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JULIUS BAHNSEN
Das Tragische als Weltgesetz

"Wohl kann es auch den Starken wie ein Erdstoß überschütten, daß ihm für eine Zeit lang der Atem und die Besinnung ausgehen: aber dann wird er mit einem gewaltigen Ruck die auf ihn geworfene Masse abwälzen, sobald durch irgendeinen Spalt das Licht von oben wieder an sein Auge dringt. Begraben unter dem Schutt der Gemeinheit, gehetzt von tausend Stachelpeitschen der  simplen,  in Einseitigkeit verstockten Ungerechtigkeit, zusammenbrechend unter den Drangsalen unablässigen Ringens mit den Umschnürungen der Niederträchtigkeit: schnellt der tragisch inspirierte Geist auf, gehoben von der Gewißheit, für sich allein doch unendlich viel mehr wert zu sein, als die ganze Meute unwürdiger Widersacher samt der denen sekundierenden Kläffer, und schwingt sich, aller Erdenschwere enthoben, auf in den Äther eines zwar nicht in Widerspruchslosigkeit beschwichtigten oder auch nur beruhigten, aber doch geklärten Gewissens."


1. Die charakteristischen Voraussetzungen
des Tragischen

Will man die verschiedenen Erscheinungsweise des Tragischen gruppieren, so bietet sich als nächster Einteilungsgrund der Charakter des Hauptbeteiligten und die Form des Kontakts dar, in welchem dieser mit dem Schicksal steht. Da wir ein einfach Tragisches des bloßen Schicksals nicht anerkennen, so muß die Form der Kollision mit dem Zufall als ein erst Sekundäres zurücktreten vor dem Gehalt der kollidierenden Persönlichkeit. Nicht umsonst spricht man von einem tragischen  Helden  - denn ein reiner Lump kann nie Tragisches erleben - mehrere der für das Heldentum in meinen "Mosaiken und Silhouetten" aufgestellten Requisiten sind ebenso viel integrierende Momente der tragischen Wirklichkeit. So gut aber wie wir dort den handelnden vom duldenden Helden unterschieden haben, werden wir eine mehr aktive und eine mehr passive oder eine mehr männliche und eine mehr weibliche Form des tragischen Erlebens nebeneinander stellen dürfen. Das beiderseits Unerläßliche ist zuerst nur jene Konstanz des Handelns, deren objektive Seite uns die "Idee", wie ihre subjektive Grunderscheinung das "Pathos" des Helden hieß; und wenn es oft nur die Zähigkeit einer gewissen Jllusionsfähigkeit sein wird, was diese Urvoraussetzung des Tragischen am Leben erhält, so rückt das damit geschaffene Blendwerk den tragischen Helden nur noch unmittelbarer unter die nämliche Beleuchtung, welche unsere Einleitung als den wesentlichsten Bestandteil in der Auffassung des Einfach-Schönen aufgezeigt hat - ein Umstand, welcher die ästhetische Verarbeitung eines so gearteten Objekts natürlich ganz erheblich erleichtert.

Was den auf tragischen Posten Gestellten ausharren läßt im Gedränge seiner Situation, was ihn stark macht, die inneren und äußeren Kämpfe zu bestehen: das ist das Bewußtsein - welches übrigens ein völlig unreflektiertes sein kann und der Regel nach sogar sein wird - soviel an ihm ist, das beste Teil der Menschheit zu betätigen: das Vermögen, für ein Höheres einzutreten, auch da noch, wo sittliche Gegenmächte dieses in Frage stellen; und  beiden  Seiten gerecht werden zu wollen, nicht feige ohne Selbstentscheidung sich der einen in die Arme zu werfen und von ihr ausschließlich sich bestimmen zu lassen (fortem fata ducunt, non trahunt [Den Willigen führt das Geschick, den Störrischen schleift es mit. -wp]): das ist es, was seine Größe ausmacht. Woran er sich immer von neuem aufrichtet, wenn der Mut der Verzzweiflung weichen möchte, woran er sich festklammert, wenn das gezerrte und schon wankende Gewissen selber ihn dem Selbstuntergang, dem Sichselberaufgeben überantworten möchte: das ist schließlich ein mehr oder weniger klares Gefühl, in der eigenen Sache Repräsentant einer allgemeinen Notwendigkeit zu sein und somit nicht bloß im eigenen Namen zu handeln und zu leiden, sondern in dem der sittlichen Bedeutung des bewußten Daseins überhaupt, welche es nicht duldet, daß einer ihrer berufenen Streiter anders als unter dem Schwertstreich allerletzter kraft den angewiesenen Platz verlasse - mag dieses Ende in die sanftere Form der Resignation oder in die schroffere des Wechseltodes auslaufen.

Darum sprachen ja die Alten von einem  spectaculum Diis dignum  [Spektakel würdig der Götter - wp]; ihnen personifizierten ja die Olympier jene ewigen Mächte, ohne welche das Menschenleben so schal wäre, wie das des einsam im Wald verendenden Wildes. Ohne den Glauben an deren Realität - und mag solcher sich noch so unkenntlich machen in den verzerrten Grimassen wildester Skepsis, die als solche ja nicht das Gegenteil vom, sondern nur ein Schwanken im Glauben ist - sinkt jeder beim ersten Anprall einer Doppelpflicht kamplos nieder.

Wohl kann es auch den Starken wie ein Erdstoß überschütten, daß ihm für eine Zeit lang der Atem und die Besinnung ausgehen: aber dann wird er mit einem gewaltigen Ruck die auf ihn geworfene Masse abwälzen, sobald durch irgendeinen Spalt das Licht von oben wieder an sein Auge dringt. Begraben unter dem Schutt der Gemeinheit, gehetzt von tausend Stachelpeitschen der "simplen", in Einseitigkeit verstockten Ungerechtigkeit, zusammenbrechend unter den Drangsalen unablässigen Ringens mit den Umschnürungen der Niederträchtigkeit: schnellt der tragisch inspirierte Geist auf, gehoben von der Gewißheit, für sich allein doch unendlich viel mehr wert zu sein, als die ganze Meute unwürdiger Widersacher samt der denen sekundierenden Kläffer, und schwingt sich, aller Erdenschwere enthoben, auf in den Äther eines zwar nicht in Widerspruchslosigkeit beschwichtigten oder auch nur beruhigten, aber doch geklärten Gewissens.

Eine mächtigere Erweisung der ethischen Idee kann es doch nicht geben als wie eine solche Selbstbehauptung inmitten allseitiger Attacken, da es ja im Grunde ihre eigene Selbstzerklüftung ist, was ihren treuesten Priester zur Selbstopferung zwingt.

Da kehrt mitten im heftigsten Schwanken der beiden Schalen, worin das sittliche Für und Wider soll abgewogen werden, doch eine innere Ruhe, ja sogar Stille ins Gemüt ein: die Festigkeit eines nicht wankenden Entschlusses, nicht fahnenflüchtig zu werden, trotz aller Lockung - und während so die Nebel des Zweifels sich allmählich klären, und sich das wirre Chaos durcheinanderflirrender Gedanken in einem unvermerkten Niederschlag abklärt: verklärt sich zugleich das Häßlichste: die durch Wust und Staub und Schmutz geschleifte Erdenseite der Menschenseele zu einem Gegenstand und Träger allererhabenster ethischer Beziehungen, grundlegender sittlicher Verhältnisse. Dann kann auch das Ekelhafteste nicht mehr besudeln, das Niedrigste nicht mehr entadeln. Abgestreift sind dann alle kleinlichen Erregungen und Bedenklichkeiten, wie der Schwachmut sie scheut, weil der stets nur das Allernächste sieht und das Ewige unwiederbringlich aus den Augen verloren.

Wie man ja das Ewige einer Individualität überhaupt aus der Fernsicht räumlicher und zeitlicher Weiten gewahr zu werden pflegt, weil sich in der Nähe die scharfen, unversehens verletzenden Schlackenkanten urteilfälschend vordrängen - wer hart am Fuß des Riesengebirges steht und ständig wohnt, gelangt niemals zu einem Überblick und rechten Schätzung seiner wahren Größe -: so muß der tragische Held in einem inneren Schauen einen Abstand von sich selber, nämlich von der Enge seiner nächsten, alle Schnellkraft einzwängenden Umgebenung, genommen haben, ehe er zu sich selber gekommen ist, zur hellen Einsicht von seiner wahren Pflicht und Aufgabe gelangen kann. Diese aber sind für ihn der Natur der Sache nach niemals ein Einfaches, sondern ein stündlich neu sich komplizierendes Ineinander unvereinbarer Zumutungen - und durch dieses Labyrinth an durcheinanderlaufenden Fäden sich hinzuwinden: das ist es, was den Charakter eins tragischen Lebensganges ausmacht, zu welchem eben darum als Hauptstück ein tragisch disponierter Charakter gehört. Wie ein körperloser Geist, ganz nur noch in der Sache und für sie lebend, des Eigenen vergessend und unbekümmert um alle denkbaren Folgen, schreitet ein solcher die angewiesene Schwertgasse entlang, links und rechts umstarrt von den Spitzen allerbitterster Herzensqualen.

So legte ein sicherer Sprachinstinkt dem Wort "Seelenstärke" jenen engeren Sinn bei, nach welchem es gerade das Vermögen bezeichnet, das Zusammen der realdialektischen Widersprüche zu ertragen und mit einem klaren Selbstbewußtsein auszuharren, wo "schwache Seelen" in Wahnsinn auseinanderbrechen oder in Gleichgültigkeit abstumpfen, wie alles "Abgebrühte" Straffheit und Glanz verliert.

Nicht verzweifeln, ist das eigenste Kennzeichen der Seelenstärke, ohne Hoffnung leben, wie wenn man noch hoffte, und immer neuen Anstürmen, die dazu angetan wären, einen "um den Verstand zu bringen", nicht erliegen; eine solche Dehnbarkeit des Bandes zwischen den antagonistischen Faktoren, eine solche passive Elastizität, welche zu dulden vermag, ohne "dickfellig" zu werden oder entmutigt die Hände in den Schoß zu legen, ein Herz, das weder in Trotz noch in Verzagtheit untergeht: das ist die wahre Garantie echten Gemüts und meistens umso sicherer, je weniger es in Sagen und Klagen von seiner Kraft verpufft.

Weil es überall nur der Geist ist, der in die Seelenabgründe hineinleuchtet, mag sich unschwer bei einem solchen Tiefblick äußerlich die Ruhe einer scheinbar rein objektiver Überschau bewahren, wer sich oder andern die Zwiespältigkeit des eigenen Gemütszustandes klar macht - ein Ineinander von Frieden und Friedlosigkeit, wie es selber nur aus der Realdialektik begreiflich wird, weil doch auch der Geist letzten Endes aus dem zwiespältigen Willen selber stammt. Denn nichts wäre verkehrter als die Meinung, es handle sich bei der Empfänglichkeit für tragische Konflikte etwa ausschließlich oder auch nur vorzugsweise um unklare und zerrissene Naturen, die dergestalt in sich geteilt sein müßten, daß sie keinen festen Schwerpunkt mehr hätten, sondern von einer Mehrheit von Zentren in der Schwebe gehalten würden, deren Gleichwiegen durch den leisesten Anstoß aufgehoben werde. Vielmehr können es gerade Konflikte der allerschmerzlichsten Art sein, welche sich ganz im Oberstrom abspielen, während das tiefste Wollen der Unterströmung von ihnen völlig unberührt bleibt. So bleibt in einem ORESTES alles unversehrt, was nichts mit Pietätsbeziehungen zu tun hat, in einem RÜDIGER, alles was nicht die Vasallentreue angeht, - und doch zweifelt niemand, daß bei jenem die Spaltung der Kindesliebe in die zum Vater und zur Mutter ausreicht, ihn zu einer Beute der allerwildesten Furien zu machen, und dieser mit seiner einfachen Klage das Urwort  aller  Tragik ergreifender ausgesprochen, als je die beredteste Ästhetik dessen mächtig sein würde:
    Swelhes ich nu lâze unt das ander begân,
    sô hân ich boeslîche un vil übel getân:
    lâz aber ich si beide, mich schendet elliu diet.
    nu ruoche mich bewîsen der mir ze lebene geriet.
    (LACHMANN, Strophe 2091)
Nur  eines  von beidem  tun  können, wo man beides  will,  ist das unerbittliche Gesetz der Wirklichkeit, das allen tragischen Monologen ihren Inhalt gibt. Wer mit vollem Bewußtsein in einer Situation steht, in welcher ein Schritt getan werden  muß,  den in anderer Hinsicht das eigene Gewissen nicht billigen kann: der macht in einer solchen Einheit von Wollen und Nichtwollen den ganzen Inbegriff der Realdialektik im eigensten Selbst durch. Da bleibt die klarste sittliche Selbstverurteilung vereinbar mit der Unüberwindlichkeit der dem "besseren Selbst" widerstrebenden Motiv, weil doch eben auch diese mitnichten ein schlechthin Unberechtigtes sind, vielmehr sozusagen nur die Mächte und Rechte der Materie, welche das Stoffliche der Individualität mit Gewalt herunterzerren aus dem Äther der Idealität. Und wie in einem in seiner Gravitationsbewegung durch die Erde gehemmten Körper seine Schwere fortwirkt als Druck, so dauert in einem solchen Willen auch noch nach der getroffenen Wahl und danach vollbrachten Tat der dynamische Widerspruch an. Nur die aktuelle Unruhe der noch unvollendeten Handlung ist in der Krisis verschwunden, dagegen aber aktualisiert die Spannkraft der in Wirklichkeit umgesetzten inneren Friedlosigkeit, indem die "unbefriedigt" gelassene Hälfte des Willens als nachwirkende subjektive Qual reagiert, namentlich gern in der Form einer Selbsttäuschung über den Grad der Unfreiwilligkeit des Geschehens. Man meint hinterher, anders haben handeln zu können, umso mehr als auch vorher schon die Gegenmotive klar vor dem Bewußtsein gestanden haben. Andererseits aber erscheinen - wie auch schon von anderer Seite her SCHILLERs Wort
    Ein andres Antlitz ehe sie geschehen,
    Ein anderes zeigt die vollbrachte Tat
kommentiert worden ist - die durchgeschlagenen Motive nicht mehr so unwiderstehlich, wie sie es im Augenblick ihrer Wirksamkeit doch "in der Tat" waren, und dieser peinigende Schein einer trotzalledem indeterministischen Freiheit wird sich innerhalb jeder nicht realdialektischen Auffassung umso unwiderlegbarer aufdrängen, je weniger die vorhandene Selbstentzweiung für eine logische Beurteilungsweise kommensurable Maßstäbe zuläßt, sodaß sich in dieser Beziehung die realdialektische Einsicht mit allem Fug eine Art von erlösender Kraft beilegen darf.

Denn sie lehrt an der im tiefuntersten Grund unzerstörbar vorhandenen Einheit festhalten, wo die ihrer "Gesundheit" sich freuende Zwiespaltlosigkeit eine völlig unvermittelte Zweiheit vor sich zu haben glaubt und so die tragischen Größen zusammenwerfen möchte mit jenen kleinlichen Schwächlingen, die an nichts als Zerrissenheit ihrer Laune kranken. All jene, denen  haerent remi in vado  [die mit alten Rudern paddeln - wp] weil ihr Denken wohl Klarheit, aber keine Tiefe und ebensowenig eine kraftvolle Strömung besitzt, dünken sich viel zu klug, um sich von einem alten Seemann in Schiffergeschichten davon erzählen zu lassen, wie es hergeht in den Strudeln der Willenskonflikte. Ihne selber widerfährt ja gar nicht die ODYSSEUS-Ehre, zwischen Scylla und Charybdis verschlagen zu werden. Diese gegen alle tragischen Schicksale gefeiten Naturen entgehen die einen auf diesem, die andern auf jenem Weg allen damit verknüpften Unbehaglichkeiten. Ein Teil von ihnen läßt sich im Kollisionsfall allemal einseitig leiten von der dominierenden Leidenschaft und merkt's so gar nicht, daß gleichzeitig von drüben her ein anderer Wind in die Segel fährt. Bei Anderen sind es nebenherlaufende Neigungen und mechanisch ("unbewußt") fortwirkende Gewohnheiten, was ihnen das Gleichgewicht erhält, sowohl gegen die aus der Tiefe aufsteigenden Wirbel, wie gegen die über das Strombett hinbrausenden Stürme. Und wie Manchem als Solidität seines Fahrzeugs hochangerechnet wurde, was nichts war, als die Gunst seiner Ladung! Es sind ja doch keineswegs immer die leichtest gebauten Schiffsrümpfe, die am ehesten an Klippen zerschellen - die Wucht des Anpralls ist doch bei starkrippigen viel gewaltiger: auch auf dem Schlachtfeld der ethischen Kämpfe sind es die Helden, die zuerst fallen. (1) Den luftigenn Spielball der Wellen trägt leicht auch ein glücklicher Zufall unversehrt in den Hafen, dessen Strand bedeckt ist mit den Trümmerbalken gescheiterter Orlogsriesen [Schicksalsriesen - wp]. Wer selber seines schwankenden Kanus einzigen Inhalt bildet, der braucht nur gewandt zu sein, ums sich vor dem Kentern zu sichern; aber wessen Fracht auf breitem Deck und niedrigem Kiel aus schweren Stückgütern besteht, der ist unrettbar dem Umschlagen verfallen, sobald einmal ein heftiger Seitenstoß die Balance der Schiffshälften aufgehoben hat: so stellt leicht das gefährdete Äquilibrium zwischen Gewolltem und Nichtgewolltem wieder her, wer sich nur für seine eigene Person den Umständen anzuschmiegen braucht - und je leichtsinniger er ist, desto lieber läßt er sich schaukeln, desto spöttischer kann er über den Andern lachen, der kostbare Ware zu hüten hat und sich vergeblich abmüht, den schon aufsteigenden Kiel zu bemeistern, damit nicht die Flut über Bord hereinstürzt. Wer mit dem Leben spielt, gibt willig Wind und Wellen nach; wer es ernst damit meint, mag vom Steuer abweichen, noch durch Schwimmen die eigene Existenz retten, preisgebend, um was er in See stach: eine  vita vitalis  [lebenswertes Leben - wp].

Nach gleichem Maßstab bemißt sich aber auf dem Fahrwasser des Lebens ebenso leicht der Unterschied des wahrhaft tragischen vom bloß oberflächlichen Widerspruch, wie er gern im Verhältnis der bloßen Aufwallung des Affekts zum Grundwollen zutage tritt. Jedes bloße Aufsprudeln schleudert nur das über den Wasserspiegel empor, was sich gerade in diesem Augenblick und an dieser Stelle im Flußbett befindet - und oft ist, was so aufkollert, nicht gewichtiger als Gasbläschen, die zuweilen für Augenblicke die Oberfläche durchbrechen, bloß um zu platzen, sobald sie dieselbe erreicht haben. Das mag Stoff zu Possen geben oder sonst wie dem Humor zufallen, aber fürs Tragische hat es höchstens die Bedeutung, eine seiner Karikaturen liefern zu können.

Aber die Paradoxienkette reicht hier noch weiter. Das triviale: "Man gewöhnt sich an alles", gilt zuletzt auch im Tragischen - es scheint, so sonderbar es klingt, Naturen zu geben, die sich schließlich in der Tragik heimisch fühlen, wie es einfacher geartete Seelen gibt, denen ein regelmäßiges Quantum an Herzeleid so unentbehrlich scheint wie das tägliche Brot. "Das liebe Brot und die liebe Not" sind ja längst schon sprachlich miteinander vergattet. Da treibt immer von neuem ein unwiderstehlicher Pruritus [Juckreiz - wp] an, sich an verfänglichen Situationen die Finger zu verbrennen - statt solchen nach Möglichkeit aus dem Weg zu gehen, sucht man sie auf - aber die schlimmsten kommen dann doch jedesmal noch obendrein ungerufen hinzu. Jedoch selbst diesen gegenüber ist es aus einem solchen Mund so wenig blanker Sarkasmus wie überhebliche Renommisterei, wenn es dort in vollbewußter Bitterkeit heißt: nicht jeder ist "so glücklich", über das Tragische "mitreden zu können" - man darf das nicht einen tragischen Leichtsinn nennen - eher eine leichtsinnige Tragik. Wie Onkel BRÄSIG nicht ohne sein bißchen Hofjungenärger leben kann und jene Französin sagte: "j'attire les malheurs" [Ich ziehe das Unglück an - wp] (der Glaube an den "bösen Blick" besagt ja nichts anderes): so sind derartige Charaktere von tragischen Kreuzfeuern umknistert, wie die Spitzen der Blitzableiter von den Sankt-Elmo-Lichtern - eine individuelle Apprehensivität [Besorgnis - wp], die uns in einem späteren Abschnitt über die Verwicklung von Schuld und Schicksal noch einmal wird beschäftigen müssen - hier bereitet es uns vorläufig schon darauf vor, daß die Tragik keineswegs immer und unausbleiblich auf dem Kothurn [Schaftstiefel - wp] daher schreitet. - Der Soccus [leichter Schuh - wp] des sogenannten bürgerlichen Trauerspiels hat ihr dieses Recht ja mit so energischem Erfolg vindiziert [gefordert - wp], daß  in praxi  die Meister der ästhetischen Schule sich für ihre eigene Person der Unwiderstehlichkeit dieses "Pumpwerks für die Tränendrüsen" unterlegen bekennen müssen.

LITERATUR - Julius Bahnsen, Das Tragische als Weltgesetz und der Humor als ästhetische Gestalt des Metaphysischen, Lauenburg 1877
    Anmerkungen
    1) Der Schwächling entwindet sich dem ethischen Dilemma dadurch, daß er, wie sich WEISLINGEN im zweiten Akt des  "Götz"  wegen der Verletzung hoher Pflichten durch die drängende Erfüllung ganz unbedeutender Obliegenheiten entschuldigt. Aber gewaltiger rüttelt es an deren Kraftnatur, deren Gewissen auch einen energischeren Pulsschlag hat, - so sind es die cholerischen  dyskolos  [Miesepeter - wp], deren ethische Konstituion zu einer schweren Herzkrankheit prädisponiert, während der sanguinische  eukolos  [Stimmungskanone - wp] in seinem glücklichen Leichtsinn gar nicht merkt, daß auf beiden Seiten Forderungen stehen - er sieht nur die eine und weiß nichts von Situationen, in denen gerade die Enthaltung von jeglicher Tat mit  doppelter Pein  quält.