schaden als Vorteil bringen."

BURKE, dessen Geist der Haß erleuchtete, den ihm die Revolution gleich bei ihrem Ausbruch einflößte, BURKE selbst bleibt bei ihrem Anblick einige Zeit unentschieden. Er vermutet anfangs, Frankreich werde dadurch entnervt und so gut wie vernichtet werden. "Es steht zu glauben", sagt er, "daß die kriegerischen Eigenschaften Frankreichs auf lange Zeit verloren sind; vielleicht sind sie es sogar auf immer und die folgende Generation wird gleich jenem Alten sagen können:   Gallos quoque in bellis floruisse audivimus,  wir haben gehört, daß auch die Gallier einst durch die Waffen geglänzt haben".

In der Nähe beurteilt man das Ereignis nicht richtiger als in der Ferne. In Frankreich hat man am Vorabend des Tages, an dem die Revolution ausbrechen soll, noch keine bestimmte Vorstellung von dem, was sie bewerkstelligen wird. Unter den zahlreichen Urkunden finde ich nur zwei, worin sich eine gewisse Besorgnis des Volkes kundgibt. Man fürchtet das große Übergewicht, welches die königliche Macht, der Hof, wie man sie noch nennt, behalten soll. Man ist beunruhigt durch die Schwachheit und die kurze Dauer der Reichsstände. Man fürchtet, es werde ihnen Gewalt angetan werden. Namentlich dem Adel macht diese Furcht zu schaffen. "Die Schweizertruppen", sagen mehrere dieser Urkunden, "werden schwören, niemals gegen die Bürger von den Waffen Gebrauch zu machen, selbst nicht im Falle des Aufruhrs oder der Empörung". Sind die Reichsstände frei, so werden alle Mißbräuche leicht beseitigt werden; die zu bewerkstelligende Reform ist außerordentlich groß, aber sie bietet keine Schwierigkeit.

Indessen geht die Revolution ihren Gang. Als man das Haupt des Ungeheuers erscheinen sieht und sich seine seltsame und schreckliche Physiognomie enthüllt; als es nach Zerstörung der politischen auch die bürgerlichen Institutionen abschafft, nach den Gesetzen auch die Sitten, die Gebräuche und selbst die Sprache umgestaltet; als es nach der Zertrümmerung des Staatsgebäudes auch die Grundlagen der Gesellschaft erschüttert und endlich Gott selbst angreifen zu wollen scheint; als diese nämliche Revolution sich darauf bald auch mit bis dahin unbekannten Verfahren nach dem Ausland wendet, mit einer neuen Taktik, mit mörderischen Maximen, mit  bewaffneten  Ansichten, wie PITT sagte, mit einer unerhörten Macht, welche die Tore der Königreiche durchbricht, die Kronen zerschlägt, die Völker niederwirft und sie, seltsam genug! zugleich für ihre Sache gewinnt, als alle diese Vorgänge erfolgen, verändert sich nach und nach die Anschauungsweise völlig. Was Anfangs den Fürsten und Staatsmännern Europas als ein gewöhnliches Ereignis des Völkerlebens erschienen war, dünkt sie nun etwas so Neues, allem bis dahin in der Welt Geschehenen so Entgegengesetztes und gleichwohl so Allgemeines, so Ungeheures, so Unbegreifliches, daß bei seinem Anblick der menschliche Geist sich keinen Rat weiß. Manche glauben, diese unbekannte Macht, der nichts Nahrung zu geben, nichts Kraft zu entziehen scheint, die niemand zu hemmen vermöchte, die sich selbst nicht hemmen kann, die menschlichen Gesellschaften bis zu ihrer völligen und gänzlichen Auflösung drängen wird. Einige betrachten sie als den sichtbaren Einfluß des höllischen Geistes auf die Erde. "Die französische Revolution hat einen satanischen Charakter", sagt de MAISTRE bereits 1797. Dagegen entdecken Andere in ihr einen wohltätigen Plan Gottes, welcher nicht nur Frankreich, sondern der ganzen Welt eine neue Gestalt geben und gewissermaßen eine neue Menschheit erschaffen will. Bei mehreren Schriftstellern jener Zeit findet man beinahe jeden religiösen Schauder wieder, den SALVIAN beim Anblick der Barbaren fühlte. BURKE, indem er seinen Gedanken wieder aufnimmt, ruft aus:
    "Seiner alten Regierung oder vielmehr jeder Regierung beraubt, schien Frankreich weit eher ein Gegenstand des Spottes und Mitleids, als die Geisel und der Schrecken des Menschengeschlechts werden zu sollen. Aber dem Grab dieser ermordeten Monarchie ist ein Wesen entstiegen, formlos, ungeheuer und schrecklicher als irgendeines unter allen, die jemals die Einbildungskraft der Menschen gefesselt und unterjocht haben. Dieses häßliche und seltsame Wesen schreitet geradewegs auf sein Ziel los, ohne Scheu vor Gefahr und ungehemmt durch Gewissensbisse; alle von altersher überkommenen Grundsätze und alle gewöhnlichen Mittel verachtend, zermalmt es diejenigen, die sein Dasein nicht einmal begreifen können."
Ist das Ereignis in der Tat so außerordentlich, wie es einst den Zeitgenossen erschien? so unerhört, so gründlich zerstörend und erneuernd, wie sie glaubten? Welches war die eigentliche Bedeutung, der wahre Charakter, welches sind die dauernden Wirkungen dieser seltsamen und schrecklichen Revolution? Was hat sie wirklich vernichtet? Was hat sie geschaffen?

Mir scheint, daß der Augenblick, dies zu erforschen und auszusprechen, gekommen ist und daß wir gegenwärtig gerade auf dem Punkt stehen, von wo sich dieser große Gegenstand am Besten betrachten und beurteilen läßt. Fern genug von der Revolution, um die Leidenschaften, die den Blick ihrer Urheber trübten, nur noch schwach zu empfinden, stehen wir ihr doch auch noch nahe genug, um in ihren Geist eingehen und ihn verstehen zu können. Bald wird es schwerfallen, dies zu tun, denn große Revolutionen, welche gelingen, werden, indem sie die Ursachen verschwinden lassen, durch die sie herbeigeführt wurden, eben durch ihren Erfolg unbegreiflich.


Zweites Kapitel
Hauptziel und Endzweck der Revolution war nicht,
wie man geglaubt hat, die Zerstörung der religiösen
und die Entnervung der politischen Macht.

Es war einer der ersten Schritte der französischen Revolution, die Kirche anzugreifen und von allen Leidenschaften, welche diese Revolutioin erzeugte, entbrannte zuerst und erlosch zuletzt die Irreligiosität. Als bereits die Begeisterung für die Freiheit verschwunden war und man sich darein gefügt hatte, die Ruhe um den Preis der Knechtschaft zu erkaufen, blieb man gegen die religiöse Autorität empört. NAPOLEON, der den liberalen Geist der französischen Revolution zu besiegen vermocht hatte, machte vergebliche Anstrengungen, ihren antichristlichen Geist zu bändigen, und selbst in unseren Tagen haben wir Männer gesehen, welche ihre Servilität gegenüber den geringsten Werkzeugen der politischen Gewalt durch ihre Frechheit gegen Gott gut zu machen glaubten und, während sie alle freieren, edleren und hochherzigen Grundsätze der Revolution verleugneten, sich noch schmeichelten, dem Geist derselben treu zu bleiben, indem sie ungläubig blieben.

Und doch ist es gegenwärtig leicht, sich zu überzeugen, daß der Krieg gegen die Religion nur ein Nebenumstand dieser großen Revolution war, nur ein hervorstechender und trotzdem flüchtiger Zug ihrer Physiognomie, ein vorübergehendes Erzeugnis der Ideen, Leidenschaften und besonderen Umstände, die ihr vorausgingen und sie vorbereiteten, nicht aber ihr eigenes Wesen.

Mit Recht betrachtet man die Philosophie des 18. Jahrhunderts als eine der Hauptursachen der Revolution und allerdings ist diese Philosophie durch und durch irreligiös. Man muß jedoch in ihr sorgfältig zwei Teile unterscheiden, die gänzlich verschieden und trennbar sind.

In dem einen finden sich alle neuen oder neu aufgetauchten Ansichten, die sich auf den Zustand der Gesellschaft und auf die Grundsätze der bürgerlichen und politischen Gesetze beziehen, wie z. B. die natürliche Gleichheit der Menschen, die sich daraus ergebende Abschaffung aller Vorrechte der Kasten, Klassen, Professionen, die Volkssouveränität, die Allmacht der Staatsgesellschaft, die Gleichförmigkeit der gesetzlichen Bestimmungen ... Alle diese Lehren sind nicht nur die Ursachen der französischen Revolution, sie bilden auch sozusagen ihren wesentlichen Stoff; sie sind die Grundlage ihrer Werte, das Dauerndste und, rücksichtlich des Zeitalters, das der Wahrheit Entsprechendste an denselben.

Im anderen Teil ihrer Lehren haben die Philosophen des 18. Jahrhunderts sich mit einer gewissen Wut gegen die Kirche gewendet; sie haben ihre Diener, ihre Hierarchie, ihre Einrichtungen und Glaubenssätze angegriffen und, um dieselben umso sicherer zu stürzen, selbst die Grundlage des Christentums zu zertrümmern gesucht. Da jedoch dieser Teil der Philosophie des 18. Jahrhunderts von den nämlichen Umständen erzeugt worden war, welche eben diese Revolution vernichtete, so mußte er mit ihnen nach und nach verschwinden und im Triumph der Revolution gleichsam sein Grab finden. Ich will nur noch ein Wort hinzufügen, um mich völlig verständlich zu machen, denn ich werde diesen wichtigen Gegenstand anderwärts wieder aufnehmen: nicht als religiöse Lehre, sondern vielmehr als politisches Institut hatte das Christentum diesen wütenden Haß entzündet, nicht weil die Priester sich anmaßten, die Dinge der anderen Welt zu regulieren, sondern weil sie Grundeigentümer, Lehnsherren, Zehntherren, Administratoren in  dieser  Welt waren; nicht weil die Kirche in der neuen Gesellschaft, die man gründen wollte, keine Stelle finden konnte, sondern weil sie damals die am meisten bevorrechtete und festeste Stelle in der alten Gesellschaft einnahm, die in Staub verwandelt werden sollte.

Man betrachte, wie die fortschreitende Zeit diese Wahrheit in helles Licht gesetzt hat und mit jedem Tag heller beleuchtet: Während das politische Werk der Revolution sich befestigt hat, ist ihr irreligiöses Werk zugrunde gegangen; während alle die alten politischen Einrichtungen, die sie angegriffen hatte, gründlicher vernichtet, während die Gewalten, die Einflüsse, die Klassen, die ihr besonders verhaßt waren, auf immer besiegt worden sind und, als letztes Zeichen ihrer Niederlage, selbst der Haß, den sie einflößten, sich abgekühlt hat; während endlich die Geistlichkeit sich mehr und mehr von allem geschieden hat, was mit ihr gefallen war, sah man allmählich die Macht der Kirche sich in den Gemütern wieder erheben und darin befestigen.

Und man glaube nicht, daß dieses Schauspiel nur Frankreich angehört; es gibt kaum irgendeine christliche Kirche in Europa, die seit der französischen Revolution nicht neues Leben gewonnen hätte.

Es ist ein großer Irrtum, zu glauben, daß eine demokratische Gesellschaft der Religion von Natur aus feindselig ist: Nichts im Christentum, auch nicht im Katholizismus, ist dem Geist solcher Gesellschaften unbedingt entgegen und manches darin ist ihm sehr günstig. Die Erfahrung aller Jahrhunderte hat übrigens gezeigt, daß die kräftigste Wurzel des religiösen Bedürfnisses stets dem Herzen des Volkes eingepflanzt war. Dort haben alle untergegangenen Religionen ihre letzte Zuflucht gehabt und es wäre sehr seltsam, wenn Einrichtungen, welche die Ideen und Leidenschaften des Volkes zur Geltung bringen sollen, die notwendige und bleibende Wirkung hätten, den menschlichen Geist zur Gottlosigkeit hinzudrängen.

Was ich von der religiösen Macht gesagt habe, kann ich mit noch größerem Recht von der weltlichen Macht sagen.

Als man die Revolutionen plötzlich alle Einrichtungen und Gebräuche umstürzen sah, die bis dahin eine gesellschaftliche Ordnung aufrecht und die Menschen in gesetzlichen Schranken gehalten hatten, so konnte man glauben, ihr Ergebnis werde die Zerstörung nicht bloß einer besonderen gesellschaftlichen Ordnung, sondern jeder Ordnung, nicht bloß einer gewissen Regierung, sondern der staatlichen Macht überhaupt sein, und man konnte annehmen, daß ihre Natur wesentlich anarchisch ist. Und gleichwohl wage ich zu behaupten, daß auch dies ein bloßer Schein war.

Weniger als ein Jahr nach dem Beginn der Revolutioin schrieb MIRABEAU insgeheim dem König:
    "Vergleichen Sie den neuen Stand der Dinge mit dem alten Zustand; daraus erwächst Trost und Hoffnung. Ein Teil der Beschlüsse der Nationalversammlung, und zwar der beträchtlichere, ist offenbar der monarchischen Regierung günstig. Ist es denn nichts, ohne Parlament, ohne Provinzialstaaten, ohne geistliche, privilegiert und adelige Körperschaften zu sein? Der Gedanke, nur eine einzige Bürgerklasse zu bilden, würde RICHELIEU gefallen haben: diese gleiche Oberfläche erleichtert die Ausübung der Macht. Eine Reihe unumschränkt regierender Herrscher würde nicht so viel für ihre königliche Autorität getan haben, als dieses einzige Revolutionsjahr."
Das hieß die Revolution als ein Mann begreifen, der fähig war, sie zu leiten.

Da die französische Revolution nicht allein den Zweck hatte, eine alte Regierung zu beseitigen, sondern auch die alte Form der Gesellschaft abzuschaffen, so mußte sie gleichzeitig alle bestehenden Gewalten angreifen, alle anerkannten Einflüsse vernichten, die Traditionen in Vergessenheit bringen, die Sitten und Gebräuche erneuern und den menschlichen Geist gewissermaßen aller Ideen entledigen, auf denen bis dahin Respekt und Gehorsam beruth hatten.

Aber man räumte diese Trümmer weg: man gewahrt dann eine ungeheure Zentralgewalt, die in ihrer Einheit alle Teilchen von Autorität und Einfluß an sich gezogen und verschlungen hat, die vorher unter einer Menge von untergeordneten Mächten, Orden, Klassen, Professionen, Familien und Individuen zersplittert und gleichsam im ganzen Gesellschaftskörper verstreut waren. Eine gleiche Macht hatte man seit dem Sturz des römischen Kaisertums nicht in der Welt gesehen. Die Revolution hat diese neue Macht geschaffen, oder diese ist vielmehr wie von selbst aus den Trümmern hervorgegangen, die das Werk der Revolution waren. Die Regierungen, welche sie gegründet hat, sind allerdings zerbrechlicher, aber hundertmal mächtiger als irgendeine der von ihr gestürzten; zerbrechlich und mächtig aus den gleichen Gründen, wie ich an anderer Stelle erklären werde.

Diese einfache, regelmäßige und großartige Form erblickte MIRABEAU bereits durch den Staub der halbzerstörten alten Einrichtungen. Trotz seiner Größe war der Gegenstand damals für die Augen der Menge noch unsichtbar; allmählich aber hat ihn die Zeit den Blicken Aller enthüllt. Gegenwärtig fesselt er besonders den Blick der Fürsten. Sie betrachten ihn mit Bewunderung und Neid, nicht bloß diejenigen, die der Revolution ihre Stellung verdanken, sondern auch jene, die ihr gänzlich fremd und entschieden feindlich sind; alle sind bemüht, auf ihrem Gebiet Gerechtsame zu vernichten und Privilegien abzuschaffen. Sie vermischen die Stände, gleichen deren Unterschied aus, setzen Beamte an die Stelle der Aristokratie, die Gleichförmigkeit der Gesetze an die Stelle örtlicher Freiheiten, die einheitliche Regierung an die Stelle vereinzelter Gewalten. Sie widmen sich dieser revolutionären Arbeit mit unablässigem Fleiß, und stoßen sie dabei auf ein Hindernis, so begegnet es ihnen bisweilen, von der Revolution deren Verfahrensweise und Grundsätze zu entlehnen. Man hat gesehen, wie sie nötigenfalls den Armen gegen den Reichen, den Bürgerlichen gegen den Edelmann, den Bauern gegen seinen Grundherrn aufhetzten. Die französische Revolution ist zugleich ihre Geisel und ihre Lehrerin gewesen.


Drittes Kapitel
Wie die französische Revolution eine politische
Revolution war, die nach Art der religiösen
Revolutionen verfuhr und warum.

Alle bürgerlichen und politischen Revolutionen haben ein Vaterland gehabt und sich auf dasselbe beschränkt. Die französische Revolution hat kein bestimmtes eigenes Gebiet gehabt; noch mehr, sie hatte zur Folge, daß gewissermaßen alle alten Grenzen von der Karte verschwanden. Man hat gesehen, wie sie die Menschen verband oder trennte und zwar den Gesetzen, den Traditionen, dem Charakter, der Sprache zum Trotz, indem sie bisweilen Landsleute zu Feinden und Fremde zu Brüdern machte; oder sie hat vielmehr über allen besonderen Nationalitäten ein gemeinsames geistiges Vaterland gegründet, dessen Bürger die Menschen aus allen Nationen werden konnten.

Man durchblättere sämtliche Jahrbücher der Geschichte und man wird keine einzige politische Revolution finden, welche diesen nämlichen Charakter gehabt hätte; man wird ihn nur in gewissen religiösen Revolutionen wiederfinden. Also sind es religiöse Revolutionen, mit denen man die französische Revolution vergleichen muß, wenn man sich mit Hilfe der Analogie verständlich machen will.

SCHILLER bemerkt mit Recht in seiner Geschichte des dreißigjährigen Krieges, daß infolge der großen Reformatoin des 16. Jahrhunderts Völker, die sich kaum gekannt hatten, einander genähert und durch neue Sympathien eng verbunden wurden. Man sah damals in der Tat Franzosen gegen Franzosen kämpfen, während Engländer ihnen zu Hilfe kamen; an den Nordgestaden der Ostsee geborene Männer drangen bis ins Herz von Deutschland, um Deutsche zu beschützen, von denen sie bis dahin kaum reden gehört hatten. Alle Kriege mit dem Ausland hatten etwas mit Bürgerkriegen Verwandtes; in allen Bürgerkriegen erschienen Ausländer. Die alten Interessen jeder Nation wurden über neuen Interessen vergessen; den Fragen des Länderbesitzes machten Prinzipienfragen Platz. Zum höchsten Staunen und zum großen Schmerz aller Politiker jener Zeit fanden sich alle Regeln der Diplomatie vermischt und verworren. Ganz das Nämliche geschah in Europa nach dem Jahr 1789.

Die französische Revolution ist also eine politische, welche nach der Weise einer religiösen Revolution zu Werke gegangen ist und gewissermaßen das Aussehen einer solchen angenommen hat. Man bemerke, durch welche besonderen und charakteristischen Züge sie dieser letzteren vollends ähnlich wird: sie breitet sich nicht nur gleich derselben in der Ferne aus, sondern bricht sich auch ebenso Bahn durch Predigt und Propaganda. Eine politische Revolution, welche Proselytentum [Anhängermachen - wp] einflößt und die man mit demselben Feuereifer den Fremden predigt, womit man sie daheim bewerkstelligte: welch ein neues Schauspiel! Unter all den unbekannten Dingen, welche die französische Revolution der Welt gezeigt hat, ist dies sicherlich das neueste. Doch wollen wir hierbei nicht stehen bleiben; wir wollen etwas weiter vorzudringen und zu entdecken suchen, ob diese Ähnlichkeit in den Wirkungen nicht vielleicht auf einer verborgenen Ähnlichkeit in den Ursachen beruth.

Religionen sind ihrem Wesen nach gewohnt, den Menschen nur als solchen zu betrachten, ohne zu berücksichtigen, wiefern die Gesetze, Gebräuche und Traditionen eines Landes das Allgemeinmenschliche in besonderer Weise modifiziert haben mögen. Ihr Hauptwerk ist, die allgemeinen Beziehungen des Menschen mit Gott, die allgemeinen Rechte und Pflichten der Menschen untereinander, ohne Rücksicht auf die Form der Gesellschaften, zu ordnen. Die Verhaltensregeln, die sie vorschreiben, beziehen sich weniger auf den Menschen eines Landes oder einer Zeit, als auf den Sohn, den Vater, den Diener, den Herrn, den Nächsten. Indem sie solchergestalt die menschliche Natur selbst zu ihrer Grundlage nehmen, können sie gleichmäßig von allen Menschen angenommen und überall angewendet werden. Daher kommt es, daß die religiösen Revolutionen oft einen so weiten Schauplatz gehabt und sich selten, gleich den politischen Revolutionen auf das Gebiet eines einzigen Volkes oder selbst einer Menschenrasse beschränkt haben. Und bei noch näherer Betrachtung dieses Gegenstandes wird man finden, daß die Religionen sich trotz der Verschiedenheit der Gesetze, des Klimas und der Menschen umso mehr ausgebreitet haben, je mehr sie den angedeuteten abstrakten und allgemeinen Charakter hatten.

Die heidnischen Religionen des Altertums, die sämtlich mehr oder weniger mit der politischen Verfassung oder dem gesellschaftlichen Zustand jedes Volkes verknüpft waren und selbst in ihren Dogmen eine gewisse nationale und oft munizipale Physiognomie bewahrten, sind gewöhnlich innerhalb der Grenzen eines Gebietes geblieben, aus dem man sie nicht leicht heraustreten sah. Sie ließen bisweilen Unduldsamkeit und Verfolgung aufkommen; aber die Proselytenmacherei war ihnen beinahe gänzlich unbekannt. Daher gab es auch in unserem Abendland vor der Einführung des Christentums keine großen religiösen Revolutionen. Das Christentum schritt leicht über die Schranken hinweg, welche die heidnischen Religionen aufgehalten hatten, und eroberte in kurzer Zeit einen großen Teil des Menschengeschlechts. Man wird es nicht als Mangel an Ehrfurcht vor dieser heiligen Religion auslegen können, wenn gesagt wird, daß sie ihren Sieg zum Teil dem Umstand verdankte, daß sie sich mehr als irgendeine andere von Allem frei gemacht hatte, was einem Volk, einer Regierungsform, einem gesellschaftlichen Zustand, einem Zeitalter oder einer Menschenrasse besonders eigentümlich sein konnte.

Die französische Revolution ist hinsichtlich dieser Welt genau ebenso verfahren, wie die religiösen Revolutionen hinsichtlich des Jenseits; sie hat den Bürger in einer abstrakten Weise betrachtet, indem sie von besonderen gesellschaftlichen Zuständen ganz absah, ebenso wie die Religionen den Menschen im Allgemeinen, ohne Rücksicht auf Vaterland und Zeitalter, betrachten. Sie hat nicht allein untersucht, welches das besondere Recht des französischen Bürgers ist, sondern welches in politischen Dingen die allgemeinen Pflichten und Rechte der Menschen sind.

Indem sie solchergestalt stets auf das zurückging, was hinsichtlich des gesellschaftlichen Zustandes und der Regierung am wenigstens sonderartig und sozusagen am  natürlichsten  war, konnte sie sich Allen verständlich machen und gleichzeitig an hundert Orten Nachahmung finden.

Da sie den Anschein hatte, die Wiedergeburt des Menschengeschlechts noch mehr als die Reform Frankreichs zu erstreben, so hat sie eine Leidenschaft entzündet, wie sie bis dahin die heftigsten politischen Revolutionen niemals zu erzeugen vermocht hatten. Sie hat den Proselytismus eingeflößt und die Propaganda entstehen lassen. Dadurch hat sie dann auch jenen Anschein einer religiösen Revolution zu gewinnen vermocht, welcher die Zeitgenossen so sehr in Schrecken gesetzt hat; oder sie ist vielmehr selbst eine Art neuer Religion geworden, allerdings eine unvollkommene Religion, ohne Gott, ohne Kultus und ohne künftiges Leben, die aber trotzdem, gleich dem Islam, die ganze Erde mit ihren Soldaten, ihren Aposteln und ihren Märtyrern überschwemmt hat.

Übrigens darf man nicht glauben, daß die Weise ihres Verfahrens ganz ohne ältere Vorbilder war und daß alle Ideen, die sie aufgestellt hat, völlig neu waren. In allen Jahrhunderten bis ins Mittelalter herab gab es Agitatoren, die sich, um besondere Gebräuche zu beseitigen, auf die allgemeinen menschlichen Gesetze berufen und es unternommen haben, der Verfassung ihres Vaterlandes die natürlichen Rechte der Menschheit entgegenzustellen. Aber alle diese Versuche sind gescheitert: derselbe Feuerbrand, welcher Europa im 18. Jahrhundert in Flammen gesetzt hat, ist im 15. leicht gedämpft worden. Sollen derartige Lehren Revolutionen erzeugen, so müssen allerdings gewisse Veränderungen, die in den Zuständen, den Gebräuchen und Sitten bereits eingetreten sind, den menschlichen Geist darauf vorbereitet haben, damit er empfänglich für dieselben ist.

Es gibt Zeiten, wo die Menschen so verschieden voneinander sind, daß der Gedanke eines einzigen für alle gleichmäßig geltenden Gesetzes beinahe ganz unfaßbar für sie ist. Zu anderen Zeiten hingegen genügt es, ihnen vom Weiten und undeutlich das Bild eines solchen Gesetzes zu zeigen, daß sie es sofort erkennen und ihm entgegeneilen.

Es ist nicht der außerordentlichste Umstand, daß die französische Revolution die Mittel angewendet hat, womit man sie zu Werke gehen sah, und daß sie auf die Ideen gekommen ist, die sie verkündet hat; neu ist vielmehr der Umstand, daß so viele Völker an den Punkt gelangt waren, wo solche Mittel erfolgreich angewendet und solche Grundsätze leicht Annahme finden konnten.


Viertes Kapitel
Wie beinahe ganz Europa dieselben
Institutionen gehabt hatte, und wie diese
allenthalben in Trümmer fielen.

Die Völker, welche das Römische Reich gestürzt und schließlich die modernen Nationen gebildet haben, waren durch Abstammung, Heimat und Sprache verschieden; sie glichen einander nur durch ihre Barbarei. Nachdem sie auf dem Boden des Kaisertums Fuß gefaßt hatten, stießen sie hier geraume Zeit inmitten einer ungeheuren Verwirrung aufeinander und als sie schließlich feste Sitze gewonnen hatten, fanden sie sich voneinander durch die Trümmer getrennt, die ihr eigenes Werk waren. Da die Zivilisation beinahe verschwunden und die öffentliche Ordnung vernichtet war, so wurde der Verkehr der Menschen untereinander schwierig und gefahrvoll und die große europäische Gesellschaft zerstückelte sich in tausend verschiedene und feindliche kleine Gesellschaften, die alle gesondert für sich lebten. Trotzdem sah man mitten aus dieser unzusammenhängenden Masse plötzlich gleichförmige Gesetze hervorgehen.

Diese Institutionen sind keineswegs der römischen Gesetzgebung nachgeahmt; sie sind ihr vielmehr dermaßen entgegengesetzt, daß man sich des römischen Rechts bedient hat, um sie umzugestalten und abzuschaffen. Ihre Physiognomie ist original und unterscheidet sie von allen anderen Gesetzen, die sich die Menschen gegeben haben. Sie sind untereinander symmetrisch geordnet und bilden zusammengenommen einen aus so dicht aneinandergeschlossenen Teilen zusammengesetzter Körper, daß die Artikel unserer modernen Gesetzbücher nicht enger verbunden sind; wohldurchdachte Gesetze zum Gebrauch einer halbrohen Gesellschaft!

Wie hat sich eine derartige Gesetzgebung in Europa bilden, verbreiten und Gemeingut werden können? Meine Absicht ist nich, dies zu untersuchen. Gewiß ist jedoch, daß sich im Mittelalter dieselbe überall in Europa mehr oder weniger wiederfindet und daß sie in vielen Ländern mit Ausschluß einer jeden anderen herrscht.

Ich habe Gelegenheit gehabt, die politischen Einrichtungen des Mittelalters in Frankreich, England und Deutschland zu studieren und während ich in dieser Arbeit fortschritt, erfüllte mich die außerordentliche Ähnlichkeit mit Erstaunen, welche allen diesen Gesetzen untereinander eigen ist und mit Verwunderung sah ich, wie so verschiedene und so wenig miteinander gemischte Völker sich so ähnliche Gesetze hatten geben können. Freilich weichen sie beständig und in den einzelnen Bestimmungen fast ins Unendliche je nach der Örtlichkeit voneinander ab; aber im Wesentlichen sind sie überall dieselben. Entdeckte ich in der alten deutschen Gesetzgebung eine politische Einrichtung, eine gesetzliche Bestimmung, eine Behörde, so wußte ich im Voraus, daß ich bei aufmerksamer Nachforschung etwas im Wesentlichen ganz Ähnliches in Frankreich und in England finden würde und ich verfehlte dann auch nicht, es dort wirklich zu finden. Jedes dieser drei Völker half mir zum besseren Verständnis der beiden anderen.

Bei allen dreien wird die Regierung von denselben Grundsätzen geleitet, bilden sich die politischen Versammlungen aus denselben Elementen und sind mit denselben Befugnissen ausgestattet. Die Gesellschaft ist da in derselben Weise abgeteilt und dieselbe Gliederung zeigt sich unter den verschiedenen Klassen; auch die Elemente nehmen eine identische Stellung ein; sie haben gleiche Vorrechte, gleiche Physiognomie, gleiches Naturel: es sind nicht verschiedene Menschen, es sind eigentlich überall dieselben.

Die Stadtverfassungen sind einander ähnlich; das platte Land wird in derselben Weise regiert. Die Lage der Bauern ist wenig verschieden; der Boden wird in gleicher Weise erworben, besessen, bebaut und der Landmann hat dieselben Lasten zu tragen. Von den äußersten Grenzen Polens bis zum irländischen Meer gleicht alles einander: die Lehnsherrlichkeit, der Hof des Lehnsherrn, das Lehngut, die zu leistenden Dienste, die Feudalrechte, die Innungen. Bisweilen sind auch die Namen dieselben und, was noch merkwürdiger ist, ein einziger Geist beseelt alle diese übereinstimmenden Institutionen. Ich glaube, man darf behaupten, daß im 14. Jahrhundert die gesellschaftlichen, politischen, administrativen, richterlichen, ökonomischen und wissenschaftlichen Zustände Europas vielleicht mehr Ähnlichkeit untereinander hatten, als selbst in unseren Tagen, wo die Zivilisation Sorge getragen zu haben scheint, alle Wege zu ebnen und alle Schranken zu beseitigen.

Es obliegt mir hier nicht, zu berichten, wie diese alte Verfassung Europas nach und nach schwach und hinfällig geworden war, ich beschränke mich auf die Bemerkung, daß sie im 18. Jahrhundert überall halb in Trümmern lag. Der Verfall war im Allgemeinen im Osten des Kontinents weniger auffällig als im Westen; aber allerorten machte sich Altersschwäche und oft Hinfälligkeit bemerkbar.

Dieser ähnliche Verfall der dem Mittelalter angehörigen Institutionen läßt sich in ihren Archiven verfolgen. Man weiß, daß jede Herrschaft Landregister besaß,  Flurbücher  genannt, worin man von Jahrhundert zu Jahrhundert die Grenzen der Freilehen und Unterlehen, die Grundzinsen, die zu leistenden Dienste, die auf Herkommen beruhenden Rechte verzeichnete. Ich habe Flurbücher des 14. Jahrhunderts gesehen, die, was Methode, Klarheit, Genauigkeit und Einsicht anlangt, wahre Meisterstücke sind. Trotz des allgemeinen Fortschritts der Aufklärung werden sie nach und nach dunkler, unverdaulicher, unvollständiger und verworrener, je neuer sie sind. Die politische Gesellschaft scheint gleichzeitig in Barbarei zu versinken, während die bürgerliche Gesellschaft ihre Bildung vervollständigt.

Selbst in Deutschland, wo die alte Verfassung Europas ihre ursprünglichen Züge besser bewahrt hatte, als in Frankreich, war ein Teil der von ihr eingeführten Institutionen bereits überall vernichtet. Aber man erkennt die Verheerungen der Zeit immerhin noch minder deutlich beim Anblick dessen, was ihr fehlt, als bei der Betrachtung des Zustandes, worin sich das ihr noch Übriggebliebene befindet.

Die städtischen Institutionen, die im dreizehnten und vierzehnten Jahrhundert die ansehnlichsten deutschen Städte zu ebenso reichen wie gebildeten kleinen Republiken gemacht hatten, existieren noch im 18., aber sie bieten nur noch leere Scheinbilder dar. Ihre Verordnungen scheinen noch in Kraft zu sein; die Obrigkeiten, die sie eingesetzt haben, führen dieselben Namen und scheinen dieselben Dinge zu tun; aber die Tätigkeit, die Energie, der Patriotismus, die männlichen und fruchtbaren Tugenden, die sie eingeflößt haben, sind verschwunden. Diese alten Institutionen sind gleichsam abgestorben, ohne ihre Form verloren zu haben.

Alle Gewalten aus dem Mittelalter, die noch bestehen, sind von derselben Krankheit ergriffen; alle zeigen denselben Verfall und dasselbe Siechtum. Ja noch mehr, alles was, ohne eigentlich der Verfassung jener Zeit anzugehören, sich doch in Berührung mit ihr befunden und ein etwas lebhaftes Gepräge von ihr behalten hat, verliert alsbald alle Lebenskraft. Bei dieser Berührung wird die Aristokratie von der Schwäche des Greisenalters befallen; selbst die politische Freiheit, die das ganze Mittelalter mit ihren Werken erfüllt hat, scheint überall, wo sie die vom Mittelalter ihr gegebenen charakteristischen Merkmale bewahrt, vom Fluch der Unfruchtbarkeit getroffen. Da, wo Pronvinzialversammlungen ihre alte Verfassung ganz unverändert beibehalten haben, sind sie dem Fortschritt der Zivilisation mehr hinderlich als förderlich; man möchte sagen, sie sind dem neuen Geist der Zeit fremd und unzugänglich für ihn. Daher wendet sich das Herz des Volkes von ihnen ab und neigt sich den Fürsten zu. Ihr Alter hat diese Institutionen nicht ehrwürdig gemacht; im Gegenteil, sie diskreditieren sich nur mit jedem Tag mehr, indem sie altern; und, seltsam genug, sie flößen umso größeren Haß ein, je unschädlicher sie durch ihren Verfall zu sein scheinen.
    "Der gegenwärtige Stand der Dinge", sagt ein deutscher Schriftsteller, ein Zeitgenossen und Freund der alten Zustände, "scheint im Allgemeinen anstößig für alle und bisweilen verächtlich zu sein. Es ist seltsam zu sehen, wie man jetzt alles ungünstig beurteilt, was alt ist. Die neuen Anschauungen brechen sich Bahn bis in den Schoß unserer Familien und stören da die Ordnung. Selbst unsere Hausfrauen wollen ihr altes Hausgerät nicht mehr dulden."
Um dieselbe Zeit war gleichwohl in Deutschland, wie in Frankreich, die Gesellschaft sehr bestriebsam und erfreute sich eines fortwährend steigenden Wohlstandes. Aber man dachte wohl auf Folgendes; dieser Zug vollendet das Gemälde: Alles was lebt, tätig ist und produziert, ist neuen, ja nicht allein neuen, sondern gegensätzlichen Ursprungs.

Es ist das Königtum, welches nichts mehr mit dem Königtum des Mittelalters gemein hat, andere Vorrechte besitzt, eine andere Stellung einnimmt, einen anderen Geist hat, andere Gesinnungen einflößt; es ist die Staatsverwaltung, die sich überall über die Trümmer der alten Autoritäten ausdehnt; es ist das Beamtentum, welches mehr und mehr die Regierung des Adels verdrängt. Alle diese Autoritäten verfahren nach Regeln, befolgen Grundsätze, welche die Männer des Mittelalters nicht gekannt oder verworfen haben und die sich allerdings auf einen gesellschaftlichen Zustand beziehen, von dem sie nicht einmal einen Begriff hatten.

In England, wo man beim ersten Anblick sagen würde, daß die alte Verfassung Europas noch in Kraft steht, ist es genau ebenso. Wenn man die alten Namen vergißt und die alten Formen beiseite läßt, so findet man dort seit dem 17. Jahrhundert das Feudalsystem im Wesentlichen abgeschafft, Vermischung der Stände, einen des alten Glanzes verlustigen Adels, eine nicht mehr abgeschlossene Aristokratie, dem zur Macht gewordenen Reichtum, Gleichheit vor dem Gesetz, Gleichheit der Lasten, freie Presse, Öffentlichkeit der Verhandlungen: lauter neue Prinzipien, von denen die Gesellschaft des Mittelalters nichts wußte. Es sind nun aber eben diese neuen Dinge, welche, nach und nach und mit Geschick in diesen alten Körper eingeführt, denselben neu belebten, ohne Gefahr, ihn aufzulösen, und ihn mit einer frischen Lebenskraft erfüllten, während sie ihm altertümliche Formen ließen. Das England des 17. Jahrhunderts ist schon eine ganz moderne Nation, die nur in ihrem Schoß und gleichsam einbalsamiert einige Trümmer des Mittelalters bewahrt hat.

Es wär nötig, einen flüchtigen Blick auf die Dinge außerhalb Frankreichs zu werfen, um das Verständnis des Folgenden zu erleichtern; denn wer nur Frankreich studiert und gesehen hat, wird niemals, wie ich behaupten darf, etwas von der französischen Revolution begreifen.


Fünftes Kapitel
Das eigentliche Werk der
französischen Revolution

Alles Vorhergehende hatte nur den Zweck, den Gegenstand aufzuhellen und die Lösung der anfangs gestellten Frage zu erleichtern: Welches ist das wirkliche Ziel der Revolution gewesen? Welches ist ihr eigentlicher Charakter? Warum ist sie eigentlich bewerkstelligt worden? Was hat sie geleistet?

Die Revolution ist nicht, wie man geglaubt hat, darauf ausgegangen, das Reich des religiösen Glaubens zu zerstören; sie ist, trotz des gegenteiligen Anscheins, im Wesentlichen eine soziale und politische Revolution gewesen; und im Bereich der Institutionen der letztgenannten Art hat sie keineswegs dahin gestrebt, die Unordnung zu verewigen, dieselbe gewissermaßen dauernd zu machen, die Anarchie zur  methodifizieren,  wie einer ihrer Hauptgegner sagte, sondern vielmehr die Macht und die Rechte der Staatsregierung auszudehnen. Sie sollte nicht, wie andere gemeint haben, den Charakter verändern, den unser Zivilisation bis dahin gehabt hatte, und den Fortschritt derselben hemmen, ja auch nicht einmal eines der Grundgesetze wesentlich abändern, auf denen in unserem Abendland die menschlichen Gesellschaften beruhen. Betrachtet man sie gesondert von allen Nebenumständen, welche momentan zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Gegenden ihre Physiognomie verändert haben, so sieht man deutlich, daß diese Revolution nur die Wirkung gehabt hat, jene politischen Institutionen, die mehrere Jahrhunderte hindurch bei den meisten europäischen Völkern die ungeteilte Herrschaft gehabt hatten und die man gewöhnlich unter dem Namen Feudalwesen zusammenfaßt, abzuschaffen, um an deren Stelle eine gleichförmigere soziale politische Ordnung einzuführen, deren Grundlage die Gleichheit war.

Dies genügte, um eine ungeheure Revolution zu veranlassen, denn abgesehen davon, daß jene alten Einrichtungen mit fast allen religiösen und politischen Gesetzen Europas vermischt und gleichsam verflochten waren, hatten sie überdies eine Menge Ideen, Gefühle, Gewohnheiten und Sitten erzeugt, die mit ihnen innig verwachsen waren. Es bedurfte einer furchtbaren Konvulsion, plötzlich aus dem Gesellschaftskörper einen Teil herauszuziehen und zu vernichten, der solchergestalt an allen seinen Organen haftete. Dies ließ die Revolution noch größer erscheinen, als sie es war; sie schien Alles zu zerstören, denn was sie zerstörte, hing mit Allem zusammen und bildete gewissermaßen einen Körper mit Allem.

Wie radikal auch die Revolution gewesen sein mag, so hat sie doch weit weniger Neuerungen gemacht, als man gewöhnlich annimmt; ich werde dies später nachweisen. Mit Recht sagt man von ihr, daß sie Alles vernichtet hat oder im Zuge ist zu vernichten (denn sie dauert noch fort), was in der alten Gesellschaft von den aristokratischen und feudalen Einrichtungen herrührte, Alles was sich in irgendeiner Weise damit verknüpfte, Alles was, in welchem Grad auch immer, das geringste Gepräge derselben trug. Sie hat von der alten Welt nur das beibehalten, was jenen Einrichtungen stets fremd geblieben war oder ohne sie bestehen konnte. Weniger als jede andere Erscheinung ist die Revolution ein zufälliges Ereignis gewesen. Sie ist allerdings der Welt ganz unerwartet gekommen und doch war sie nur die Vollendung der langwierigsten Arbeit, der plötzliche und gewaltsame Abschluß eines Werkes, woran zehn Menschenalter gearbeitet hatten. Wäre sie nicht eingetreten, so würde das alte Gebäude trotzdem, hier früher, dort später, überall zusammengestürzt sein, statt plötzlich einzustürzen. Die Revolution hat auf einmal, durch eine krampfhafte und schmerzliche Anstrengung, ohne Übergang, ohne Vorsicht und schonungslos vollbracht, was sich nach und nach von selbst vollbracht haben würde. Das war ihr Werk.

Es ist merkwürdig, daß, was jetzt so leicht zu erkennen scheint, den schärfsten Augen so dunkel und verschleiert blieb.
    "Ihr wolltet die Mißbräuche eurer Regierung abstellen", sagt der schon erwähnte  Burke  den Franzosen; "aber weshalb Neues einführen? Warum knüpft ihr nicht an eure alten Traditionen an? Warum beschränkt ihr euch nicht darauf, eure alten Freiheiten wieder zu nehmen? Oder wenn es euch unmöglich war, die verblichene Physiognomie der Verfassung eurer Väter wiederzufinden, warum warft ihr den Blick nicht nach unserer Seite? Da würdet ihr das alte gemeinschaftliche Gesetz Europas wiedergefunden haben."
BURKE wird nicht gewahr, daß es die Revolution ist, was er vor Augen hat, die Revolution, deren ausdrückliche Aufgabe es ist, dieses alte gemeinschaftliche Gesetze Europas abzuschaffen; er erkennt nicht, daß es sich gerade darum und nicht um etwas Anderes handelt.

Aber warum ist diese überall vorbereitete, überall drohende Revolution in Frankreich und nicht anderswo zuerst ausgebrochen? Warum hat sie bei uns sich durch gewisse Merkmale ausgezeichnet, die sich anderswo gar nicht oder nur zur Hälfte wiedergefunden haben? Diese zweite Frage verdient sicherlich aufgeworfen zu werden; ihre Erörterung wird Gegenstand der folgenden Bücher sein.
LITERATUR Alexis de Tocqueville, Der alte Staat und die Revolution, Leipzig 1867
    Anmerkungen
    1) Ich habe namentlich die Archive einiger großer Intendantschaften benutzt, besonders dasjenige von Tours, das sehr vollständig ist und einen sehr ausgedehnten, im Mittelpnkt Frankreichs gelegenen und von einer Million Einwohner bevölkerten Bezirk betrifft. Dem jungen und geschickten Archivar, Herrn Grandmaison, dessen Obhut es anvertraut ist, bin ich zu besonderem Dank verpflichtet. Andere Bezirke, z. B. die von Ile-de-France, zeigten mir, daß im größten Teil des Königreichs die Geschäftsführung die nämliche war.