p-4tb-1von AsterO. KülpeH. KleinpeterW. Reimer    
 
WILHELM WINDELBAND
Über Sinn und Wert
des Phänomenalismus


"Eine sich von allen inhaltlichen Problemen ausschließende Erkenntnistheorie, die keine tieferen philosophischen Wurzeln hat, ist immer in Gefahr, auf die Dauer entweder zu einer schematischen Methodologie oder gar nur zu einer psychologischen Entwicklungsgeschichte der Vorstellungen zu verdorren: ihr natürliches Ende ist der Relativismus, der sich heute Pragmatismus nennt."

"Kant  ist am allerwenigsten der Meinung gewesen, daß die Philosophie, weil sie in der Erkenntnistheorie ihren Ausgangspunkt hatte, sich all die wesenhaften Fragen aus der Hand nehmen lassen soll. Eine solche Meinung wurde in  Kant  hineingetragen durch die einseitige Betonung und Ausdeutung seiner Lehre von der wissenschaftlichen Unerkennbarkeit des Ding-ansich und von der Einschränkung der theoretischen Vernunft auf die Erscheinung. Der Phänomenalismus wurde in diesem Sinne lange Zeit als das Charakteristische, als das Wesentliche, als das Bleibende an der kantischen Philosophie angesehen."

"Von den Griechen, diesen Augenmenschen, denen alles Erkennen ein Schauen war, ist der optische Tropus des Scheinens eingeführt worden: ta phainomena. Erscheinung in diesem philosophischen Sinn des Wortes heißt also ein Erkenntnisinhalt, der zwar objektiv, d. h. allgemein und notwendig gilt, aber nicht ein Abbild des Seienden ist: wie etwa das Bild im Spiegel, das zwar notwendig an seiner Stelle gesehen wird, aber nichts dort Wirkliches bedeutet."

"Der Phänomenalismus ist davon ausgegangen, daß die sinnlichen Bestandteile der menschlichen Weltvorstellung nur als Erscheinungen angesprochen werden, dagegen die rationalen Momente als übereinstimmend mit dem Wesen der Wirklichkeit gelten dürfen. Seine historische Voraussetzung war bei Platon wie bei Demokrit die Wahrnehmungslehre von  Protagoras,  die als Theorie von der Subjektivität oder Intellektualität der Sinnesqualitäten bis auf den heutigen Tag bekannt und - in Geltung ist."

"Kant meint, daß die naturwissenschaftliche Theorie wesentlich durch Abstraktion aus der Wahrnehmung auf dem formal-logischen Weg (durch den usus logicus rationis) erwächst, daß sie aber eben deshalb sich auf die Erscheinungen beschränkt, während die auf den reinen Begriffen des Verstandes, den später sogenannten Kategorien beruhende Metaphysik, die freilich noch zu schaffen bleibt, die absolute Wirklichkeit zu erfassen berufen ist."



Hochansehnliche Festversammlung!

An dem offensichtlichen Umschwung, den die Philosophie während der letzten Jahrzehnte erfahren hat, darf als das allgemein Bedeutsame bezeichnet werden, daß die lange Zeit herrschende Einschränkung auf Erkenntnistheorie aufgegeben und die Behandlung der großen sachlichen Probleme, die das eigentlich philosophische Interesse für sich haben, auf der ganzen Linie zurückgewonnen worden ist. Das ist nicht, wie wohl außen Stehende meinen, ein Abfall von KANT, sondern höchstens vom Kantianismus oder Neukantianismus: es ist in Wahrheit eine Berichtigung der einseitigen Auffassung des kantischen Kritizismus, die in der Neubildung der Philosophie seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts eine geschichtlich notwendige Zwischenstufe gewesen ist, bei der aber die lebendig fortschreitende Entwicklung nicht stehen bleiben konnte. Denn eine sich von allen inhaltlichen Problemen ausschließende Erkenntnistheorie, die keine tieferen philosophischen Wurzeln hat, ist immer in Gefahr, auf die Dauer entweder zu einer schematischen Methodologie oder gar nur zu einer psychologischen Entwicklungsgeschichte der Vorstellungen zu verdorren: ihr natürliches Ende ist der Relativismus, der sich heute Pragmatismus nennt.

Jene Meinung aber, Philosophie könne oder dürfe nichts anderes sein als Erkenntnistheorie, wurde in KANTs Lehre zu der Zeit hineingedeutet, als die Philosophie aus der Mißachtung, in welche sie durch den Niedergang der großen metahphysischen Systeme verfallen war, zu einem bescheidenen Neuanfang anhand der Naturwissenschaft zu gelangen suchte: und die bedeutenden Naturforscher, die sich als Kantianer fühlten und bekannten, verstanden begreiflicherweise dieses Verhältnis so, daß eine solche Erkenntnistheorie in der Hauptsache die Theorie  ihrer  Erkenntnis sein sollte. Auch fehlte es in der kritischen Philosophie nicht an Zügen, die dieser Auffassung Vorschub leisteten, und in KANTs eigener wissenschaftlicher Entwicklung war es begründet, daß ihm die mathematisch-naturwissenschaftliche Theorie als das höchste, als das wahre und eigentliche Wissen galt.

Aber man verkannte damals, daß im Ganzen des kantischen Denkens und seiner kritischen Philosophie diese Erkenntnislehre der Vernunftkritik nur einen Teil, und zwar, wie er selbst ausdrücklich hervorhob, nur den propädeutischen Teil des Systems ausmachte. Wenn man mit Recht sagt, der Kritizismus sei erkenntnistheoretische orientiert und alle zukünftige Philosophie müsse es auch sein, so will das in Wahrheit besagen, nicht daß die Philosophie in Erkenntnistheorie aufgeht, sondern daß sie von ihr ausgeht: sie ist Wissenschaftslehre in dem Sinne, daß sie alle Probleme von der Frage aus entwickelt, wie sie Gegenstände der Erkenntnis werden können. Deshalb geht die philosophische Einsicht des Kritizismus unter allen Umständen durch die Errungenschaften der übrigen Wissenschaften hindurch, ohne in ihnen hängen zu bleiben: er will sie nicht meistern, sondern von ihnen lernen; er will auch nicht aus ihnen ein Ganzes zusammensuchen, sondern an ihnen sein Eigenes entwickeln. Dieses Eigene aber ist die Aufdeckung der allgemeingültigen Vernunftwerte, die im Gesamtbestand der von den einzelnen Wissenschaften durchforschten Kulturgebiete als ihre letzten Rechtsgründe enthalten sind. Wenn also dies das neue Verhältnis ist, worin durch KANT die Philosophie zu den besonderen Wissenschaften gesetzt wurde, so ist es durchzuführen nur durch eine völlig unparteiische Anerkennung der Autonomie und des Eigenwertes aller Disziplinen. Die kritische Philosophie darf nicht die eine oder die andere Art des Wissens als die typische oder normative vor den übrigen bevorzugen, sondern sie hat gerade aus dem Verständnis der Verschiedenheiten und der dadurch bedingten Gliederungen die Einsicht in die systematische Struktur jener Vernunftwerte selbst herauszuarbeiten. Daher gerät der Kritizismus auf ein totes Geleis, wenn er, KANTs Einseitigkeit übertrumpfend, seine Wissenschaftslehre auf die Infinitesimalrechnung zuzuspitzen unternimmt: umgekehrt gewinnt er die freie Bahn in das Reich des Kulturlebens nur dadurch, daß er, HEGELs Spuren folgend, in den geschichtlichen Disziplinen die fruchtbare Ergänzung jener Einseitigkeit sucht.

Damit folgen wir nur dem Entwicklungsgang, den KANTs eigenes Denken genommen hat: an der Wissenschaft, die sich ihm zunächst als Naturforschung darstellte, hat er seine Kritik der Vernunft aufgerollt, und Schritt um Schritt sind dann in deren Licht die übrigen Kulturtätigkeiten, Sittlichkeit und Kunst, Staat und Religion, getreten: je weiter dabei die Lehre sich entfaltet und zum System abrundet, umso bestimmender tritt das Prinzip der historischen Entwicklung in ihr hervor. So ist KANT - im Ganzen seiner Philosophie verstanden - am allerwenigsten der Meinung gewesen, daß die Philosophie, weil sie in der Erkenntnistheorie ihren Ausgangspunkt hatte, sich all die wesenhaften Fragen aus der Hand nehmen lassen soll, die das Interesse an ihr von jeher ausgemacht haben und immer ausmachen werden.

Eine solche Meinung wurde in KANT hineingetragen durch die einseitige Betonung und Ausdeutung seiner Lehre von der wissenschaftlichen Unerkennbarkeit des Ding-ansich und von der Einschränkung der theoretischen Vernunft auf die Erscheinung. Der Phänomenalismus wurde in diesem Sinne lange Zeit als das Charakteristische, als das Wesentliche, als das Bleibende an der kantischen Philosophie angesehen. Diese Deutung herrschte ja schon zu KANTs Lebzeiten: die Zertrümmerung der alten Metaphysik galt, mochte man davor erschrecken oder sie mit Begeisterung begrüßen, bei Freund und Feind gleichmäßig als das Bedeutsamste an der Tat des "alles Zermalmenden". Und nachdem dann doch auf den Trümmern der stolze Neubau der idealistischen Metaphysik erstanden war, da wurde ein halbes Jahrhundert später, als auch dieser zu zerfallen begann, die Rückkehr zu KANT im Sinne jenes Phänomenalismus gepredigt: darin fanden Männer wie KUNO FISCHER, OTTO LIEBMANN, F. A. LANGE historisch wie systematisch den Nerv des Kritizismus, den innersten Sinn seiner philosophischen Leistung. Deshalb aber wird in unseren Tagen, wo wieder ein metaphysischer Drang durch die geistige Welt geht, dieser Phänomenalismus als eine Einengung empfunden, von der die Interpretation KANTs sich ebenso frei machen möchte wie das philosophische Denken selbst. In diesem Sinne und mit Rücksicht auf diese Wandlung in den philosophischen Stimmungen unserer Zeit soll hier vom Sinn und Recht, aber deshalb auch von den Grenzen des Phänomenalismus die Rede sein.

Unter Phänomenalismus verstehen wir im allgemeinen die Lehre, daß die menschliche Erkenntnis im Ganzen oder zu einem Teil nicht das wahre Wesen der Wirklichkeit, sondern nur ihre Erscheinung, d. h. die Art erfasse, wie sie sich eben im menschlichen Bewußtsein darstellt. Eine solche Behauptung ist nicht etwa, wie viele unter dem Eindruck des Kritizismus und seiner Entwicklung im 19. Jahrhundert gemeint haben, mit der Annahme des erkenntnistheoretischen Standpunkts in der Philosophie von selbst gegeben oder notwendig damit verbunden: sondern sie bedeutet nur  eine  Richtung in der Erkenntnistheorie, nur eine der möglichen Antworten auf deren Kardinalfrage. Diese aber hat nichts anderes zu ihrem Inhalt als das Verhältnis des Objektiven zum Realen, des Wissens zur Wirklichkeit, des Bewußtseins zum Sein. Was objektiv. d. h. in allgemeingültiger Weise erkannt ist, das lehren die Wissenschaften, und dessen Geltung ist völlig davon unabhängig und wird in keiner Weise davon berührt, was nun die Philosophie über diese Beziehung des Erkannten zu einer absoluten Wirklichkeit, die das vorwissenschaftliche Bewußtsein ihm als "Gegenstand" gegenüberstellt, etwa herausbringt. Und jene Frage selbst erlaubt viele Antworten: das Verhältnis muß durch irgendeine Kategorie gedacht werden, und es lassen sich mehr als eine mit guten Gründen darauf anwenden; nur können diese Gründe nirgends anders gefunden werden, als in dem, was uns die Wissenschaften selbst über ihre "Gegenstände" lehren.

Die erste, naive Antwort auf die erkenntnistheoretische Grundfrage bestimmt das Wissen durch die Kategorie der Gleichheit, als Gleichheit zwischen Vorstellung und Wirklichkeit, und dies bleibt ein niemals ganz abzustreifender Richtbegriff für alles philosophische Nachdenken über die Probleme der Erkenntnis. Es liegt darin die Voraussetzung, daß beim Wissen sich derselbe Inhalt im Bewußtsein finden soll, dem außerhalb dieses erkennenden Bewußtseins ein "Sein" zukommt. Das Bewußtsein und sein Gegenstand sollen inhaltlich gleich und nur in der Seinsweise verschieden sein: derselbe Inhalt besitzt das "esse in intellectu" [Sein im Verstand - wp] und das "esse in re" [Sein in Wirklichkeit - wp]. Wenn aber dabei das Bewußt-sein doch auch als eine Art des Seins, wenn auch eben verschieden vom sonstigen Sein und doch dadurch bestimmt und davon abhängig gedacht wird, so erscheint es zwar begreiflich, daß es Seiendes geben mag, das nicht ins Bewußtsein eintritt, nicht gewußt wird, aber unbegreiflich, daß im Bewußtsein etwas sein soll, was nicht auch sonst ist. Und wenn man  wahr  die Vorstellung nennt, die der Sache gleich ist, falsch aber die, deren Inhalt kein Sein zukommt, so fragt es sich unter diesen Voraussetzungen, wie überhaupt ein Nicht-seiendes gedacht werden kann. In dieser Weise ist die Problematik des Irrtums in den eleatischen Begriffen angelegt und in den platonischen Dialogen,  Theaetet  und  Sophist,  aufgerollt worden.

Auch wenn man solchen dialektischen Aporien nicht nachgeht, muß eben doch zugestanden werden, daß es nicht nur in den Irrtümern, sondern auch in den nach ihrem Wahrheitswert überhaupt nicht betonten Vorstellungsverläufen, wie den Phantasien, Bewußt-seiendes gibt, dem kein sonst Seiendes entspricht: und wenn Wahrheit jene Gleichheit zwischen Vorstellung und Sein bedeuten soll, so hat alle Erkenntnislehre die Kriterien anzugeben, nach denen zu entscheiden ist, welchen Bewußtseinsinhalten Realität im vorausgesetzten Sinne zukommt und welchen nicht. denn diese Unterscheidung muß bei kritischer Betrachtung auch in diejenigen Vorstellungen hineingetrieben werden, welche als wissenschaftlich begründet und befestigt eine allgemeine und notwendige Geltung gegenüber den Meinungen der Individuen zu beanspruchen haben. Es zeigt sich, daß auch die Notwendigkeit des Vorstellens, welche die Allgemeingültigkeit und Gegenständlichkeit, die "Objektivität" des Inhalts ausmacht, vollkommen vorhanden sein kann, ohne dessen Realität zu gewährleisten. Ja, es kann die Frage aufgeworfen werden, ob denn jenes Sein, dem das Wissen gleichen soll, nicht selbst lediglich als Bewußtseinsinhalt zu denken ist, so daß mit einer völligen Umkehrung des zunächst gemeinten Verhältnisses das Bewußtsein sich als der Oberbegriff und jenes "Sein" nur als eine Art seines Inhaltes herausstellte.

Aber wie man auch zu diesen Extremen oder zwischen ihnen Stellung nimmt, mit anderen Worten, wie man auch den metaphysischen Sinn der Wahrheit bestimmt, - auf alle Fälle zeigen die Wissenschaften vom Wirklichen selbst, daß in dessen Erkenntnis die Momente, denen wir auch ein Sein zuschreiben zu dürfen glauben, von anderen Bestimmungen zu scheiden sind, die zwar ebenfalls allgelmein und notwendig vorgestellt werden, aber auf den Wert der Abbildlichkeit dem Seienden gegenüber keinen Anspruch haben. Für diese letzteren Bestimmungen ist von den Griechen, diesen Augenmenschen, denen alles Erkennen ein Schauen war, der optische Tropus des Scheinens eingeführt worden:  ta phainomena.  Erscheinung in diesem philosophischen Sinn des Wortes heißt also ein Erkenntnisinhalt, der zwar objektiv, d. h. allgemein und notwendig gilt, aber nicht ein Abbild des Seienden ist: wie etwa das Bild im Spiegel, das zwar notwendig an seiner Stelle gesehen wird, aber nichts dort Wirkliches bedeutet. Hierin besteht der oft betonte Unterschied von Erscheinung und Schein. Gemeinsam ist beiden die Unwirklichkeit des Vorgestellten: aber Schein besagt das zufällig und individuell Erlebte und Eingebildete, Erscheinung dagegen etwas notwendig und allgemein Gedachtes.  Erscheinung  kann man sagen, ist objektiver Schein. Deshalb hielt es DEMOKRIT für eine der wichtigsten Aufgaben der wissenschaftlichen Theorie, diese Notwendigkeit der Erscheinungen zu begreifen, und bezeichnete es sehr glücklich als ein  diasozein ta phainomena  [die Erscheinungen bewahren - wp].

Dabei berühren wir schon die Zeit, wo der Begriff der Erscheinung in den Gesichtskreis des wissenschaftlichen Denkens eingetreten ist: es war der bedeutsame Moment, als sich aus der Zweifelsarbeit der Sophistik nebeneinander die beiden großen rationalistischen Systeme erhoben: das demokritische und das platonische. Dort wird dem dem  ετεη ον  hier dem  ontos on  [seienden Sein - wp] oder der  ousia  [Wesen - wp] das Sinnenreich der  phainomena  gegenübergestellt, dem damit eine sekundäre, minderwertige Wirklichkeit zukommen soll, während das wahrhaft wirkliche in den ursprünglichen Formen, den  schemata  oder  ideai,  bei DEMOKRIT in den Atomen, bei PLATON in den urbildlichen Begriffen gesucht wird.

Von diesen beiden auf so weite Strecken parallelen und schließlich doch so gegensätzlichen Lehren ist der Phänomenalismus in dem Sinne ausgegangen, daß die sinnlichen Bestandteile der menschlichen Weltvorstellung nur als Erscheinungen angesprochen werden, dagegen die rationalen Momente als übereinstimmend mit dem  Wesen  der Wirklichkeit gelten dürfen. Wir können das als partiellen Phänomenalismus bezeichnen. Seine historische Voraussetzung war bei PLATON wie bei DEMOKRIT die Wahrnehmungslehre von PROTAGORAS, die als Theorie von der Subjektivität oder Intellektualität der Sinnesqualitäten bis auf den heutigen Tag bekannt und - in Geltung ist. Denn sie ist seit Demokrit für die naturwissenschaftliche Weltvorstellung maßgebend geworden und geblieben, zumal seitdem sie in der Renaissance von Männern wie GALILEI, DESCARTES und HOBBES gegenüber der aristotelisch-scholastischen Auffassung zu neuem Ansehen gebracht und dann nach ROBERT BOYLEs Voranschreiten von LOCKE als die Lehre von den primären und sekundären Qualitäten festgelegt worden wr. Von hier stammt auch die erste nachher so vielfach variierte Bedeutung des Terminus "Idealismus", der nichts anderes besagte als die Lehre, daß die vermeintlichen Eigenschaften der Dinge nur Vorstellungen, nach damaliger Redeweise "Ideen" sind. Das bezog sich zunächst lediglich auf die Sinnesqualitäten. Eine Kontroverse bestand nur eine Zeitlang über die Frage, ob auch die Qualitäten des Tastsinns, welche die Wahrnehmung der Raumerfüllung darstellen, unter diese Subjektivität fallen sollten. Wie schon HENRY MORE in seiner Korrespondenz mit DESCARTES, um der Gleichsetzung des physischen Körpers mit dem mathematischen vorzubeugen, die Impenetrabilität [Undurchdringlichkeit - wp]ausgenommen wissen wollte, so hat LOCKE die  solidity  [Festigkeit - wp] als reale, primäre Eigenschaft der Körper behauptet.

Sehen wir von dieser Nebenfrage ab, die im letzten Grund auf den Gegensatz der hylischen und der energetischen Theorie der Körperwelt hinausläuft, so gilt die Phänomenalität der Sinnesqualitäten als axiomatische Voraussetzung für die gesamte moderne Naturforschung: charakteristisch ist dafür, wie sie in KANTs "Kritik der reinen Vernunft" kaum eigens erwähnt, aber überall als selbstverständlich zugrunde gelegt wird. Dagegen werden allgemein in der Naturforschung, wie schon von DEMOKRIT, die allen Sinnen gleichmäßig zukommenden, besonders aber für Gesicht und Getast zugänglichen Eigenschaften der Körper, die sich auf deren räumliche Verhältnisse, auf Größe, Gestalt, Lage und Bewegung beziehen, als real betrachtet. Woher das Recht dieser Scheidung? Für die unmittelbare Erfahrung - oder, wie man heutzutage sich auszudrücken gewöhnt hat, für das "Erlebnis" - sind beide, die Sinnesqualitäten und die Raumbestimmungen, miteinander in gleicher Weise und in demselben Bewußtseinsakt untrennbar, keines ohne das andere gegeben. Wie kommen wir zu der erkenntnistheoretischen Wertscheidung von genetisch so eng miteinander verbundenen Momenten? weshalb sollen die einen Phänomene, die anderen Realitäten sein? Dürfen wir die Empfindungen und die raumzeitliche Ordnung, in der sie allein erlebt werden, in dieser Weise auseinanderreißen? Die Antwort auf diese Fragen gibt uns DESCARTES, wenn er sagt, an unserer Vorstellung von den Körpern darf nur das als real gelten, was klar und deutlich gedacht wird, und das ist nicht das anschaulich Imaginative, sondern das rational Intellektive, d. h. nach seiner Lehre das mathematisch Bestimmbare. Das Motiv dieser Art des Phänomenalismus also ist, nur diejenigen Momente der Erfahrung für eine adäquate Erkenntnis der Wirklichkeit zu halten, welche sich für den Aufbau der mathematischen Theorie eignen. Genau so hatte teilweise schon KEPLER, noch bewußter GALILEI, das Prinzip der theoretischen Naturwissenschaft ausgesprochen. Die Gesetzmäßigkeit der Natur ist nur in ihren quantitativen Bestimmungen zu erfassen und mathematisch zu formulieren: eben deshalb dürfen sie allein als das wahrhaft Wirkliche, dagegen die solcher Formung unfähigen Sinnesqualitäten nur als Erscheinungen für das wahrnehmende Bewußtsein anerkannt werden.

Wenn also jene Auswahl, die unter den Momenten der unmittelbaren Erfahrung die quantitativen als die realen von den qualitativen als den phänomenalen sondert, durch das Erkenntnisinteresse der mathematischen Naturtheorie bedingt war, so ist es begreiflich, daß sie mit diesem zusammen hinfällig wird. Wo die Natur ohne diesen Zweck angeschaut wird, da tritt wieder das Recht des unmittelbare Erlebnisses in Kraft. Das hat sich an den eindrucksvollsten unserer Sinnesqualitäten gezeigt, an den Farben: und das macht die philosophische Bedeutung von GOETHEs Farbenlehre aus, das ist der letzte Nerv seiner leidenschaftlichen Opposition gegen NEWTONs Theorie. Achten wir auf dieses entscheidende Motiv, so verstehen wir, wie zwei Philosophen, die sonst so wenig Gemeinsames hatten und haben wollten, wie HEGEL und SCHOPENHAUER, in der Zustimmung zu GOETHEs Farbenlehre einig sein konnten. Sie mochten jene metaphysische Wertscheidung von qualitativen und quantitativen Elementen der Wahrnehmung ebensowenig anerkennen wie die gesamte Naturphilosophie des Idealismus, in der sich nach dieser Richtung die Opposition von ARISTOTELES gegen PLATON und DEMOKRIT wiederholte. Mit feinsinniger Eigenart ist dieses Verhältnis von einem Epigonen der Naturphilosophie dargestellt worden, von FECHNER in dem geist reichen und temperamentvollen Buch, worin er seine Weltanschauung als "die Tagesansicht gegenüber der Nachtansicht" zusammenfaßte. Beklemmt und bedrückt von der Öde der naturtheoretischen Weltvorstellung, wonach die Wirklichkeit farb- und klanglos aus den im Leeren schwirrenden Atomen bestehen soll, durchdrungen von der Unerträglichkeit einer Denkweise, welche die für eine wissenschaftliche Theorie erforderliche Auswahl zu einer metaphysischen Wertscheidung umdeutet, will FECHNER all das, worin für uns der lebendige Sinn der wahrgenommenen Welt besteht, in den Rang absoluter Realität wiedereingesetzt wissen. Das ist in höchster Verallgemeinerung das Motiv von GOETHEs Farbenlehre.

Aber jene in der Naturforschung geltende Dualität konnte auch nach der anderen Seite hin aufgehoben werden. Nahm der Dichter für die in aller Lebensfülle angeschauten Qualitäten dieselbe Wirklichkeit in Anspruch wie für die quantitativen Präparate der wissenschaftlichen Analyse und Abstraktion, so konnte der Philosoph dazu fortschreiten, auch die raumzeitlichen Formen der Außenwelt ebenso zu Erscheinungen herabzusetzen wie die den einzelnen Sinnen zugänglichen Qualitäten der Körper. Das ist die Stellung KANTs, dessen Lehre nach dieser Hinsicht in der Tat als die letzte Etappe auf dem Weg erscheinen konnte, den von LOCKE aus bereits BERKELEY mit seiner Theorie des Sehens eingeschlagen hatte. Ist doch KANT selbst einmal (in den Prolegomena) darauf verfallen, seinen Zeitgenossen diesen Phänomenalismus von der Seite her plausibel zu machen, daß er ja nur auf die räumlichen und zeitlichen Bestimmungen dieselbe Betrachtungsweise ausdehnt, welche für die sinnlichen Empfindungsmomente seit langem von aller Welt anerkannt wird. Freilich hatte im transzendentalen Idealismus, wie es KANT auch an anderer Stelle hervorzuheben nicht versäumte, die Phänomenalität von Raum und Zeit eine ganz andere methodische Begründung und deshalb einen ganz anderen erkenntnistheoretischen Sinn, als die Subjektivität der Sinnesqualitäten, die dereinst im Altertum mit vorbildlich skeptischer Tendenz durch ihre Relativität aufgezeigt worden war: jetzt sollte in KANTs Kritik die Phänomenalität der Formen dafür in Kauf genommen werden, daß durch sie allein die Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit der Mathematik und ihrer Anwendung auf die Erfahrungswissenschaft begreiflich wurde. War aber so die Phänomenalität der Preis für die Apriorität, so lag ja auch in dieser Lehre wieder als letztes Motiv das Interesse der mathematischen Theorie der Naturwissenschaft zugrunde, - in reiferer Entwicklung dasselbe Prinzip wie bei DESCARTES, aber in der metaphysischen Konsequenz durchaus verändert. Denn in Bezug auf die Weltanschauung trat damit neben die demokritische und GOETHEs Art die dritte, die Auffassung der gesamten Außenwelt als Erscheinung: und zwischen diesen drei Weltansichten besteht, so darf man wohl sagen, in gewissem Sinn noch heute der ungeschlichtete Streit.

Allein KANTs Phänomenalismus erweist seine viel tiefere und ganz andersartige Begründung auch darin, daß er inhaltlich sehr viel weiter reicht. Er betrifft nicht nur wie die früheren Formen die Außenwelt, sondern auch die seelische Innenwelt, und deshalb erstreckt er sich vom Raum aus auch über die Zeit. Er umspannt die gesamte Erfahrungswelt, und in diesem Sinne ist er platonischer Struktur. In der Tat müssen wir, um hier die letzten Zusammenhänge der philosophischen Motive bloßzulegen, auf die Parallelerscheinung zur demokritischen Form des Phänomenalismus zurückgreifen, die Ideenlehre PLATONs. Auch dessen Scheidung von  phainomena  und  noumena  liegt ein methodologisches Motiv zugrunde. Freilich nicht in der Art, wie es die neueste Verdeutung des Platonismus annimmt, die in ihm schon den ganzen transzendentalen Idealismus wittern möchte, sondern in dem Sinne, wie ihn sein großer Schüler ARISTOTELES verstanden hat. Wenn der demokritisch-cartesianische Phänomenalismus nur das mathematisch Bestimmbare in unseren Vorstellungen für "wirklich" ansieht, so legt der platonische als Maßstab die logischen Anforderungen, vor allen die der Identität an: und wenn diesem eleatischen Postulat die Gegenstände unserer Erfahrung in keiner Weise entsprechen, wenn in ihnen vielmehr der heraklitische Fluß aller Dinge herrscht, so kann alles das, was wir wahrnehmende außer uns und in uns erleben, nur eine minderwertige, eine abgeleitete und abgeschwächte Wirklichkeit, d. h. eben Erscheinung bedeuten, und das wahrhaft Wirkliche muß als eine höhere und für sich bestehende, als die metaphysische Realität in den Inhalten gefunden werden, welche das begriffliche Denken als die ewig gleichen und zeitlos in unveränderlichen Beziehungen zueinander stehenden Wesenheiten erkennt, - in den Ideen. Das logische Bedürfnis, das in der Erfahrung nicht befriedigt wird, sucht seine Gegenstände außer der Erfahrung und über ihr. Das ist der typische Grundzug aller (im kantischen Sinne) dogmatischen Metaphysik: als das wahrhaft Seiende gilt nicht das Erlebte, sondern das Verlangte, nicht das Erfahrene, sondern das Gedachte.

Dieser metaphysische erweiterte Phänomenalismus wurzelt also schließlich in demselben Denkmotiv wie der naturwissenschaftliche: beide folgen aus dem Postulat der Theorie, hier der mathematischen, dort der logischen. Darum ist es für das Verständnis dieser Zusammenhänge von höchstem Interesse, wie sich beide Gedankengänge verbunden haben, um bei KANT zur umfassendsten Form des Phänomenalismus zu führen, und in dieser Beziehung ist seine Inauguraldissertation das entwicklungsgeschichtlich bedeutsamste Dokument. Hier verknüpft KANT die beiden Elemente seiner philosophischen Jugendbildung, die Lehren von NEWTON und LEIBNIZ, deren Antagonismus sich bei ihm schon vorher in mehrfachen Verschiebungen geltend gemacht hatte, zu einem eigenartigen System, das dann schließlich nur die Vorstufe für seinen Kritizismus bilden sollte: er meint, daß die naturwissenschaftliche Theorie wesentlich durch Abstraktion aus der Wahrnehmung auf dem formal-logischen Weg (durch den "usus logicus rationis") erwächst, daß sie aber eben deshalb sich auf die Erscheinungen (mundus sensibilis phaenomenon) beschränkt, während die auf den reinen Begriffen des Verstandes, den später sogenannten Kategorien beruhende Metaphysik, die freilich noch zu schaffen bleibt (als "usus realis rationis"), die absolute Wirklichkeit (mundus intelligibilils noumenon) zu erfassen berufen ist. Über diesen Standpunkt ist KANT durch eine doppelte Erkenntnis hinausgeführt worden. Einerseits sah er ein, daß auch die mathematische Theorie der Naturforschung nicht bloß den diskursiven und reflexiven, sondern auch den konstitutiven Verstandesgebrauch durch Kategorien voraussetzt, wie es durch die Kr. d. r. V. in den "Grundsätzen des reinen Verstandes" formuliert wurde: andererseits überzeugte sich KANT davon, daß auch die Kategorien aus sich allein kein inhaltlich metaphysisches Wissen erzeugen, sondern ihre Bedeutung als Erkenntnisprinzipien erst durch ihre Anwendung auf das Material der Erfahrung, auf eine anschaulich gegebene Mannigfaltigkeit gewinnen können. Damit war NEWTONs Theorie erst vollständig begründet, aber dafür nicht nur LEIBNIZ' Metaphysik, sondern alle Metaphysik überhaupt preisgegeben, und für die theoretische Philosophie der Standpunkt des absoluten Phänomenalismus erreicht. Denn da Apriorität und Phänomenalität zu Korrelativbegriffen geworden waren, da Erkenntnis nur so weit möglich sein sollte, wie sie aus dem Gesetz des Intellekts selbser stammt, so blieb die mathematische Theorie der Erscheinungen als die einzig mögliche Wissenschaft für KANT übrig.

Mit dieser Ausdehnung der Phänomenalität auf das gesamte Wissen, mit der hiernach zunächst scheinbar als Ergebnis drohenden Verwandlung des partiellen Phänomenalismus in den totalen und absoluten war nun aber auch eine völlige Verschiebung seiner Bedeutung eingetreten. Die beiden ursprünglichen Formen des Phänomenalismus, die demokritische und die platonische, liefen auf eine Geltungsdifferenz zwischen den verschiedenen Schichten im Inhalt der wissenschaftlichen Weltvorstellung hinaus: einiges davon galt als das wirkliche Wesen, anderes dagegen nur als Erscheinung. Wenn nun aber schlechterdings alles, die anschaulichen und die begrifflichen Formen ebenso wie die empfindungsmäßig gegebene Materie unseres Wissens, in den Bereich der Erscheinungen fallen sollte, so blieb für das Wesen absolut nichts übrig: das ergab die bekannte Lehre von der wissenschaftlichen Unerkennbarkeit des Ding-ansich. Will man diesee Ergebnis rein logisch formulieren, so bestand es darin, daß die kategoriale Beziehung zwischen Wesen und Erscheinung, die ursprünglich und bis dahin (was KANT selbst für die Geltung aller Kategorien mit Recht verlangte) ein Verhältnis zwischen bestimmten Erkenntnisinhalten verschiedener Art bedeutet hatte, nun zu einem Verhältnis zwischen der Gesamtheit der bestimmten Inhalte und etwas völlig Unbestimmtem umgedeutet wurde: und von diesem Unbestimmten sollte man nichts wissen, als daß es, da es zu diesem Bestimmten in jene kategoriale Beziehung gebracht und also von ihm unterschieden wurde, notwendig etwas anderes sein muß als alles in der Erscheinung Gegebene.

Mit dieser Umbiegung des Sinnes aber verliert die Kategorie ihre Brauchbarkeit für die Erkenntnis: diese besteht nur, solange bestimmt anzugeben ist, was Erscheinung und was Wesen ist. Wird das Wesen zu der bekannten Erscheinung erst gesucht, so hat die Kategorie eine regulative und heuristische, aber noch nicht konstitutive Bedeutung: wird aber behauptet, das Wesen sei  prinzipiell  nicht bestimmbar, so ist die Kategorie im eigensten Sinne des Wortes gegenstandslos geworden. Das können wir an zwei anderen Kategorien verfolgen, die beide in das Verhältnis von Wesen und Erscheinung und deshalb auch in die Geschichte des Phänomenalismus hineinspielen: den Kategorien der Inhärenz und der Kausalität.

Das Verhältnis des Dings zu seinen Eigenschaften und Zuständen geht wohl in unserem Sprechen und Denken am leichtesten und häufigsten in das Verhältnis von Wesen und Erscheinung über. So reden wir von den wechselnden Zuständen, von den vielspältigen Eigenschaften als den objektiven "Erscheinungsformen", in denen sich das dauernde, einheitliche Wesen des Dings darstellt und ausdrückt. Die Attribute und die Modi sind in diesem Sinne die Erscheinungen der Substanz. In metaphysischer Wendung pflegt diese Auffassung dem modernen Denken als die des Spinozismus geläufig zu sein, der als typischer Ausdruck des Pantheismus alles Endliche und Bestimmte als Theophanien, als Erscheinungen des göttlichen Wesens behandelt. Aber gerade der Spinozismus ist in steter Gefahr, zum absoluten Phänomenalismus zu werden. Denn sobald die Attribute, aus denen nach ihm die Substanz "besteht", von Gott selbst noch in dem Sinn unterschieden werden sollen wie im empirischen Denken das Ding von seinen Eigenschaften, so wird die Substanz selbst zur leeren Form der Substantialität und Gott so völlig unbestimmt und unaussagbar wie von jeher in der negativen Theologie der Mystik. Das "Unendlich" hat dann nicht bloß die quantitative Bedeutung des Grenzenlosen, sondern, wie in gewissem Sinne schon das  apeiron  [Unendliche - wp] des ANAXIMANDER, den metaphysisch bedeutsamenere Sinn des Unbestimmten, des  aoriston. 

Zu dem gleichen Ergebnis kommt man, wenn die naive Struktur des Dingbegriffs über seine wissenschaftliche Umbildung hinaus ins Absolute gesteigert werden soll. In dem Haufen von Bestimmungen, welche für das unmittelbare Auffassen die Merkmale des Dings ausmachen, unterscheidet die gliedernde Analyse der empirischen Erkenntnis den Kern von wesentlichen Eigenschaften, die ihm dauernd zukommen, von den unwesentlichen, zustandshaften Bestimmungen, die sich ändern können, ohne daß dadurch die Identität des Dings gefährdet würde, als den Modifikationen, in denen jenes Wesen nur seine wandelbaren Erscheinungen hat. So formen sich die Substanzbegriffe der verschiedenen Wissenschaften. Reflektiert man aber darüber noch darauf, daß Sprache und Denken immer noch wieder auch von den wesentlichen Eigenschaften noch das Ding selbst zu unterscheiden verlangen, das diese Eigenschaften doch eben "hat", sucht man in jenem Kern des Wesenhaften noch wieder einen innersten Kern des Kerns, den das Ding nicht hat, sondern der es ist, so gelangt man unausweichlich zu einem unerkennbaren Ding-ansich, dessen Erscheinungen alle seine - wesentlichen und unwesentlichen - Eigenschaften sind. So sprach schon LOCKE von der Substanz als dem unbekannten Substrat, als dem Träger der Eigenschaften, von dem wir nur wissen,  daß  es ist, nicht  was  es ist, - d. h. den wir nur postulieren, aber nicht erfahren. Auch dieser Begriff bedeutet dann mit seiner Inhaltlosigkeit nichts als die hypostasierte [einem Gedanken gegenständliche Realität unterschieben - wp] Begriffsform der Inhärenz. Nimmt man diese Gedankengänge zusammen, so versteht man die sachliche Verwandtschaft, die zwischen KANTs Ding-ansich und SPINOZAs Gott in den Motiven der idealistischen Entwicklung zum Teil bei FICHTE und SCHELLING, noch deutlicher aber in Nebenerscheinungen, wie BOUTERWEKs  Apodiktik,  zutage getreten ist, worin KANTs Phänomenalismus geradezu als negativer Spinozismus charakterisiert wurde. In so mannigfach verschränkten Wendungen kommt dann die Vorstellung zustand, zu den vielen Erscheinungs- und Ausdrucksweisen des unbekannten "Unendlichen" gehöre, vielleicht als exzeptionell, aber vielleicht auch nur für den Menschen exzeptionell bedeutsam, das Bewußtsein oder die Erkenntnis - ein Attribut wie andere auch, und dem Wesen, das darin erscheint, prinzipiell nicht näher und nicht ferner als die übrigen.

Indessen hat doch auch in solchen der Kategorie der Inhärenz angenäherten Formen das Verhältnis von Wesen und Erscheinung den Sinn, daß zwischen ihnen ein notwendiger Zusammenhang, und zwar in der Richtung einer Abhängigkeit der Erscheinung vom Wesen besteht. Das meinte HERBART, als er in seiner Sprache immer darauf hinwies: so viel Schein, so viel Hindeutung auf das Sein. Sobald aber jene Abhängigkeit als real gedacht wird, spielt das Verhältnis von Wesen und Erscheinung in die Kategorie der Kausalität hinüber. Die Erscheinung ist so, weil das Wesen so ist: das Wesen wird der Grund und bald auch die Ursache der Erscheinung genannt. Wie stark sich diese Folgerung selbst gegen die ursprüngliche Absicht des Denkers geltend machen kann, sieht man vielleicht am deutlichsten an KANTs Lehre vom intelligiblen und empirischen Charakter, die in der ersten Form, wie sie in der Kr. d. r. V. eingeführt wird, eine viel weitere, allgemeinere Bedeutung hat als in der anthropologischen Zuspitzung, worin sie als ein Hauptstück der kritischen Ethik und Religionsphilosophie allgemein bekannt geblieben ist. Die kosmologische Theorie der Freiheit in den "Antinomien der reinen Vernunft" verlangt ausdrücklich, daß jedem Gebilde der Erscheinungswelt ein empirischer Charakter zukommt, der auf den intelligiblen Charakter eines entsprechenden Gebildes in der übersinnlichen Welt als auf seinen Grund hinweist. Von diesem allgemeinen Verhältnis ist dann das des  homo phaenomenon  zum  homo noumenon  nur ein Spezialfall. Dabei verbirgt sich, wie auch sonst in der Kritik, z. B. im Abschnitt über den Grund der Unterscheidung aller Gegenstände in Phänomena und Noumena, unter dem vagen Ausdruck "entsprechen" mit dem Verhältnis von Wesen und Erscheinung zugleich das des Dings zu seinen Zuständen und das der Ursache zu ihrer Wirkung.

Es ist nun bemerkenswert, daß diese widerspruchsvolle Sachlage noch viel greifbarer bei SCHOPENHAUER zutage tritt, der sich bekanntlich im Rühmen der tiefsinnigen Lehre vom intelligiblen Charakter nicht genug tun kann. Er sträubt sich zwar sehr energisch dagegen, den intelligiblen Charakter, der doch auch bei ihm die Schuld oder das Verdienst an der Art des empirischen Charakters haben soll, als dessen "Ursache" zu betrachten, und ebensowenig möchte er es zulassen, daß das Ding-ansich überhaupt, der  Wille als Ursache der Erscheinungswelt behandelt wird: das Verhältnis der "Objektivität" soll ein ganz anderes sein als das der Kausalität; die Begriffe von Grund und Ursache bedeuten ja verschiedene Wurzeln des Satzes von zureichenden Grunde oder der allgemeinen Kategorie der Dependenz. Das ist im Prinzip recht schön klar und scharf geschieden: aber sobald wir in die besondere Darstellung eintreten, nimmt die Dependenz der Erscheinung vom Wesen in der Bestimmung der Erfahrungswelt durch den Willen als Ding-ansich sprachlich und gedanklich immer solche Formen an, welche dem Verhältnis von Ursache und Wirkung so verzweifelt ähnlich sehen, daß man sich nicht wundern kann, wenn sie vom unbefangenen Leser durchaus damit verwechselt wird. Dieses Mißverhältnis wird auch dadurch nicht ausgeglichen, daß der Philosoph häufig genug warnt, man möge diese zeitlose Abhängigkeit der Erscheinung vom Ding-ansich wohl unterscheiden von der zeitlichen Abhängigkeit der Erscheinungen untereinander: wir erhalten dadurch nur die zwei Arten der Kausalität, die SPINOZA als unendliche und endliche unterschieden hat.

Mit der Kategorie der Kausalität steht jedoch der Phänomenalismus während seiner ganzen historischen Entwicklung in sehr nahen, aber auch recht verwickelten Beziehungen: ihr verdankt er so schwierige und exponierte Situationen, wie sie z. B. dem kritischen Phänomenalismus bekanntlich aus KANTs Lehre von der Affektion der Sinnlichkeit durch Dinge-ansich erwachsen ist. Wollte man sich bei diesem Problem in die Deutung flüchten, es handle sich lediglich um ein Kausalverhältnis zwischen den Körpern, den Erscheinungen des äußeren Sinnes, als Ursachen und den Empfindungen, den Erscheinungen des inneren Sinnes, als Wirkungen, so blieb doch immer als nicht fortzudeuten die Gesamtauffassung auch bei KANT bestehen, daß jeder Erscheinung etwas Ding-ansich-haftes "entsprechen" muß, das eben darin erscheint und sie bestimmt. In gröberer Form hat diese Auffassung von jeher in den phänomenalistischen Theorien ihre Rolle gespielt. Galten die Erscheinungen überhaupt als Wirkungsweisen des Wesens, so wurden sie im besonderen als "subjektive Erscheinungen" zu Wirkungen der Dinge auf das wahrnehmende Bewußtsein. Ja, das ist recht eigentlich der spezifische Begriff der Erscheinung im erkenntnistheoretischen Sinn des Wortes: in dieser Bedeutung hat er die Struktur des naturwissenschaftlichen Phänomenalismus von Anfang an bestimmt. Die verschiedenen Bewegungen der Körper - so scheint bereits PROTAGORAS gelehrt zu haben - wirken auf das Bewußtsein durch die Erzeugung verschiedener Empfindungen, und zwar so, daß Reize und Bewußtseinszustände mit abgestufter Gesetzmäßigkeit einander eindeutig zugeordnet sind. Im Prinzip lehrt man bei aller Feinheit der Detailausführung, welche die Forschung inzwischen gebracht hat, doch heute noch genau dasselbe. In diesem Sinne werden die Vorstellungen zu Zeichen für die Dinge, und man wiederholt in dieser Theorie gern, daß ein Zeichen nicht die Aufgabe und deshalb auch nicht das Anrecht hat, für ein Abbild des Bezeichneten zu gelten. Daher hat der naturwissenschaftliche Phänomenalismus ein semiotisches Gepräge: es hat sich von DEMOKRIT an durch den Epikureismus und OCKHAMs Terminismus und den gesamten modernen Nominalismus bis zu HELMHOLTZ' physilogischer Optik fortgepflanzt, die weit davon entfernt ist, kantisch (wie man wohl gesagt hat) gedacht zu sein.

Aber was bedeutet diese Semiotik denn nun anders, als daß an die Stelle des naiven Verhältnisses der Gleichheit, das im Erkennen zwischen Vorstellung und Gegenständen, zwischen Bewußtsein und Sein obwalten sollte, eine andere Kategorie, die der Kausalität getreten ist? Sie bestimmt z. B. in typischer Weise die metaphysisch orientierte Erkenntnislehre von LOTZE, wenn er das Erkennen als eine der Beziehungen auffaßt, in denen die Momente des Wirklichen zueinander stehen. Zu den vielen Arten der Wechselwirkung der Dinge, mit denen ihr Wesen in Erscheinung tritt, gehört als hervorragende auch ihre Wirkung auf das Bewußtsein: das und nichts sonst ist, was wir Erkenntnis nennen. Darum wehrt sich LOTZE mit Recht gegen die abschätzige oder resignierte Redeweise, womit man zu sagen pflegt, menschliches Wissen enthalte "nur" Erscheinung; er führt dagegen, wie es ähnlich früher einmal der okkasionalistische Cartesianer GEULINCX getan hatte, feinsinn aus, daß das Aufblühen dieser Erscheinungswelt im Bewußtsein für den Gesamtbestand und den Gesamtsinn der Wirklichkeit bedeutsamer und wertvoller ist als alles, was sich sonst zwischen Dingen ereignen kann. Ihm ergibt sich aber aus diesem Begriff der Erkenntnis als Wechselwirkung, daß in dieser "Erscheinung" ebensoviel vom Wesen der wirkenden Dinge wie vom Wesen des aufnehmenden Bewußtseins zu finden sein muß. Verfolgt man einseitig das letztere Moment, so gelangt man zu den relativistischen Folgerungen des heutigen Pragmatismus: achtet man auf beide zugleich, so erwächst für die Erkenntnistheorie die Aufgabe, aus dem tatsächlichen Erkennen unter Ausscheidung der anthropologischen Momente den übergreifenden Vernunftbestand des Wirklichen, die Logik des Gegenstandes, herauszuarbeiten.

Es soll an diesen Beispielen genügen, um den unvermeidlichen Übergang des kategorialen Verhältnisses von Wesen und Erscheinung in dasjenige von Ursache und Wirkung zu erläutern: indessen gerade aus dieser Verwandtschaft folgt, wie unhaltbar der Versuch des absoluten Phänomenalismus ist, die Gesamtheit des im Bewußtsein Bestimmten zur Erscheinung eines prinzipiell unbestimmbaren Wesens zu machen. Denn wie der Begriff einer gänzlich unerkennbaren Ursache (analog dem einer gänzlich unerkennbaren Substanz) für das erkenntnismäßige Begreifen des Bekannten völlig wertlos ist, so kann auch (worauf KANT selbst deutlich genug hingewiesen hat) der Begriff des Ding-ansich als des prinzipiell nie zu erkennenden Wesens nicht das Geringste zur Erklärung seiner Erscheinungen beitragen. Daher ist der absolute Phänomenalismus, wie er von den Engländern seit HAMILTON unter dem Namen des Agnostizismus vertreten wird, eine erkenntnistheoretisch unhaltbare Position: und wenn er als "Philosophie des Bedingten", weil alles Denken ein Bedingen ist, das Unbedingte für undenkbar erklären muß, so fällt er, wie man es bei SPENCER sieht, schließlich mit dem Positivismus zusammen, der, indem er das Unbedingte überhaupt legunet, das kategoriale Verhältnis von Wesen und Erscheinung von vornherein mit entschlossener Hartnäckigkeit ablehnt. Im absoluten Phänomenalismus, für den alles Bestimmbare Erscheinung wird, kann das Wesen oder das Ding-ansich nur die Rolle eines inhaltlosen Begriffs spielen, der zwar für das Verständnis der geschichtlichen Genealogie einer solchen Lehre instinktiv genug sein mag, aber in ihr selbst nur ein rudimentäres, funktionslos gewordenes Organ bildet.

Deshalb muß mit aller Entschiedenheit festgestellt werden, daß KANTs Kritizismus der absolute Phänomenalismus, als den man ihn vielfach ausgedeutet hat, nicht ist und nicht sein will. Nur wenn man seine theoretische Philosophie, die Erkenntnislehre, künstlich isoliert und sie willkürlich aus dem Ganzen herausreißt, worin er sie allein gedacht haben wollte, kann in der Terminologie seiner Theorie von der wissenschaftlichen Unerkennbarkeit des Ding-ansich der Schein entstehen, als hätte man es mit einem absoluten Phänomenalismus zu tun. Aber es ist zu bedenken, daß die "Wissenschaft", von der die Kr. d. r. V. handelt, einzig und allein die mathematische Theorie der Naturforschung ist, und von dieser wird allerdings gezeigt, sie sei auf die nach den Gesetzen des Verstandes erzeugte Erfahrung und damit auf Erscheinung beschränkt. Im Ganzen der kantischen Philosophie jedoch wird dieses "Wissen" ergänzt durch die Funktionen der praktischen und der ästhetischen Vernunft. Deren Einsichten aber gelten für KANT (und das ist das Entscheidende) nicht etwa bloß als Ahnungen des Gefühls, wie sie von den Biedermeierphilosophen, den JACOBI, FRIES oder HAMILTON gedeutet wurden - noch weniger (wie die neueste pragmatistische Interpretation nahe legen möchte) als zweckmäßige Fiktionen, deren praktische Dienlichkeit es rechtfertigte, daß wir so verfahren, "als ob" sie richtig wären, - sondern vielmehr durchweg als rationale Denknotwendigkeiten des Vernunftlebens in seiner einheitlichen Totalität. Es darf nie vergessen werden, daß für KANT das Fürwahrhalten aus einem Interesse der Vernunft, sei es im moralischen Glauben der Kritik der praktischen Vernunft, sei es in der teleologischen Betrachtung der Urteilskraft, geradeso rational, so notwendig und allgemeingültig ist wie das Wissen der Kr. d. r. V. Man kann diese Auffassung bezweifeln, ihre Begründung in der kritischen Philosophie unzureichend finden: aber man soll sie nicht ignorieren, wenn man KANT historisch gerecht werden will, - man darf sie nicht vergessen, wenn man die kritische Art des Phänomenalismus verstehen will.

Denn diese ist danach keineswegs der absolute, sondern wiederum ein partieller Phänomenalismus. Im Ganzen der kantischen Weltanschauung sind Wesen und Erscheinung beide wieder inhaltlich bestimmt. Wie die Naturforschung zwischen sinnlicher und mathematischer, wie der Platonismus zwischen sinnlicher und logischer Weltvorstellung, so unterscheidet der Kritizismus zwischen theoretischer und praktisch-ästhetischer Weltvorstellung. In allen drei Fällen ist das eine Glied der Disjunktion [Unterscheidung - wp] auf die Welt als Erscheinung, auf die sekundäre, aber darum nicht minder wirkliche Wirklichkeit angewiesen, in der das von der anderen Erkenntnisweise zu ergreifende Wesen, die primäre Realität, erscheint und sich darstellt. Immer stehen die beiden Welten der erscheinenden und der wahren Wirklichkeit korrelativ zu zwei verschiedenen Erkenntnisweisen.

Die inhaltliche Bestimmung nun von Ding-ansich und Erscheinung findet KANT in dem Gegensatz des Übersinnlichen und des Sinnlichen: und alle Schwierigkeiten für das Verständnis des Phänomenalismus erwachsen aus der mehrdeutigen Flüssigkeit dieser beiden Begriffe. In der rein theoretischen Sprache der Kritik der reinen Vernunft ist das Sinnliche identisch mit dem Erfahrbaren; da gehört das Seelische als Objekt des inneren Sinnes ganz und gar in den Bereich der "Sinnlichkeit" hinein: im Gegensatz dazu ist das Übersinnliche das Unerfahrbare und deshalb nach der Definition von der Wisenschaft das Unerkennbare. Treten wir aber in die anderen Teile der kritischen Philosophie, so ist das Reich des Übersinnlichen der uns wohlbekannte Bezirk der ethischen und ästhetischen, schließlich der religiösen Werte, von denen wir doch, so weit sie über unser menschliches Dasein hinausragen mögen, nur deshalb reden können, weil sie irgendwie in unserem Bewußtsein erlebt, im inneren Sinn erfahren werden: und jetzt bedeutet deshalb im Gegensatz zu diesem "Übersinnlichen" die Sinnenwelt nur noch die materiell-natürliche Wirklichkeit, der wir als organische Körper eingeordnet sind. In diesem charakteristischen Bedeutungswechsel tritt zutage, wie KANT, wenn in seiner theoretischen Philosophie je eine Tendenz war, die auf den absoluten Phänomenalismus zutrieb (und das war sicher der Fall), diesem die Spitze abbrach und ihn in einem partiellen Phänomenalismus umbog, der wieder auf eine Zweiweltentheorie platonischer Struktur hinauslief. Wie aber die Theorie von der Sinnenwelt als Erscheinung aus dem Begreifen der Naturwissenschaft gewonnen wurde, so ließ es sich für die folgende Entwicklung voraussehen, daß das Verständnis der Welt der Werte als der höheren Realität durch die Kulturwissenschaft, d. h. durch die historischen Disziplinen wird hindurchgehen müssen. Das geschah tatsächlich schon in KANTs eigner späteren Entwicklung, mit vollem methodischen Bewußtsein aber bei HEGEL und bei LOTZE.

Eine andere Seite dieser Wandlung haben wir darin zu sehen, daß mit der gleichen Entwicklung auch das Verhältnis zwischen übersinnlicher und sinnlicher Welt sich verschiebt. Jede phänomenalistische Zweiweltenlehre hat notwendig ein doppeltes Gesicht: auf der einen Seite muß das Wesen etwas anderes sein als seine Erscheinung, ihre Verschiedenheit also möglichst stark betont werden; auf der anderen Seite muß doch das Wesen, nach dem Prinzip des  diasozein ta phainomena,  so gedacht werden, daß es in den Erscheinungen selbst erscheint und sich darstellt. Völlige Ungleichheit zwischen beiden würde das kategoriale Verhältnis ebenso aufheben wie völlige Gleichheit. Darum statuierte der Platonismus die unvollkommene Nachbildung als das Grundverhältnis zwischen Idee und Erscheinung. Aber auch in ihm finden wir neben der negativen Tendenz, welche die beiden Welten so weit wie möglich trennt, die positive, der es auf die Verwirklichung der Ideen in den Erscheinungen ankommt. Der Gegensatz beider Richtungen zieht sich, wie durch die Logik, so auch durch die ganze Metaphysik und die Ethik PLATONs hin. Ähnlich steht es bei KANT mit dem Verhältnis zwischen dem Übersinnlichen und dem Sinnlichen. Die Scheidung überwiegt in der theoretischen und in den Anfängen der praktischen Philosophie: mit den ästhetischen und den religiösen Lehren dringt, getragen vom Prinzip der historischen Entwicklung, immer mehr die Verwirklichung des Übersinnlichen in der Sinnenwelt als gestaltender Grundgedanke durch. Damit aber schwächt sich notwendig auch der schroffe Dualismus, der anfänglich zwischen Sinnlichkeit und Vernunft hatte walten sollen: und wenn dessen Aufstellung gegen die LEIBNIZ-WOLFF'sche Philosophie gerichtet gewesen war, so verstand KANT später immer tiefer die nahen Beziehungen seiner Lehre zu der von LEIBNIZ selbst. In der Streitschrift gegen EBERHARD ließ er das deutlich erkennen. Und in dieser RIchtung ist die Entwicklung über KANT hinaus fortgeschritten: der Dualismus wurde durch die Aufnahme von LEIBNIZ' Prinzip der Kontinuität modifiziert. Das verlangten, ohne es leisten zu können, HAMANN und HERDER; das begann mit SALOMON MAIMONs Theorie der Differentiale des Bewußtseins, das herrschte in FICHTEs Wissenschaftslehre, wo bereits die Schranken zwischen den Anschauungen von Raum und Zeit und den Kategorien niedergerissen und beide in  einer  Linie entwickelt wurden, und das kam zum vollen Austrag in SCHELLINGs "transzendentalem Idealismus", in welchem mit ausgiebiger Benutzung und durchgängiger Verarbeitung von LEIBNIZ' Begriffen die Reste des kantischen Phänomenalismus von der idealistischen Metaphysik abgestreift wurden.



Wollen wir aus diesen historisch-kritischen Erwägungen das Ergebnis ziehen, so hat sich gezeigt, daß ein absoluter Phänomenalismus unmöglich und auch bei KANT nicht zu finden ist. Das Verhältnis zwischen Ding-ansich und Erscheinung schien das letzte Wort der theoretischen Philosophie zu sein: aber es ist nicht das letzte Wort der Philosophie überhaupt. Es ist nicht die Kategorie, welche den Begriff der Wahrheit als des Verhältnisses von Sein und Bewußtsein in letzter Instanz bestimmt.

Aber das Bedeutsame des kritischen Phänomenalismus, wodurch er über sich selbst hinaus trieb, war an einem anderen Punkt zu finden. Das intimste Motiv der Dualität lag schließlich darin, daß nach KANT das theoretische Wissen auf spezifisch menschlichen Vorstellungsweise, das praktische Bewußtsein dagegen auf Vernunftnotwendigkeiten beruht, die für "alle vernünftigen Wesen" in gleicher Weise gelten. Diese Wertscheidung zwischen theoretischen und praktischen Prinzipien ist der entscheidende Punkt, von dem aus man zum Kantianismus Stellung zu nehmen hat. In gewissem Sinne ist sie für die allgemeine Meinung paradox: diese glaubt eher der gegenteiligen Erfahrung sicher zus ein, daß im Erkennen immer noch mehr allgemein Vernünftiges erworben ist als in den Bestimmungen des Willenslebens. Und die Position KANTs, die etwas Persönliches, zum Teil auch in seiner Entwicklung Begründetes an sich hat, ist eben deshalb nicht haltbar. Entweder muß auch unser praktisches Werten als ein in den Bedingungen des menschlichen Wesens begründete und deshalb darauf beschränktes Verhalten betrachtet werden, - oder es müssen auch in unserem theoretischen Leben Momente anerkannt werden, die eine über diese Bedingungen des menschlichen Wesens hinausreichende Wahrheit besitzen.

Damit sind die beiden Wege bezeichnet, auf denen die weitere Entwicklung über KANTs Dualismus hinausgehen kann. Erweitert sich die anthropologische Auffassung von dem theoretischen Gebiet aus über die Gesamtheit der Weltanschauung, so geht dieser Anthropologismus unaufhaltsam in einen Relativismus und Pragmatismus über. Und andererseits: erobert das universelle Prinzip von KANTs praktischer Philosophie auch das Reich der theoretischen Vernunft, indem auch deren Prinzipien als über den Menschen hinaus für das Wesen der Wirklichkeit selbst gültig angesehen werden, so eröffnet sich der Weg zu einer Metaphysik des Geistes.

Bei KANT selbst stand der letztere Weg weit eher offen als der erstere. Vom Wert des kategorischen Imperativs als des Grundgesetzes der intelligiblen Welt war er felsenfest überzeugt; hier gab es für ihn keine Möglichkeit der Vermenschlichung: dagegen traf der Anthropologismus seiner theoretischen Lehre nicht für alle Momente der Erkenntnis gleichmäßig zu. Vollständig galt er eigentlich nur für die Anschauungsformen Raum und Zeit, von denen der Philosoph immer wieder versicherte, daß sie nur eine "für uns Menschen" notwendige Vorstellungsweise, aber weder Dinge-ansich noch Verhältnisse solcher Dinge bedeuten kann. Dagegen würden die Kategorien, wenn nur die rechte Mannigfaltigkeit für diese synthetischen Formen des Verstandes vorhanden wären, an und für sich durchaus zur Erkenntnis der Dinge-ansich taugen. Die Phänomenalität des Wissen hängt also nur daran, daß es "für uns" keine andere Mannigfaltigkeit gibt als die in Raum und Zeit angeschaute. Den Kategorien allein käme danach dieselbe Gültigkeit für "alle vernünftigen Wesen" zu, die KANT für das "Faktum der reinen Vernunft", das Sittengesetzt in Anspruch nahm.

Damit spitzt sich das Problem des kritischen Phänomenalismus auf KANTs Lehre von Raum und Zeit zu. Eben deshalb führte der Weg zum Identitätssystem durch die Niederreißung der Schranke, die KANT zwischen Sinnlichkeit und Vernunft befestigt haben wollte. An diesem Punkt liegt also auch heute noch die große Frage aller Erkenntnistheorie. Es bleibt immer noch zu entscheiden, ob sich die Mathematik, um ihre Apriorität zu retten, damit zufrieden geben soll, daß die Gesetzmäßigkeiten, die sie in der Konstruktion des Zahlensystems und der Raumwelt entdeckt, in den besonderen Gegebenheiten des menschlichen Anschauens begründet und darauf in ihrer Geltung beschränkt sind, oder ob sie meinen darf, darin Notwendigkeiten zu entfalten, die in übergreifenden universellen Zusammenhängen der absoluten Wirklichkeit verankert sind.

Insbesondere aber stößt die Phänomenalität der Zeit auf die schwersten Bedenken wegen ihrer untrennbaren Verbundenheit mit allen Begriffen des Geschehens. Je mehr wir die Welt als Prozeß denken und ihre Realität dahin verstehen wollen, daß in ihr etwas und zwar etwas Neues geschehen kann, und daß in ihr das Wollen einen Sinn hat, umso unentbehrlicher werden uns die Bestimmungen der Zeit. Und was soll es uns helfen, in der absoluten Wirklichkeit irgendwelche völlig unbekannte Verhältnisse vorauszusetzen, von denen in durchgängiger völlig unbegreiflicher Zuordnung die Zeit mit ihren Bestimmungen und Beziehungen nur die Erscheinung, d. h. die spezifisch menschliche Vorstellungsweise darstellt? Ist das nicht eine gänzlich unbenötigte und dabei unfruchtbare Vermehrung der Prinzipien? Die Annahme des Unerkennbaren hilft uns auch hier nicht den geringsten Schritt weiter zum Verständnis des in der Erfahrung Bekannten, und die Behauptung der Ungleichheit zwischen einer niemals erkennbaren Realität und ihrer Erscheinung in unserem Bewußtsein ist auf alle Fälle unbeweisbar. Die Begriffe, mit denen der Phänomenalismus arbeitet, reichen niemals weiter als bis zu einer lediglich problematischen Stellungnahme hinsichtlich der metaphysischen Grundfrage der Erkenntnistheorie.

An die Stelle der quantitativen Grenzen menschlichen Wisens und Begreifens, deren sich die Philosophie zu allen Zeiten ebenso bewußt gewesen ist und bleiben wird wie alle ernsthaft ihre Ziele und Mittel aneinander messenden Einzelwissenschaften, - an die Stelle dieser quantitativen Grenzbestimmung möchte der absolute Phänomenalismus die qualitative Behauptung setzen, die Erscheinung, die wir denken und erkennen können, sei etwas ganz anderes als die Realität, auf die wir sie beziehen. Aber die Ungleichheit ist gerade so wenig beweisbar wie die Gleichheit, die in der naiven Vorstellung von der Wahrheit ursprünglich angenommen wird. Das Verhältnis von Bewußtsein und Sein muß durch andere Kategorien gedacht werden als durch die reflexiven Beziehungen von Gleichheit und Ungleichheit. Dazu liegen die Anfänge zweifellos in KANTs kritischer Lehre von der synthetischen Erzeugung des Gegenstandes, und die von da ausgehende Entwicklung wird prinzipiell schwerlich andere Bahnen einschlagen können, als sie durch die große Bewegung der Identitätsphilosophie in der Richtung vorgezeichnet sind, daß für das kategoriale Grundverhältnis zwischen Bewußtsein und Sein statt der Gleichheit die Identität eingesetzt wird.
LITERATUR - Wilhelm Windelband, Über Sinn und Wert des Phänomenalismus, Festrede gehalten am 24. April 1912 - Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Jahrgang 1912, Heidelberg 1912