P. TillichG. SimmelL. Tolstoi199 KB | ||
(1804-1872) Das Wesen der Religion [1/5] 1. Das Abhängigkeitsgefühl des Menschen ist der Grund der Religion; der Gegenstand dieses Abhängigkeitsgefühls, das, wovon der Mensch abhängig ist und sich abhängig fühlt, ist aber ursprünglich nichts anderes, als die Natur. Die Natur ist der erste, ursprüngliche Gegenstand der Religion, wie die Geschichte aller Religionen und Völker sattsam beweist. 2. Die Behauptung, daß die Religion dem Menschen eingeboren, natürlich sei, ist falsch, wenn man der Religion überhaupt die Vorstellungen des Theismus, d. h. des eigentlichen Gottesglaubens unterschiebt, vollkommen wahr aber, wenn man unter Religion nichts weiter versteht, als das Abhängigkeitsgefühl - das Gefühl oder Bewußtsein des Menschen, daß er nicht ohne ein anderes, von ihm unterschiedenes Wesen existiert und existieren kann, daß er nicht sich selbst seine Existenz verdankt. Die Religion in diesem Sinne liegt dem Menschen so nahe, als das Licht dem Auge, die Luft der Lunge, die Speise dem Magen. Die Religion ist die Beherzigung und Bekennung dessen, was ich bin. Vor allem bin ich aber ein nicht ohne Licht, ohne Luft, ohne Wasser, ohne Erde, ohne Speise existierendes, ein von der Natur abhängiges Wesen. Diese Abhängigkeit ist im Tier und tierischen Menschen nur eine unbewußte, unüberlegte; sie zum Bewußtsein zu erheben, sie sich vorstellen, beherzigen, bekennen heißt sich zur Religion erheben. So ist alles Leben abhängig vom Wechsel der Jahreszeiten; aber nur der Mensch feiert diesen Wechsel in dramatischen Vorstellungen, in festlichen Akten. Solche Feste aber, die nichts weiter ausdrücken und darstellen, als den Wechsel der Jahreszeiten oder der Lichtgestalten des Mondes, sind die ältesten, ersten, eigentlichen Religionsbekenntnisse der Menschheit. 3. Der bestimmte Mensch, dieses Volk, dieser Stamm hängt nicht von der Natur im Allgemeinen ab, nicht von der Erde überhaupt, sondern von diesem Boden, diesem Land, nicht vom Wasser überhaupt, sondern von diesem Wasser, diesem Strom, dieser Quelle. Der Ägypter ist kein Ägypter außer Ägypten, der Inder nicht Inder außer Indien. Mit vollem Recht, mit demselben Recht, mit welchem der universelle Mensch sein universelles Wesen als Gott verehrt, beteten daher die alten, beschränkten, an ihrem Boden mit Leib und Seele haftenden, nicht in ihre Menschheit, sondern in ihre Volks- und Stammesbestimmtheit ihr Wesen setzenden Völker die Berge, die Bäume, die Tiere, die Flüsse und Quellen ihres Landes als göttliche Wesen an, denn ihre ganze Existenz, ihr ganzes Wesen gründete sich ja nur auf die Beschaffenheit ihres Landes, ihrer Natur. 4. Es ist die phantastische Vorstellung, daß der Mensch nur durch die Vorsehung, den Beistand "übermenschlicher" Wesen, als da sind Götter, Geister, Genien, Engel, sich über den Zustand der Tierheit habe erheben können. Allerdings ist der Mensch nicht für sich und durch sich selbst allein das geworden, was er ist; er bedurfte hierzu der Unterstützung anderer Wesen. Aber diese Wesen waren keine supranaturalistischen, eingebildeten Geschöpfe, sondern wirkliche, natürliche Wesen, keine Wesen über, sondern unter dem Menschen, wie denn überhaupt alles, was den Menschen in seinem bewußten und willkürlichen, dem gewöhnlich allein menschlich genannten Tun und Treiben unterstützt, alle gute Gabe und Anlage nicht von oben herab, sondern von unten herauf, nicht aus der Höhe, sondern aus der Tiefe der Natur kommt. Diese hilfreichen Wesen, diese Schutzgeister des Menschen waren insbesondere die Tiere. Nur mittels der Tiere erhob sich der Mensch über das Tier; nur unter ihrem Schutz und Beistand konnte die Saat der menschlichen Natur gedeihen, "Durch den Verstand des Hundes," heißt es im Zend Avesta und zwar im Bendidad, dem anerkannt ältesten und echtesten Teil desselben (1), "besteht die Welt. Behütete er nicht die Straßen, so würden Räuber und Wölfe alle Güter rauben." Aus dieser Bedeutung der Tiere für den Menschen, namentlich in den Zeiten der beginnenden Kultur, rechtfertigt sich vollkommen die religiöse Verehrung derselben. Die Tiere waren dem Menschen unentbehrliche, notwendige Wesen; von ihnen hing seine menschliche Existenz ab; Das aber, wovon das Leben, die Existenz des Menschen abhängt, das ist ihm Gott. Wenn die Christen nicht mehr die Natur als Gott verehren, so kommt das nur daher, daß ihrem Glauben zufolge ihre Existenz nicht von der Natur, sondern dem Willen eines von der Natur unterschiedenen Wesens abhängt, aber gleichwohl betrachten und verehren sie dieses Wesen nur deswegen als göttliches, d. i. höchstes Wesen, weil sie es für den Urheber und Erhalter ihrer Existenz, ihres Lebens halten. So ist die Gottesverehrung nur abhängig von der Selbstverehrung des Menschen, nur eine Erscheinung derselben. Verachte ich mich oder mein Leben - ursprünglich und normal unterscheidet der Mensch nicht zwischen sich und seinem Leben - wie sollte ich das lobpreisen, verehren, wovon dieses erbärmliche, verächtliche Leben abhängt? Im Wert, den ich auf die Ursache des Lebens lege, wird daher nur Gegenstand des Bewußtseins der Wert, den ich unbewußt auf mein Leben, auf mich selbst lege. Je höher darum der Wert des Lebens steigt, desto höher steigen auch natürlich an Wert und Würde die Spender der Lebensgaben, die Götter. Wie könnten auch die Götter in Gold und Silber strahlen, so lange nicht der Mensch den Wert und Gebrauch von Gold und Silber kennt? Welch ein Unterschied zwischen der griechischen Lebensfülle und Lebensliebe und der indianischen Lebensöde und Lebensverachtung; aber auch welch ein Unterschied zwischen der griechischen Mythologie und der indianischen Fabellehre, zwischen dem olympischen Vater der Götter und Menschen und der großen indianischen Beutelratte oder der Klapperschlange, dem Großvater der Indianer! 5. Die Christen freuen sich des Lebens ebenso sehr, wie die Heiden, aber sie schicken ihre Dankgebete für die Lebensgenüsse empor zum himmlischen Vater; sie machen eben deswegen den Heiden den Vorwurf des Götzendienstes, daß sie mit ihrem Dank, ihrer Verehrung bei der Kreatur stehen bleiben, sich nicht zur ersten Ursache, der allein wahren Ursache aller Wohltaten erheben. Allein verdanke ich dem ADAM dem ersten Menschen meine Existenz? Verehre ich ihn als meinen Vater? Warum soll ich nicht bei der Kreatur stehen bleiben? Bin ich nicht selbst eine Kreatur? Ist nicht für mich, der ich selbst nicht weit her bin, für mich, als dieses bestimmte, individuelle Wesen, die nächste, diese gleichfalls bestimmte, individuelle Ursache die letzte Ursache? Ist diese meine, von mir selbst und meiner Existenz unabtrennbare, ununterscheidbare Individualität nicht abhängig von der Individualität dieser meiner Eltern? Verliere ich nicht, wenn ich weiter zurückgehe, zuletzt alle Spuren von meiner Existenz? Gibt es hier nicht einen notwendigen Halt- und Grenzpunkt im Rückgang? Ist nicht der erste Anfang meiner Existenz ein absolut individueller? Bin ich in demselben Jahr, derselben Stunde, derselben Stimmung, kurz unter denselben inneren und äußeren Bedingungen erzeugt und empfangen, wie mein Bruder? Ist also nicht, wie mein Leben ein unwidersprechlich eignes ist, auch mein Ursprung ein eigner, individueller? Soll ich also bis auf den ADAM meine Pietät ausdehnen? Nein! ich bleibe mit vollem Recht bei den mir nächsten Wesen, diesen meinen Eltern, als den Ursachen meiner Existenz, mit religiöser Verehrung stehen. 6. Die ununterbrochene Reihe der sogenannten endlichen Ursachen oder Dinge, welche die alten Atheisten als eine endlose, die Theisten als eine endliche bestimmten, existiert ebenso wie die Zeit, in der sich ohne Absatz und Unterschied ein Augenblick an den andern reiht, nur in Gedanken, in der Vorstellung des Menschen. In der Wirklichkeit wird das langweilige Einerlei dieser Kausalreihe unterbrochen, aufgehoben durch den Unterschied, die Individualität der Dinge, welche etwas Neues, Selbständiges, Einziges, Letztes, Absolutes ist. Allerdings ist das im Sinne der Naturreligion göttliche Wasser ein zusammengesetztes, vom Wasser- und Sauerstoff abhängiges, aber doch zugleich ein neues, nur sich selbst gleiches, originelles Wesen, in welchem die Eigenschaften der beiden Stoffe für sich selbst verschwunden, aufgehoben sind. Allerdings ist das Mondlicht, das der Heide in seiner religiösen Einfalt als ein selbständiges Licht verehrt, ein abgeleitetes, aber doch zugleich ein vom unmittelbaren Sonnenlicht unterschiedenes, eigenes, durch den Widerstand des Mondes verändertes Licht - ein Licht also, das nicht wäre, wenn der Mond nicht wäre, dessen Eigentümlichkeit nur in ihm seinen Grund hat. Allerdings ist der Hund, den der Parse wegen seiner Wachsamkeit, Dienstfertigkeit und Treue als ein wohltätiges und deswegen göttliches Wesen in seinen Gebeten anruft, ein Geschöpf der Natur, das nicht aus und durch sich selbst ist, was es ist; aber gleichwohl ist es doch nur der Hund selbst, dieses und kein anderes Wesen, welches jene verehrungswürdigen Eigenschaften besitzt. Soll ich wegen dieser Eigenschaften zur ersten und allgemeinen Ursache aufblicken und dem Hund den Rücken kehren? Allein die allgemeine Ursache ist ohne Unterschied ebenso gut die Ursache des menschenfreundlichen Hundes, als des menschenfeindlichen Wolfes, dessen Dasein ich der allgemeinen Ursache zum Trotz aufheben muß, wenn ich mein eigenes, höher berechtigtes Dasein behaupten will. 7. Das göttliche Wesen, das sich in der Natur offenbart, ist nichts anderes, als die Natur selbst, die sich dem Menschen als ein göttliches Wesen offenbart, darstellt und aufdrängt. Die alten Mexikaner hatten unter ihren vielen Göttern auch einen Gott (2) des Salzes. Dieser Salzgott enträtselte uns auf fühlbare Weise das Wesen des Gottes der Natur überhaupt. Das Salz (Steinsalz) repräsentiert uns in seinen ökonomischen, medizinischen und technologischen Wirkungen die von den Theisten so sehr gepriesene Nützlichkeit und Wohltätigkeit der Natur, in seinen Wirkungen auf Auge und Gemüth, seinen Farben, seinem Glanze, seiner Durchsichtigkeit ihre Schöhnheit, in seiner kristallinischen Struktur und Gestalt ihre Harmonie und Regelmäßigkeit, in seiner Zusammensetzung aus entgegengesetzten Stoffen die Verbindung der entgegengesetzten Elemente der Natur zu einem Ganzen - eine Verbindung, welche die Theisten von jeher als einen umumstößlichen Beweis für die Existenz eines von der Natur unterschiedenen Regenten derselben ansahen, weil sie aus Unkenntnis der Natur nicht wußten, daß gerade die entgegengesetzten Stoffe und Wesen sich anziehen, sich durch sich selbst zu einem Ganzen verbinden. Was ist denn nun aber der Gott des Salzes? der Gott, dessen Gebiet, Dasein, Offenbarung, Wirrungen und Eigenschaften im Salz enthalten sind? Nichts anderes, als das Salz selbst, welches dem Menschen wegen seinen Eigenschaften und Wirkungen als ein göttliches, d. h. wohltätiges, herrliches, preis- und bewunderungswürdiges Wesen erscheint. HOMER nennt ausdrücklich das Salz göttlich. Wie also der Gott des Salzes nur der Ein- und Ausdruck von der Gottheit oder Göttlichkeit des Salzes ist, so ist auch der Gott der Welt oder der Natur überhaupt nur der Ein- und Ausdruck der Gottheit der Natur. 8. Der Glaube, daß sich in der Natur ein anderes Wesen ausspreche, als die Natur selbst, daß die Natur von einem von ihr unterschiedenen Wesen erfüllt und beherrscht sei, ist im Grunde eins mit dem Glauben, daß sich Geister, Dämonen oder Teufel durch den Menschen, wenigstens in gewissen Zuständen, aussprechen, den Menschen besitzen, ist in der Tat der Glaube, daß die Natur von einem fremden, geisterhaften Wesen besessen sei. Allerdings ist auch wirklich die Natur auf dem Standpunkt dieses Glaubens von einem Geist besessen, aber dieser Geist ist des Menschen Geist, seine Phantasie, sein Gemüt, das sich unwillkürlich in die Natur hineinlegt, die Natur zu einem Symbol und Spiegel seines Wesens macht. 9. Die Natur ist nicht nur der erste, ursprüngliche Gegenstand, sie ist auch der bleibende Grund, der fortwährende, wenn auch verborgene, Hintergrund der Religion. Der Glaube, daß Gott selbst, wenn er als ein von der Natur unterschiedenes, übernatürliches Wesen vorgestellt wird, ein außer dem Menschen existierendes, ein objektives Wesen ist, wie die Philosophen sich ausdrücken, hat seinen Grund darin, daß das außer dem Menschen existierende, gegenständliche Wesen, die Welt, die Natur ursprünglich selbst Gott ist. Die Existenz der Natur gründet sich nicht, wie der Theismus wähnt, auf die Existenz Gottes, nein! umgekehrt: die Existenz Gottes oder vielmehr der Glaube an seine Existenz gründet sich nur auf die Existenz der Natur. Du bist nur deswegen genötigt, Gott als ein existierendes Wesen zu denken, weil Du von der Natur selbst genötigt wirst, Deiner Existenz und Deinem Bewußtsein die Existenz der Natur vorauszusetzen und der erste Grundbegriff Gottes kein anderer ist, als eben der, daß er die Deiner Existenz vorangehende, vorausgesetzte Existenz ist. Oder in dem Glauben, daß Gott außer dem Herzen, außer der Vernunft des Menschen existiert, schlechtweg existiert, gleichgültig, ob der Mensch ist oder nicht ist und ihn denkt oder nicht denkt, wünscht oder nicht wünscht, in diesem Glauben oder vielmehr im Gegenstand desselben spukt Dir kein anderes Wesen im Kopf herum, als die Natur, deren Existenz sich nicht auf die Existenz des Menschen, geschweige auf Gründe des menschlichen Verstandes und Herzens stützt. Wenn daher die Theologen, besonders die rationalistischen, die Ehre Gottes hauptsächlich darin setzen, daß er ein vom Denken des Menschen unabhängig existierendes Wesen ist, so mögen sie doch bedenken, daß die Ehre dieser Existenz auch den Göttern der blinden Heiden, den Sternen, Steinen, Bäumen und Tieren zukommt, daß also die gedankenlose Existenz ihres Gottes sich nicht von der Existenz des ägyptischen Apis [Heiliger Stier von Memphis - wp] unterscheidet. 10. Die den Unterschied des göttlichen Wesens vom menschlichen Wesen oder wenigstens vom menschlichen Individuum begründenden und ausdrückenden Eigenschaften sind ursprünglich oder der Grundlage nach nur Eigenschaften der Natur. Gott ist das mächtigste oder vielmehr allmächtige Wesen - d. h. er vermag, was der Mensch nicht vermag, was vielmehr die menschlichen Kräfte unendlich übersteigt und daher dem Menschen das demütigende Gefühl seiner Beschränktheit, Ohnmacht und Nichtigkeit einflößt. "Kannst Du, spricht Gott zu HIOB, die Bande der sieben Sterne zusammenbinden? Oder das Band des Orion auflösen? Kannst Du die Blitze auslassen, daß sie hinfahren und sprechen: hier sind wir: Kannst Du dem Roß Kräfte geben? Fliegt der Habicht durch Deinen Verstand? Hast Du einen Arm wie Gott und kannst mit gleicher Stimme donnern als er tut!" Nein! das kann der Mensch nicht; mit dem Donner läßt sich die menschliche Stimme nicht vergleichen. Aber was ist die Macht, die sich in der Gewalt des Donners, in der Stärke des Rosses, im Flug des Habichts, im unaufhaltsamen Lauf des Siebengestirns äußert? Die Macht der Natur. (3) Gott ist das ewige Wesen. Aber in der Bibel selbst steht geschrieben: "Ein Geschlecht vergeht, das andere kommt, die Erde aber bleibt ewig." Im Zend Avesta heißen Sonne und Mond wegen ihrer beständigen Fortdauer ausdrücklich "Unsterbliche." Und ein peruanischer Inka sagte zu einem Dominikaner: "Du betest einen Gott an, der am Kreuz gestorben ist, ich aber bete die Sonne an, die nie stirbt." Gott ist das allgütige Wesen, "denn er läßt seine Sonne aufgehen über die Bösen und über die Guten und läßt regnen über Gerechte und Ungerechte"; aber das Wesen, das nicht zwischen Guten und Bösen, Gerechten und Ungerechten unterscheidet, nicht nach moralischen Verdiensten die Güter des Lebens austeilt, das überhaupt deswegen auf den Menschen den Eindruck eines guten Wesens macht, weil seine Wirkungen, wie z. B. das erquickende Sonnenlicht und Regenwasser, Quellen der wohltuenden Empfindungen sind, das ist eben die Natur. Gott ist das allumfassende, universelle, das eine und selbe Wesen, aber es ist eine und dieselbe Sonne, die allen Menschen und Wesen der Erde oder Welt - denn die Erde ist ursprünglich und in allen Religionen die Welt selbst - leuchtet, ein und derselbe Himmel, der sie alle umspannt, eine und dieselbe Erde, die sie alle trägt. Daß ein Gott ist, sagt AMBROSIUS, bezeugt die gemeine Natur, denn es ist nur eine Welt. Wie Sonne, Mond, Himme, Erde und Meer Allen gemein sind, sagt PLUTARCH, aber bei den Einen so, bei den Andern anders heißen, so ist auch ein das Universum lenkender Geist, aber er hat verschiedene Namen und Kulte. Gott ist "kein Wesen, das in Tempeln wohnt, die von Menschenhänden gemacht sind;" aber auch nicht die Natur. Wer kann das Licht, wer den Himmel, wer das Meer in begrenzte menschliche Räume einschließen? Die alten Perser und Germanen verehrten nur die Natur, aber sie hatten keine Tempel. Dem Naturverehrer ist es zu eng, zu schwül in den gemachten, abgezirkelten Räumen eines Tempels oder einer Kirche; es ist ihm nur wohl unter dem freien, unbegrenzten Himmel der sinnlichen Anschauung. Gott ist das nicht nach menschlichem Maßstab bestimmbare, das unermeßlich, große, unendliche Wesen; aber er ist es nur, weil die Welt, sein Werk, groß, unermeßlich, unendlich ist oder wenigstens so dem Menschen erscheint. Das Werk lobt seinen Meister: die Herrlichkeit des Schöpfers hat ihren Grund nur in der Herrlichkeit des Geschöpfs. "Wie groß ist die Sonne, aber wie groß ist erst der, der die Sonne gemacht hat!" Gott ist das überirdische, übermenschliche, höchste Wesen; aber auch dieses höchste Wesen ist seinem Ursprung und seiner Grundlage nach nichts anderes, als das räumlich oder optisch höchste Wesen: der Himmel mit seinen glänzenden Erscheinungen. Alle Religionen von nur einiger Schwungkraft versetzen ihre Götter in die Region der Wolken, in den Äther oder in Sonne, Mond und Sterne, alle Götter verlieren sich zuletzt im blauen Dunst des Himmels. Selbst der spiritualistische Gott der Christen hat seinen Sitz, seine Basis oben im Himmel. Gott ist das geheimnisvolle, unbegreifliche Wesen, aber nur weil die Natur dem Menschen, namentlich dem religiösen, ein geheimnisvolles, unbegreifliches Wesen ist. "Weißt Du," sagt Gott zu HIOB, "wie sich die Wolken ausstreuen? Bist Du an den Grund des Meeres gekommen? Hat Du vernommen, wie breit die Erde sei? Hast Du gesehen, wo der Hagel herkommt?" Gott endlich ist das über menschliche Willkür erhabene, von menschlichen Bedürfnisse und Leidenschaften unberührte, das ewig sich selbst gleiche, nach unwandelbaren Gesetzen waltende, das, was es einmal festgesetzt, für alle Zeiten unabänderlich festsetzende Wesen. Aber auch dieses Wesen, was ist es anderes, als die bei allem Wechsel sich selbst gleich bleibende, gesetzmäßige, unerbittliche, rücksichtslose, unwillkürliche Natur? (4) 11. Gott als Urheber der Natur wird zwar als ein von der Natur unterschiedenes Wesen vorgestellt, aber das, was dieses Wesen enthält und ausdrückt, der wirkliche Inhalt desselben ist nur die Natur. "An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen", heißt es in der Bibel und der Apostel PAULUS verweist und ausdrücklich auf die Welt als das Werk hin, woraus Gottes Existenz und Wesen zu erkennen sei, denn das, was einer hervorbringt, enthält ja sein Wesen, zeigt uns, was er ist und vermag. Was wir in der Natur haben, das haben wir daher in Gott gedacht nur als Urheber oder Ursache der Natur - also kein moralisches, geistiges, sondern nur ein natürliches, physisches Wesen. Ein Gottensdient, der sich auf Gott nur als Urheber der Natur gründete, ohne anderweitige aus dem Menschen geschöpfte Bestimmungen mit ihm zu verknüpfen, ohne ihn zugleich als politischen und moralischen, d. h. menschlichen Gesetzgeber zu denken, wäre reiner Naturdienst. Zwar wird der Urheber der Natur mit Verstand und Willen belegt; aber das, was eben dieser Wille will, dieser Verstand denkt, ist gerade das, wozu kein Wille, kein Verstand erfordert wird, wozu bloße mechanische, physische, chemische, vegetabilische, animalische Kräfte und Triebfedern hinreichen. 12. Sowenig die Bildung des Kindes im Mutterleib, die Bewegung des Herzens, die Verdauung und andere organische Funktionen Wirkungen des Verstandes und Willens sind, so wenig ist die Natur überhaupt die Wirkung eines geistigen, d. i. wollenden und wissenden oder denkenden Wesens. Ist die Natur ursprünglich ein Geistesprodukt und folglich eine Geistererscheinung, so sind auch die gegenwärtigen Naturwirkungen geistige Wirkungen, Geistererscheinungen. Wer A sagt muß B sagen; ein supranaturalistischer Anfang fordert notwendig eine supranaturalistische Fortsetzung. Da nur macht ja der Mensch Wille und Verstand zur Ursache der Natur, wo die Wirkungen unter dem Willen und Verstand über den Verstand des Menschen gehen, wo er alles sich nur aus sich, aus menschlichen Gründen erklärt, wo er nichts versteht und weiß von den natürlichen Ursachen, wo er daher auch die besonderen, gegenwärtigen Naturerscheinungen von Gott, oder, wie z. B. die ihm unerklärlichen Bewegungen der Gestirne, von untergeordneten Geistern ableitet. Ist aber gegenwärtig der Stützpunkt der Erde und Gestirne nicht das allmächtige Wort Gottes, das Motiv ihrer Bewegung kein geistiges oder englisches [engelhaftes - wp], sondern ein mechanisches, so ist notwendig auch die Ursache und zwar erste Ursache dieser Bewegung eine mechanische oder überhaupt natürliche. Von Wille und Verstand, überhaupt vom Geist die Natur ableiten, das heißt die Rechnung ohne den Wirt machen, das heißt aus der Jungfrau ohne Erkenntnis des Mannes bloß durch den heiligen Geist den Heiland der Welt gebären, das heißt aus Wasser Wein machen, das heißt mit Worten Stürme beschwören, mit Worten Berge versetzen, mit Worten. Blinde sehend machen. Welche Schwachheit und Beschränktheit, die untergeordneten Ursachen, die causas secundas des Aberglaubens, die Wunder, die Teufel, die Geister als Erklärungsgründe von Naturerscheinungen zu beseitigen, aber die prima causa, die erste Ursache allen Aberglaubens unangetastet stehen zu lassen! 13. Mehrere Kirchenväter behaupteten, daß der Sohn Gottes keine Wirkung des Willens, sondern des Wesens, der Natur Gottes, daß das Naturprodukt früher frei, als das Willensprodukt und daher der Zeugungsakt, als ein Wesens- oder Naturakt, dem Akt der Schöpfung, als einem Willensakt vorangehe. So hat sich selbst inmitten des übernatürlichen Gottes, obwohl im größten Widerspruch mit seinem Wesen und Willen, die Wahrheit der Natur geltend gemacht. Dem Willensakt ist der Zeugungsakt vorausgesetzt, eher als die Tätigkeit des Bewußtseins, des Willens ist die Tätigkeit der Natur. Vollkommen wahr. Erst muß die Natur sein, ehe das ist, was sich von der Natur unterscheidet, die Natur als einen Gegenstand des Wollens und Denkens sich gegenübersetzt. Von der Verstandlosigkeit zu Verstand kommen, das ist der Weg zur Lebensweisheit, aber von Verstand zu Verstandlosigkeit kommen, das ist der direkte Weg ins Narrenhaus der Theologie. Den Geist nicht auf die Natur, sondern umgekehrt die Natur auf den Geist setzen, das heißt den Kopf nicht auf den Unterleib, den Bauch, sondern den Bauch auf den Kopf stellten. Das Höhere setzt das Niedere, nicht dieses jenes voraus, (5) aus dem einfachen Grunde, weil das Höhere etwas unter sich haben muß, um höher zu stehen. Und je höher, je mehr ein Wesen ist, desto mehr setzt es auch voraus. Nicht das erste Wesen, sondern das späteste, letzte, abhängigste, bedürftigste, zusammengesetzteste Wesen ist eben deswegen das höchste Wesen, gleich wie in der Bildungsgeschichte der Erde nicht die ältesten, ersten Gesteine, die Schiefer- und Granitgesteine, sondern die spätesten jüngsten Produkte, die Basalte und dichten Laven die schwersten, die gewichtigsten sind. Ein Wesen, das die Ehre hat, Nichts vorauszusetzen, das hat auch die Ehre, Nichts zu sein. Aber freilich die Christen verstehen sich auf die Kunst, aus Nichts etwas zu machen. 14. Alle Dinge kommen und hängen von Gott ab, sagen die Christen im Einklang mit ihrem gottseligen Glauben, aber, setzen sie sogleich hinzu im Einklang mit ihrem gottlosen Verstand, nur mittelbar: Gott ist nur die erste Ursache, aber dann kommt das unübersehbare Heer der subalternen Götter, das Regiment der Mittelursachen. Allein die sogenannten Mittelursachen sind die allein wirklichen und wirksamen, die allein gegenständlichen und fühlbaren Ursachen. Ein Gott, der nicht mehr mit den Pfeilen APOLLOs den Menschen zu Boden streckt, nicht mehr mit dem Blitz und Donner JUPITERs das Gemüt erschüttert, nicht mehr mit Kometen und andern feurigen Erscheinungen den verstockten Sündern die Hölle heiß macht, nicht mehr mit allerhöchster "selbsteigenster" Hand das Eisen an den Magnet heranzieht, Ebbe und Flut bewirkt und das feste Land gegen die übermütige, stets eine neue Sintflut drohende Macht der Gewässer schirmt, kurz ein aus dem Reich der Mittelursachen vertriebener Gott ist nur eine Titular ursache, ein unschädliches, höchst bescheidenes Gedankending - eine bloße Hypothese zur Lösung einer theoretischen Schwierigkeit, zur Erklärung des ersten Anfangs der Natur oder vielmehr des organischen Lebens. Denn die Annahme eines von der Natur unterschiedenen Wesens zur Erklärung ihres Daseins stützt sich, wenigstens in letzter Instanz, nur auf die - übrigens nur relative, subjektive - Unerklärlichkeit des organischen, insbesondere menschlichen Lebens aus der Natur, indem der Theist sein Unvermögen, sich das Leben aus der Natur zu erklären, zu einem Unvermögen der Natur, das Leben aus sich zu erzeugen, die Schranken seines Verstandes also zu Schranken der Natur macht. 15. Schöpfung und Erhaltung sind unzertrennlich. Ist daher ein von der Natur unterschiedenes Wesen, ein Gott unser Schöpfer, so ist er auch unser Erhalter, so ist es also nicht die Kraft der Luft, der Wärme, des Wassers, des Brotes, sondern die Kraft Gottes, die uns erhält. "In ihm leben, weben und sind wir." "Nicht das Brot", sagt LUTHER, sondern das Wort Gottes nähret auch den Leib natürlich, wie es alle Dinge schaffet und erhält; Ebr. 1." "Weil es fürhanden ist, so nähret (Gott) dadurch und drunter, daß man es nicht sehe und meine, das Brot tue es. Wo es aber nicht führhanden ist, da nähret er ohne Brot allein durchs Wort, wie er tut unter dem Brot." "Summa alle Kreaturen sind Gottes Larven und Mummereien, die er will lassen mit ihm wirken und helfen allerlei schaffen, das der doch sonst ohne ihr Mitwirken tun kann und auch tut." Ist aber nicht die Natur, sondern Gott unser Erhalter, so ist die Natur ein bloßes Versteckspiel der Gottheit und folglich ein überflüssiges Scheinwesen, gleichwie umgekehrt Gott ein überflüssiges Scheinwesen ist, wenn uns die Natur erhält. Nun ist es aber offenbar und unleugbar, daß wir nur den eigentümlichen Wirkungen, Eigenschaften und Kräften der natürlichen Wesen unsere Erhaltung verdanken; wir sind daher zu dem Schluß nicht nur berechtigt, sondern auch gezwungen, daß wir auch nur der Natur unsere Entstehung verdanken. Wir sind mitten in die Natur hineingestellt und doch sollte unser Anfang, unser Ursprung außer der Natur liegen? Wir leben in der Natur, mit der Natur, von der Natur und gleichwohl sollten wir nicht aus ihr sein? Welch ein Widerspruch! 16. Die Erde ist nicht immer so gewesen, wie sie gegenwärtig ist; sie ist vielmehr nur nach einer Reihe von Entwicklungen und Revolutionen auf ihren gegenwärtigen Standpunkt gekommen und es ist durch die Geologie ermittelt, daß in diesen verschiedenen Entwicklungsstufen auch verschiedene, jetzt oder schon in früheren Perioden nicht mehr vorhandene Pflanzen und Tiere existierten. (6) So gibt es keine Trilobiten mehr, keine Enkriniten, keine Ammoniten, keine Pterodaktylen, keine Ichthyo- und Plesiosauren, keine Mega- und Dinotherien usw. Warum aber? offenbar deswegen, weil die Bedingungen ihrer Existenz nicht mehr vorhanden sind. Wenn aber das Ende eines Lebens mit dem Ende seiner Bedingungen, so fällt auch der Anfang, die Entstehung eines Lebens mit der Entstehung seiner Bedingungen zusammen. Selbst gegenwärtig, wo die Pflanzen und Tiere, wenigstens unbestritten die höheren, nur durch organische Zeugung entstehen, sehen wir auf eine höchst merkwürdige, noch unerklärte Weise überall, so wie nur ihre eigentümlichen Lebensbedingungen gegeben sind, auch unverzüglich dieselben in zahlloser Menge zum Vorschein kommen. Die Entstehung des organischen Lebens ist daher naturgemäß nicht als ein isolierter Akt zu denken, als ein Akt nach der Entstehung der Lebensbedingungen, sondern vielmehr der Akt, der Moment, wo die Temperatur, die Luft, das Wasser, die Erde überhaupt solche Beschaffenheiten annahm, der Sauerstoff, Wasserstoff, Kohlenstoff, Stickstoff solche Verbindungen eingingen, welche die Existenz des organischen Lebens bedingen, ist auch als der Moment zu denken, wo sich diese Stoffe zugleich zur Bildung organischer Körper vereinigten. Wenn daher die Erde kraft ihrer eigenen Natur im Laufe der Zeit sich so entwickelt und kultiviert hat, daß sie einen mit der Existenz des Menschen verträglichen, dem menschlichen Wesen angemessenen, also, so zu sagen, selbst menschlichen Charakter annahm, so konnte sie auch aus eigener Kraft den Menschen hervorbringen.
1) Wenngleich auch dieser "erst in späterer Zeit abgefaßt worden ist." 2) Oder vielmehr Göttin, aber das ist hier egal. 3) SOKRATES verwarf die Physik als eine übermenschliche und nutzlose Beschäftigung, weil, wenn man auch wüßte, wie z. B. der Regen entsteht, man deswegen doch keinen Regen machen könnte und beschäftigtes sich daher nur mit menschlichen, moralischen Gegenständen, die man durch das Wissen hervorbringen kann. Das heißt: was der Mensch machen kann, ist Menschliches, was er nicht machen kann, Übermenschliches, Göttliches. So sagte auch ein König der Kaffern, "sie glaubten an eine unsichtbare Gewalt, die ihnen bald Gutes, bald Böses zufügt, Wind, Donner und Blitz errege und alles hervorbringe, was sie nicht nachzuahmen vermöchten." Und ein Indianer zu einem Missionar: "Kannst Du das Gras wachsen lassen! Ich glaube nicht und Niemand kann es außer dem großen Manitu." So ist der Grundbegriff Gottes als eines vom Menschen unterschiedenen Wesens kein anderer, als die Natur. 4) Alle diese ursprünglich nur von der Anschauung der Natur abstammenden Eigenschaften werden später zu abstrakten, metaphysischen Eigenschaften, wie die Natur selbst zu einem abstrakten Vernunftwesen. Auf diesem Standpunkt, wo der Mensch den Ursprüng Gottes aus der Natur vergißt, wo Gott kein Wesen der Anschauung, der Sinnlichkeit, sondern nur ein gedachtes Wesen ist, heißt es: der vom eigentlichen menschlichen Gott unterschiedene, anthropomorphismenlose Gott ist nichts anderes als das Wesen der Vernunft. So viel über das Verhältnis dieser Arbeit zu meinem "Luther" und "Wesen des Christentums". Sat sapienti [Dem Wissenden genügt es. - wp] 5) Logisch wohl auch, aber nimmermehr seiner realen Genesis nach. 6) Mit der Ansicht übrigens, daß sich das organische Leben in einem förmlichen Stufengang, also entwickelt habe, daß zu gewissen Zeiten nur Schnecken, Muscheln und andere noch niedriger Tiere, nur Fische, nur Amphibien existiert hätten, kann ich mich nicht befreunden. Auch ist diese Ansicht bereits bis auf die Grauwackenformation zurückgedrängt, wenn anders sich die Entdeckung von Knochen und Zähnen von Landsäugetieren in der Steinkohlenformation bestätigt hat. Download mit allen Kommentaren [199 KB] |